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LESSONS IN LOVE

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Wie das Schicksal, das alte Unglücksrad, es wollte, wurde Antons Trennung von Barbara von seiner Rede zum Untergang der Compact Disc eingeleitet, die er drei Monate zuvor bei einer Preisverleihung, einer traditionell fragwürdigen Award-Show der österreichischen Musikindustrie im Wiener Museumsquartier gehalten hatte, und zwar vor ein paar hundert geladenen Gästen, die seine Worte mit fernsehgemäßem Applaus würdigten, obwohl sie sie in Wahrheit belächelten. Immerhin war es eine konservative Rede, die sich dem unaufhaltbaren Wandel entgegenstellte und das Gute, das Bestehende festhalten wollte. Es war der Unaufmerksamkeit – immerhin hatten die armen Künstler und Musikindustriellen, eine Versammlung junger Hipster und alter Ehemaliger, die zu verzweifelten, angeberischen Name-Droppern geworden waren, schon über zwei Stunden in den unbequemen Sitzen ausgeharrt –, vielleicht auch der Höflichkeit geschuldet, dass diese Rede ihn für einen Augenblick ins Zentrum der popkulturellen Aufmerksamkeit seines Landes hievte. Anton stand auf dieser Bühne, weil ihm ein freilich hinterrangiger, mit null Euro dotierter Würdigungspreis für Musikjournalismus verliehen wurde.

»Sehr geehrte Damen und Herren!

Die Compact Disc ist mittlerweile so unbeliebt wie der Zigarettenrauch beim Essen, dabei ist es gerade mal lächerliche vierzig Jahre her, dass Frank Zappa sie mit offenen Armen willkommen geheißen hat. Endlich konnte er seine Musik so hören, wie er sie in seinem Kopf hörte – ohne dem blöden Gekratze und staubigen Gegrammel. Und natürlich hatte er recht, denn so war das nun mal, ich weiß, ich weiß, das Artwork, es ist groß, aber die Wahrheit ist freilich: Nicht das Digitale verfremdet, das Vinyl tut’s, denn, Sie erinnern sich, wenn du nicht aufgepasst hast, wenn du dich nicht wie ein Zwangsneurotiker mit Putzfimmel um deine Platten gekümmert hast wie um ein verfilztes Haustier, machte der Plattenspieler, was er wollte, ließ die Nadel vom ersten zum vierten Song springen oder eierte dir etwas vor, das nie und nimmer im Sinne der Musiker oder in deinem war. Kurz: Er beeinflusste die Aufnahme schamlos – und tut das selbstverständlich noch, da können seine Apologeten den Spieß umdrehen, solange sie wollen. Die Platte hat Charakter, sagen sie – genau das ist ihr Problem: Sie ist ein ideologisches Werkzeug. Die Compact Disc aber ist neutral, sie drängt sich nicht auf, nicht der Musik, nicht dem Wohnzimmer.

Ich habe in den Neunzigern meine Plattensammlung verscheuert, und wissen Sie, warum? Ich brauchte das Geld, aber ich wollte auch in dreißig, vierzig Jahren meinen Enkelkindern ins Gesicht schauen können, ohne mich zu schämen, weil in meinen Regalen große, unverzichtbare Popkunstwerke wie Lessons in love aus den verdammten Achtzigern verstauben, die sie schon bald wieder verramschen würden. Da habe ich mich ordentlich verschätzt, denn heutzutage würden meine Kinder, die ich Gott sei Dank nicht habe, Lessons in love total geil finden. Auf Vinyl wohlgemerkt, original aus dem heiligen Jahrzehnt, auf welches ich hier mit Verlaub spucken möchte.

Die Jungen, die heute selber produzieren, nehmen ihre Sachen mehr oder weniger mit dem Handy auf, um sie sodann heiligsprechen, also auf Vinyl pressen zu lassen und auf Kofferplattenspielern um neunundsiebzig Euro abzuspielen, die so klingen, als ob du einen Kassettenrekorder in die Waschmaschine legen würdest. Wahrscheinlich hat der Koffer sogar Bluetooth. Sagt man das so? Ist das ein vollständiger Satz? Der Koffer hat Bluetooth? Na egal, im Grunde stehen sie ohnehin nur auf die auf dem Parkett rumliegenden Cover. Die Leute verkaufen ja nicht nur ihr digitales Selbst im Netz, nein, sogar ihre eigenen vier Wände sind als Profil zu verstehen – das geilere, weil analoge. Ihr Fußboden ist nicht der Grund, auf dem sie wandeln, er ist eine Analogie, eine analoge Analogie, eine Visitenkarte, eine verdammte Insta-Story. Da liegt dann ganz beiläufig der Kopf von John Coltrane im Schwarzweißprofil rum, gleich neben Grandmaster Flash oder Abba, Udo Jürgens oder schamlosen Popsternchen, für die man sich damals fremdschämte, die aus irgendeinem Grund aber dreißig Jahre später von allen als Kult gefeiert werden. Ganze Pakete von billigen Plattenneuauflagen aus dem letzten Jahrhundert werden da geschnürt, die man einfach haben muss, weil sie die eklektische Bandbreite des urbanen Menschen von heute widerspiegeln, womöglich von einem längst fünfzigjährigen Typen kuratiert, der für den deutschen Rolling Stone immer noch über Dylan und Springsteen schreibt und sich in ewigen Bestenlisten ergeht. Einem, der Musik nicht in gut und schlecht, sondern in wichtig und irrelevant teilt.

Im Grunde stehen die Jungen also drauf, in ihren Regalen große, relevante Kunstwerke aus der guten, alten Zeit sinnlos verstauben zu lassen. Musikalisch gesehen, denn das Artwork natürlich, es ist groß! Ist das nicht verrückt? Das ist definitiv verrückt, denn eines kann ich Ihnen sagen: Die CD, die nunmehr von allen gehasste und so abfällig belächelte Compact Disc, ist, abgesehen vom perfekten Sound, selbstverständlich das viel geilere Format, nur kümmert sich keiner mehr darum. Zwölf mal zwölf Zentimeter! Sie passt in jede Tasche, man kann sie zu kleinen Büchern aus schönem Karton und feinem, handfestem Papier binden, ganze Essays reinschreiben oder sie einfach nur bebildern als reine Kunstinstallation, die den Hörer auf eine Reise schickt, und deren Wert, deren qualitativer Wert selbstverständlich nichts, aber auch absolut gar nichts mit Größe zu tun hat, das kann Ihnen jeder Kunstkritiker, der seine Latten am Zaun hat, jede heterosexuell aktive Frau kann Ihnen das bestätigen – und das sage ich nicht, weil ich ein Mann mit kleinem Schwanz bin, ich meine es sogar positiv, wenn ich Kunst sage.

Die Compact Disc ist ein Kunstwerk, auch wenn sie sich bescheiden zurücknimmt und still als Vehikel fungiert, sich hinter das heilige Gut, welches sie zu tragen bestimmt ist, stellt; sie weiß, sie ist nur der Tonträger, nicht der Ton, und als solcher muss sie beschützt, reanimiert, gefördert und gepflegt werden.

Wir reden hier von Kultur, wir reden von Artenschutz, von Evolution, von der Rettung des Klimas, meine Damen und Herren!

Ihre momentan anachronistische Massenproduktion ist so lieblos und beliebig geworden, dass ihr Ruf verständlicher- und natürlich geplanterweise den Bach runterging. Die unsäglichen, fragilen Plastiktrays, schlechten Drucke, Songtexte in Schriftgröße eins? Die CD selbst kann freilich nichts dafür, sie ist bloß der Sündenbock, es sind ihre zeitgeisttreuen Produzenten, die das vergeigen, indem sie einen Haufen Scheiße veröffentlichen, nur um zum tausendsten Mal das Wort Einsparungsmaßnahme aus ihren faulen Mündern fallen lassen zu können. Wir werden das Zehnfache verdienen, ohne zu investieren und zu riskieren, ohne etwas herstellen zu müssen, sagen sie.

Der weltweit inszenierte Untergang der Compact Disc ist der ultimative Wolf-of-Wallstreet-Traum jedes koksnäsigen Wirtschaftsstudenten: Wir machen ein paar Vinyls für die Feinschmecker, die CD machen wir in ein paar Jahren nur noch für die Schlageridioten, dann lassen wir sie sterben. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei, außer es ist ein Kranzl, dann haben wir ein Problem, Houston. Wenn nicht einmal mehr eine Wurst ein Ende hat, ja dann … Was dann? Dann sind wir geliefert, also müssen wir handeln. So denken die, und Sie, liebe Zuhörer, denken vielleicht auch so, denken womöglich, ich hätte etwas gegen den Kapitalismus oder gegen die Jungen, über die ich hier meine Zweifel schütte. Das stimmt aber so nicht. Ohne Kapitalismus kein Wohlstand und ohne Wohlstand kein Individualismus – beides ist mir wichtig, alles andere wäre verlogen. Und ja, auch ich dachte immer, die armen Jungen seien Opfer der alteingesessenen Macht, aber das stimmt gar nicht. Die profitgeilen, heuchlerischen, kunstfeindlichen Mogule der Entertainmentbranche sind längst keine Alteingesessenen mehr. Wir Alten, die wir noch gar nicht alt sind, haben ausgedient.

Wenn Sie heute ein Meeting mit einem A&R-Director oder dem CEO eines fetten Majorlabels haben, werden Sie von Vierundzwanzigjährigen erwartet und die Türklinke wird Ihnen von einer neunzehnjährigen Youtuberin in die Hand gedrückt, deren Termin für den CEO freilich der vielversprechendere war. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist, aber ich sage: Auch die Wurst wird es nicht ewig geben, irgendwann wird das Wurstessen das neue Zigarettenrauchen sein – die Compact Disc aber muss überleben, wiederauferstehen und bleiben, nicht als Hipster-Retrohype, sondern als der Wahrheit verpflichteter Hort der Schönheit und des Seelendrecks, als Ausdruck des fragwürdigen Menschseins, als Manifest der Subkultur, als fleischgewordene Reliquie des Eigentlichen, als Beweisstück des Unmöglichen, als göttliche Materie, als natürlicher Feind der substanzlosen Behauptung, als Kurier und Vermittler einer unverfälschten Nachricht, mit der sie eins wird wie Braut und Bräutigam, Nonne und Jesus, als Kuppler, als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, als die zum Gruß ausgestreckte Hand eines Engels – kurz: als ideologiefreies und somit reines, nur mit der ihm eingebrannten Kunst beseeltes Polycarbonat. Ich danke Ihnen.«

Bei der Aftershowparty wussten die Leute nicht so recht, wie sie mit ihm umgehen sollten. Die einen nickten respektvoll oder klopften ihm auf die Schulter, als ob sie ihn kannten und schätzten. Einer hielt seinen Daumen in die Luft und sagte im Vorbeigehen: »Hey, Bro, Freedom of speech!« Andere verzogen das Gesicht und wichen ihm aus, ließen antikapitalistische Bemerkungen fallen.

