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1. Mord am Mittwoch

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08.32 Uhr

Nachdem sie die Betten ausgeschüttelt, das Frühstücksgeschirr abgewaschen und ihre stattliche Anzahl von sechsundzwanzig Zimmerpflanzen gegossen hatte, nahm Frau Ottermayer das Zierkissen vom Sofa (das Almmotiv darauf hatte sie seinerzeit selbst gestickt) und legte es aufs Fensterbrett ihres Wohnzimmers. Jetzt begann der gemütliche Teil des Vormittags: Die Arme auf das Kissen gestützt und die Schultern in die gestrickte Stola gehüllt, würde sie am geöffneten Fenster das Geschehen auf der Straße verfolgen.

In der Wohnsiedlung gab es für eine alte Dame wie Frau Ottermayer immer etwas Interessantes zu beobachten. Von der Bachstraße, die parallel zur großen Hauptstraße verlief, bog der Steinweg ab und führte durch zwei einander gegenüberliegende Mehrfamilienblöcke auf einen dritten Block zu. Die drei Blöcke waren in den späten 50er Jahren gebaut und seitdem mehrfach innen und außen saniert worden. Zurzeit dominierte ein mattes Hellgelb die Hauswände. Frau Ottermayer empfand dies als wohltuend, da der Vorgänger ein ungemütliches Braungrau gewesen war.

Bachstraße und Steinweg galten als gute Lage, weshalb es viele Menschen dorthin zog und die Wohnungen regelmäßig vermietet waren. Die Siedlung war relativ zentrumsnah, für Leute ohne Auto (wie Frau Ottermayer) nur fünf Gehminuten von der nächsten Bushaltestelle entfernt und zwei Straßen weiter gab es einen Supermarkt mit Bäcker. Zudem war sie weit abgelegen von den Fakultäten und Studentenwohnheimen der hiesigen Universität. Es lebte sich recht ruhig hier, denn dank einer großzügigen Bewaldung zwischen Bach- und Hauptverkehrsstraße gab es wenig Lärm und kaum störenden Durchgangsverkehr. Die Hinterhöfe waren frei zugänglich und verfügten über kleine Spielplätze, Müllcontainer und Wäscheständer. Die Parkplätze lagen vor den frontalen Eingängen der Wohnblöcke und reichten gerade so für die Anwohner. Alles in allem handelte es sich um eine überschaubare Stadtidylle wie aus dem Bilderbuch. Eben passend für Leute in Frau Ottermayers Alter.

Sie wohnte im Erdgeschoss gleich neben dem Haupteingang des linken Blockes und konnte somit kontrollieren, wer hier alles ein- und ausging, und gleichzeitig dem Straßentreiben zuschauen. Das junge Paar aus dem Eingang schräg gegenüber war gerade dabei, Taschen und Koffer in ihrem Auto zu verstauen – offenbar ging es in den Urlaub, deshalb hatte man auch die Rollläden an den Fenstern auf halbe Höhe heruntergelassen. Oder war es nur ein Ausflug? Die Herbstferien begannen schließlich erst in einer Woche, glaubte Frau Ottermayer sich zu erinnern.

Im Stockwerk über der Wohnung des jungen Paares waren die Fenster noch immer leer, obwohl sie mit Bestimmtheit wusste, dass dort jemand lebte, denn fast jeden Abend brannte das Licht.

»Sicherlich ein Junggeselle, der keine Frau hat, die ihm Gardinen besorgt«, meinte Frau Ottermayer.

Mit Junggesellen kannte sie sich aus. Von ihren drei Brüdern war nur einer verheiratet und die Wohnungen der anderen zwei würden, davon war Frau Ottermayer überzeugt, sehr ungemütlich sein, schenkte die wohlmeinende Schwester ihnen nicht jährlich zu Weihnachten selbst bestickte Tischdecken, Kissenbezüge und Wandbilder. Ob sie dem Fremden einfach eine Gardine in den Briefkasten stecken sollte? So ein leeres Fenster zur Straßenseite – ihrer Straßenseite – sah wahrhaftig nicht schön aus.

Der dicke Herr aus dem anderen Eingang, der sonst um diese Zeit mit seinem kleinen Yorkshireterrier Gassi ging, schien heute auszubleiben. Womöglich war es ihm zu kalt, dachte Frau Ottermayer. Sie selbst mochte allerdings die frische, kühle Herbstluft und atmete tief durch.

Ihre Augen wanderten nun drei Wohnungen weiter. Links außen rauchte wie stets um diese Zeit Herr Burckhardt seine zwei Zigaretten, und in der Wohnung unter Burckhardts hatten es die Bewohner noch immer nicht für nötig gehalten, die verblühten Zierpflanzen vom Fensterbrett zu nehmen. Frau Ottermayers Überlegung, welche Probleme die Hausfrau von einer solch wichtigen Aufgabe abhalten könnten, wurde vom Lärm des anspringenden Motors unterbrochen: Das Paar hatte alles Gepäck glücklich verstauen können und fuhr nun los. Die alte Dame wollte den Vorbeifahrenden freundlich zunicken, doch würdigten die jungen Leute sie keines Blickes. Die Zeiten, als alle Nachbarn dieser Straße sich zumindest oberflächlich kannten und grüßten, waren lange vorbei. Frau Ottermayer bedauerte dies sehr, führte es doch dazu, dass ihr immer weniger Klatsch und Tratsch zugetragen wurde und sie für Unterhaltungszwecke vermehrt auf Illustrierte zurückgreifen musste.

Plötzlich bog mit rasanter Geschwindigkeit ein roter Flitzer von der Bachstraße in die Wohnblocksiedlung ein, bremste quietschend vor einer Parklücke und eroberte sie frech, ohne zu blinken. Normalerweise mochte Frau Ottermayer dermaßen rücksichtslose Fahrer nicht.

