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SONNTAG

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„Und wenn wir einfach liegen bleiben?“

Anja sah ihn verständnislos an. Dass seine Finger auf ihrem Hintern spazieren gingen, bemerkte sie überhaupt nicht.

„Regelmäßig, hat die Hebamme gesagt“, erinnerte sie Thamm in denselben belehrenden Ton, den auch die Geburtshelferin draufhatte. „Benni braucht seinen Rhythmus, weißt du doch.“

Gott, wie Thamm dieses blöde Weib hasste! Diese verfluchte Hebamme hatte eine Art an sich, die ihn jedes Mal ganz rasend machte – und er wusste nicht einmal genau, wie sie das eigentlich fertigbrachte. Stolzierte einfach an ihm vorbei, als ob er Luft wäre, schaute auch sonst nicht nach links oder rechts, fragte kaum nach dem Baby – immer nur nach Anja. Der reinste Kaffeeklatsch! Und dann faselte sie was von Zeitlassen und „wieder Frau werden“ und „in sich hineinhören“ und machte aus der ganzen Sache mit dem Kind den puren Geschlechterkampf. Anja solle sich da nicht reinreden lassen, als Mutter fühle sie eh von Natur aus viel mehr, als Thamm als Vater verstehen könne. Solche Sprüche ließ dieses Weib vom Stapel!

Und hinterher bekam Anja noch irgend so ein Kügelchen unter die Zunge gelegt, die Hebamme ließ noch ein paar andere von der Sorte wegen Bennis Dreimonatskoliken da – und stolzierte dann genauso verbiestert wieder an Thamm vorbei, wie sie gekommen war, wobei sie sich gerade so einen eiskalten Gruß zwischen den Zähnen rauspresste.

Dummes Miststück – zum Glück kam sie jetzt nicht mehr.

Aber dass Anja plötzlich an diesen ganzen homöopathischen Mist glaubte und auch sonst alles nachplapperte, was diese scheiß Hebamme ihr ins Ohr gesetzt hatte, das irritierte Thamm schon. Irgendwie war Anja nicht mehr dieselbe, seit das Baby da war.

„Meinst du wirklich, Benni kriegt das mit, wenn er mal eine Viertelstunde später die Flasche bekommt?“, versuchte es Thamm wieder. Er hatte im Augenblick noch keine Lust auf den ganzen Zirkus, der hier neuerdings in vierstündigem Rhythmus abgefeiert wurde und vor dem es kein Entrinnen gab.

Je näher seine Finger Anjas Gürtelschnalle kamen, umso vorsichtiger tasteten sie sich heran.

„Ja, klar“, maulte Anja leicht gereizt, „da machen wir hier mal eine Ausnahme und da mal eine – und dann können wir’s gleich vergessen.“ Wie nebenbei fegte sie Thamms Hand von ihrer Hose und setzte sich auf.

Na toll, dachte Thamm angesäuert, der Mittagschlaf war jetzt also endgültig vorbei.

Aber Anja kam nicht weiter als bis zum Rand vom Sofa. Dort beugte sie sich nach vorn, stützte den Kopf in die Hände und fuhr sich immer wieder massierend über die Stirn.

„Ist dir wieder schwummrig?“, fragte Thamm besorgt.

„Das geht einfach nicht weg“, murmelte Anja. „Dieses blöde Eisen!“

„Soll ich dir Pflaumensaft holen?“, bot er sich sofort an, aber Anja schüttelte energisch den Kopf. „Ich kann das Zeug nicht mehr sehen. Dann lieber Eisenmangel!“

Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten, und atmete tief durch. „Was soll’s“, meinte sie schließlich und sah sich nach Thamm um. Ein schmales Lächeln rann über ihre Lippen.

Thamm griff es sofort auf und schlängelte sich an sie heran. „Vielleicht sollten wir das mit dem Aufstehen lieber ganz langsam angehen, hm?“ Sein Grinsen wurde breiter. „Lass dich doch noch ein bisschen von mir verwöhnen. Du musst auch gar nichts machen … “ Wieder suchten seine Finger ihren Weg unter Anjas Bluse, doch diesmal bemerkte sie den kaum kaschierten Annäherungsversuch sofort.

„Och Till!“, rief sie genervt aus und stand nun doch auf. „Kannst du nicht einmal aufhören damit? Nur mal zwei Monate, Till, ist das zu viel verlangt? Zwei Monate!“

Wütend ging sie durch das Wohnzimmer, über den Flur und in die Küche. Thamm warf sich frustriert auf das Sofa zurück. Was jetzt folgte, kannte er bereits auswendig. Erst ließ Anja das Rollo über der Spüle runter, damit auch ja niemand was sehen könnte – als ob irgendwer aus heiterem Himmel in ihrer Einfahrt stünde! – so weit hatte diese blöde Hebamme sie schon gebracht. Dann holte sie die Saugvorrichtung aus dem Schrank, steckte den Schlauch an die beiden Flaschen, wobei immer wieder ein resignierter Blick auf die zweite Flasche fiel, die als Überlauf diente und doch nie etwas abbekam, geschweige denn voll wurde. Und zum Schluss schaltete sie die ganze Apparatur schweren Herzens ein, der Motor heulte auf und Anja schob sich beschämt und irgendwie doch auch gleichgültig den Sauger an die Brust.

So saß sie dann an dieser Melkmaschine aus der Apotheke: nicht zehn Minuten, wie es die Ärztin gesagt hatte, sondern fünfzehn, zwanzig. Die Milch tropfte zögerlich in die erste Flasche. Mit etwas Glück kam sie auf kümmerliche dreißig Milliliter.

Am Anfang hatte Thamm bei dieser niederschmetternden Prozedur noch zugucken dürfen. Dann aber wollte Anja ihn nicht mehr dabeihaben und hatte die Küche zur Tabuzone erklärt, solange die Melkmaschine im Einsatz war. War es ihr unangenehm, wenn er sie so sah, wie eine Kuh angestöpselt, die Brustwarze in einen albernen Gummitrichter gesogen? Oder schämte sie sich am Ende wegen dem bisschen Milch, das trotz überzogener Zeit nur herausgekommen war und doch nie reichte? Bennie sog es glatt in einem Zug weg.

Thamm hatte aufgehört, sich danach zu fragen. Wenn Anja beim Arzt war, fütterte er Benni nur mit Kunstmilch. Ganz ohne Stress. Und Benni ging’s davon nicht schlechter. Der steckte das ganz locker weg – ganz der Papa. Aber wenn Anja im Haus war – und das war sie nun einmal fast immer – dann musste es diese dämliche Melkerei sein, dann musste sie sich quälen und zum Schluss dann doch enttäuscht zum Milchpulver greifen.

Warum sie sich so fertig machte, verstand Thamm nicht. Wenn sie ihn da wenigstens rauslassen würde – aber oben wollte sie es ja nicht machen, damit Benni von dem Lärm der Pumpe nicht aufwachte. Also molk sie sich in der Küche, der Motor surrte durch das halbe Erdgeschoss und Thamm ärgerte sich jedes Mal, weil Anja die Viertelstunde doch auch bei ihm auf der Couch hätte bleiben können, statt sich dann doch wieder für nichts so fertigzumachen.

Nur zwei Monate“, knurrte er verächtlich und stand nun auch vom Sofa auf. Was wusste Anja schon davon!

Wenigstens hier hatte sich nichts verändert: Sein Arbeitszimmer hatte sie ihm nicht abspenstig zu machen versucht. Hier war die Welt noch in Ordnung.

Thamm ließ sich ächzend in seinen Schreibtischsessel fallen. Nicht, dass er seinen Sohn nicht leiden könnte, das war es nicht. Aber dieser kleine Scheißer hatte es in den paar Wochen, die er nun schon hier war, geschafft, das ganze Haus in Beschlag zu nehmen. Im Bad thronte die Wickelauflage über der Wanne, in der Küche standen seine Medikamente und Nuckelflaschen rum, im Haus-Wirtschaftsraum stank es nach seinen Windeln – egal, wie oft Thamm den Müll rausbrachte. Sogar im Schlafzimmer machte sich Benni breit, denn jedes Mal, wenn er nur mal eben leise nieste oder im Schlaf vor sich hinbrummelte, schoss Anja wie vom Teufel geritten quer über den Flur an seine Wiege, holte den kleinen Wurm, der ja doch immer irgendwie noch mehr schlief als wirklich wach war, raus und zu sich ins Bett. Dort machte sich Benni dann ordentlich breit, denn aus irgendeinem unerfindlichen Grund drehte er sich jede Nacht quer und kiekste Thamm seine kleinen, aber festen Füße in den Rücken. Und wenn er den Jungen dann doch mal nicht zu spüren bekam, konnte Thamm erst recht nicht schlafen, weil ihn unterbewusst die Angst wachhielt, sich aus Versehen auf den Knirps zu legen. Ein Albtraum!