Anton organisierte sich ein Bier. Dann ein zweites. Wie immer in Situationen wie dieser, bei Labelfesten, nach Konzerten, auf Premierenfeiern fiel ihm ein Song von Ron Sexsmith ein, in welchem er singt: I’m not too big on parties, I never know what to say. (Von der Platte Blue Boy, die ihm die liebste von Sexsmiths Platten war und von der er einst geschrieben hatte: »Ein beiläufiges und somit perfektes Produkt aus dem Proberaum der Wirklichkeit.«) Wie ein unbequemes Möbel, das registriert, aber nicht benutzt wurde, stand er im Raum, abwartend, darauf hoffend, dass er angesprochen wurde, darauf hoffend, dass er nicht angesprochen wurde. Er senkte den Kopf, hob die Schultern, versuchte sich auf kindliche Weise unsichtbar zu machen. Er hätte nach Hause gehen können, aber auch das wollte er nicht. Aus irgendeinem Grund dachte er, er sollte hier sein, sollte sich zeigen, einer sozialen Aktivität nachgehen, networken, was auch immer. Sein banales Problem war, dass er wirklich nie wusste, was er sagen sollte. Solange nicht ein konkretes Thema im Raum stand, schwieg er für gewöhnlich, was privat oder in einer größeren Runde ganz gut funktionierte, nicht aber im oberflächlichen Partynahkampf.

Er holte sich ein drittes Bier.

Ein Typ aus der Schlagerbranche beschwerte sich, dass selbst in einer Rede, die sich für etwas in seinem Metier nicht Wegzudenkendes wie die CD einsetze, das Wort Schlageridioten vorkommen müsse; das sei, so der freundliche Kärntner, eine Herabwürdigung der halben Landesbevölkerung. Eine Frau, sie war wohl Head oder Chief bei einem Plattenlabel, dozierte über die Vorteile des digitalen Marktes. Ein junger Musiker, vielleicht war er auch Junior oder Senior einer Major Company, sprach abfällig über die sentimentalen Grenzen des Albumformats – Track by Track war seine Devise. Anton war, als ob der Bub vor oder nach jedem Satz Track by Track sagte, es war mehr als eine Devise, es musste eine sogenannte Firmenphilosophie sein, ein eingelerntes Mantra oder aber eine psychische Störung. Überhaupt kommunizierten die hier Versammelten in einer codierten Fremdsprache, einer natürlich nicht neuen, aber in ein unverhältnismäßig unsinniges Extrem gezerrten Mischung aus englischen und neudeutschen Phrasen und Floskeln, während Anton an seiner Flasche nippte, unbewusst das Etikett von der Flasche kratzte, nickte und lächelte.

Folgende Wörter schienen den hier Feiernden verpflichtend zu sein: Release, Experience, Challenge, geil, voll, Community, Shit, deep und weird. Begriffe wie deepe Lyrics oder smarte Beats fielen aus Vollbärten wie Regentropfen von Dachrinnen. Die Sprache dieser Menschen war definitiv klein geschrieben. In Stein gemeißelte Regeln zur Satzstellung, die Notwendigkeit eines Verbs für einen vollständigen Satz – ja überhaupt das Sprechen in vollständigen Sätzen war aus der Mode gekommen.

Anton stellte fest, wie armselig bürgerlich sein Denken war, spürte, dass er, obwohl erst siebenundvierzig, ein alter Sack geworden war, der den Leuten hier am liebsten geraten hätte, zwischendurch mal einen Klassiker zu lesen. In einem schmerzhaften körperlichen Sinn spürte er den Wandel der Zeit, seinen Wandel vom anarchistischen Idealisten zum bürgerlichen Zyniker. Diese Transformation, der er hier und heute bei der Aftershowparty der traditionell fragwürdigen Award-Show ausgesetzt war, musste er mit allen Mitteln verheimlichen. Tatsächlich erwog er die Möglichkeit, einen monsterhaften, einen einer sich häutenden Schlange ähnlichen Anblick abzugeben, immerhin starrten ihn manche der Vorbeigehenden mit, wie ihm vorkam, staunenden, ja entsetzten Augen an, was aber wahrscheinlich nur mit seiner Rede zu tun hatte. Er verabscheute diese Leute. Er wollte mit dieser Szene nichts zu tun haben. Er interessierte sich nicht für die Erfolgreichen, die offenbar nichts Besseres zu tun hatten als ihm zu zeigen, dass er keiner von ihnen war, dass er nicht dazugehörte.

Insgeheim verstand er ihren Unmut. Er war kein Musiker, er war ein verdammter Kritiker, einer von denen, die sich zum Richter aufspielten, dabei hatte er noch nie über die lokale Musikszene geschrieben oder geurteilt. Das überließ er anderen. Er war der Meinung, dass das grundsätzlich nicht möglich war, erst recht nicht in Österreich. Die Distanz des Kritikers in Zeiten der totalen Nähe, so hieß ein einigermaßen beachteter Essay, den er vor ein paar Jahren über die Unmöglichkeit seines Berufsstandes verfasst hatte. Über heimische Musik schrieb er – aus Respekt, wie er betonte – nur, wenn deren Protagonisten tot waren oder aufgegeben hatten. Kein Wunder also, dass die jungen Aufstrebenden sich nicht für ihn interessierten, konnten sie doch nicht von ihm profitieren. Einmal war er über Falco hergezogen, den Wiener Popstar aus den Achtzigerjahren, hatte festgehalten, dass der Mann sein anfängliches Talent konsequent an den Zeitgeist verkauft und verschwendet hatte – na mehr hatte er nicht gebraucht, sein skeptischer Blick auf den Landeshelden erhitzte die Gemüter, er erhielt Hassbekundungen, Schimpftiraden, ja Morddrohungen, aber immerhin machte ihn genau dieser Artikel bekannt; seitdem lief es ganz gut. Wenn er wollte, konnte er veröffentlichen, ein Fundament, um das ihn andere beneideten. Zwar waren den meisten Arbeitgebern seine Texte zu persönlich, zu literarisch, so hörte er oft, verstand das aber als Kompliment. Er hatte sich angewöhnt, weniger über die Künstler zu schreiben oder sich Metaphern zu Schlagzeugsounds und Gitarrenriffs auszumalen, sondern darüber nachzudenken, was ihre Musik in ihm auslöste, das ergab zuweilen schrullige Selbstbetrachtungen.

Er hielt für unumstößlich, und das war auch ein Grundpfeiler seines Essays Die Distanz des Kritikers in Zeiten der totalen Nähe gewesen, dass im Grunde jegliche Nachbetrachtung eines Kunstwerks, vor allem aber eines in der Popkultur, also zumeist mitten in der jeweiligen Gegenwart, im Augenblick angesiedelten, nur der womöglich gut gemeinte, zuweilen aber unsinnige Versuch einer Erhöhung ins Seriöse, ins Politische oder gar in einen angesehenen akademischen Kulturkanon sei. So hielt er selbst den Begriff Popkultur für übermotiviert und Teil dieses Problems. Von seinen Kollegen wurden gerne beliebige Textpassagen aus Popsongs zitiert, die sogleich mit beliebigen Bedeutungen beschwert wurden, die in Antons Kopf keinen Sinn, nicht einmal Anstoß zum Weiterdenken ergaben. Oder sie stellten jene Zitate einfach in den Raum, davon ausgehend, dass die Leser das Außerordentliche selbst erkannten. Der Kritiker aber durfte, wenn es nach ihm ging, kein besserwisserischer Erklärer des besprochenen Werks sein, eher ein Diener oder Priester, der das Mysterium, so es vorhanden war oder auch nur von ihm wahrgenommen wurde, mit seiner Gemeinde teilte, feierte, ergründete, zurechtrückte oder aber seine Absenz beklagte. Die Künstler, die er selbst kennengelernt oder interviewt hatte, wollten alle auf einem gewissen Chaos- oder Zufallsprinzip bestehen, welches ihrer Arbeit, ihren Werken und künstlerischen Entscheidungen zugrunde lag, sie waren mitunter selbst von ihren Ergebnissen überwältigt, es schien ihm also zu einfach und verführerisch, dem Ganzen im Nachhinein eine ihm, dem Kritiker, aus irgendeinem Grund sympathische konzeptuelle Ordnung überzustülpen. Im Grunde müsse eine fundierte Plattenkritik, wie der Schriftsteller Lethem es gezeigt hatte, nicht zwei Spalten, sondern ein ganzes Buch füllen (Talking Heads, Fear of music). Aber wer konnte das schon?

So viel zur Theorie. Natürlich hatte Anton es insgeheim versucht, er wollte Lethem sogar übertrumpfen und ein ganzes Buch über einen einzelnen Song schreiben, wie Greil Marcus es mit Dylans Like a rolling stone gemacht hatte; er hatte sich schon jede Menge Notizen zu John Lennons Song I want you von der letzten Beatles-Platte Abbey Road gemacht; hier ein paar Sätze:

»Nie war ein Text so verknappt und nie war einer so eins mit der ihm zugedachten Musik, die ihm auch gar nicht zugedacht, sondern von ihm selbst bestimmt wurde. Durch sie, durch das simple Bluesriff, dem die Stimme gehorcht wie Abraham der Stimme Gottes gehorchte, erfährt die banale Feststellung I want you, die in den meisten Popsongs zur zweiten oder dritten Variation des vielbemühten I love you degradiert ist, eine angsteinflößende Transformation von der unschuldigen Sehnsucht zur gefährlichen Obsession, vom Opfer zum Täter. Es macht ihn zum Mann und entmannt ihn gleichermaßen. I want you so bad, it’s driving me mad ist hier keine Floskel, das Gefühl zerreißt den Sänger, er ist nur noch zu der Aussage She’s so heavy fähig – und mehr ist auch nicht zu sagen. Für gewöhnlich sind Outtakes, also nicht verwendete, liegen gebliebene Studioaufnahmen, selbst für den gierigsten Fan ermüdend und enttäuschend, bleibt am Ende doch immer die Erkenntnis, dass die beste Version es auf das Album geschafft hat – aber auch in dieser Hinsicht ist I want you ein Ausnahmefall. Die finale Version des Songs, wie wir ihn kennen, ist ein Zusammenschnitt aus mehreren Takes und Overdubs. Zwei Monate vorher, am 22. Februar 1969, spielten die Beatles 35 Takes des Songs in einer 9 Stunden andauernden Session ein. Einer dieser Versuche, vielleicht ist es auch ein Zusammenschnitt, ich weiß es nicht und es ist unerheblich, ist so gewaltig (oder gewalttätig), dass er selbst (zumindest für die Dauer der ersten zweieinhalb Minuten) die fantastische Endversion überschattet, und das liegt fast ausschließlich an Lennons knochentrockenem, unkontrolliertem Gesang. Man mag sich gar nicht ausdenken, wie Yoko Ono sich beim Hören dieser Aufnahmen gefühlt haben muss. Nach der zweiten Runde des Hauptteils, in dem Moment, wo Billy Prestons kreischende Orgel einsetzt, lässt Lennon einen Schrei los, der durch Mark und Bein, durch Herz und Seele des Hörers, durch die DNA der ihm nachfolgenden sowie der ihm vorausgegangenen Generationen, ja durch die Geschichte der Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Kulturen geht. Er greift zurück in die Steinzeit, es ist der erste Schrei, der Schrei des ersten Menschen, es ist Adams Schrei, der sogar James Browns berühmtes Markenzeichen eitel, leicht und blass erscheinen lässt. Dieses langgezogene Yeah (das in der Endversion viel später und nicht ganz so brutal daherkommt) erklingt nicht nur aus den Tiefen seines Körpers, es evoziert einen archaischen Dämon, der mit Liebe nichts mehr gemein zu haben scheint oder aber an ihre Grenzen geht, an die sich nur ganz wenige wagen. Kleists Penthesilea lebt dort einsam und trägt diesen Schrei in sich, wie wir alle ihn in uns tragen, aus gutem Grund fest versperrt oder uns gar nicht bewusst, nur sie, Penthesilea, lässt sich von ihm leiten und über die menschliche Grenze stoßen, wenn sie ihren geliebten Achill mit ihrer Doggenarmee zerfleischt und regelrecht frisst. Etwas weniger, aber nur etwas weniger verzweifelt rausgelassen hat ihn John Lennon in jener Nacht.«

Und so weiter. Wie man sieht, verlor auch Anton Wagenbach schon mal die von ihm geforderte Distanz des Kritikers, verlor sich in der Rhetorik, ließ sich von seiner Leidenschaft (Eitelkeit?) antreiben, verließ den popmusikalischen Rahmen und verlieh dem ihm so bedeutend erscheinenden Werk eine pathetisch wirkende Überkraft, wenngleich er da sicher ganz vehement dagegenhalten würde – aber wir wollen hier nicht über seine Arbeit urteilen, der kleine Exkurs soll nur zum Verständnis seiner Person, seines Charakters dienen.