»Irgendwann wird es wegen solcher Raser noch einen bösen Unfall geben«, murrte sie und hoffte insgeheim, in einem solchen Falle rechtzeitig am Wohnzimmerfenster zu stehen, um zunächst der Polizei und hinterher, bei einer heißen Tasse Kaffee, ihren Freundinnen den Hergang detailgetreu berichten zu können.

Über die unangemessene Geschwindigkeit ausgerechnet dieses roten Flitzers sah die alte Dame allerdings gerne hinweg und sie lächelte sogar, denn es handelte sich um den Wagen von Herrn Robert…wie hieß er gleich? Egal, er war jedenfalls der sympathische Neffe von Professor Beumler, einem emeritierten Gelehrten der hiesigen Universität, der im gleichen Eingang wie sie lebte. Ihm gehörte die Wohnung schräg über ihr. Ein garstiger und unhöflicher älterer Herr, wie Frau Ottermayer fand, aber Robert besuchte ihn regelmäßig, und es schien ihr, als ob Onkel und Neffe sehr aneinander hingen.

Der junge Mann, heute mit schicker lederner Schirmmütze auf den wirren braunen Haaren, sprang mit leichten Schritten die Treppenstufen zum Haupteingang hinauf, grüßte fröhlich mit »Guten Morgen, Frau Ottermayer« und drückte auf den Klingelknopf.

»Grüß dich, Robert«, erwiderte Frau Ottermayer mit ihrer tiefen Altfrauenstimme, die so gut zu ihrem gutmütigen Bulldoggengesicht passte, und hob mit gespielter Strenge ihren Zeigefinger: »Bei solch kaltem Wetter wie heute solltest du den Mantel besser zuknöpfen!«

»Für den kurzen Weg vom Auto bis hierher?«, lachte Robert, aber weil er nicht unhöflich sein wollte, schob er schnell – nicht ohne spaßhaften Unterton – hinterher: »Auf dem Rückweg mache ich ihn zu und lege den Schal doppelt um den Hals, versprochen. Der Wagen wird sich nachher sicherlich abgekühlt haben. Dann befolge ich Ihren weisen Rat!«

Er zwinkerte ihr mit seinen hellblauen Augen zu.

»Mach dich nicht lustig. Ihr jungen Leute erkältet euch heutzutage viel schneller als unsereins damals.«

Aus der Gegensprechanlage der Klingel ertönte Professor Beumlers Stimme:

»Wer ist da?«

»Ich bin’s, Onkel, machste auf?«

Die Tür surrte, Robert lehnte sich an die Klinke und wurde eingelassen.

»Schönen Tag noch, Frau Ottermayer«, rief er, bevor die Eingangstür wieder zufiel.

So ein netter junger Mann, lächelte Frau Ottermayer vor sich hin. Er weiß noch, wie man grüßt und sich benimmt – anders als sein miesepetriger Onkel. Und immer zu einem Scherz aufgelegt…

Sie stand noch eine Weile da, aber als es zu nieseln begann, wurde es ihr zu ungemütlich und sie schloss das Fenster. Es mussten heute weder Einkäufe erledigt noch die Handtücher gewechselt werden, deshalb entschied sie sich, den restlichen Vormittag mit dem Fernseher und einer heißen Tasse Tee mit Honig zu verbringen. Als sie in der Küche das Wasser aufsetzte, klingelte es.

»Wer mag das sein?«, fragte sie laut, obwohl niemand da war, der hätte antworten können.

Sie nahm den Hörer der Gegensprechanlage ab und rief:

»Ja, bitte?«

Es kam keine Antwort und Frau Ottermayer war kurz unsicher, ob sie sich das Klingeln vielleicht nur eingebildet hätte. Mit einem stolzen »Nein, für Halluzinationen bin ich noch nicht alt genug!« verwarf sie diesen Gedanken jedoch.

Möglicherweise war ja die Gegensprechanlage kaputt und die Post wartete draußen? Unter der Woche kam sie mitunter schon recht früh. Frau Ottermayer lief mit kurzen Schritten zum Wohnzimmerfenster und öffnete es, um hinaus auf den Haupteingang zu blicken. Keiner stand dort, und vorhin, erinnerte sie sich, hatte der Lautsprecher ja auch funktioniert, oder?

»Seltsam«, murmelte sie.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie den dicken Herrn mit seinem Terrier, wie er um die Hausecke bog und anscheinend doch von einem seiner üblichen Spaziergänge zurückkehrte. Da öffnete sich der Hauseingang und Frau Ottermayer erschrak: Eingehüllt in einem zugeknöpften Cordmantel, den Schal über die Nase geschoben und die Schiebermütze tief in die Stirn gezogen, kam eine Gestalt heraus, zwinkerte der alten Dame zu, winkte und lief die Treppen hinab. Frau Ottermayer musste lachen.

»Ach, Robert, jetzt übertreibst du aber!«

Sie wollte gerade zurückwinken, als es erneut klingelte.

»Wer ist das denn nur?«, fragte sie, mittlerweile nicht mehr verwundert, sondern ärgerlich.

Sie nahm wieder den Hörer ab und erhielt abermals keine Antwort. Diesmal schaute sie in den Innenhof, ob vielleicht jemand am Hintereingang stand, doch ergebnislos.

»Wer hat mir kürzlich was von Klingelstreichen irgendwelcher Nachbarskinder erzählt? Sollten die es jetzt auf mich abgesehen haben?«

Das Wasser kochte mittlerweile. Sie goss es – noch immer verärgert – auf den Tee, vergaß vor Aufregung den Honig und setzte sich in ihren Wohnzimmersessel. Durch die Gardine sah sie noch den roten Flitzer davonrasen, dann schaltete sie pünktlich zu den Nachrichten das Fernsehgerät an. Sie ahnte nicht, dass diese kurze Aufregung der harmloseste Teil ihres Tages werden sollte.

09.12 Uhr

»Es tut mir leid, Frau Happ, das Wetter hat mich aufgehalten«, entschuldigte sich Julia im Vorbeigehen.