Thamm schaltete den Computer an und lauschte auf das vertraute Rattern der Lüftung, während das Gerät hochfuhr. Wie lange hatte er nicht mehr gespielt? Sein Garten sah bestimmt total verwildert aus, denn seit er in der erweiterten Version unterwegs war, blieb die Ernte nicht einfach so auf dem Bildschirm stehen – nach einer gewissen Zeit verfaulte sie und die Beete wucherten zu. Es würde ihn einiges kosten, seinen Garten wieder in Schuss zu bekommen.

Und tatsächlich – kaum war das Logo von Gartengaenger.de verschwunden, zeigte sich ein struppiger Rasen, vor dem ein kleines Männchen aufgeregt herumhüpfte. Die Kürbisse, die Thamm Ende April am Zaun beim Komposthaufen gesetzt hatte, ließen sich noch vage erahnen zwischen dem Unkraut, der Rest seiner Ernte aber war schon verloren. Wie befürchtet – und die Bauernbank gab ihm den nötigen Kredit nur zu echt miesen Konditionen. Verdammtes Spiel, ging es Thamm durch den Kopf, während er fiktive Schulden aufnahm und so teure Dublonen zahlte, um seinen Gartenzwerg die Beete vom Gras befreien zu lassen. Die Kürbisse musste Thamm anschließend weit unter ihrem Preis auf dem Markt verramschen – Brechbohnen und Avocados waren gerade gefragt. Zum Schluss blieb kaum viel mehr übrig als für ein paar Möhren und Tomaten, mit denen Thamm gerade einmal ein kleines Beet voll bekam. Also das ganze Spiel noch einmal von vor – er war wieder als Grünschnabel eingestuft worden. Schöne Scheiße!

Thamm fuhr entnervt den Computer runter und trat an das Fenster. Die Hecke kam nicht ganz so, wie er sich das erhofft hatte. Vielleicht war ja Rindenmulch wirklich eine Lösung. Wer hatte ihm das empfohlen? Es wollte ihm nicht einfallen. Aber Thamm verschwendete auch kaum großartig einen Gedanken daran. Wenn er in seinen Garten sah – den echten vor dem Haus –, dann sah er überall irgendwelche Ecken und Kanten, an denen noch etwas zu machen war. Die Borde an der Sitzecke saß locker, Ameisen hatten sich im Sandkasten eingenistet, die Tür vom Schuppen klemmte oben – die mickrigen Hecken stellten da nur eins von vielen und nun wirklich nicht das dringendste Problem dar. Wenn er nur mal die Zeit für all den Kleinkram hätte, der noch zu machen war … Wenn er überhaupt erst einmal die Lust dazu aufbringen könnte …

Jetzt hörte er, wie die Tür zur Terrasse unter ihm geöffnet wurde. Er sah Anja, wie sie mit einem kleinen Tablett über das Gras schritt und den Gartentisch eindeckte: zwei Tassen, Teller, eine Kanne Kaffee, ein Kuchenpaket wurden ausgepackt. Den Zucker hatte sie schon wieder vergessen, ätzte Thamm in Gedanken und ärgerte sich, dass ihr das neuerdings immer öfter passierte – und dass er sich überhaupt über so eine Kleinigkeit aufregte. Es ist Sonntag, verdammt, dachte er, mach dich mal locker.

Anja verschwand wieder im Haus und keine Minute später hörte er sie auch schon nach ihm rufen. Thamm antwortete, bewegte sich aber keinen Zentimeter vom Fensterbrett weg. Und tatsächlich: Da kam Anja wieder zum Vorschein, diesmal mit der Babyschale beladen, die sie neben der Sitzecke abstellte. Dann besah sie sich den Jungen, der wohl wieder schlief, denn er blieb ohne jede Regung. So ganz zufrieden schien Anja nicht zu sein. Sie versuchte, den Sonnenschirm so zu schwenken, dass Benni im Schatten schlafen könnte, aber die Halterung klemmte – noch so eine Baustelle, dachte Thamm. Anja sah sich etwas ratlos im Garten um. Vielleicht wartete sie auch auf ihn, dass er jetzt genau in diesem Moment käme und ihr beispringen könnte. Aber Thamm konnte sich einfach nicht losreißen, noch nicht.

Anja schien eine Lösung für ihr Problem gefunden zu haben. Sie griff sich die Babyschale und marschierte damit zur Hollywoodschaukel, stellte Benni auf die Polster und zog die Sonnenblende ein Stück vor, gerade so weit, dass Benni vollständig im Schatten lag. Dann besah sie sich ihr Werk. Die Schaukel war unter ihrem Gezerre etwas in Bewegung geraten, die Sitzfläche mitsamt der Babyschale schwankte leicht hin und her. Anja besah sich das Ganze, schätzte die Wahrscheinlichkeit ab, ob Benni irgendwie im Gras landen könnte – und ließ ihn schließlich da schaukeln.

Thamm wusste, dass die Babyschale breiter als die Hollywoodschaukel war. Er wusste, dass Benni, wenn er zappelnd aufwachte, ordentlich Bewegung machen konnte. Andere Mütter würden ihr Kind deshalb vielleicht nicht gerade auf eine Schaukel stellen. Thamm liebte Anja in diesem Moment dafür, dass sie nicht so eine war.

„Sag mal, wohnt da eigentlich noch jemand?“

Thamm deutete mit der Kuchengabel über die Straße. Anja blickte ihr nach und schüttelte dann den Kopf.

„Nee, den hat die Frau verlassen“, sagte sie nur, dann lehnte sie sich wieder weit zurück in ihren Liegestuhl.

„Und er?“, wollte Thamm wissen.

„Keine Ahnung. Den hab ich schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“

„Aha“, machte Thamm und klang dabei so interessiert, dass Anja verblüfft aufsah. Unter der vor die Stirn gehaltenen Hand blinzelte sie neugierig in seine Richtung. „Sag mal, weißt du überhaupt, wer da gewohnt hat?“

Thamm sah sie überrascht an. „Ich kann doch mal fragen, was sich so in der Nachbarschaft tut, oder?“

Ihr spöttisches Grinsen irritierte ihn.

„Was denn?“, fragte er gereizt, aber Anja winkte nur ab. „Ich hab nichts gesagt.“

Wieder vertiefte sich Thamm in sein Stück Kuchen. Anja hob ein Magazin vom Boden auf und blätterte lustlos darin rum. Irgendwann warf sie es resigniert wieder von sich. „Lesen ist echt die Härte“, seufzte sie.

„Verschwimmt immer noch alles?“, fragte Thamm nach. „Die hätten dir gleich hinterher eine Blutkonserve geben müssen. Mindestens.“

Anja richtete sich energisch auf. „Das weiß ich auch, aber jetzt ist es nun mal halt so“, fauchte sie ihn dabei an.