Wenn keiner seine Texte nehmen wollte, stellte er sie einfach auf seine Website. Immerhin eilte ihm der Ruf des starrsinnigen Eigenbrötlers voraus; das war ihm nur recht, so wurden seine Analysen auch oft gedruckt, weil die Herausgeber sich dann anspruchsvoller fühlten – jedenfalls war das seine Theorie. Zwei Büchlein mit Kritiken und Textsammlungen zu Musik, Film und Literatur waren in den letzten fünf Jahren bei einem kleinen Verlag in Wien erschienen, verkauft wurden davon ein paar hundert Stück. Der Preis, der ihm an diesem Tag verliehen wurde, war sein erster.

Da kam nun endlich Hans Tellar auf ihn zu.

»Die CD als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, haha!« Er klopfte Anton kräftig auf die Schulter. »Ich liebe dich, Alter! Wenn du gesagt hättest: Die Musik als Instrument der Menschen- und Weltverbesserung, hätte ich dich gehasst dafür, aber die CD – das war schön.«

Anton grinste. Hans war kein wirklich naher Freund (hatte Anton einen nahen Freund?), er war aber dennoch sein nächster, wahrster, ehrlichster Gefährte, sie mochten, schätzten einander. Außerdem war Hans ein Verrückter, ein echter Künstler. Anton bewunderte ihn, mehr noch, er beneidete ihn, er war froh, ihn zu kennen. Immer wenn er verzweifelt und selbstmitleidig war, dachte er an Hans, wusste, da war zumindest einer, der einen noch viel radikaleren Weg als er ging, der sich dabei jedoch nie beschwerte und nie jammerte. Dann legte er eine seiner CDs auf und war froh, nicht Hans sein zu müssen. Nicht die Musik selbst, aber das Wissen um ihren Schöpfer und seine Geschichte richteten Anton wieder auf. Außerdem liebte er die Gespräche mit ihm, wenn er von seinen Interviews erzählte, von dem Bestsellerautor X, der ein Idiot war, von dem Maler Y, der ihn verführen wollte, von der Regisseurin Z, die ihre Sätze mit Man begann und mit Katharsis beendete. Als er noch jünger und attraktiver war, hatte Hans auch seinen Körper prostituiert – das waren die guten Zeiten, wie er sagte. Er habe viele ältere Damen bedient, so erzählte er gerne, die sein Spektrum in jeder Hinsicht erweitert hätten und denen er auf ewig dankbar sei. Hier, bei der Aftershowparty der traditionell fragwürdigen Award-Show war er wahrscheinlich, um für irgendein Onlinemagazin über einen großen und wichtigen, gesellschaftlichen, wer weiß, vielleicht sogar politisch relevanten Event zu schreiben. Im Grunde war Hans einer, dem es schlichtweg egal war, was andere über ihn dachten oder sagten. Die ganze Welt mochte sich gegen ihn aufbäumen, er würde sie mit einem Schulterzucken von sich weisen und weitermachen. Das war es, was Anton so bewunderte, ja beneidete – genauso wollte auch er sein.

»Na, welcher dieser Artists hat dich am meisten beeindruckt?«, fragte er lachend.

»Weißt du, da sind sicher viele Talente dabei«, sagte Hans nach einer ziemlich langen Denkpause. Sie war so lange, dass Anton schon überlegte, ihn stehen zu lassen und weiterzugehen. »Aber was mir auffällt, ist die Absenz des Schmerzes. An diese für die Kunst so existenzielle Grenze wagt sich keiner von denen. Umso schöner dein Pathos, mein Freund. Dennoch muss man sagen, ich meine, du und ich, wir schreiben über diese Leute – du freilich nicht, aber du weißt, was ich meine –, wir machen Kohle damit, wir bewerten sie, aber man muss ihnen eines zugestehen: Sie sind jung, sie sind am Drücker, das ist ihre Zeit. Wir sind die langweiligen alten Fürze, die ihnen zuschauen, die sie aus der Ferne beobachten und dann sagen: Früher war’s besser. Und das ist auch richtig so, das ist unser Job. Nicht als Kritiker, sondern als Alte. Denn früher, ich meine, als wir jung und am Drücker waren, war tatsächlich alles anders, obwohl auch wir schon eine sehr naive Generation waren, aber uns lagen immerhin die Nachwehen der Sechziger im Nacken. Wir waren eingeschüchtert von Dylans Texten, von der Musikalität der Beatles, von Zappa und Bowie, von Patti Smiths Beschwörungen, wir hatten eigentlich keine Ausreden, keine Berechtigung, leicht und naiv zu sein. Wir konnten nicht so tun, als wüssten wir nichts. Also manche von uns. Der Großteil sagte natürlich: Mir egal, wir sind jung und das sind die Achtziger! Und das sagen diese Typen heute auch. Eigenartigerweise sagen auch sie: Das sind die Achtziger. Jedenfalls scheißen sie auf uns, und sie haben verdammt noch mal das Recht dazu, das ist ihr Job! Trotzdem: Die Original-Achtziger waren immerhin künstlich, arrogant und fremd. Ich fand es übrigens schön, dass du auf sie losgegangen bist, denn das muss man – wir müssen das! Diese Leute aber übertreffen unsere damalige Naivität bei Weitem. Sie plündern die Achtziger, soll heißen, sie plündern die Elemente der Achtziger, ohne die Bedeutung dieser Elemente zu kennen oder zu studieren oder sich überhaupt für sie zu interessieren. Das ist so, wie die Punks und Skins sich bei den Nazis bedient haben, weißt du noch? Sieg heil! Da ging’s nur ums Provozieren. Und nicht einmal das wollen die hier. Denen scheint es nur um Produktionen und Karrieren zu gehen, um Optimierung und Perfektion. Musikalisch, menschlich, politisch – diese Kids sind spießiger als ihre Großeltern. Dabei, und jetzt kommt’s, bedienen sie sich der höchsten Emotionalität. Das ist alles so emotionsgeladen, das ist nicht zum Aushalten. Diese endlose Bandbreite an Gefühltem! All diese überlaufenden Herzen – aber da ist kein Blut! Die klingen alle, als wären sie fünfundneunzig, als hätten sie alles gesehen und erlebt. Die sind so altklug, und das ist nicht ehrlich. Keiner von denen hat davon gesungen oder gesprochen, dass er sich wie ein Arsch benimmt, dass er seine Liebste in Wahrheit verabscheut, natürlich ein Sexist ist oder den Islam hasst, dass er dankbar ist, ohne den Luxus des Kapitalismus nur ein trauriger Jammerlappen wäre, keine Ahnung hat oder sich insgeheim wünscht, einer würde kommen und allen sagen, sie sollen endlich die Goschn halten – keiner von denen hat sich tatsächlich geöffnet. Die reden von Frauenquoten und klagen das Böse an, das sie selbstverständlich ganz genau benennen können – das kaufe ich ihnen nicht ab. Wie hat Houellebecq gesagt? Pseudorevolutionärer Hedonismus! Es ist auch eine feige, verlogene Generation. Die heulen sich die Augen aus dem Kopf, wenn sie von ihren Verflossenen singen – aber da ist kein Schmerz, verstehst du mich? KEIN SCHMERZ!«

Anton nickte. Natürlich verstand er ihn.

»Du hättest die Rede halten sollen«, sagte er. »Ich meine, natürlich hättest du den beschissenen Preis kriegen sollen, das wäre nur fair und richtig gewesen.«

»Haha, geteert und gefedert hätten sie mich! Andererseits hätte ich das auch nicht gesagt, ich hätte ihnen schön Honig ums Maul geschmiert und ihnen versichert, dass sie eine auserwählte, eine goldene Generation seien, von ihnen hinge die Zukunft Europas und der ganzen Menschheit ab. Wir stehen am Scheidepunkt der Geschichte! So hätte ich meine Rede begonnen.«

Anton lachte.

»Hast du das von David Byrne gehört?«, fiel Hans plötzlich ein. »Der hat sich jetzt entschuldigt, hat sich bei der Öffentlichkeit, bei der ganzen Welt dafür entschuldigt, dass er auf seinem letzten Album nur mit Männern gearbeitet hat. Dass keiner seiner Musiker oder Tontechniker schwanzlos war. Hat sich selbst gegeißelt und seine Schuld eingestanden. Das stand so in der Zeitung. Es tue ihm so leid und es gebe keine Rechtfertigung für so etwas. Soll Byrne tatsächlich gesagt haben! Und zwar nachdem irgendwelche Genderidioten ihn mit Online-Postings bombardiert und seine Entschuldigung eingefordert hatten. Verstehst du das?«

Anton schüttelte den Kopf. Natürlich verstand er das nicht.

»Hey, Renate!«, rief Hans einer großen Brünetten nach und flüsterte Anton noch im Gehen zu: »Die hat ihren Typen verlassen. Endlich. Wegen der bin ich eigentlich hier, du weißt schon …« Und weg war er.

Hans hatte recht. Hier ging es um nichts, um gar nichts, nur um Karrieren. Zwischen Anton und dieser Welt hier tat sich ein Spalt auf, eine nicht mehr überwindbare Kluft, ein Riss im Eis, das früher ewig, mittlerweile aber zum Schmelzen verurteilt war. Alles war nur eine Frage der Zeit, und das Ende vorprogrammiert. Den Jungen schien ihre Sprache angeboren zu sein, all die Übriggebliebenen seiner eigenen Generation jedoch, die auf den guten, alten Rock ’n’ Roll Verweisenden und auf ihre persönliche Relevanz Bestehenden erschienen ihm lächerlich. Sie waren nicht Hans. Zwar war ihm gerade aufgefallen, dass, wenn er mit Hans sprach, eine ganze Menge an Fäkalbegriffen gewechselt wurde, was womöglich einem Außenstehenden ebenso lächerlich oder männlich überzogen erscheinen mochte, aber, nun ja, so war das eben – sie biederten sich wenigstens niemandem an. Den alten Typen hier bei der traditionell fragwürdigen Award-Show aber konnte ihre Sprache nicht abhandengekommen sein, sie mussten sie bewusst unterdrücken oder modifizieren, um auf diesem Parkett einigermaßen mittanzen zu können. Ihre Lächerlichkeit war ihnen wohl nicht bewusst.