Völlig außer Atem hastete sie durch das Großraumbüro zu ihrem Platz, schaltete den PC ein, setzte sich das Headset auf und machte sich für ihre Arbeit bereit. Frau Happ warf ihr einen Blick durch ihre Brille zu, der unverkennbar bedeutete:

»Ich dulde kein Zuspätkommen!«

Ihr Mund dagegen erwiderte nur:

»Wir sprechen nachher darüber, Fräulein Holten.«

Julia seufzte. Dies war bereits das zweite Mal innerhalb einer Woche, dass sie sich verspätet hatte. Gewiss würde ihr Frau Happ während der Pause ein Gespräch über Pünktlichkeit, Verlässlichkeit und – das war das Gemeine – Ersetzbarkeit aufzwingen. Julia wusste nur zu gut, wie viele Studentinnen es gab, die sich um einen Nebenjob im Call-Center bemühten, um sich ihr Taschengeld aufzubessern. Frau Happ würde es nicht schmerzen, sie hinauszuwerfen.

»Die Ausrede mit dem Wetter wird sie dir nicht abkaufen«, flüsterte ihr Katharina vom Nachbartisch zu, »schließlich ist es keine Überraschung, dass es heute regnet. Wieso bist du nur so durch den Wind?«

Julia ließ sich missmutig auf den Stuhl fallen.

»Heute ist einfach nicht mein Tag.«

Sie warf Katharina einen vielsagenden Blick zu. Die andere nickte verstehend und beide konzentrierten sich auf ihre Arbeit.

Das neu-installierte Programm war einfach zu bedienen. Nachdem sie den PC hochgefahren und nebenbei ihr vom Wind zerzaustes blondes Haar geordnet hatte, musste Julia nur auf den Startbutton klicken und ihrem Arbeitsplatz wurde eine Liste von Telefonnummern zugeordnet, von der jede nacheinander automatisch angewählt wurde, bis jemand abhob. Erst dann begann ihre eigentliche Tätigkeit.

»Guten Tag, mein Name ist Julia Holten und wir führen zurzeit eine Umfrage im Auftrag von…«

»Danke, kein Interesse.«

Aufgelegt. Julia zuckte mit den Achseln. Unhöflichkeit und schnelle Gesprächsabbrüche war sie mittlerweile gewohnt und sie konnte auch verstehen, dass Leute ungefragten Anrufen eher feindselig gegenüberstanden.

»Guten Tag, mein Name ist Julia Holten und wir führen zurzeit eine Umfrage im Auftrag von…«

»Einen Augenblick bitte, junge Dame, ich habe noch Besuch. Zwei Sekunden.«

Julia fragte sich während der zwei Sekunden, ob sie diesmal dazu kommen würde, den Namen ihrer Auftraggeber zu nennen. Plötzlich horchte sie auf. Am anderen Ende der Leitung schien es eine Meinungsverschiedenheit zu geben.

»Ich bitte dich, Robert, stell dich nicht so an«, sagte die Stimme, die eben abgehoben hat, eindringlich.

»…Geizha…ange…ug…arte…«, hörte Julia eine andere Stimme im Hintergrund antworten.

Sie zog die Augenbrauen zusammen – das war aber unangenehm! Noch nie hatte sie während eines Outbound-Calls fremden Privatdiskussionen zuhören müssen.

Katharina hatte indessen bereits drei Anrufe erfolgreich absolviert, atmete kurz durch und schaute sich im Großraumbüro um. Frau Happ war nicht zu sehen, also konnte man schnell mit Julia an deren Ausrede feilen, damit es keinen allzu großen Ärger geben würde.

Als sie jedoch ihre Kollegin ansah, erschrak sie: Julia saß blass und mit weit aufgerissenen Augen vor ihrem PC; die rechte Hand hielt zitternd das Headset fest, die andere umgriff die Stuhllehne mit solcher Anspannung, dass die Fingerknöchelchen durch die Haut schimmerten.

»Was ist los?«, fragte Katharina.

Julia starrte auf den Monitor. Erst als Katharina erneut fragte, drehte sie sich zu ihr.

»Da… da hat jemand…«

Julia musste schlucken, kniff kurz die Augen zusammen und fasste sich. Langsam formulierte sie so sachlich wie möglich:

»Ich glaube, jemand hat meinen Klienten erschlagen.«

Katharina war sprachlos. Julia erklärte langsam, aber ernsthaft:

»Es gab eine Diskussion am anderen Ende der Leitung. Dann einen Schrei und ein dumpfes Geräusch, und jetzt antwortet mir keiner mehr, obwohl nicht aufgelegt wurde. Ich glaube, jemand ist erschlagen worden.«

»Das klingt ja unglaublich!«, rief Katharina aus, so laut, dass die anderen Kolleginnen von ihren Plätzen aufschauten.

Julia aber löste sich aus ihrem Schock, öffnete den Internet-Browser und kopierte die Telefonnummer, mit der sie eben verbunden war, ins Suchfenster.

»Hoffentlich gibt es einen Eintrag«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Katharina. »Da! Beumler, Steinweg 4! Das ist nicht weit von hier. Verständige die Polizei, Kati, sie soll dorthin kommen. Ich muss zu ihm, irgendwas ist da los!«

Sie sprang von ihrem Sitz auf, schnappte sich ihre Handtasche, rannte beinahe Frau Happ um, die ins Büro zurückkehrte, und hetzte fort.

Frau Happ sah Katharina durch ihre Brille fragend an. Die aber hatte bereits ihr Smartphone hervorgekramt und die Nummer des Polizeinotrufs gewählt.

»Noch nie zuvor hab ich gesehen, dass Julia etwas aus der Fassung bringt«, sagte sie. »Frau Happ, ich fürchte, es ist etwas Schreckliches geschehen.«

09.34 Uhr

Verärgert schaltete Frau Ottermayer ihr Fernsehgerät aus. Im Anschluss an die Nachrichten wurde ein liebevoller Heimatfilm aus den fünfziger Jahren ausgestrahlt, aber konnte sie ihn genießen? Nein, denn schon wieder glaubte jemand, sie mit Klingelstreichen wahnsinnig machen zu dürfen.