„Ich mein ja nur“, trat Thamm nach diesem unerwarteten Anschiss vorsichtig den Rückzug an. In den letzten Wochen ging Anja auf die kleinste Vorlage ab wie Schmidts Katze. Fast hatte Thamm den Eindruck, dass sie absichtlich alles in den falschen Hals bekam. Und so sehr er sich auch am Riemen zu reißen versuchte – nicht immer konnte er so ganz auf ihren angekratzten Zustand Rücksicht nehmen und den Kürzeren ziehen. Und so murmelte er auch jetzt trotzig: „Ich dachte ja nur, du als Krankenschwester … “ Mehr brauchte er gar nicht zu sagen. Anja, die sich gerade erst ihre Kaffeetasse vom Tisch geholt hatte, stellte sie krachend wieder zurück. „Entschuldigung, aber lieg du doch mal da rum und press vier Stunden lang ein Baby aus dir raus“, fuhr sie ihn wütend an. „Ich wette, da denkst du nicht drüber nach, ob die Kolleginnen alles richtig machen und dass du jetzt eigentlich noch eine Transfusion bräuchtest.“

Thamm bemerkte sofort, dass er schon zu weit gegangen war. Blitzschnell versuchte er, zurückzurudern. „Ich mein ja nur … “, druckste er vor sich hin – wieder! –, aber dadurch verlor Anja kaum an Fahrt. „Du hast ja auch gut reden. Aber ich durfte das alles ganz alleine ausstehen. Wo warst du denn, bitte schön, als die Wehen einsetzten, hm? Und dann, im Kreissaal?“

„Moment mal“, warf Thamm ein, nun doch ein wenig aufgebracht. „Wir hatten uns vorher noch nicht festgelegt, ob ich mit reingehe.“ „Das hatte sich ja dann auch erübrigt“, knurrte Anja. „Der Herr Kriminalkommissar – entschuldige, Kriminalhauptkommissar – musste ja unbedingt auf Verbrecherjagd.“

„Wir standen kurz vorm Abschluss des Falls … “

„Ach, und Stefan hätte das nicht alleine hinbekommen? Du und dein elender Ehrgeiz!“

Verärgert griff sich Anja nun doch ihre Kaffeetasse und zog sich wieder in ihren Stuhl zurück. Thamm aber konnte nicht einfach so weiteressen.

„Dass wir immer streiten müssen neuerdings“, sagte er betreten.

„Liegt das etwa an mir?“, gab Anja bissig zurück. Aber dann fing sie sich endlich wieder und kam runter. „Ach Till … “, meinte sie so süß, dass Thamm ihr einfach nicht widerstehen konnte, „komm doch mal her.“ Sie stellte die Tasse weg und schlang ihre Arme um ihn, der nur allzu gern darin versank. „Das sind diese blöden Hormone“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Aber das renkt sich bald wieder ein, versprochen.“

Thamm seufzte schwer an ihren Hals. Wenn er ihr doch nur glauben könnte! In diesem Augenblick kam er sich so einsam vor, mit der kränkelnden Anja, mit dem schlafenden Benni und sonst nichts an diesem endlosen, leeren Sonntagnachmittag.

„Das wird schon wieder“, meinte Anja nun und klang dabei so ungewohnt sanft und mütterlich, dass Thamm unwillkürlich an den einen Abend denken musste, an dem ihm Anja angeboten hatte, ihre Milch zu probieren. Er war schon vorher ganz fasziniert von dem Gedanken gewesen und hatte sich nun, wo Anja es auch noch vorgeschlagen hatte, entsprechend begeistert an ihre Brust gelegt und seinen Mund in Stellung gebracht. Aber schon als er ihre Brustwarze mit den Lippen umschlungen hatte, war da so ein komisches Gefühl in ihm aufgestiegen. Und die paar Tropfen Milch, die Anja gerade so übrig hatte, hatten einfach nur zum Kotzen geschmeckt. Thamm hatte mit einem Mal kapiert, dass Anja nun nie wieder dieselbe werden würde. Sie war immer noch seine Freundin, klar, er war immer noch scharf auf sie – aber sie war eben auch Mutter und ihr Körper hatte nun an allen Enden eine konkrete Funktion, war nicht mehr nur die Spielwiese, als die er manche Region bisher aufgefasst hatte.

Entzaubert und trotzdem zauberhaft, dachte Thamm nun etwas melancholisch und fragte sich, ob es umgekehrt genauso wäre; ob Anja ihn auch eines Tages mit anderen Augen entdecken würde. Vielleicht wenn er irgendwann mal mit dem ersten Blasenproblem zum Urologen müsste und dann aufgedeckt würde, dass sein Schwanz auch nicht unverwundbar war. Sicherlich würde ihn Anja dann immer noch in den Mund nehmen, aber vielleicht würde sie die ganze Sache dann etwas praktischer angehen und noch mehr Krankenschwester nach Hause bringen. Und ins Bett!

Wie war Thamm nur auf dieses Thema gekommen? Verwundert über sich selbst, kroch er unter Anjas Armen vor und setzte sich zurück auf seinen Liegestuhl. Etwas beunruhigt fuhr er sich durchs Haar. „Vielleicht sollten wir mal wieder Stefan und Jette einladen“, schlug er vor, weil er den Eindruck hatte, ein Thema wechseln zu müssen, und nahm sich geistesabwesend noch ein zweites Stück Kuchen.

„Wen sonst?“, neckte ihn Anja ohne jeden Vorwurf. „Aber vielleicht nicht gerade Morgen, da … oh!“

Benni meldete sich mit einem kleinen Schrei aus seinen Träumen zurück. Anja setzte schon zum Sprung aus ihrem Stuhl an, aber Thamm winkte ab. „Bleib ruhig sitzen“, meinte er, und Anja beobachtete erstaunt, wie sich Thamm in Richtung Hollywoodschaukel begab.

„Er hat bestimmt eingemacht“, rief sie ihm hinterher. „Riech mal hinten dran.“

Thamm warf einen prüfenden Blick in die Babyschale. „Ach was“, gab Thamm zurück, „der schläft ja noch halb.“

„Dann schaukle ihn mal ein bisschen, dann pennt er wieder ein.“

Als ob Thamm diesen Hinweis gebraucht hätte! Er kannte seinen Jungen doch mindestens genauso gut wie Anja. Also nahm er den Griff und ließ Benni knapp über das Gras baumeln, hin und her. Der Junge blinzelte kurz in die Sonne, so als müsste er sich vor dem Weiterschlafen erst noch versichern, wer sich da eigentlich an ihm zu schaffen machte, dann schloss er auch schon wieder die Augen.

Ein paar Minuten noch, dachte Thamm, dann hat sich das auch schon wieder. Aber so lästig, wie er sich das vorgestellt hatte, war diese Schaukelei gar nicht. Endlich kam mal ein bisschen Bewegung in seine Arme, in seinen Körper – die Lethargie dieses lahmen Nachmittags verschwand langsam aus seinen Knochen. Und Thamm fiel plötzlich ein, wie er sich noch mehr Luft verschaffen könnte.

„Du, ich dreh mal kurz ne Runde durchs Viertel, ja?“

Anja sah ihn wieder so überrascht an. „Schläft er noch nicht?“, fragte sie ungläubig.

„Nee, nur mal so“, meinte Thamm.

„Na, wenn du unbedingt willst … “, meinte Anja bloß und zuckte mit den Schultern. Und Thamm steckte die Babyschale auf den fahrbaren Untersatz, schob das etwas sperrige Gerät die Einfahrt runter und bog in die Junkerstraße ein. Links standen die Fertigteilhäuser, rechts auch, alle hatten sie eine Garage, manche ein Vordach dazu, andere Solarzellen auf dem Dach – das Fliegerstädtchen sah in allen seinen Straßen gleich aus, überall gab es denselben scheiß prosperierenden Mittelstand samt Steingarten zu sehen. Und Thamm war es somit scheißegal, in welche Richtung es gehen sollte.

Benni schlief.

Thamm döste vor sich hin.

Die Luft hing bleiern über der Siedlung. Könnte noch gewittern, dachte Thamm und besah sich prüfend den milchig weißen Himmel.

Das Kind sah nicht gerade wie er aus. Überhaupt fand Thamm an dem Jungen nicht die geringste Ähnlichkeit mit irgendwem. Benni war ganz eigenartig, ganz für sich. Viel gab es noch nicht mit ihm zu machen, er konnte ja nicht mal sitzen oder auch nur den Kopf halten. Und den kleinen Wurm zu wickeln, zu baden und rumzutragen, wenn er schrie oder pupsen musste und nicht konnte – das waren ja eher so Funktionsaufgaben, das hatte ja nichts mit Spaß zu tun. Zumindest fühlte Thamm nichts besonders Erhebendes dabei. Aber wenn er mit Benni allein war und ihm irgendwas zuraunen konnte, als wäre er schon älter und ein guter Kumpel – dann war es cool, den ollen Hosenscheißer um sich zu haben.