Dass einer mehr sein, etwas Größeres darstellen wollte, als er war, war ja noch verständlich, aber seine sprachlichen Grundfertigkeiten unter den Scheffel zu stellen, um den AGBs einer dämlichen, in klein geschriebenen Abkürzungen kommunizierenden VIP-WhatsApp-Gruppe zu entsprechen, leuchtete Anton nicht ein. Sicher, es sollte ihm egal sein, sollte keine Rolle spielen, er sollte über diesen Dingen stehen. Tat er aber nicht. Insgeheim ärgerte er sich über sich selbst, ärgerte sich über die Tatsache, dass er sich ärgerte, dass das Auftreten dieser Buben und Mädchen ihn störte und provozierte. Er empfand es als gegen ihn persönlich gerichtet. Er wusste, dass das unsinnig, vermutlich verrückt war. Es war kein gutes, ein von einer Mischung aus Neid und Mangel an Selbstvertrauen erfülltes Gefühl, das sich da in ihm ausbreitete, von der Magengrube ausgehend durch sein Gehirn und die Kopfhaut, durch die Haarwurzeln nach außen drang und eine Art Glocke oder Kuppel über ihn stülpte, die ihn absonderte und ihn sich fehl am Platz fühlen ließ. Hans hatte ihn nicht beruhigt, er hatte sein Gefühl nur intensiviert, auf den Punkt gebracht.

Anton und seine Rede dienten den noch nicht besoffenen, also verunsicherten, um Kontakt und Gesprächsstoff bemühten Partygästen als Konversations- oder Diskursfläche. Im Grunde war die CD-Frage nicht mehr als ein probater Gesprächseinstieg. Ernst zu nehmende Pros oder Kontras mag es gegeben haben, Antons Ohr erreichten sie nicht. Die CD, so schien es, war freilich Geschichte. Er selbst sagte nichts, kein Wort der Rechtfertigung oder Relativierung fiel von seinen Lippen, dennoch fühlte er sich missverstanden, geradezu unverstanden, ein Zustand, der ihm beinahe zur Heimat geworden war.

Im Grunde war ihm das Thema auch egal. Vielleicht hatte es tatsächlich mit Sprache zu tun, mit der von ihm gewählten, nein, seiner ihm natürlichen, einer möglicherweise altmodischen, herkömmlichen und unzeitgemäßen Sprache, er wusste es nicht. Er wusste auch nicht, dass es genau dieses Gefühl des Unverstandenseins war, das ihm eine paradoxe Befriedigung verschaffte. Er suchte dieses Gefühl, es gab ihm Sicherheit, und selbstverständlich fand er es auch stets verlässlich. Er war kein Mobbingopfer, nicht das Ziel einer perfiden Ausgrenzung, er war vielmehr ihr Initiator. Die Handlungen, die er setzte, die Meinungen, die er vertrat, die Sprache, die er sprach – alles, er selbst, sein Effekt auf die Welt provozierte seine Einzelstellung. In ihr fühlte er sich wohl und losgelöst, gleichsam verloren.

Er beobachtete einen ungefähr Fünfzigjährigen mit grauem Vollbart und ebenso grauem Bun auf dem Scheitel – er wollte wohl wie Bale, der walisische Fußballer, aussehen, dachte Anton, außerdem schien ihm sehr daran gelegen, seine wahrscheinlich um fünfundzwanzig Jahre jüngere, ziemlich herausgeputzte Gesprächspartnerin zu beeindrucken, das war allein seiner lässigen Körperhaltung und seinem aufgesetzten Dauergrinsen abzulesen. Sein Bemühen um eine abgebrühte, aber auch über den Dingen stehende, Gelassenheit ausstrahlende Wirkung war offensichtlich. Anton erkannte die junge Frau wieder, sie hatte bei der Show gesungen, sehr mädchenhaft introvertiert, mit mehr Luft als Stimme, und antipatriarchalische Floskeln gesäuselt, wenn er sich richtig erinnerte. Ja, er hatte noch gedacht, diese Mischung aus sexy Lolita und feministischer Drohgebärde sei irgendwie unpassend, wenn auch gefeierter Ausdruck des vorherrschenden Zeitgeists. Er machte ein paar Schritte auf die beiden zu, um sie zu belauschen. Natürlich war der Typ Musiker oder Produzent oder Head of irgendwas.

»Da ist so etwas Altes, Archetypisches an dir, ich weiß nicht, ob dir das bewusst ist. Versteh mich nicht falsch, das ist natürlich ein Kompliment. Du bist eine zum Singen Geborene. In deiner Stimme ist so was Rohes, wenn auch Feines, Smoothes versteckt, etwas Nikotinhaltiges, aber so natürlich und unverfälscht, etwas, das die großen Sängerinnen der Fünfzigerjahre hatten, verstehst du? In deiner Stimme ist viel zu viel Leben für dein Alter … deine Seele muss uralt sein.«

Die Kleine kicherte.

»Hast du eigentlich Jazz studiert? Du klingst wie eine, die den Jazz atmet, ihn aufgesogen und voll drauf hat, aber ihre Skills nicht wirklich preisgeben will, weißt du, was ich meine?«

»Ich glaube schon.«

»Ich glaube, du weißt genau, was ich meine. Deine Präsenz ist einfach unglaublich. Da oben auf der Bühne – und auch hier, wenn ich ehrlich sein darf. Du erfüllst gewissermaßen den ganzen Raum, jeden Raum, wie ich annehme. Das ist eine Gabe, ein Geschenk, eine Superkraft, die du nutzen solltest. Die du nutzen musst! Alles andere wäre unverantwortlich. Du hast das Zeug zur Heldin, verstehst du?«

»Echt?«

»Ja, klar«, lächelte der Mann und nahm einen Schluck Bier, ohne sein Lächeln zu beenden, was im Grunde unmöglich war, dachte Anton, vielleicht war es eine Nebenwirkung seines die Blutgefäße im Penis entspannenden Präparats, mit der er mittlerweile gelernt hatte umzugehen. Anton versuchte es selbst, das Bier rann ihm übers Kinn, er wischte schnell darüber, blickte nach rechts und links, keiner schien ihn gesehen zu haben.

»Wie die Callas«, setzte der Typ nach. »Nein, Sarah Vaughan. Oder Nina Simone.«

»Oh, ich liebe Nina Simone. It’s a new day, it’s a new life …«

»Yeah! Das verstehe ich, sie war zweifelsohne fantastisch, auch wenn ihr Klavierspiel ziemlich überbewertet ist, findest du nicht?«

»Äh … ich weiß nicht.«

Die Kleine zwirbelte ihre Locken zwischen den Fingern und stakste verlegen von einem High Heel auf den andern. Anton dachte, die Arme sollte erlöst werden, aber selbstverständlich nicht von ihm, Gott bewahre – aus dieser Spirale musste sie sich schon selbst rauswinden. Hier hatte sie ihr Patriarchat, und was tat sie? Ließ sich einlullen. Der Alte fuhr lächelnd fort.

»Nina war dann doch zu wenig, wie soll ich sagen, konzentriert. Irgendetwas schien zwischen ihren Fingern und den Tasten des Klaviers zu hängen. Eine Ebene, die sie nicht durchbrechen konnte, eine gewisse Hemmung, vielleicht waren es auch nur die scheiß Drogen. Wahrscheinlich. Letztendlich muss man sagen, die Frau war einfach verrückt, ein armseliger Junkie, oder?«

»Hm …«

»Apropos – ewig schade um Amy, was?«

»Ja, voll. Amy war genial.«

»Und Whitney erst …«

Anton hatte genug gehört. Am liebsten hätte er dem Typ seine Bierflasche zwischen die Zähne gerammt, gleichzeitig bewunderte er ihn für seine, nun ja, Lockerheit, seine Grenzenlosigkeit oder seinen Mut, was immer es war, das er hatte, und ihm, Anton, fehlte.

Als er Barbara endlich erblickte, glaubte er augenblicklich an Engelserscheinungen. Sie stand in einem, wie er fand, sehr hübschen, grauen, eng anliegenden Kleid und mit angestrengtem Blick, wahrscheinlich hatte sie ihre Brille nicht dabei, in ihr Smartphone vertieft, in einer Schlange an der Bar. Erleichtert wackelte er auf sie zu, hielt inne. Er mochte es, wenn sie sich unbeobachtet und sicher wähnte. Ihr Parfüm hatte eine augenblicklich beruhigende Wirkung auf ihn, er berührte ihre Schulter, küsste sie auf die Wange, die sie ihm roboterhaft entgegenhielt, damit er ihr den Lippenstift nicht versaute, und sagte: »Gott sei Dank, du bist meine Rettung.«

Sie schenkte ihm einen abfälligen Blick, den er nicht weiter beachtete. Der abfällige war Barbaras angeborener Blick. Sie hatte immer schlechte Laune, tagein, tagaus, es war ihre Natur, an die er sich gewöhnt hatte wie an andere Naturphänomene wie die unerträglich heißen Sommer, Pollenallergien oder seine nicht mehr zu kaschierende Glatze. Barbara war einfach so, ließ alles an ihm aus, missbrauchte seine Gutmütigkeit, war stets genervt von seiner positiven, naiven Grundhaltung. Die Welt sei nicht mehr als eine Kloake, sagte sie gern, der Mensch der Abschaum der Evolution, wohingegen er, der personifizierte Sonnenschein, das ewige Kindsgemüt, das morgendliche Erwachen bereits als Geschenk betrachtete. So sah sie ihn. Freilich waren das nur ihre immer wiederkehrenden Worte, Anton nahm sich selbst ganz anders wahr. Hier aber, in diesem gestelzten Biotop der urbanen Coolness, die doch nicht mehr als eine arrogante Behauptung war, hatte er sich ihrem Naturell aufs Selbstverständlichste angenähert, hier bedurfte es ihrer Härte, um auf Distanz bleiben zu können.

Barbara war immer schon so gewesen, aber des einen Schwäche ist des anderen Halt, und so hatte Anton von ihrer augenscheinlichen Herzlosigkeit auch immer profitiert, ihre Kälte war ihm Erleichterung, ihr Abstand gab ihm Freiraum. Was auch immer sie in ihrer Entwicklung geprägt hatte, die anarchistische Idealistin schien sie ausgelassen und sich schon in jungen Jahren für die vielleicht nicht gerade bürgerliche, auf jeden Fall aber gefestigte Zynikerin entschieden zu haben, auch wenn sie gleichzeitig stets ums Gegenteil bemüht war.

Wie jeder Mensch mittleren Alters hatte sie sich längst an ihre Haltung gewöhnt, es sich in ihr gemütlich gemacht und sich selbst davon überzeugt, dass sie ihr angeboren war, dass diese Haltung die ihr einzig mögliche war, also ihrer wahren Natur entsprach. Sie erstaunte Anton täglich aufs Neue, denn freilich wollte sie ihrem Milieu entsprechend liberal, weltoffen und modern sein. Ihr Wesen war jedoch wirr, flexibel und unentschieden, zu komplex, um es durchschauen zu können, was Anton wiederum faszinierte.