»Diesen Blagen werde ich jetzt aber gehörig die Meinung sagen«, knurrte sie.

Es klingelte mittlerweile Sturm, doch sie lief nicht zur Gegensprechanlage, sondern geradewegs ans Wohnzimmerfenster. Mit raschen Griffen öffnete sie es und brüllte mit ihrer tiefen Stimme:

»Sagt mal, spinnt ihr?«

Erst dann sah sie, dass es sich mitnichten um freche Kinder handelte. Eine junge Frau, für diese Jahreszeit viel zu dünn angezogen, stand blass und aufgeregt vor der Haustür und stotterte:

»Guten Tag, es ist dringend! Ich muss zu Herrn Bleumer oder Beumler oder… Ach, können Sie mich reinlassen?«

»Professor Beumler wohnt schräg über mir, Sie haben die falsche Klingel gedrückt.«

»Nein, verstehen Sie bitte, er kann nicht aufmachen. Ich muss zu ihm, es ist etwas passiert und…«

Weiter musste die junge Frau nicht sprechen. Ihre Hände krampften sich um den Henkel einer ungewöhnlich großen Handtasche. Sie zitterten so sehr, dass die Tasche regelrecht zu schwanken schien.

Frau Ottermayer erkannte es schnell, wenn eine Geschlechtsgenossin in Not war. Sie lief schnell zur Gegensprechanlage und drückte auf den Türöffner. Sie hörte, wie die Fremde in den Hausflur trat, nahm sich ihren Schlüssel und fragte, während sie ihre Wohnung verließ:

»Nun, meine Liebe, was ist denn los? Etwas Schlimmes?«

»Danke, dass Sie mir geöffnet haben. Schräg gegenüber, sagten Sie?«

»Ja, ein Stockwerk höher.«

Gemeinsam stiegen sie die Treppe zur nächsten Etage hinauf.

»Rechts wohnen Ebermanns, die sind aber zurzeit nicht da«, erklärte Frau Ottermayer, die das Gefühl hatte, irgendwas sagen zu müssen. »Hier links wohnt…«

Sie stockte. Die Wohnungstür zu Prof. Beumler stand halb offen. Die fremde Frau fasste sich an die Brust und atmete schwer. Sie hob den Arm, um die Tür ganz zu öffnen, da zögerte sie und sah Frau Ottermayer unsicher an.

»Ich… Ich glaube nämlich, dass ihm was passiert ist…«

Frau Ottermayer verstand zwar noch nicht alles, aber sie wusste, dass diese junge Frau sich fürchtete. Sie drängte sich vor sie und rief forsch in die offene Wohnung hinein:

»Professor Beumler? Sind Sie da? Ihre Tür steht offen! Und hier ist jemand für Sie, eine Frau…«

Sie blickte fragend zur Fremden.

»Julia Holten«, antwortete jene reflexartig, fügte aber hinzu: »Ich bin nicht wirklich auf Besuch da. Ich führte ein Telefongespräch mit ihm und… d-da hörte ich…«

Sie begann wieder zu stottern.

Irgendwas ist hier faul, dachte sich Frau Ottermayer, öffnete die Wohnungstür ganz und trat ins Innere.

Julia folgte ihr. Sie nahm den Geruch von altem Papier wahr, der durch die Wohnung schwebte und sie an die Keller der Uni-versitätsbibliothek erinnerte. Die Diele war mit Regalen vollgestellt, auf denen sich abgenutzte, antiquarische Bücher neben fast neuen, mitunter noch eingeschweißten Lektüren sammelten. Es war etwas dunkel, weil es kein Fenster gab, um Tageslicht einzulassen.

Frau Ottermayer bedauerte, dass kein einziger Junggeselle etwas vom Durchlüften zu verstehen schien, und hatte Mühe, nicht auf die Bücher zu treten, die auf dem Fußboden herumlagen.

»Hier muss etwas geschehen sein«, flüsterte Julia und zeigte auf einen umgefallenen Stapel.

»Ach was, hier sieht es immer so aus«, entgegnete Frau Ottermayer. »Professor Beumler ist ein viel belesener Mann, seine ganze Welt besteht aus Büchern. Wenn er im Urlaub oder auf einem dieser Kongresse ist und ich seine Blumen gießen soll, dann –«

Plötzlich hielt sie inne. Neben dem Telefontisch in der Ecke lag eine zusammengesackte Gestalt. Julia erschrak und hielt die Luft an, während sich Frau Ottermayer darüber beugte und Professor Beumler erkannte. Über seinem miesepetrigen, bleichen Gesicht baumelte der Telefonhörer. Sein Mund stand offen. Blut prangte auf seiner Stirn, welches langsam hinablief und auf die Auslegeware tropfte, wo es dunkle Flecken hinterließ. Beumlers miesepetriges Gesicht würde keinen anderen Ausdruck mehr annehmen können; die alten, kritischen Augen starrten ins Leere.

»Herr Beumler?«, fragte Frau Ottermayer, obwohl sie keine Antwort erwartete.

Julia hinter ihr kniff die Lider zusammen.

»Dann stimmt es wirklich«, hauchte sie.

Frau Ottermayer sah nachdenklich den Toten an, Sekunden der Stille verstrichen.

»Julia, bist du da? Kann mich jemand hören?«, klang es plötzlich aus dem Telefonhörer und die zwei Frauen zuckten zusammen. »Hallo? Hallo!«

Diesmal war es Julia, die zuerst reagierte. Sie nahm den Hörer in die Hand und antwortete:

»Kati, hier ist Julia. Ich bin in der Wohnung und… Nun, ich glaube, ich hatte recht. Er liegt hier.«

Sie sah zu Frau Ottermayer.