„Ach, der Herr Thamm“, kreischte ihn da plötzlich eine etwas zu hoch gelagerte Stimme aus seinen Gedanken.

Thamm fuhr zusammen. Was um alles in der Welt …

„Das ist ja schön, dass ich Sie mal sehe. Und dann auch gleich mit dem Sohnemann. Na ja, unter der Woche bleibt Ihnen ja bestimmt nicht viel Zeit.“

Eine für Thamms Geschmack etwas zu pummelig geratene Frau trat mit einem Satz aus der Hecke, stellte sich direkt neben Thamm auf und beugte sich tief über den Kinderwagen, um einen Blick hineinzuwerfen. „Ich darf doch mal?“, fragte sie, noch bevor Thamm reagieren konnte, und dann kam nur noch ein „Och, ist der niedlich“ und „Sind sie nicht süß, wenn sie schlafen?“ aus dieser Frau geseufzt, und Thamm fragte sich resigniert, warum ausgerechnet er das Pech hatte, so einer bescheuerten Vorstadtschnepfe in die Arme zu laufen.

„Also, Herr Thamm!“, stieß sie plötzlich empört aus, kaum dass sie wieder aus dem Kinderwagen aufgetaucht war. „Sie glauben ja gar nicht, wie froh ich bin, Sie zu sehen. Es ist einfach furchtbar!“

Thamm versuchte verzweifelt, sich an die Frau zu erinnern, aber umsonst. Je mehr er drüber nachdachte, umso sicherer wurde er sich, dass er diese Schrapnelle noch nie zuvor gesehen hatte. Was ihr vertrauliches Getue für ihn noch belämmerter werden ließ. Aber was hatte Anja gesagt? „Wir müssen hier noch ne Weile wohnen … “ Und so quetschte sich Thamm ein möglichst nettes „Aha?“ raus und machte ein erstauntes, möglichst nicht allzu spöttisches Gesicht.

„Ach Gott!“, entfuhr es der Frau und mit der Rechten griff sie sich an die Brust. „Glauben Sie ja nicht, dass ich Sie belästigen will!“ Zu spät, dachte Thamm und verkniff sich nun doch ein ironisches Grinsen. So allmählich ahnte er, worauf das hier hinauslaufen würde.

„Und ich dachte ja, die Leute würden von sich aus aufhören“, fuhr die Frau in einem jammernden Ton fort. „Immerhin, wo Sie doch bei der Polizei sind.“ Also doch, dachte er. Die Frau mit der Hand beim Herzen merkte nichts von Thamms verbissenem Gesichtsausdruck. Oder passte er am Ende zu ihrem Thema?

„Ein Lärm, sag ich Ihnen!“, empörte sie sich nun. „Diese jungen Leute in der Fieselerstraße, gleich da hinten … “ Sie bemühte sich, um die Straßenecke zu zeigen, was ihr nicht gerade sonderlich gut gelang. „Furchtbar, sage ich Ihnen. Und da sag ich zu meinem Mann – der muss ja auch früh raus – da sag ich also, ja der Herr Thamm, wenn der da mal nur kurz ein Auge drauf werfen würde, dann wär da aber Ruhe!“

Und mit einem Mal war da wirklich Ruhe. Die Frau hatte sich ausgequatscht und erwartete nun mit hoffnungsvollem Blick eine Reaktion von ihrem Herrn Thamm. Und der war nun aber alles andere als gnädig gestimmt. Erst erschreckte ihn das Weib zu Tode, dann gaffte sie völlig ungeniert in den Wagen rein – und hinterher machte sie ihn einfach mal schräg von der Seite an, von wegen Hauptsache irgendein Polizist! Und noch am Sonntag! Thamm zwang sich zu einem übersüßen Grinsen.

„Es tut mir wirklich leid“, setzte er an, „aber das ist dann wohl eher ein Fall für die Schutzpolizei. Da müssten Sie mal auf die Wache … “

„Ja, aber kennen Sie denn da keinen? Das kann doch nicht so weitergehen!“, fiel ihm die Frau aufgeregt ins Wort. Aber Thamm schüttelte nur den Kopf.

„Leider kann ich da nichts machen. Da müssten die jungen Leute aus der Fieselerstraße Sie schon umbringen. Aber dann wäre ich sofort für Sie da. Einen schönen Sonntag noch.“

Und damit ließ Thamm die verdutzte Frau stehen. Die plötzliche Bewegung des Kinderwagens rüttelte Benni nun endgültig aus dem Schlaf.

„Siehst du“, sagte Thamm zu ihm, „ich hab’s dir doch gesagt: Wir sind hier die einzigen Normalen.“

Benni atmete gleichmäßig. Nichts deutete darauf hin, dass er in nächster Zeit aufschrecken oder nach Milch schreien könnte. Und auch Anja konnte zur Ruhe kommen, denn nachts setzte sie den vierstündigen Rhythmus, der tagsüber galt, aus. Nachts galten andere Spielregeln.

„Schläfst du schon?“, fragte Thamm leise in das Dunkel des Schlafzimmers hinein. Draußen ging der Regen monoton plätschernd nieder, prasselte auf das Dach, von weit entfernt donnerte es, ohne wirklich laut herüberzuschallen. Thamm horchte zu Anja rüber – eine Antwort blieb aus.

Aber was heißt das schon, dachte er und tastete sich vorsichtig über die Matratze. In diesem Moment kam ihm das Bett elend breit vor. Und sie lag ausgerechnet am äußersten Ende! Er hatte aber auch ein Glück heute!

„Hey, schläfst du schon?“, fragte er wieder, als er sie endlich erreicht hatte. Aber auch jetzt gab sie keinen Mucks von sich. Thamm hob ihre Decke an und kroch darunter. Ihre Oberschenkel strahlten eine unglaubliche Wärme aus. Aber trotzdem schmiegte sich Thamm langsam an sie, an ihren Hintern, ihren Rücken. Und noch immer rührte sich Anja keinen Zentimeter. So fest kann doch gar keiner schlafen, wunderte sich Thamm.

Wie aus Versehen legte er seine Hand auf ihr Bein, genau dahin, wo das Nachthemd aufhörte. Wieder nichts, keine Bewegung. Anja schlief tief und fest.

Jetzt kam es darauf an, nichts zu überstürzen. Sie hatten es schon oft gemacht, ohne dass beide vorher wach waren. Und selbst dann – es war ja nicht so, dass sie sich gegenseitig kurz vorher noch irgendwelche Einverständniserklärungen überreichen würden! Und wenn er sich geschickt anstellte und sie ganz langsam und gemächlich aus ihrem Schlaf holte, dann würde sie nichts dagegen einzuwenden haben. Dann würde der kleine Überfall rückwirkend abgesegnet werden und alles wäre in bester Ordnung.

Trotzdem war Thamm etwas mulmig zumute. Es hatte schon oft geklappt, okay. Aber eben nicht immer. Und dann konnte Anja auch austicken, und zwar vom Feinsten, wahrscheinlich sogar zu Recht, denn auf die Nette war das ja nun nicht gerade. Außerdem – wollte er wirklich so den Einstand nach Bennis Geburt feiern? Aber vielleicht war es ja genau so die richtige Art, vielleicht musste es beim ersten Mal danach einfach so halb von selbst ablaufen und dann war der Knoten geplatzt.

Scheiße, du denkst zu viel, ermahnte sich Thamm und seufzte unterdrückt auf. Dann aber ging er es an, schob seine Hand unter ihr Nachthemd und ließ sie wie von allein nach oben gleiten. Nicht zu leicht, dass es kitzelte, nicht zu fest, dass sie gleich aufwachte. Einfach so eben. Den Daumen nicht zu sehr in die Mitte, da geht sie gleich an die Decke, dachte er, die Fingerkuppen nicht zu weit nach außen, das kitzelt wieder. Gott, ein Stress! Er hatte den Kopf zu voll, war nicht locker. Wie sollte das was werden?

Aber Thamm wollte es jetzt wissen, der verdammte Knoten sollte endlich platzen. Gordischer Knoten, dachte er, einfach zerkloppen und Ruhe ist.