Ach ja, Barbara war Schauspielerin.

»Alles ok?«

»Nein«, grummelte sie. Anton ging nicht darauf ein, ihn kümmerte momentan nur seine eigene Befindlichkeit. Immerhin hatte er gerade einen Preis gekriegt, das sollte doch auch gewürdigt werden, oder?

»Mir geht das alles auf den Sack«, sagte er. »Wollen wir abhauen?«

»Nein, ich will hierbleiben und trinken, ich stehe hier seit zehn Minuten an.«

»Okay, Schatz. Nimmst du mir ein Bier mit?«

»Muss man hier fürs Saufen etwa bezahlen?«

»Natürlich nicht.«

Wieder tauchte sie ab in ihr Handy. Anton wurde sogleich von einer jungen Sängerin vereinnahmt, einem blondierten, pummeligen Mädchen in einem viel zu engen, schwarzen Kleid und bunten Vans. Sie war fast stoisch. Wortlos, nur mit einem Nicken, nahm sie Kontakt auf. Ihr Kiefer war mit einem übermäßig großen Kaugummi beschäftigt. Die tiefroten Lippen wirkten wie eine sich bewegende Maraschinokirsche auf einem festen Muffin aus dunkler, hochprozentiger Schokolade.

»Ich mochte Ihre Rede.«

Sie siezte ihn, was zum Gefühl dieses Abends passte, ihm aber aus irgendeinem Grund auch sympathisch war. Es war, wie er dachte, nur angemessen. Ihr Lächeln wirkte ernst gemeint und authentisch. Anton schätzte ihre Höflichkeit, dieses Gegenteil von Coolness und Arroganz, fühlte sich aber augenblicklich auch um ein paar weitere Jahre gealtert.

»Danke.«

»Man hat Ihre Leidenschaft gespürt, das ist in einem Umfeld wie diesem, das pausenlos von Dedication und Passion labert, ziemlich bemerkenswert.«

»Danke, das ist sehr nett«, fühlte er sich bestätigt.

»Ich meine es ernst.«

»Ja klar, also … das, äh, freut mich. Sie haben übrigens gut gesungen. Nicht ganz meine Musik, aber Sie waren richtig gut. Wie war noch mal Ihr Name?«

»Anna.«

»Ah ja, genau. Anna. Ich bin Anton.«

»Okay. Wollte ich nur gesagt haben.«

Anton nickte verlegen, die Sängerin zog weiter. Herrje, dachte er, was für ein sinnloses Gespräch! Hatte er etwas Falsches gesagt? Oder Mundgeruch? Eine Grenze überschritten? Hatte er sie, die natürlich seine Tochter sein könnte, etwa komisch angestarrt wie ein schamloser, verzweifelter, perverser, alter Sack, der er in gewisser Weise zweifelsohne auch war? Er war nicht geschaffen für so etwas, für solche Veranstaltungen, hatte kein Talent für die Kunst der spontanen Konversation. Selbst der Gesellschaft dieser netten jungen Frau, an der überhaupt nichts auszusetzen war und die ihm die offenherzigste Höflichkeit entgegengebracht hatte, vermochte er sich nicht anzupassen. Was war eigentlich sein Problem? Er wusste es nicht, er wollte einfach nur weg, runter von dieser verlängerten Bühne, diesem eitlen Eislaufplatz der Eitelkeiten, auf welchem der reinste Infantilismus herrschte, entfliehen. Wenn wenigstens Hans hier wäre, aber der war bestimmt am Witwentrösten. Da kam Barbara mit zwei Flaschen Bier.

»Die haben nur Ottakringer.«

»Ja, sicher. Das ist einer der Hauptsponsoren.«

»Es ist einfach nicht gut.«

»Wieso?«

»Es schmeckt grauslich.«

»Blödsinn, es ist einfach … ein Ottakringer.«

»Ja, eben. Es ist schlecht.«

»Findest du? Ich mag es eigentlich recht gern.«

»Natürlich, weil du es gar nicht hinterfragst.«

»Aber warum sollte ich mein Bier hinterfragen?«

»Weil das denkende Stadtbewohner nun einmal tun.«

»Denkende Stadtbewohner?«

»Das Gesöff ist nichts wert, Anton.«

»Du spinnst ja.«

»Es ist ekelhaft.«

»Es ist aus Ottakring!«

»Na und? Es schmeckt nach nichts.«

»Das stimmt nicht, das ist definitiv falsch. Du trinkst es doch auch.«

»Mir ist nichts anderes eingefallen, ich hatte Lust auf Bier und die hatten kein ordentliches.«

»Hör auf.«

»Sei ehrlich, es ist langweilig, geschmacklos, fahl.«

»Blödsinn. Jetzt sei kein Schnösel, Babs. Das sagen nur diese Schnösel hier, all die Artists und VIPs finden das Ottakringer minderwertig, dabei ist es ein ganz normales, anständiges Wiener Bier. Die zahlen lieber das Doppelte für ein Budweiser oder saufen irgendein wirklich schrottiges Gebräu, weil sie das dann schön proletarisch oder antikapitalistisch dastehen lässt. Das ist so verlogen und heuchlerisch, ich hasse das alles. Prost.« Demonstrativ trank er die ganze Flasche leer.

»Wer war die Kleine?«

»So eine Sängerin. Anna. Ist vorhin bei der Show aufgetreten. Hast du sie nicht gesehen?«

»Ich hab, ehrlich gesagt, nicht so aufgepasst.«

»Hast du mich gesehen?«

»Ja, sicher.«

»Und? Hast du aufgepasst?«

»Na ja. Der Anfang war ok, das mit Zappa und so, da konnte man dir nicht widersprechen, der Hauptteil aber wirkte recht verbittert und der Schluss ein bisschen pathetisch. Aber insgesamt gut. Ach ja, das mit dem kleinen Schwanz war mutig und witzig.«

Das war typisch Barbara. Eiskalt und pointiert. Mittlerweile gab er ihr die Sachen, die er schrieb, gar nicht mehr zum Lesen. Sie hatte ein gnadenloses Gespür für seine Fehler und Mängel, und kein Problem damit – so wie er es sah, schien es ihr eine geradezu böswillige Lust zu bereiten –, ihn ohne Umschweife auf diese hinzuweisen. Wahrscheinlich war sie ihm ein richtig gutes Korrektiv, womöglich genau das, was er brauchte, aber er konnte sich nicht helfen, alles, was sie sagte, empfand er als unqualifizierte Kritik an seiner Person. Als unheilvolle Mischung aus Persönlichem und Beruflichem. Nicht, dass er unprofessionell war, aber ihr Verhältnis war eben privater, ursprünglich romantischer Natur, kein professionelles, und so fiel es ihm schwer, mit ihrem trockenen Ton zurechtzukommen. Außerdem kam ihm vor, dass sie ihn als Schreiber unbewusst missbrauchte, dass sie sich einem gewissen Machtgefühl von Mitbestimmung und Kontrolle selbstgefällig hingab und insgeheim von ihm verlangte, so zu schreiben, wie es ihren ganz persönlichen ästhetischen und inhaltlichen literarischen Maßstäben entsprach. Um einigermaßen frei und ungefiltert schreiben zu können, musste er sich also von ihrem Urteil lösen. Das funktionierte ganz gut, und auch Barbara begrüßte diese Entwicklung der Dinge, bald fragte sie ihn gar nicht mehr, woran er denn arbeite, offensichtlich fühlte auch sie sich entlastet und befreit.

Das Schreiben war sein Ding, sein großer Bubentraum vom Astronauten gewissermaßen, nichts, worum sie sich kümmern musste, sie musste es also auch nicht würdigen oder fördern, für gut oder wertvoll befinden, sie musste gar nichts. Dieses von ihm anfänglich eingeforderte und geschätzte Desinteresse sah er jedoch in weiterer Folge immer wieder aufs Neue gegen ihn persönlich und seine Arbeit gerichtet. Ein auf Dauer ungesundes, selbstgerechtes Ringelspiel, das genau hier, zum exakten Zeitpunkt ihrer Kritik an seiner Rede ins Trudeln und schließlich zum Stoppen kam. In Gedanken ging er ihre Worte noch einmal durch, dann sprach er sie laut aus: »Der Anfang war also ok, der Hauptteil verbittert und der Schluss pathetisch.«

»Ja.«

»Das Einzige, was an deinem Urteil nicht stimmig ist, ist der Zusatz: aber gut.«

»Nein, der Text war gut. Echt.«

»Blödsinn.«

»Na wenn dir das so lieber ist.«

»Was soll daran gut gewesen sein, wenn Anfang, Mitte und Ende scheiße waren? Und findest du ganz im Ernst, dass mein Schwanz –«

»Das hab ich doch gar nicht gesagt! Kannst du bitte weniger empfindlich sein? Du bist doch heute geehrt worden, du hast einen Preis gekriegt, standst erhoben im Scheinwerferlicht auf einer Bühne, die Leute haben applaudiert – was willst du noch? Muss ich dir als Zugabe sagen, dass dein Ding riesig ist und du in Wahrheit den Nobelpreis verdienst?«

»Wow.«

»Was?«

»Nichts.«

»Jetzt reiß dich zusammen, Anton! Dein Narzissmus nervt. Ich flippe auch nicht aus, nur weil du gesagt hast: ›Meine Kinder, die ich Gott sei Dank nicht habe.‹«

»Wie bitte?«

»Du hast mich genau verstanden.«

»Aber –«

»Ach, hau ab.«

»Hau ab? Bitte sehr, ich bin schon weg.«

Wütend machte er sich auf, das nächste Bier zu besorgen. Er hatte das alles satt. Auch Barbara. Sie tat gerade so, als ob sie die geborene Mutter wäre und er der unsensible Karrierist. Als ob nicht im Gegenteil sie selbst es gewesen war, die immer vom falschen Zeitpunkt gesprochen hatte, die den guten Lauf ihrer großen Theaterkarriere nicht unterbrechen wollte. Welchen guten Lauf?, fragte er sich dann im Stillen – und welche Karriere? Sie hantelte sich doch von einer frustrierenden Erfahrung zur nächsten, hätte jederzeit unterbrechen können, um etwas wirklich Bedeutendes wie ein Kind zu schaffen, aber bitte, das Theater, immer das Theater, wie er das hasste.