»Und er ist tot.«

Frau Ottermayer konnte nicht hören, was das Mädchen auf der anderen Seite der Leitung antwortete. Julia legte den Hörer auf das Telefon und sagte mechanisch:

»Katharina sagt, die Polizei sei unterwegs. Sie wird sicher bald hier sein.«

Sie wollte noch etwas hinzusetzen, blieb jedoch stumm. Frau Ottermayer steckte der Schreck zwar selbst noch in den Gliedern, aber wie sie die junge Frau dort ratlos bei dem Toten stehen sah, machte er dem Mitleid Platz.

»Wir müssen hier warten, also setzen Sie sich ruhig in sein Wohnzimmer«, sprach sie beruhigend. »Ich setze derweil Kaffee für uns und die Herren von der Polizei auf.«

09.59 Uhr

Der dicke Herr mit dem Terrier, dessen Morgenspaziergang man in der Steinweger Siedlung beinahe täglich beobachten konnte, hieß Bernd Achtelstädter, wurde aber von Freunden und Bekannten aufgrund seiner Liebe zu den kleinen Hunden Terry genannt. Als er das Polizeiauto vor dem Nachbareingang mit Blaulicht einfahren und die uniformierten Männer in den Eingang stürzen sah, hatte er Lilly, seine derzeitige hündische Wohnungsgenossin, erneut an die Leine genommen und sich mit ihr auf dem Gehweg positioniert.

Wichtigtuerisch winkte er ein zweites Polizeiauto in eine passende Parklücke. Ein Mann und eine Frau in Uniform stiegen aus, bedankten sich nickend und liefen ohne weitere Erklärung ins Haus. Terry nahm Lilly auf den Arm, kraulte sie hinterm Ohr und meinte:

»Na, meine Kleine, du platzt bestimmt vor Neugier, was da drin passiert ist. So viele Polizisten! Vielleicht ein Einbruch? Eine Razzia?«

Lilly reagierte auf diese Vermutungen nicht, sondern schnüffelte an Terrys Jacke, da sie wusste, dass dort irgendwo in einer Tasche die kleine Schachtel mit den Hundekeksen verborgen war.

Die Frau und einer der Männer vom ersten Polizeiwagen kamen wieder aus der Wohnung. Die Frau telefonierte und die Worte »SpuSi« und »Kripo« fielen. Terrys Herz pochte:

»Letztens haben wir den Tatort verpasst, Lilly, und heute passiert einer direkt vor unserer Nase!«

Der Polizist kam auf ihn zu.

»Guten Tag, Herr…«

»Terry.«

Der Polizist guckte ungläubig und Terry gab seinen richtigen Namen an.

»Sie fragen mich bestimmt, ob ich etwas beobachtet habe? Aber was ist denn überhaupt passiert?«

»Dazu dürfen wir noch keine Aussagen machen. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen? Sie waren doch gerade mit Ihrem Hund spazieren und…«

»Das ist Lilly«, verkündete Terry stolz.

Der Polizist beachtete diesen Einwurf nicht.

»…können mir bestimmt sagen, ob heute alles so war wie gewöhnlich? Oder ist Ihnen in der Umgebung irgendetwas aufgefallen?«

Terry holte tief Luft und begann – eher aus der Sicht Lillys als seiner eigenen – weitschweifig seinen heutigen Tagesablauf mit dem von gestern zu vergleichen, nur um festzustellen, dass bis auf eine Viertelstunde Verschlafen alles wie immer gewesen war.

»Danke«, antwortete der Polizist in einem Ton, der das Ende des Gesprächs anzeigen sollte.

Terry blieb dennoch bei ihm stehen, in der Hoffnung, etwas Wichtiges zu erfahren. Weder er noch seine Lilly hatten ein Gespür dafür, wenn andere Leute ihnen die kalte Schulter zeigten.

Zwei weitere Fahrzeuge, allerdings keine Polizeiwagen, bogen in die Straße ein und Terry sah den vielen ernsten Gesichtern an, dass hier kein Kavaliersdelikt vorlag.

»Na, Lilly, ist das nicht aufregend?«

Terrys Frage wurde mit einem fordernden Bellen beantwortet, was in Hundesprache wahrscheinlich bedeutete:

»Gib mir endlich einen Keks!«

10.06 Uhr

Kriminalhauptkommissar Tork war ein dunkelblonder, mittelgroßer Mann Anfang 40, der weit über den Bezirk hinaus geschätzt und geachtet wurde. Das lag nicht etwa an irgendwelchen raffinierten Tricks in seiner Ermittlungstätigkeit, sondern schlicht an seinem ruhigen, unaufgeregten Wesen. Wenn er Zeugen oder Verdächtige vernahm und sie mit seinen grauen Augen ansah, löste sich jede spannungsgeladene Atmosphäre – egal ob am Tatort, im Vernehmungszimmer oder im Büro.

Tork wusste um seine Ausstrahlung und hatte in seiner langjährigen polizeilichen Tätigkeit oft die Vorzüge derselben genießen können. Die Leute fühlten sich in seiner Gegenwart wohl aufgehoben und hatten das Gefühl, es mit einem sachlichen, aber verständnisvollen Mann zu tun zu haben. Deshalb kamen sie gern als Zeugen zu seinen Vernehmungen, sprachen detailreicher über ihre Beobachtungen während für den jeweiligen Fall wichtiger Zeiträume und brachten damit die Ermittlungen ein Stück weit voran.

Wenn Tork im Fernsehen all die fiktiven Polizeibeamten sah, wie sie schneidig und temperamentvoll die Bildfläche zu sprengen drohten und fast allein dadurch die Täter zu einem Geständnis animierten, war er nicht neidisch. Er wusste, dass solche Ermittler im wahren Leben die Bevölkerung nur verunsichern würden, sodass gar keine wichtigen Aussagen zu Protokoll kämen. Und Kommissare, die ihrer eigenen Persönlichkeit zu viel Raum gaben, so seine Erfahrung, übersahen schnell die anderen Menschen um sie herum, deren Charaktereigenschaften gerade in schweren Delikten so oft wichtige Anhaltspunkte liefern konnten. Tork zog es vor, zurückhaltend zu bleiben.