Mit einer sicheren Bewegung seiner Hand schob er ihr linkes Bein nach vorn, sodass sie zur Hälfte auf dem Bauch lag, das eine Bein gestreckt, das andere leicht angewinkelt. Der schwerste Teil war getan. Nun hieß es, sich allmählich ranzupirschen. Wieder fuhr er ihr mit der Hand über den Schenkel, erreichte den Po, fühlte das Höschen und tastete nun ganz sanft an dem Stoffbund entlang. Es konnten nur noch Millimeter sein …

Genau in diesem Moment tauchte ein flackernder Blitz, der direkt vor dem Schlafzimmerfenster niederzugehen schien, den Raum in ein so grelles Licht, dass Anja kurz davon geblendet wurde und zusammenfuhr. Instinktiv schlug sie Thamms Hand zwischen ihren Beinen weg. Und war bei all dem noch nicht einmal richtig wach geworden.

So eine Scheiße, dachte Thamm verärgert. Dieser verdammte Blitz hatte ihn restlos aus dem Konzept gebracht. Und was nun? Alles auf Neustart – oder sollte er nach Anjas Abwehr lieber keinen zweiten Versuch unternehmen? Thamm zermarterte sich das Hirn, wie um alles in der Welt er sein beschissenes Sexualleben wieder zum Laufen bringen könnte und ob heute Nacht der geeignete Moment dafür war – da dröhnte der Donner schier ohrenbetäubend durch den Regen. Der enorme Knall hatte nur den Bruchteil einer Sekunde angehalten – Anja hatte diesmal überhaupt nicht reagiert, aber nebenan machte sich nun Benni bemerkbar. War ja klar – auch das noch, ächzte Thamm und ließ sich nach hinten in die Kissen fallen.

Als hätte jemand bei Anja irgendeinen Schalter umgelegt, war sie schon bei Bennis erstem Schluchzen hellwach. Sie setzte sich hin, hielt kurz inne, um den Schwindel in sich niederzukämpfen, dann stand sie auf und bahnte sich ihren Weg durch das dunkle Schlafzimmer. „Ich komm ja schon“, murmelte sie dabei, „ist ja alles gut, Mama kommt ja schon.“

„Soll ich ne Milch machen?“, bot sich Thamm an, als sie mit Benni auf dem Arm zurück ins Zimmer kam.

„Ich glaube nicht“, meinte Anja, schon wieder müde. „Ich lass ihn kurz nuckeln und dann war’s das bestimmt auch schon wieder.“

Und so lüpfte Anja ihr Nachthemd, legte den Kleinen an und schaukelte ihn so lange mit ihrem Oberkörper, bis sie zur Seite wegsackte und er wieder einschlief. Keine fünf Minuten dauerte es, bis Bennis Atem leise und regelmäßig zu hören war.

„Siehst du“, flüsterte Anja und rieb sich die Augen. Thamm war sich nicht sicher, ob sich da gerade eine zweite Chance anbot. Ach, scheiß drauf, dachte er und versuchte es. „Sag mal, wo du eben wach bist … “, fing er zögernd an.

„Spinnst du?“, zischte Anja. „Benni liegt hier direkt neben mir. Bei dir hackt’s wohl?“

„Du kannst ja zu mir rüberkommen“, hielt Thamm an seinem Vorschlag fest. „Wir können ja auch leise machen.“ „Na klar“, fuhr ihn Anja halblaut an. „Hast du auch noch was anderes im Kopf? Ich hab den ganzen Tag das Kind, bin selbst kaum richtig auf den Beinen – Ist es da zu viel verlangt, wenigstens mal eine Nacht durchzuschlafen, ohne dass Benni mal aufwacht oder du mir am Hintern rumfummelst?“

„Och Mann ey!“, maulte Thamm, weil ihm nichts Besseres einfiel, und warf sich frustriert auf die Seite. Sie hatte ja recht, das war ihm auch klar, aber musste sie das so raushängen – und ihn wie einen Notgeilen aussehen lassen? Wenn sie ihm unbedingt schon wieder einen Korb geben musste, könnte sie dabei ja auch mal ein bisschen Rücksicht auf seine Gefühle nehmen.

„Ich mein es ernst, Till!“ Anja ließ sich offensichtlich nicht von seiner Trotzgeste beeindrucken. „Ich schaff das alles nicht mehr. Das Haus sieht aus wie Sau, das Kind, du, ich – ich schaff das echt nicht mehr.“

Anjas Stimme klang mit einem Mal beinah weinerlich, dass Thamm sich erschrocken zu ihr umdrehte.

„Heißt das, du willst diese Hebamme wiederhaben?“, fragte er angepisst.

„Nein“, wehrte Anja leicht verärgert ab. „Ich hoffe ja, dass es schon besser wird, wenn meine Mutter Morgen kommt.“

„Den einen Tag?“, fragte Thamm ungläubig, „der soll’s bringen?“ Stille. Thamm fragte sich, ob er Anja seine Meinung zu hart an den Kopf geworfen hatte. Ihr Schweigen verunsicherte ihn. Dass sie doch immer wieder am längeren Hebel saß, ärgerte er sich und noch mehr darüber, dass er jetzt seine Hand an ihren Nacken legte und sie zärtlich streichelte. Schon wieder eingeknickt, dachte er und verfluchte insgeheim seine Weichheit.

„Ich hab Mama gefragt, ob sie nicht die ganze Woche bleiben kann“, sagte Anja plötzlich in die Stille rein. Thamms Hand in ihrem Nacken erstarrte. Deshalb hatte sie so rumgedruckst und gezögert. Das hatte gar nichts mit ihm zu tun – sie, sie hatte was auf dem Kerbholz! Thamm war wie vor den Kopf gestoßen. „Wann?“, fragte er bloß.

„Als du mit Benni draußen – das ist doch jetzt egal.“ Anja hatte ihre alte Sicherheit zurückgewonnen. „Du gehst die ganze Woche auf Arbeit und bist fein raus. Und ich hab hier alles am Hals. Ich kann nicht einfach weg.“ Thamm traute seinen Ohren nicht. Was glaubte denn Anja, was er den ganzen Tag machte?

„Ich brauche einfach ein bisschen Hilfe, was ist denn schon dabei? Das soll doch nur vorübergehend sein.“

Thamm atmete tief durch.

„Und wo soll sie in der Zeit übernachten?“

Die Antwort kam prompt. „Na, wir haben doch dein Arbeitszimmer.“ Das war’s! Sein letzter Rückzugsort, die letzte kleine Ecke im ganzen Haus, die er noch für sich allein hatte, sollte er jetzt auch noch verlieren – und ausgerechnet an seine Schwiegermutter!

„Ich finde das nicht gut“, knurrte er patzig. „Deine Mutter ist auch nicht mehr die Jüngste, die geht hier die Wände hoch. In einer Pension hätte sie Abstand, da könnte sie sich zurückziehen, wenn’s ihr hier zu viel … “

„Jetzt hör aber mal auf!“, fuhr ihn Anja verärgert an. „Seit wann machst du dir denn Sorgen um meine Mutter? Und überhaupt, so weit kommt’s noch, dass ich meine eigene Mutter in eine Pension stopfe! Du wirst doch mal die paar Tage mit ihr auskommen. Und auf dein heiliges Arbeitszimmer verzichten können, oder? Und was regst du dich eigentlich so auf? Du bist doch eh fast den ganzen Tag im Büro.“

Die Standpauke hatte sich ordentlich gewaschen. Nicht nur Thamm hatte es die Sprache verschlagen, auch Benni schluchzte leise im Traum.

„Und jetzt ist Schluss“, beendete Anja ihre Tirade abrupt, noch bevor Thamm sich irgendwie fangen und weitermaulen konnte. Die Vertreibung aus dem Paradies – jetzt war sie perfekt, dachte er verbittert.

Am Telefon war Wolff.

„Die Zentrale hat gerade bei mir angerufen.“

„Und?“, fragte Thamm verschlafen.

„Ich dachte, du willst vielleicht mitkommen. Hab ich euch geweckt?“

Thamm atmete tief durch. Irgendwo entfernt hinter sich hörte er Anja die Treppe hochgehen. Jetzt hatte sie Benni doch noch Milch gemacht, der Junge war anders nicht mehr zu bändigen, nachdem er nun zum zweiten Mal aus dem Schlaf gerissen worden war.