Über Jahre war es nämlich so gelaufen: Wenn er mit dem Kindsthema angefangen hatte, weil eine Freundin oder Bekannte wieder einmal Mutter geworden war, endete es für gewöhnlich in einem Riesenstreit, und es hatte offenbar nichts mit ihm zu tun. Allein die biologische Möglichkeit der Mutterschaft löste eine dunkle Kette von Gefühlen, irrationalen Projektionen und Ängsten in ihr aus, die sie nicht im Griff hatte, die im Gegenteil die Kontrolle über sie und in weiterer Folge selbstverständlich auch über ihn hatten. Mag sein, dass ihre eigene Mutter die Schwangerschaft mit ihr verflucht oder sie nicht gestillt hatte, mag sein, dass ihre Kindheit freudlos gewesen war – was wusste er schon. Aber ihre Mutter war doch eigentlich ganz nett, die wäre doch sicher eine liebevolle, sich aufopfernde Oma, oder? Die würde sich über ein Enkelkind bestimmt total freuen, da war sich Anton ganz sicher. Oder täuschte er sich in der Frau? War es so schlimm um seine Menschenkenntnis bestellt? Ach was, die spinnt ja, sagte er sich jetzt. Immer schön die Toughe geben, immer schön in alle Richtungen austeilen, gesellschaftskritisch, feministisch, verbittert und zynisch sein, aber umkippen wie ein Kartenhaus, wenn ein süßes Kind vor ihr die Straße überquerte oder wenn er, Anton, einen doch wohl eindeutig literarisch motivierten Satz von sich gab. Und wie gern hätte er ihr ihre sogenannte Karriere vor die Füße geworfen. Wie gern hätte er ihr die harte Wahrheit als Spiegel vorgehalten. Er hielt diese Wahrheit in Händen, hatte sie immerzu vor Augen, drängte sie jedoch stets zur Seite und deckte sie zu. Um ihretwillen, um des Friedens willen, um nur ja die große Höllenpforte nicht zu öffnen. Nur so konnte das Friedensprojekt Liebe funktionieren, nur auf festem Lügengrund konnte menschliches Miteinander funktionieren, alles andere bedeutete Krieg, davon war Anton überzeugt.

Das letzte Stück zum Beispiel, in dem sie gespielt hatte: Irgendein russischer Klassiker – war es Gogol oder Gorki? – in St. Pölten. Er saß mitten im Publikum, zwischen diesen St. Pöltner Abonnenten, hauptsächlich freundliche, dem Anlass entsprechend gekleidete und herausgeputzte, bürgerliche Pensionisten, und kämpfte sich mit ihnen durch die zweieinhalb Stunden wie durch ein trockenes Wüstenstück. Es war eine klassische Verwechslungskomödie und hätte demnach wohl sehr lustig sein sollen, allein keiner der immerhin dreihundert Zuschauer konnte dem behaupteten Humor folgen. Das Ganze war einfach nur hysterisch. Anton verbrüderte sich instinktiv mit den ihm fremden St. Pöltnern und respektierte ihre Ehrlichkeit. Das sogenannte Provinzpublikum war also nicht etwa blöd, kunstfeindlich oder bloß altmodisch, nein, es war offen für Neues – warum sonst hätte es ein Theater-Abo erworben? –, und schlicht und ergreifend ehrlich. Wie Kinder. Das forderte seinen Respekt ein. Wo das kunstaffine Wiener Publikum in die Knie gegangen wäre, den Abend für total geil befunden, aus Prinzip gelacht und gejubelt hätte, weil es sich nicht die Blöße geben wollte, den Humor des Theatermachers nicht zu verstehen oder seine politischen Metaphern und Anspielungen nicht zu erkennen, war das provinzielle Publikum selbstbewusst und direkt in seinen Reaktionen. Ein Witz war immer noch ein Witz und was sie hier geboten bekamen, war nun einmal nicht witzig.

Und so reagierten sie eben gar nicht, verharrten in ihren unbequemen Stühlen, lediglich ein paar gutturale Kicherlaute erhoben sich neben dem üblichen Hüsteln von Zeit zu Zeit aus der Stille des Zuschauerraums. Die hier versammelten Menschen hatten sich ohne Worte geeinigt, diesen nächsten krampfhaft bemühten Kunstangriff, der ihnen wieder einmal keine Geschichte erzählte, sondern nur die nächste krampfhaft bemühte Welt- und Gegenwartserklärung vorhielt, einfach auszusitzen. Anton überlegte währenddessen ebenso krampfhaft bemüht, wie verdammt noch mal er sich nach der Vorstellung verhalten sollte. Natürlich würde er Barbara und ihren Kollegen gratulieren, natürlich würde er ihr später sagen, dass sie die Beste war, die Talentierteste der Truppe, dass es eine Frechheit sei, dass sie hier in St. Pölten spielen müsse und nicht im Burgtheater oder in Berlin mit den ersten Regisseuren arbeite und gefeiert werde.

Dass Barbara dieses Spiel bewusst spielte – mit ihm und er mit ihr, über so viele Jahre hindurch! –, war so lächerlich verlogen und würdelos, dass er kotzen mochte, nicht nur im Theater, auch zuhause, nicht nur nach den Vorstellungen, sondern immerzu, jeden Tag, hier und jetzt.

Aufgebracht reihte er sich in die Schlange vor der Bar ein und blickte zurück auf Barbara, auf sein Mädchen, seine Frau, seine Gefährtin, seine Liebe. Das war sie doch. Sie gehörte zu ihm, wie er zu ihr gehörte, das war unbestritten. Sie war seine große Liebe, oder? Die Schauspielerin, auf die er doch auch stolz war. Auch das war die Wahrheit.

Sie unterhielt sich schon wieder ganz locker mit so einem Hipster mit stylisch gepflegtem Vollbart, lachte laut und hatte wie immer kein Problem mit Situationen wie dieser, hatte das fürchterliche Gesagte umgehend wieder vergessen und eine Sekunde später weitergemacht, wohingegen Anton sich fragte, wie es so weit hatte kommen können, sofort das Ende ihrer Beziehung vor sich sah, sich allein gelassen fühlte und seine oder besser ihre gemeinsame, ja die gesamte Zukunft infrage stellte. Ihr Lachen beleidigte ihn. Wie konnte sie ihn so wegwerfen, beiseiteschieben, sich dem Nächstbesten an den Hals werfen und lachen? Also holte er sich eine neue Flasche Ottakringer Helles, trank sie halb leer und ging wieder zurück, packte sie am Oberarm, entriss sie ihrer Unterhaltung und sagte: »Warum machst du das?«

»Warum mache ich was

Der Vollbart, ganz Gentleman, bot seine Hilfe an. »Alles ok? Belästigt dich der Typ?«

Anton nahm den Haken, der ihm zugeworfen wurde, instinktiv an, schnappte zu, der Haken bohrte sich in sein Gaumenfleisch, der Blick des Feindes zog daran, der Schmerz machte ihn wütend. Er musterte den jungen Mann, machte einen kräftigen Schluck und sagte: »Wir duzen uns also? Hat dir deine Mutter nichts beigebracht?«

»Schon in Ordnung«, beschwichtigte Barbara. »Das ist mein Freund.«

»Ah, der Dude, der sich nicht von der CD trennen kann. Mit dem bist du also zusammen …«

Der Dude lächelte gereizt, wusste nicht, ob er lachen oder seiner aufsteigenden Aggression Raum geben sollte. Am liebsten wollte er dem Idioten sein blödes Maul stopfen. Er blieb jedoch ruhig, dachte vernünftig über eine mögliche Reaktion nach, wog kurz die Vor- und Nachteile physischer Gewalt ab und widmete sich seinem Gegenüber schließlich mit einem lässigen: »Scheiß bier, das Ottakringer, was?«

»Darauf kannst du einen lassen«, sagte der Typ, der Producer oder aber Chief eines angesagten jungen Plattenlabels sein mochte – Arschloch Records womöglich. Anton konnte sich einen zynischen Grinser in Barbaras Richtung nicht verkneifen und deutete arrogant wissend auf den knapp dreißigjährigen Vollbart, der offenbar Wichtiges zu sagen hatte, denn sein mit einem silbernen Totenkopf beringter Zeigefinger fuchtelte durch die Luft, bevor er zu folgender Weisheit ausholte:

»Weißt du, Alter, alles verändert sich und nichts besteht. Das ist der …«, er hielt inne, suchte nach dem Wort, »… circle of life. Wir alle müssen sterben, früher oder später. Es ist nur ein blödes Plastikteil, dem du nachtrauerst. Und Musik ist definitiv analog, ich meine ganz grundsätzlich.« Und dann wurde er lauter: »Musik ist Leben, das Leben ist analog und das Digitale ist leblos, eine Lüge.«

Anton applaudierte in einem langsamen, die Aufmerksamkeit der Herumstehenden erregenden Rhythmus, was den Vollbart natürlich provozierte. Lachend schüttelte er seinen Kopf, drehte sich nach seinen Freunden um, die näher kamen und lauter wurden, ihr Testosteron sammelten und ihm Unterstützung garantierten.

»Eine herrliche Rede«, sagte Anton. »Sie hätten dir den Preis geben sollen – bestimmt hätten sie dir aus der Hand gefressen, wären dir zu Füßen gelegen. Aber was genau will diese Aneinanderreihung billiger Klischees heißen?«

»Dass du keine Musik hörst, wenn du sie digital abspielst. Das ist ein wissenschaftlich belegter Fakt.«

»Und was höre ich dann?«

»Eine Simulation.«

»Eine Simulation?«

»Eine Simulation.« Er nickte zur Bestätigung, war sich so sicher wie ein Sekundenzeiger über seinen nächsten Schritt.

»Keine Musik also.«

»Nope.«

Anton lachte gehässig: »Noch einmal, was soll das heißen? Das ist doch unsinnig, völlig substanzlos. Ich meine, dein Fuß wippt ganz automatisch zu einem Beat, du spürst die Bässe im Magen, du kannst dazusingen, weil du den Song kennst – und sagst mir ernsthaft, das sei keine Musik?«

»Ist gut, jetzt beruhigt euch. Ihr seid unterschiedlicher Meinung, das muss ja noch keinen Krieg bedeuten«, versuchte Barbara die Wogen zu glätten, aber der Sturm in Antons Kopf hatte die Wellen schon zu hoch gepeitscht. Sie schlugen ihm entgegen, mitten ins Gesicht. Er war jetzt Ahab, der keine Wahl hatte und weitermachen musste.

Ein paar Fotografen und ein Kamerateam des öffentlichrechtlichen Rundfunks hatten Unruhe gewittert und sich dazugesellt. Was auch immer an diesem langweiligen Abend in dieser Blase der Selbstgefälligkeit, die niemanden da draußen auch nur im Geringsten kümmerte, das wussten die Fernsehmacher und Schreiberlinge ganz genau, ein bisschen Ablenkung, Glamour oder Extravaganz versprach, reichte vielleicht für eine kleine Mitternachtsstory oder ein Skandälchen, für eine Erwähnung in der U-Bahn-Zeitung, auf Twitter oder Instagram. Anton bemerkte sie gar nicht und fuhr fort.