Einzig Kriminaldirektor Hummel blieb von ihm unbeeindruckt. Seitdem der nämlich an einer Fortbildung zu Kommunikation und Zeugenvernehmung teilgenommen hatte, schüttelte er immer wieder traurig den Kopf und seufzte:

»Kennen Sie die Erkenntnisse des Konstruktivismus? Zeugenaussagen sind nur Wiedergaben subjektiver Wahrnehmungen. Nicht mal ein Zehntel davon entspricht der Realität, weil wir Menschen gar nicht objektiv sein können. Und wenn wir kommunizieren, Herr Tork, dann schmücken wir unsere subjektiven Eindrücke aus. Es wäre besser, Sie konzentrieren sich in Zukunft mehr auf die Spuren am Tatort. Es ist sinnlos, sich an verzerrten Wiedergaben von Zeugen zu halten.«

Tork konnte in solchen Situationen nichts anderes tun, als verständnisvoll zu nicken. Insgeheim aber hinterfragte er die wissenschaftlichen Untersuchungen, die der Direktion da nahegebracht worden waren, sehr kritisch. Nur ein Zehntel aller Wiedergaben sei wahrheitsgetreu? Der Rest verzerrt und ausgeschmückt? Wenn das auf alle Schilderungen von Erlebnissen zuträfe, würde sich doch kein Mensch mehr die Mühe machen, um beispielsweise von einem Urlaub zu erzählen, geschweige denn, eine polizeiliche Aussage zu tätigen.

Tork fragte sich, mit welchem Ziel der Kriminalpolizei Fortbildungen mit solch desillusionierenden Erkenntnissen überhaupt angeboten wurden, und entschied sich, vorerst an seiner eigenen bewährten Art der Ermittlung festzuhalten.

Dies würde er auch im Steinweg 4 tun, wo er jetzt mit seinem Kollegen Unger in Professor Beumlers Wohnung stand. Egon von der Spurensicherung kniete, schräg über die Leiche gebeugt, auf dem Dielenboden und sah Tork kritisch an.

»Bin nicht begeistert davon«, sagte er und deutete auf das Wohnzimmer, wo Frau Ottermayer und Julia saßen. »Die sollten das Feld räumen. Können Spuren durcheinanderbringen.«

Tork aber beruhigte Egon mit den Worten, die zwei Damen hätten sehr viel Mut bewiesen, indem sie bis zum Eintreffen der Polizei bei der Leiche geblieben waren.

»Muss aber jetzt deren Fingerabdrücke nehmen. Haben sicher was angefasst.«

Tork stimmte zu und meinte, die Anwesenheit der zwei Zeuginnen könne für den besten Spurensicherungsbeauftragten der hiesigen Kriminalpolizei gewiss kein großes Hindernis sein. Egon ließ sich von diesem Kompliment etwas beruhigen und arbeitete weiter.

Frau Ottermayer kam auf Tork zu und fragte, ob es jetzt nicht besser sei, in ihre eigene Wohnung zu gehen und den Tatort zu verlassen. Ihr Gesicht erinnerte zwar noch immer an eine gutmütige Bulldogge, aber ihre Augen bewiesen Sorge und vielleicht ein bisschen Angst. Tork gab auf seine ruhige Art zu bedenken:

»Es wäre vielleicht besser, wir sprechen zunächst hier über den Vorfall, damit die junge Frau nicht nochmal an dem Verstorbenen vorbei muss, oder was meinen Sie?«

Der alten Dame erschien Torks Argument schlüssig und sie willigte ein.

Er ging mit ihr ins Wohnzimmer des toten Professors und setzte sich auf einen Stuhl. Seine grauen Augen ruhten auf den Händen Julia Holtens, die in einem bequemen Ohrensessel saß. Ihre Handtasche baumelte an dessen Lehne.

In seiner eigenen Hand hielt Tork die Notizen der Kollegen von der Schutzpolizei, die vor den Kommissaren eingetroffen waren. Dort fand er neben dem Namen des Opfers auch jene der Zeugen sowie deren Alter und die ersten Angaben zu den Umständen, die sie herführten.

»Holten ist Call-Center-Angestellte«, stand darauf, »hat den Vorfall am Telefon gehört, was der Anlass für sie war, um zum Tatort zu kommen. Frau Ottermayer wohnt im Haus, ließ Holten ein und folgte ihr. Beide bestätigen sich gegenseitig ihre Aussagen. Sie fanden die Leiche gemeinsam. Herr Achtelstädter wohnt gegenüber und hat vermeintlich nichts gesehen.«

Tork steckte die Notizen in seine Jackentasche. Derweil ging Frau Ottermayer mit Unger in die Küche und bereitete die zweite Portion Kaffee vor. Julias Hände lagen in ihrem Schoß, ihr Atem war normal. Offensichtlich ist der Schock vorbei, dachte der Kommissar bei sich, und es gibt keine Anzeichen von Hysterie. Dafür war er sehr dankbar, denn nichts war ihm unangenehmer als hysterische Zeugen.

»Sie haben hier angerufen?«, fragte er im beiläufigen Gesprächston.

»Ja, von der Arbeit aus. Ich bin in einem Call-Center beschäftigt, wissen Sie, und wir machen telefonische Umfragen.«

»Worum ging es denn bei der Umfrage?«

»Es sollte um Lebensmittelverbrauch gehen. Unser Auftraggeber, eine Supermarktkette, möchte das Angebot genauer auf die Kunden abstimmen. Aber zur Umfrage kam es nicht mehr.«

»Können Sie sich an den Gesprächsverlauf erinnern?«

Julia konzentrierte sich und kniff ihre blauen Augen zusammen.