„Ach“, machte Thamm resigniert, und dann: „Um was geht’s denn?“

„Ganz großes Kino, versprech ich dir“, lachte Wolff ins Telefon, „wird dir ganz sicher gefallen. Ist am Bahnhofsplatz.“

„Wo genau?“

Wieder dieses Lachen. Wie konnte der um die Uhrzeit schon so gut drauf sein? „Siehst du dann schon. Bis gleich.“ Und aufgehängt. Thamm stand im stockdusteren Wohnzimmer, nur in Shorts, das Telefon in der Hand und kam sich ziemlich verarscht vor. Schöner Kollege, dachte er, kann immer noch nicht richtig telefonieren.

Langsam trottete er in den Flur. Dort oben wollte er jetzt lieber mal nicht stören. Anja würde ihm wieder eine Gardinenpredigt halten, die alte Leier: Wann holst du endlich mal einen zweiten Apparat für das Schlafzimmer – warum stellst du das Telefon nachts nicht aus – oder wenigstens auf Vibration?

Aber seine Klamotten lagen noch oben. Thamm überlegte nur kurz, dann ging er in den Haus-Wirtschaftsraum und stieg in seine ausgebeulte Gartenhose. Das alte Hemd, das er zuletzt zum Schuppenstreichen getragen hatte, war auch noch da. Es roch leicht, aber wer sollte das schon merken, mitten in der Nacht. Thamm knöpfte es zu und ging zurück in den Flur und ein paar Stufen die Treppe rauf. „Ich muss noch mal los“, flüsterte er die Rest des Wegs hoch bis zum Schlafzimmer. Dort oben regte sich nichts, keine Antwort, nicht mal ein Räuspern. Anja schlief vielleicht schon wieder, dann war es nicht schlimm, wenn er jetzt ging. Und wenn nicht – dann hatte das auch noch Zeit bis später, dachte Thamm, schlüpfte in die abgewetzten Gartenlatschen – ohne Socken würde er ja doch nur so eklig in seine Turnschuhe schwitzen – und schloss vorsichtig die Haustür auf.

Auch den alten Nissan ließ er möglichst leise unter dem Vordach vor und aus der Einfahrt rollen. Langsam fuhr er durch die Junkerstraße, bog an dem Haus auf der Ecke, das jetzt leer stand, in die Alte Lauchstädter Straße ein und brauste nun mit ordentlichem Tempo in Richtung Innenstadt.

„Scheiße“, fluchte Thamm vor sich hin, als er jetzt erst bemerkte, dass es inzwischen wie aus Kübeln schüttete. Über die Straßen zogen dichte Regenschleier, wie in dünnen Wänden über seine Windschutzscheibe gepeitscht. Unter den Lichtkegeln der Laternen flimmerte es silbrig, über den Asphalt glänzte das hochspritzende Wasser weiß auf – und Thamm hatte keinen Schirm dabei, war ja typisch! Wegen diesem beschissenen Carport, dachte er verstimmt. Anja wollte ja unbedingt, dass es bis zum Haus reicht, damit die Sonne und der Regen … Und das hatte Thamm jetzt davon! Aber es war zu spät, um noch mal umzukehren. Außerdem würde ihm Anja ordentlich den Arsch aufreißen, wenn er nach dieser Aktion mit dem Telefon, das er erst durchs halbe Wohnzimmer hatte suchen müssen, auch noch den Haus-Wirtschaftsraum wegen einem Regenschirm auf den Kopf stellen würde. Mitten in der Nacht.

Als er an der Bundesstraße hielt, kramte er unter dem Beifahrersitz rum. Vielleicht hatte Anja ja dort einen von diesen kurzen Dingern liegen lassen. Aber außer dem Autoatlas und einer Menge formloser Krümel konnte er nichts ertasten. Dann eben nicht, dachte Thamm angesäuert und setzte mit aufheulendem Motor über die Kreuzung.

Über die Bebel-Straße kam er in die Lauchstädter und weiter musste er gar nicht. Der Rauch, das vibrierende rote Lodern in dem nachtblauen Himmel war nicht zu übersehen. Scheiße, brannte etwa der Bahnhof? Aber nein, der lag ja weiter links. Auch der Busbahnhof konnte das nicht sein – oder etwa doch?

Thamm parkte den Wagen am Straßenrand, direkt bei den Gleisen, und ging durch die Unterführung. Bis hierher war der Gestank noch nicht gekommen, hier roch es wie immer einfach nur nach Pisse und Penner. Thamm sah zu, dass er diesen gekachelten Tunnel schleunigst hinter sich bekam, nahm die Treppe am anderen Ende mit wenigen Sätzen – und erstarrte.

„Ach du meine Fresse“, stieß er fassungslos hervor.

„Ja, nicht wahr?“, hörte er jemand neben sich sagen. „Sieht man auch nicht alle Tage.“

Thamm wandte sich um. Ein Feuerwehrmann, der auf das Feuer glotzte und sich dabei einen abgrinste. „Bei uns in Lochau brennt vielleicht mal der Acker oder wir haben eine Ölspur. Aber so was hier, das ist doch mal ne Nummer.“

„Und was machen Sie hier?“, fragte Thamm. Langsam tastete er sich an seine Dienstzeit heran, der Polizist kam allmählich in ihm hoch.

„Na was wohl? Ich warte auf den Schlauchtrupp, die wollen hier noch eine Verbindung legen. Aber der Hydrant ist total verrottet, schauen Sie sich das mal an.“ Der Mann deutete auf einen kleinen Metalldeckel am Straßenrand. „Die holen mal schnell irgendwas zum Freikratzen.“

„Und Sie?“, fragte Thamm nach.

„Sehen Sie doch“, trumpfte der Kerl auf. „Ich pass auf die Schläuche dort auf.“ Wieder ein Wink nach hinten, wo ein paar von den roten Rollen lagen. Alles klar, dachte Thamm, einer von der ganz cleveren Sorte.

„Na, und Sie?“, fragte mit einem Mal der Feuerwehrmann, wahrscheinlich durch Thamms Nachfragen hellhörig geworden. „Wie kommen Sie eigentlich durch die Absperrung?“

Thamm ging nicht darauf ein. „Wer leitet den Einsatz?“, fragte er stattdessen ungerührt.

„Sie müssen zurück hinter die Absperrung“, beharrte der Typ und baute seine schmächtige Hühnerbrust vor Thamm auf. „Das hier ist nur für die Rettungsdienste.“

„Ich habe nach der Einsatzleitung gefragt“, erinnerte Thamm gereizt.

„Da kann ja jeder kommen“, beharrte der andere. „Los, gehen Sie wieder zurück hinter die Absperrung!“ Damit kam er noch einen Schritt näher an Thamm. Macht hier wohl kraft seiner Wassersuppe einen auf Autorität, schoss es Thamm freudig durch den Kopf, aber nicht mit mir, Freundchen. Mit einer ruppigen Vorwärtsbewegung wamste er dem verdutzten Feuerwehrmann seine Brust vor die Jacke und drängte ihn zurück.

„Pass mal auf, du halbe Portion“, knurrte Thamm zwischen den zusammengepressten Zähnen raus. „Entweder du bringst mich jetzt zur Einsatzleitung oder ich nehme dich an Ort und Stelle mit. Wegen Ermittlungsbehinderungen. Wenigstens ein Tag Arrest. Was sagst du dazu, Kumpel?“

Der Kumpel sagte nichts. Wortlos wies er auf den Bahnhofsvorplatz. „Aber ich muss doch hier auf die Schläuche aufpassen“, stammelte er verdattert. Thamm winkte ab und ließ den Kerl einfach stehen.

Der Bahnhof glich der reinsten Hölle. Die Linienbusse, die Taxen – alle standen kreuz und quer, nur möglichst weit weg von den Flammen, die an der Ecke zur Magistrale zwischen den Häuserblöcken wüteten. Dicke Rauchschwaden hingen über dem Platz, der kaum einzusehen war, trotz der Beleuchtung von all den Einsatzwagen. Sirenen schwollen an, fielen ineinander und klangen ab, Uniformierte brüllten Kommandos durch die Dunkelheit, Schläuche wurden in das Dunkel gereicht. Es stank widerlich nach verbranntem Gummi, nach Benzin und altem Öl, geschmolzener Plastik. Von der Magistrale her dröhnte immer wieder das Geheule vom Martinshorn, Scheinwerfer warfen ihre gleißenden Lichtkegel über die Häuserzeile und blendeten Thamm. Was da genau brannte, war kaum zu sehen vor lauter Rauch und Flammen, nur der beißende Gestank ließ es erahnen. Mülltonnen, ein paar Autos, die Balkone an den Häusern vielleicht auch schon.