»Du sprichst also vom Leben und vom Sterben, vom Wandel der Zeit, dozierst über das Gesetz der Veränderung und bestehst gleichzeitig auf dem Alten, dem noch viel Älteren, Analogen, auf der Schallplatte, auf einer altbackenen Retro-Ideologie? Hast du mir nicht zugehört? Siehst du nicht, wie dumm das ist? Das ergibt überhaupt keinen Sinn!«

»Nur weil du die Zeichen der Zeit nicht erkennst und etwas nicht kapierst, heißt das noch lange nicht, dass es sinnlos ist. Die Rückbesinnung auf das Alte, Analoge war längst überfällig und hat nichts mit Konservativismus zu tun. Manchmal geschieht einfach das Richtige. Außerdem könntest du endlich den Arm dieser Lady loslassen, Bro.«

»Du sagst Lady zu meiner Freundin? Du nennst mich Bro? Wie alt bist du – vierzehn?«

»Anton! Hör auf. Lass ihn doch. Lass uns einfach gehen. Bitte.«

»Armer, alter Wichser«, sagte der Vollbart und wollte sich davonmachen, Anton aber verlor die Kontrolle, stürzte sich auf ihn, donnerte ihm seine Faust auf die Nase; sofort machte sich Blut auf den Weg durch seinen dichten Bart, an welchem Anton unsinnig zerrte wie an einer aufgeklebten Maske, während sein Fuß ungelenk gegen das Schienbein seines verdutzten Gegenübers stieß. Dutzende Handys waren plötzlich auf sie gerichtet, die fetten Canons und Nikons klickten, Antons Bierflasche entglitt ihm und zerbarst auf dem Boden, er stürzte handvoran auf die Scherben und blutete. »Scheiße!«, brüllte er, was noch mehr Menschen anlockte. Mehrere Gäste und Securitys hielten die Kontrahenten auseinander, einer der Veranstalter bat um Ruhe und Verständnis, immerhin stand diese Preisverleihung unter dem Motto Diversität & Toleranz.

Letztendlich war es also das – nicht der Inhalt seiner Rede, sondern das Blut, der fiktionalisierte Skandal –, was Anton Wagenbach für einen Augenblick ins Zentrum der popkulturellen Aufmerksamkeit seines Landes hievte. Blut verkaufte sich immer noch besser als Musik oder Prominenz. Minuten später waren die Fotos und Videos online, bald war von dem scheinheiligen Musikjournalisten zu lesen, der eben noch, seinen edlen Preis in Händen, schwülstig von den Möglichkeiten der Menschen- und Weltverbesserung gepredigt und kurz darauf den nächsten Krieg angezettelt hatte. Barbara bestand darauf, dass er die Nacht in seiner alten Wohnung verbrachte und schrieb um drei Uhr morgens eine SMS: Das war’s. Ich hab keine Lust mehr und das macht auch keinen Sinn mehr.

Am nächsten Tag ging sie nicht ans Telefon. Sie schrieben sich aggressive, traurige und zärtliche Nachrichten, bedauerten den Weg, den romantische Gefühle gezwungen waren zu gehen, das große Ende war gekommen, das wussten beide und daran gab’s nichts zu rütteln. Anton wollte es schon auf der Party erkannt und beschlossen haben, Barbara konterte, kam immer wieder auf seinen Satz mit den Kindern und ihre von ihm konsequent ignorierte biologische Uhr zurück, worauf er gar nicht näher eingehen wollte, ja nicht eingehen konnte, also legte er neue, gleichsam uralte Vorhaltungen auf den Tisch, die wiederum sie wegwischen musste – irgendwann brach Barbara das kindische Pingpong der Verletzungen und Verletztheiten ab. Anton holte seine Sachen und zog wieder in seine kleine Wohnung, zelebrierte die Einsamkeit mit einer ungesunden Melange aus Schlaflosigkeit, vernachlässigter Körperhygiene, Fernsehen und Alkohol, und wollte endlich seinen Roman schreiben.

Nach drei Monaten trafen sie sich an einem neutralen Ort, in einem Café im ersten Bezirk. Sie saßen zwischen gestressten Touristen und nervösen Tauben. Ihre doch ganz natürliche Art, die für sie so typische Nüchternheit erschien ihm plötzlich unerträglich. Er fragte sich, wie er es acht Jahre mit dieser Frau ausgehalten hatte. Ja, er erwog sogar die Möglichkeit, dass sie tatsächlich verrückt war – in einem klinischen Sinn. Sie ließ sich immer treiben, von links außen nach rechts außen, von den höchsten Höhen bis ganz nach unten. Er konnte ihr nicht mehr folgen, ihr nicht gerecht werden, und er bezweifelte, dass irgendjemand das konnte. Selbstverständlich hatte sie kein Problem mit dem Alleinsein, hatte sogar schon einen Neuen im Visier, nichts Festes, sie wolle es langsam angehen, sagte sie leise, wobei sie ihren Blick starr auf ihre Kaffeetasse hielt. Für Antons zunehmende Verwahrlosung zeigte sie kein Verständnis, mehr noch: kein Interesse. Sein Bart war ungepflegt, seine Haare fettig, seine Haut speckig und unrein – es ekelte sie regelrecht vor ihm. In ihren Augen war er zurückgekippt in eine kindliche Trotzphase, eine egozentrische, womöglich analfixierte und, wie sie meinte, typisch männliche Reaktion auf Zurückweisung und wiedergewonnene Freiheit, mit der er, narzisstisch wie er nun einmal sei, nicht umgehen könne. Sie habe diese Männerfantasien satt und auch nie verstanden. Warum war es ihnen der größte Traum, sich gehen zu lassen, ungewaschen vor dem Fernseher rumzuhängen, ungesundes Zeug zu fressen, Fußball und Pornos zu schauen und haltlos Bier zu saufen? Es war einfach nur lächerlich infantil, aber gut, er konnte tun, was immer er wollte, sie würde ihm nichts mehr vorschreiben. Höflich erkundigte sie sich nach seinem Romanprojekt, was Anton anständig fand. Er wollte schon groß ausholen, erkannte aber umgehend ihr Desinteresse, ihre zur Seite rollenden Augen – als ob sie sich nach innen drehen, verstecken wollten – verrieten ihm, dass sie die Frage gleich wieder bereute, also entschied er sich für eine eher knappe, kryptische Antwort, sprach von seiner intensiven Recherche, die ihn bald nach England führen würde. Er sei hinter einem Mann her, der untergetaucht, ja offenbar auf der Flucht sei, einem ominösen Rechtsradikalen. Sein Name: Julius Aschmann.

Schon ein Jahr zuvor, erinnerte sich Barbara, hatte Anton angefangen, von diesem Mann zu reden, hatte sich aufgebracht gezeigt, weil dieser mit der Veröffentlichung rechter Zeitgeistparolen aufgefallen war. Ein reaktionärer St. Pöltner Lehrer? Wie skandalös, hatte Barbara verächtlich geätzt. Aber nein, so Anton schockiert, Aschmann sei ein verdammter Nazi. Um das behaupten zu können, müsse er sich schon eindringlicher mit ihm beschäftigen, hatte sie ihn belehrt, freilich hasse sie das alles, aber wenn er gefährliche Nazis jagen wolle, solle er besser oben anfangen, in den ausgetrockneten Hügeln der sogenannten Parteienlandschaft, einer kalten und unwirtlichen, öden, luftarmen Gegend.

»Registrierst du meine Sprache?«, hatte sie dabei selbstbewusst gelacht. »Ich sollte schreiben, nicht du

Diese Leute müsse er jagen, die hätten alle ideologischen Dreck am Stecken, und jetzt im einundzwanzigsten Jahrhundert werde ihnen der Dreck wieder bereitwillig vom Stecken geleckt, war sie fortgefahren, erinnerte sich Barbara jetzt.

»Die Sache mit der großen Aufarbeitung war doch immer schon eine große Lüge, findest du nicht? Das waren doch immer nur Bücher, Gedichte und Zeitungsartikel, politische Festtagsreden, Theaterstücke oder Filme. Ich als Schauspielerin weiß das, ich bin mittendrin in dieser Aufarbeitungsszene, und das ist auch wichtig und richtig, aber mitunter, so ehrlich muss ich sein, bin ich auch nur ein Teil der großen Lüge. Diese Stücke und Filme werden dem Publikum ja regelrecht aufgezwungen. Im Grunde will das keiner sehen und hören, aber das traut sich auch niemand auszusprechen, also nicken alle betroffen, werfen verstohlene Blicke auf ihre Uhren oder kehren nach der Pause nicht mehr zurück. Die Attacken und Volksbeschimpfungen unserer Schriftsteller und Künstler der Nachkriegsjahrzehnte sind vom Publikum nie geschätzt worden, immer nur von ihresgleichen, von den Selbstgerechten, die sich über alle und alles erhaben meinen, nur weil sie in Universitäts- oder Kunstkreisen verkehren, die haben vom eigentlichen Leben der Leute keine Ahnung – will sagen: Wir haben keine Ahnung. Das Spucken auf das eigene Land und seine Geschichte ist zur Pflichtübung geworden, zu einer Art Normalität. Der Österreichhass hat sich unter den Intellektuellen mit der Zeit etabliert. Bernhard, der alte Trachtenträger, hat ihn zum Humor hochstilisiert, seit damals lacht jener Teil des Volkes, der sich immer noch ungeniert Intelligenz nennt, lauthals darüber, lacht sich kaputt, wenn auf einer Bühne in einem Stück das Wort ›Nazi‹ oder gar ›katholischer Nazi‹ fällt. Wie lustig! Oder wenn die Erna in Schwabs Präsidentinnen sagt: ›Du bist ja eine Nazi!‹ Ein fulminanter Lacher. Und das nennen sie dann Geschichtsaufarbeitung, weil sie in Wahrheit auch nicht wissen, wie sie mit dieser Geschichte umgehen sollen. Weil das keiner weiß. Weil man in Wahrheit mit dieser Geschichte gar nicht umgehen kann. In Wahrheit haben wir nämlich keine Wahl. Die Verdrängung ist unumgänglich, wenn man als ein in dieses Land Hineingeborener so etwas Unverschämtes wie ein glückliches Leben anstrebt. Wie, wenn nicht mit Verdrängung, soll man denn dieser Schuld gegenübertreten? Unser Dilemma ist, dass wir gar keine Wahl haben, dass wir alle damit leben müssen, mit der Geschichte, mit der Wahrheit, mit der Schande und mit der Schuld.

Der Holocaust ist zum goldenen Götzen, zur Cash Cow, zur Klagemauer, zur kulturtouristischen Attraktion verkommen, zum Ausstellungsmarathon, zum literarischen Bestsellerstoff, der schlecht gelaunte Leser, seriöse Rezensionen, Stipendien und Preise verspricht, womöglich Friedenspreise. Wenn also jetzt einer mit seinem Kunstschlauch die österreichische Gesellschaft ordentlich vollspritzt, nicken ein paar Großstadtköpfe betroffen mit denselben oder wackeln amüsiert mit ihren Großstadtschultern, während das Volk dazu schweigt, sich wundert, sich die Pisse von den Schultern streicht oder wütend zurückbrunzt. Und nun, in den herrlichen Zeiten der gottverdammten sozialen Medien, ist das große Schweigen beendet, das Volk brüllt und scheißt zurück – und dies, so unerträglich das ist, ist nun einmal die Gegenwart, der Shitstorm ist die Realität dieses verfluchten Jahrhunderts. Dazu kommt, dass Österreich nur ein Fliegenschiss auf der Weltkarte ist und alle Länder und Gesellschaften dieses Planeten dieselben oder ähnliche Leichen im Keller horten. Das alles ist, wie wir also sehen, nur normal – eine endlose, ekelhafte Aneinanderreihung des Immergleichen: Krieg, Mord, Trauma, Lüge, Korruption und so weiter.«

Bisweilen versuchte Anton sie aufzumuntern, ihren, wie er fand, recht dunklen, womöglich ihrem Beruf geschuldeten Hang zum Dramatischen ins Lot zu bringen, war bemüht, ihr als Gegengift kleine Injektionen des Guten und der Schönheit der sie umgebenden Welt zu verabreichen, ihr das unglaubliche Glück der Gegenwart und des Wohlstands vorzuhalten. Einmal hatte er ihr vorgehalten, sie würde rechts denken und links leben, so erinnerte sie sich, nichtsdestotrotz folgte er ihren Gedanken immer wieder bereitwillig und gerne, hielt sie für ziemlich klug, was ihr natürlich schmeichelte. Auf Julius Aschmann als gewieftem Menschenverführer und Rattenfänger sowie auf der viel größeren Gefährlichkeit der Untergrundnazis bestand er jedoch beharrlich.