»Ich rief zuerst – das heißt, der Computer rief zuerst bei einer anderen Nummer an. Dort legte man gleich wieder auf. Die meisten Leute mögen keine telefonischen Umfragen, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«

Tork konnte sich das sehr gut vorstellen. Er zählte sich in diesem Fall selbst zu den meisten Leuten.

»Der Professor hier war der zweite Klient meines heutigen Dienstes. Ich begrüßte ihn und wollte ihm den Zweck des Anrufes erklären. Da unterbrach er mich und meinte, er bräuchte noch zwei Sekunden.«

»Zwei Sekunden? Wofür?«

»Offenbar war noch jemand in der Wohnung, mit dem er eine Unterhaltung führte oder beenden musste. Ich habe nur eine dunkle Stimme im Hintergrund gehört.«

»Haben Sie verfolgen können, worum es in der Unterhaltung ging?«

Julias Wangen röteten sich etwas. Tork lächelte freundlich:

»Ich gehe natürlich nicht davon aus, dass Sie während Ihrer Telefonate regelmäßig den Hintergrundgesprächen lauschen. Als solch eine Person schätze ich Sie nicht ein. Aber in diesem Fall – Sie verstehen – könnte es recht wichtig sein.«

Julia lächelte zurück. Der Kommissar wirkte vertrauenerweckend auf die junge Frau, und so redete sie weiter.

»Ich habe eigentlich nichts verstehen können. Wahrscheinlich hat der Professor seine Hand über den Hörer gelegt, könnte ich mir vorstellen. Das heißt, am Anfang habe ich Wortfetzen verstanden.«

Tork nickte kaum merklich, um Julias Redefluss nicht zu hemmen.

»Ich kann es nicht beschwören, aber mir schien es eine ärgerliche Unterhaltung zu sein. Ein Wort klang wie Geizhals. Und es ging wohl darum, dass er lange genug gewartet hätte.«

Der Kommissar runzelte etwas die Stirn und fragte ruhig:

»Entschuldigen Sie, Frau Holten, aber um genau zu sein: Wer benutzte von beiden Sprechenden das Wort ›Geizhals‹? Und wer konnte nicht mehr warten?«

»Ach ja, ich hab es nicht deutlich ausgedrückt, Verzeihung«, sprach Julia etwas hastig, doch Tork hob beruhigend die Hand.

Julia wählte ihre Worte nun mit Bedacht:

»Der Professor, er sagte, es dauere nur zwei Sekunden. Ich verstand es so, als ob er das Gespräch mit mir gleich fortführen wolle. Die ärgerlichen Bemerkungen kamen alle von dem Mann im Hintergrund. Was der Professor noch gesagt hat, habe ich nicht verstehen können. Es war alles wie ein dumpfes Murmeln.«

Tork notierte sich die Aussagen auf seinem Block und nickte wieder bestärkend.

»Sie sind sicher, dass es eine weitere Männerstimme war?«

Julia hatte diese Frage nicht erwartet und es dauerte etwas, bis sie antwortete:

»Ja. Ja, doch. Mir kam kein anderer Gedanke bis jetzt.«

»Dann kann man Ihrem Eindruck sicher vertrauen«, meinte Tork liebenswürdig. »Und der Anruf wurde vom Computer wann genau initiiert?«

»Warten Sie, ich kam etwa zehn Minuten zu spät ins Center. Vielleicht viertel nach neun?«

Tork notierte sich das.

»Ich bin aber nicht sicher. Wissen Sie, ich war so fassungslos, als er plötzlich schrie. Und dann folgte dieser dumpfe Aufschlag und die Stille…«

»Wir können den genauen Zeitpunkt sicher in Ihrem Center feststellen«, meinte Tork. »Als Sie den Professor anriefen, meldete er sich mit seinem Namen?«

»N-Nein, ich glaube nicht«, antwortete Julia unsicher. »Ich sagte meinen Spruch – also die Standardbegrüßung – mir kommt es so vor, als ob er nur ›Hallo‹ oder ›Bitte?‹ gesagt hätte, als er abhob. Aber…«

Sie stockte, ihre Stirn runzelnd.

»Ja?«, ermutigte sie Tork so leise und sacht wie möglich.

»Er hat den anderen Mann mit einem Namen angesprochen. Robert oder Roland oder so etwas in der Art. Wahrscheinlich bin ich deshalb automatisch davon ausgegangen, dass es sich um Männer handelte.«

Tork notierte sich die Aussage. Er zeigte es Julia gegenüber nicht, aber er war sicher, dass dieser Name ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung war.

Kommissar Unger, Torks jüngerer und sehr ernsthafter Kollege, kam mit Frau Ottermayer aus der Küche. Beide hatten zwei Tassen in der Hand, die heiß dampften.

»Sie werden entschuldigen, Herr Inspektor«, sagte Frau Ottermayer, »aber ich habe der jungen Frau und mir etwas Schnaps in den Kaffee gegeben. Wir haben uns das nach dem Schock verdient, finde ich, und Ihr Kollege hier hatte nichts dagegen.«

Sie reichte Julia eine Tasse, die sie dankend annahm. Unger sagte nichts dazu. Sein Gesicht blieb hölzern, aber Tork erkannte den schelmischen Blick in dessen Augen. Offenbar schätzte er die alte Dame als rüstig genug ein, um vormittags Kaffee mit Schuss zu vertragen.

»Ein Glück, dass Sie alles gefunden haben, was Sie dafür brauchten?«, lächelte Tork.

Sein Satz war wie eine Frage formuliert, denn er wollte damit herausfinden, welche Rolle Frau Ottermayer im Haushalt des Toten spielte.