Thamm bahnte sich einen Weg über den Busbahnhof, ließ ein paar Sanitäter durch und machte in all dem Chaos endlich auch ein paar von seinen Jungs aus. Er wollte gerade auf sie zugehen, da packte ihn jemand an der Schulter. Na toll, dachte Thamm, als er sich umdrehte, noch so ein Spacko. Dieser Feuerwehrmann sah aber nicht gerade so aus, als würde er viel Spaß verstehen. „Hey Sie“, brüllte er Thamm durch all den Lärm hindurch an, „sehen Sie zu, dass Sie Land gewinnen. Sie haben hier nichts verloren.“

Dem stand der Sinn ganz eindeutig nicht nach Spielchen, also rückte Thamm gleich mit der Sprache raus. „Ich bin von der Polizei. Ich muss zur Einsatzleitung.“

Der Mann sah Thamm verständnislos an. Das mit Holzlack verschmierte Hemd, die abgerissene Hose – Thamm kapierte allmählich, warum ihm hier niemand den Kommissar abnahm.

„Bringen Sie mich dorthin, dann werden Sie schon sehen! Kommissar Wolff, ich muss zu Kommissar Stefan Wolff, ja?“

Ein abschätzender Blick traf Thamm, dann aber knickte der Mann ein. „Okay“, sagte er und nahm die Hand von Thamms Schulter. „Sie müssen dort rüber.“

„Danke“, meinte Thamm, obwohl er den Weg auch so gefunden hätte. Jetzt waren es nur noch ein paar Schritte. Da sah er schon Wolff mit ernstem Blick, den Rücken durchgedrückt – nanu, so förmlich heute, wunderte sich Thamm – und sah auch schon den Anlass dafür.

„Ah, da sind Sie ja endlich!“, rief der Staatsanwalt, sowie er Thamm erblickte.

„Was heißt hier endlich?“, gab Thamm zurück, „es brennt ja noch.“

„Jaja, so ist unser lieber Herr Thamm, immer zu einem Scherz aufgelegt.“ Der angeblich so lustige Thamm kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Wieso säuselte sich denn das Chefchen so einen ab? Und überhaupt: Was machte der hier überhaupt? Bekam doch sonst auch nicht den Arsch hoch.

„Auf jeden Fall ist es schön, dass Sie es einrichten konnten“, fuhr das Chefchen im freundlichsten Plauderton fort. „Ich möchte Ihnen jemand vorstellen. Das hier“ – er wies auf den Mann zu seiner Rechten – „das hier ist Herr Möllering, ein Kollege vom Bundeskriminalamt, ja.“ Misstrauisch ergriff Thamm die ihm dargebotene Hand.

„Und das hier“, meinte das Chefchen nun ebenso überschwänglich und deutet auf Thamm, erkannte aber plötzlich die Heimwerkerkleidung, in der sein Aushänge-Kommissar rumlief, und sein Lächeln gerann auf der Stelle zu einer albernen Larve. „Das hier“, setzte er wesentlich nüchterner fort, „ist Herr Thamm, unser fähigster Mann.“

Thamm nickte Möllering kurz zu. „Na dann – auf gute Zusammenarbeit!“, lächelte der verhalten. Thamm grinste genauso falsch zurück, dann wandte er sich an den Staatsanwalt. „Was macht denn einer vom BKA hier?“, raunte er ihn zu.

„Das ist ganz einfach“, meinte das Chefchen. „Sie leiten den Fall und arbeiten Ihre Ergebnisse Herrn Möllering zu.“

„Ich mache was?“, fragte Thamm verdutzt.

„Sie haben schon verstanden, ja?“, hüstelte das Chefchen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen … mein lieber Herr Möllering!“

Und schon schwänzelte der Staatsanwalt wieder um den Mann vom BKA. Thamm sah diesem komischen Turteltanz hinterher. War er wirklich schon wach oder träumte er das alles?

„Du hättest mich ja auch mal vorwarnen können!“, knurrte Thamm vor sich hin.

„Kaffee?“, fragte Wolff unbeeindruckt und hielt ihm einen Pappbecher hin. „Zum Glück sind die Jungs vom DRK auf Zack, sonst stünden wir jetzt ganz schön auf dem Trockenen.“

„Ich mein’s ernst!“, rief Thamm zerknirscht und griff widerwillig trotzdem nach dem Becher.

Wolff setzte sich neben ihn auf die Bank zwischen Bahnhofsgebäude und Blumenbeet. „Was sollte ich denn machen?“, fing er an. „Reinhardt hat ganz explizit gesagt, ich soll die Klappe drüber halten, dass hier jemand vom BKA rumrennt. Er wollte es dir selber sagen.“

„Na schönen Dank auch!“

„Kannst du laut sagen“, stimmte ihm Wolff zu und nahm einen großen Schluck von dem Kaffee. Auch Thamm wagte sich an das Zeug heran, das genauso bitter schmeckte, wie er es vermutet hatte. „Guck dir mal unsere Leute an“, meinte Wolff schließlich spöttisch. „Die gackern da wie die aufgescheuchten Hühner am Wagen rum, nur weil mal so ein Typ aus Wiesbaden hier aufschlägt.“

„Und den kriegen wir vor die Nase gesetzt. Kannst du mir mal verraten, warum ein BKA-Mann sich hier einfach so breitmacht?“, empörte sich Thamm. „Ich meine, kann der sich überhaupt so ohne Weiteres durch die ganze Hierarchie fräsen?“

Wolff zuckte mit den Schultern. „Tja, von oben nach unten geht das sicherlich leichter als umgedreht. Und wenn er dann noch Schützenhilfe vom Chefchen kriegt … “

„Und was will der eigentlich hier? Hab ich was verpasst?“ Thamm sprang auf und warf den halb vollen Kaffeebecher energisch zwischen die Stiefmütterchen. Wolff lachte ironisch auf. „Sehr schön, ich dachte schon, du fragst nie. Siehst du da hinten den Brand?“

Thamm verdrehte die Augen. „Ach nee! Und?“

„In einem der Wagen wurde eine Leiche gefunden.“

„Meine Fresse!“, entfuhr es Thamm.

„Genau das“, pflichtete ihm Wolff amüsiert bei.

Bis jetzt hatte Thamm an einen recht harmlosen Fall geglaubt. Brandstiftung vielleicht. Ein paar Jungs kokeln im Hinterhof oder irgend so ein seniler alter Sack hatte immer noch nicht begriffen, dass die heiße Asche nicht in die Mülltonne kommt. Das Übliche halt. Nur dass die Sache hier ein bisschen außer Kontrolle geraten war, das Feuer um sich gegriffen hatte. Ein Fall eher für die Spurensicherung als für die Kriminalpolizei.

Aber eine Leiche änderte alles.

„Was wissen wir schon?“, fragte Thamm ruhig. Nun war er ganz bei der Sache, nun zählte nur noch der Fall.

„Nichts“, gab Wolff trocken zurück. „Irgendein Feuerwehrmann hat in einem der brennenden Wagen die Leiche gesehen und uns verständigt. Aber die Stelle ist noch nicht gesichert, das muss erst noch weiträumiger gelöscht werden. Krause steht schon seit einer guten halben Stunde ganz vorn in der ersten Reihe. Kann es anscheinend gar nicht erwarten, den armen Kerl auf seinen Tisch zu bekommen. Und, was sagst du dazu?“

„Hm“, machte Thamm nur und verlor sich über den Anblick des farbig erleuchteten Dachs vom Busbahnhof in seinen Gedanken. Ein bisschen Normalität inmitten des wilden Chaos hier unten, dachte er, die unabänderliche Sturheit der Betriebsmaschinerie. Ein Grinsen flog über seinen Mund.