Die Tatsache, dass sie gern auf alles spuckte, aber seinen Versuch, aktiv zu werden, so abfällig belächelte, verletzte ihn wahrscheinlich mehr, als sie beide das wahrhaben wollten.

Daran erinnerte sich Barbara, als Anton bereits weg war. Sie hätte sich aber ohnehin in keine Diskussion mehr verwickeln lassen, hätte sich auch wirklich zusammenreißen, all ihre Kräfte sammeln und die größte Disziplin aufbringen müssen, um seinen abstrusen Ausführungen zu seinem großen Roman noch einmal zu folgen – nein, nein, es war schon alles gut so. Anton war ein Kind, womöglich ein verrücktes mit besonderen Bedürfnissen, das seiner inneren Stimme gehorchen und diesem rechtsextremen Schmetterling nachlaufen musste, wer weiß, vielleicht war das seine Bestimmung, aber sie war nicht seine Mutter, sie war gar keine Mutter, das Kindsthema war ein für alle Mal vom Tisch – sie war neununddreißig, Herrgott! Und jetzt hatte sie nicht einmal mehr eine Beziehung. Es war doch nicht verwerflich, kinderlos zu bleiben – in einer Welt wie dieser. Und sie wollte nie eine werden, die sich von einem gnädigen Spender ein Kind machen lässt, nur um vor der Gnade der Mutterschaft in die Knie zu gehen. So verzweifelt durfte sie nicht sein, nicht jetzt, nicht in drei Jahren, nie.

Wie sie dann aber so allein in ihrer Wohnung war, eine Flasche Wein öffnete, sich ans offene Fenster setzte, durchatmete, eine Zigarette anzündete und den Rauch gegen die frische Luft schickte, wie sie die letzten acht Jahre Revue passieren ließ, fühlte sie sich bleiern und alt. Die Stille des Raumes hing schwer wie eine eingezogene Decke über ihr, kam näher und näher.

Draußen hatte sich die Nacht über die Stadt gelegt und verbarg ihren Dreck, die tausend Geschichten, die sie täglich besudelten. Selbst die schamlose Stadt, der tagsüber alles egal war, konnte nicht ohne Verdrängung existieren – und die Nacht entlockte ihr definitiv eine ihrer angenehmeren Seiten. Ein paar Sterne blinkten am Himmel, ein angenehmer Wind ließ die Bäume im Park sich hin und her wiegen, sie tanzten einen kleinen Slowfox – oder wie hieß der Nullachtfünfzehntanz, bei dem man vom linken auf den rechten Fuß wackelte und die Oberkörper sich unbeholfen aneinanderdrängten? Wie hatte Barbara diese Unbeholfenheit gemocht! Sie war so menschlich, und alles Menschliche war gut. Früher. Wenn der eine nicht wusste, wo er seine Hände hinplatzieren sollte, wenn die Gesichter sich näher kamen, man den Körpergeruch des anderen aufsog. Wie schön es war, den Schweiß des anderen zu schmecken. Im Hintergrund lief irgendeine Schnulze, und man wusste instinktiv, diesen Moment, sosehr man sich selbst, die eigene Unsicherheit auch infragestellte, womöglich hasste, dieser Moment würde alles schlucken und relativieren, ihn würde man nicht so schnell, vielleicht nie mehr vergessen, er würde einen ein ganzes Leben lang als Erinnerung an das Gute begleiten.

Aber das war früher.

Da weinte Barbara. Die Tatsache, dass sie hier saß und über das Verhältnis zwischen Kunstbetrieb und Holocaust nachdachte und nicht etwa über den bedenklichen Zustand ihres eigenen Lebens, darüber, wie sie und Anton es vielleicht doch noch schaffen und miteinander in die ohnehin schon schwer angeschlagene Zukunft gehen könnten, wie diese Möglichkeit des Friedens, die Möglichkeit einer Insel der Freundschaft, die doch auf lange Sicht der romantischen Liebe bei Weitem überlegen war, in so unerreichbare Ferne gerückt war, machte sie still und traurig. Sie hatten es nicht geschafft, hatten es verbockt, hatten das Geschenk der Liebe abgelehnt, mit Füßen getreten, hatten nicht einmal Danke gesagt. Das tat ihr leid und da tat sie sich selbst leid. Und da, sosehr sie sich auch dagegen wehrte, tat ihr auch Anton leid.

Vor acht Jahren hatte sie einen Artikel von ihm gelesen. Er hatte eine seiner Lieblingsplatten aus den Neunzigern in Erinnerung gerufen: Blackacidevil von Danzig. Sie erinnerte sich noch, dass er die Tatsache, dass so gut wie jedes Signal auf dieser Aufnahme verzerrt war, gepriesen hatte. Dieses Album sei eine mystische Hochzeit, hatte er geschrieben. (Oder war es mythische Hochzeit?) Außerdem habe dieses Album Hans Tellar nachhaltig beeinflusst, dessen Arbeit er den Lesern ausdrücklich ans Herz lege.

»In einem abgedunkelten, schwülen Raum liegen Verzweiflung, Aggressivität und Schönheit miteinander im Bett und verschmelzen zu einem traurigen Monster.«

Dieser Satz hatte Barbara beeindruckt – und tatsächlich lernten sie sich noch am selben Abend in der Theaterkantine kennen, das konnte kein Zufall sein. Er war mit einem ihrer Kollegen bekannt und deswegen in der Vorstellung gewesen. Sie wurden einander vorgestellt, saßen am selben Tisch, tranken mehrere Runden Weißwein, ihr Gespräch war leicht, die Worte kamen von selbst, sie zwang ihn nicht, über das Theaterstück zu sprechen. Rückblickend würde sie das später einmal interessant finden, dass ausschließlich er, der Mann, mitsamt seiner Arbeit bei diesem ersten Aufeinandertreffen von ihr bewundert wurde, ihre kurz davor geleistete, ihr noch ins Gesicht gezeichnete hingegen nicht einmal erwähnt wurde. Wie auch immer, die Diskrepanz zwischen diesem Mann und dem von ihm Geschriebenen war so krass, dass Barbaras Interesse gleich noch viel größer wurde.

Sie sprach ihn also auf seine Kritik an. Seine Freude über ihr Feedback war authentisch und offen und provozierte wiederum ein Strahlen in ihrem Gesicht, ein für sie körperlich spürbares. Dass diesem freundlichen Sonnenschein eine solch offenbar dämonische, animalisch finstere und exzentrische Platte so viel bedeutete, eröffnete einen doch aufregenden und vielversprechenden Blick in seine Abgründe. (Dieselben Abgründe freilich, die sie ihm Jahre später vorhalten würde.)

»Ist dieser Danzig nicht so was wie ein Satanist?«, fragte sie, so unschuldig es ihr möglich war.

»Ich weiß nicht. Ich glaube, das ist nur ein eitles Spiel mit der Dunkelheit. Ich kann so etwas, ehrlich gesagt, nicht ernst nehmen.«

»Das heißt aber nicht, dass es nicht existiert oder praktiziert wird und auch gefährlich ist.«

»Nein, aber diese Gefährlichkeit macht doch einen erheblichen Teil des Reizes aus, oder? Die Negermusik der Fünfziger, das Sinistre und Unchristliche, das Spiel mit dem Höllenfeuer war doch genau, was die Leute schon damals cool und aufregend fanden. Der Bösewicht war immer schon der reizvollere Charakter. Warum sollte sich das geändert haben? Früher reichte eben ein Hüftschwung aus. Ein Schrei, lange Haare oder dunkle Haut. Heute muss man schon andere Kaliber auffahren, den Teufel höchstselbst bemühen, um den Leuten Angst zu machen.«

»Ich mag Dinge, die mir Angst machen.«

»Echt? Haha … Na siehst du …«

Spätestens jetzt, wo die große Verunsicherung einsetzte, war Anton klar geworden, dass sie hier am Flirten waren.

»Und was sind das für Dinge?«

»Weiß nicht. Sag du es mir.« Sie lächelte ihn an, wie ihn noch nie ein Mensch angelächelt hatte, da war es um ihn geschehen. Wäre das nicht passiert, hätte er sich wohl augenblicklich höflich verabschiedet, denn Gespräche dieser Art, die keine Gespräche waren, nur ein gegenseitiges Abchecken und Beschnuppern, ein Ausloten von Möglichkeiten und Grenzen, mochte er nicht. Nicht, weil er sie grundsätzlich ablehnte, sondern weil sie ihn in einen irrationalen, kindlichen, schwammigen Zustand zurückkatapultierten. Sie waren bodenlos, und ein fester Boden unter den Füßen war ihm ganz recht, das Gefühl von Gefährlichkeit in der Kunst ausreichend. Er schätzte Glenn Danzig, wollte aber nicht Glenn Danzig sein. Feuchte Fanträume, diesen doch überzogenen, wahrscheinlich psychopathischen Grad an Identifikation kannte er nicht. Mutig flüsterte er ihr ins Ohr: »In einem Lied singt er übrigens: I want to bathe in the danger of ourselves

Für die nächsten Minuten, vielleicht waren es auch nur Sekunden, vielleicht war es aber auch eine Stunde, lächelten sie sich nur an. Ein nettes Lächeln folgte auf ein vorsichtiges, ein schüchternes auf ein spontan ausbrechendes, ein gespieltes auf ein unverstelltes. Barbara verliebte sich in genau diese Unsicherheit, die, wie sie irgendwann sagen würde, im Bett mit der satanischen Gefahr zu dem von ihm erwähnten traurigen Monster werden konnte. Ja, die Zukunft war ein trauriges Monster, das spürte sie in diesem Moment, das war das Gefühl, von dem sie eingenommen wurde und von dem sie mehr wollte, jenes Gefühl, auf welchem sie den nächsten Morgen, die nächsten Wochen, ihr ganzes weiteres Leben aufbauen wollte. Jene ungeschützten Minuten des Lächelns hatten einen Raum eröffnet, einen für sie beide, einen für Barbara und Anton reservierten.

Und hätte der Kantinenbetreiber nicht wiederholt an die Sperrstunde erinnert, sie hätten wohl die ganze Nacht weiter gelächelt.

Nun aber hatte das traurige Monster sie eingeholt, seine Schwingen über sie gebreitet und harrte geduldig aus, wartete auf weitere Befehle. Seine Gefährlichkeit hatte es längst eingebüßt, sie hatten es gezähmt und zum faulen, bequemen, fett gewordenen Haustier degradiert.

Der mitteleuropäische Reinigungskult

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