„Ja, und was machen wir nun?“, hakte Wolff nach. „Mach mal nen Spruch!“

Thamm sah sich verdutzt um. Wolff hatte es ja selbst gesagt, dass zuerst die Jungs von der Feuerwehr ihre Arbeit erledigen mussten, bevor sie da rankonnten. „Tja, was! Ich würde sagen, erst mal nichts“, meinte er harmlos.

„Das ist aber nicht gerade viel“, hörte er da eine feixende Stimme hinter sich. Möllering – der hatte Thamm gerade noch gefehlt. Mit betont lässigen Schritten kam er auf die beiden Kommissare zu. „Ich habe den Staatsanwalt eben zu seinem Wagen begleitet und er hat gemeint, ich solle Ihnen beiden noch einmal klarmachen, wie hier die Kompetenzen gelagert sind. Also frage ich Sie lieber noch mal, bevor irgendwelche Missverständnisse auftreten: Kann ich mich auf Sie verlassen?“

Thamm warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich tue hier nur meine Arbeit“, meinte er trocken. Für einen Moment maßen sich die Männer schweigend, beide ihre Geringschätzigkeit für den anderen kaum verbergend, dann fiel Möllering in ein unverbindliches Lächeln zurück. „Okay, dann mal ran an den Speck. Oder besser gesagt: ran an die Leiche! Wir sehen uns!“

Damit schlenderte er genauso elastisch, wie er gekommen war, zurück zum Parkplatz und verschwand in irgendeinem Auto.

„Und was nun?“, fragte Wolff.

„Ja, was denn!“, brüllte Thamm ihn an. „Hast du doch gehört, wir sollen an die Leiche.“ Und wütend bahnte er sich einen Weg durch die herumwuselnden Leute, einen verärgerten Wolff im Schlepptau.

Bei den ersten abgebrannten Autos wartete Krause, umgeben von den Jungs von der Spurensicherung, mit denen er vertraut plauderte. Inzwischen tat es Thamm ein bisschen leid, dass er Wolff so dermaßen angepflaumt hatte. Okay, er hatte ziemlich blöd gefragt, aber die ganze Nerverei war ja nicht seine Schuld, Wolff wurde ja genauso rumgeschubst von diesem Möllering wie er auch.

„Da seid ihr ja“, begrüßte sie Krause freudig. „In einer Viertelstunde können wir ran, sagt der Oberhäuptling von der Feuerwehr.“

„Sag das dem Pappsack da drüben“, meinte Thamm versöhnlich und nickte zu Wolff rüber, „der ist heute besonders schwer von Kapisch.“

„Blödian“, knallte ihm Wolff in demselben gutmütigen Ton an den Latz. Und grinste dabei, wie Thamm zufrieden feststellte. Alles wieder eingerenkt.

„Na ihr seid ja gut drauf!“, goutierte Krause diesen kurzen Schlagabtausch. „Wenn ich mal eben eure Aufmerksamkeit auf das Corpus Delicti lenken dürfte … So weit ich das bislang von hier aus einsehen konnte, befindet sich der oder die Tote auf dem Fahrersitz. Was mir etwas merkwürdig vorkommt, ist, dass die Leiche so schön aufrecht sitzt. Normalerweise kommt bei so einem Brand irgendwann der Airbag raus. Der hätte sie dann eigentlich zur Seite drücken müssen. Seht ihr?“

Krause deutete auf einen der Wagen so ziemlich in der Mitte der Brandstelle. Aber so sehr sich Thamm auch bemühte, in all dem Qualm und umherflirrenden Licht konnte er nicht erkennen, wie es in dem Auto aussah. Um Krauses Einblick stand es wohl auch nicht besser, denn nun beendete er seine Ausführungen mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Aber vielleicht ist der Airbag auch gar nicht gekommen, wer weiß“, meinte er nur.

Thamm aber hatte genug vom Warten. Ohne auf irgendeine Erlaubnis zu warten, marschierte er auf den ausgebrannten Wagen zu. Dort holte er tief Luft und warf dann endlich einen ersten Blick hinein. Und atmete erleichtert aus. Irgendwie hatte Thamm es viel härter erwartet. Aber da war kein Blut, keine wirr ins Leere glotzenden Augen, nichts. Nur eine völlig verkohlte Leiche. Wenn nicht noch die letzten Fetzen von Kleidung an ihr kleben würden, hätte man sie glatt für ein Stück verbranntes Holz halten können. Ja, dachte Thamm, die Arme, der Brustkorb, sogar der Kopf – nichts hatte mehr die vertraute Form, nichts löste in ihm den gewohnten Brechreiz aus, der ihn sonst beim Anblick von Toten so zuverlässig überkam. Das Unterbewusstsein hielt das, was sich ihm da bot, viel eher für das Überbleibsel von einem Lagerfeuer.

Aber dann kapierte es doch langsam. Die unter der aufgelösten Haut hervorgetretenen Zähne, das versengte Haar hinter dem krustigen Ohr, der widerwärtige Gestank von verbranntem Fleisch. Und da war es auch schon, wie bestellt. Mühselig hielt sich Thamm den Ärmel vor die Nase und inhalierte tief den Geruch von Holzlack und abgestandenen Männerschweiß. Sofort fühlte er sich an einen Baumarkt erinnert, sein Magen beruhigte sich, er konnte wieder klar denken. Eine Leiche also, stellte er für sich fest.

„Aber anfassen würde ich den nicht“, hörte er Krause dicht hinter sich sagen. „Der dürfte noch ein paar Grad über der Außentemperatur haben. Ah, da haben wir ja auch schon die Erklärung!“ Thamm fühlte sich beiseitegeschoben – was ihm nicht gerade ungelegen kam – und beobachtete nun Krause, wie er einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche fingerte und vorsichtig in den Halsbereich der Leiche kiekste. „Ein Seil. Unser Freund hier wurde also angeschnallt. Seht ihr? Deshalb konnte ihn der Airbag nicht auf die Seite hauen.“

Thamm nickte, ohne hinzusehen. Baumarkt, dachte er, ein Stück Holzkohle, Baumarkt. Wolff hingegen beugte sich fast bis an Krauses Kugelschreibermine heran. „Krass. Und sonst so?“, fragte er. Da aber nahm Krause schon sein Schreibgerät von der Leiche und klemmte es zurück an sein Hemd. „Mit deiner Erlaubnis werde ich unseren Freund hier erst mal zu Tisch in meine Pathologie bitten, dann mehr.“

Krause wandte sich von Wolff ab und war für die Kommissare nicht mehr zu haben, fortan hatte er nur noch Augen für die Leiche. Wolff tapste etwas missmutig neben Thamm aus dem verbrannten Dreck, der das ganze Areal überzog. Die Feuerwehr hatte den Brand inzwischen in den Griff bekommen, es dampfte nur noch aus den Autowracks und aus der Dielung der Balkone. Die Morgenröte breitete sich zögerlich über der Silhouette der Stadt aus.

„Also haben wir erst mal noch nichts“, konstatierte Wolff niedergeschlagen. „Hat sich ja voll gelohnt.“

„Bedank dich bei Möllering, der hat uns zu der Leiche geschickt“, meinte Thamm. „Und genau das macht die Sache so spannend.“

Wolff sah seinen Partner fragend an.

„Na ja, Möllering muss doch klar gewesen sein, dass von dem Toten noch nicht viel zu haben ist. Aber trotzdem bestand er darauf, dass wir uns der Sache gleich annehmen und das alles natürlich nach dem üblichen Prinzip: Wer hat wen weshalb umgebracht? Und über diese Routine könnten wir ja dann ganz gut die im Moment viel interessanteren Fragen aus den Augen verlieren.“

„Die da wären?“

„Warum interessiert sich ein BKA-Mann für eine Brandleiche in Merseburg? Wieso ist der Kerl aus der Zentrale in Wiesbaden schneller vor Ort als wir? Oder anders: Warum war der schon in der Stadt, bevor der Brand losging? Warum bringt er nicht seine eigenen Leute mit, sondern lässt uns die Drecksarbeit machen?“

„Du meinst, da will uns jemand für sein Spielchen einspannen?“, fragte Wolff und klang dabei alles andere als begeistert. Thamm zuckte mit den Schultern.

„Ich meine, dass uns das Chefchen auf jeden Fall erst mal eine Erklärung schuldet.“

Männerblues

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