»Professor Beumler lässt unsereins nicht oft in seine Wohnung, aber jedes Mal, wenn er unterwegs ist, gieße ich seine Blumen und halte sie etwas in Ordnung. Da weiß man schnell, wo was steht.«

»Verstanden Sie sich gut mit Professor Beumler?«

Frau Ottermayer kniff die Lippen zusammen. Tork erfasste schnell, dass sie mehr zu dem Toten sagen könnte, als sie es im Moment wollte. Der Kommissar schob eine andere Frage hinterher:

»Sie sind sicher, dass es sich bei dem Toten um ihn handelt? Sie wissen schon, wegen der Identifizierung.«

»Natürlich ist das der Professor. Daran besteht kein Zweifel.«

Frau Ottermayers Ton war bestimmt, als sie die Identität bestätigte. Danach atmete sie hörbar aus und nahm einen großzügigen Schluck aus ihrer Tasse. Ihre Augen wanderten in Richtung Diele, wo der Polizeiarzt den Leichnam gerade einpacken ließ. Er winkte Tork zu sich. Der ließ die Frauen und Unger im Wohnzimmer und suchte sich mit dem Arzt eine Ecke, wo sie nicht zu hören waren.

»Es gibt nicht viel zu sagen«, flüsterte der Polizeiarzt, »Der Todeszeitpunkt liegt zwischen Punkt neun Uhr und halb zehn. Ich favorisiere momentan die Mitte dieses Zeitraums, aber genau beschwören kann man es nicht, du kennst das ja. Erschlagen wurde er von einem stumpfen Gegenstand, seine Haut war dünn, war ja schon älter, deshalb die starken Blutspuren. Da stecken Splitter in der Wunde, die muss der Rechtsmediziner nachher näher betrachten. Sie könnten was mit der Tatwaffe zu tun haben. Aber die SpuSi kann dir einen Hinweis geben.«

Er winkte den Kollegen von der Spurensicherung heran und verabschiedete sich gleichzeitig von Tork.

»Was habt ihr gefunden?«

»Tatwaffe scheint nicht mehr hier zu sein«, erwiderte Egon stichpunktartig, »aber zwischen den Büchern liegt ’ne Uhr. Muss auf dem Telefontisch gestanden haben. Batteriebetrieben. Offenbar vom Toten während des Sturzes auf den Boden gerissen. Batterie rausgefallen. Uhr steht auf fünf Minuten nach neun.«

Könnte ein Indiz für den genauen Todeszeitpunkt sein, dachte sich Tork. Aber Julia Holten hatte eben etwas von viertel nach neun gesagt. Er notierte sich beide Uhrzeiten und malte ein großes Fragezeichen dahinter.

»Kümmert euch auch ums Telefon«, riet er der Spurensicherung, »in die KTU damit!«

Dann ging er zurück ins Wohnzimmer und sah sich genauer um. Wie die Diele war auch das Wohnzimmer hauptsächlich ein großes Bücherregal, vollgestopft bis unter die Decke mit großen, in Leder gebundenen Wälzern, zwischen denen kleinere Bücher steckten. Von Göttern und Helden Germaniens, Gallische Völker, Saxo Grammaticus, Die jüngere Edda. Offenbar war Beumler ein Professor der Germanistik oder Skandinavistik. Vielleicht beides. Tork kannte sich darin nicht gut aus.

»Ein sehr gelehrter Mann war er«, sagte Frau Ottermayer, die Torks Blicke auf die Bücherwand bemerkt hatte. »Es ging ihm wohl hauptsächlich um Schriften des finsteren Zeitalters, wenn ich das so sagen darf. Unsereins kennt ja nur die Nibelungen und vielleicht noch den alten Hildebrand, aber seine Kenntnisse gingen wirklich tief. Nicht, dass er sie mit uns geteilt hätte. Sowohl die Ebermanns als auch ich, nun, wie können wir da mithalten? Aber so ein alter Professor sollte wirklich mal lernen, über normale Dinge zu sprechen. Herr Ebermann konnte ihn nicht einmal zum Kegeln mitnehmen. Schlimm, wenn ein alter Junggeselle sich so in seinem Hobby verliert.«

»Keine Frau, was?«, fragte Tork beiläufig.

»Sie können mir sagen, was Sie wollen, Herr Inspektor, wenn dem Mann die Frau fehlt, dann wird er sonderlich. Meine zwei Brüder…«

Tork und Unger tauschten einen vielsagenden Blick aus. Offenbar hatte Frau Ottermayer nicht nur einen, sondern zwei Schuss in ihren Kaffee getan, was nun ihre Zunge löste. Als sie kurz stutzte, weil Egon im Flur zu fotografieren begann, gelang es Tork einzuwerfen:

»Nun, wir müssen wohl von Totschlag ausgehen. Offensichtlich kam jemand, mit dem Beumler eine Meinungsverschiedenheit hatte. Vielleicht auch Raubmord. Fehlt irgendwas?«

Sein fragender Blick haftete sich an Frau Ottermayer. Die sah sich um und hob ratlos die Arme in die Höhe.

»Wissen Sie, so oft war ich nun wirklich nicht hier, um das beurteilen zu können. Soweit ich weiß, hatte der Professor viel Geld, aber sicherlich nicht in seiner Wohnung.«

Tork hatte mit keiner anderen Antwort gerechnet. In der Direktion würden sie bald das Portemonnaie und die Bankdaten überprüfen, nach Verwandten suchen und weitere Schritte einleiten.

»Jetzt möchten wir Sie beide bitten, uns Ihre Fingerabdrücke zu geben und dann nach draußen zu begleiten. Die Spurensicherung will ihre Arbeit beenden«, sprach Tork.

Als er irritierte Blicke erntete, erklärte er den Frauen, weshalb die Fingerabdrücke wichtig waren.

»Wir wollen sichergehen, dass wir die Spuren der Zeugen von denen des Täters unterscheiden können.«

Die zwei Frauen willigten ein. Nach getaner Pflicht eilten sie durch die Diele, beide auf die Ecke schauend, in der Beumlers Leiche gefunden worden war. Die Blutspuren zeugten noch von dem schrecklichen Vorfall.

»Wer kann so etwas nur tun?«, seufzte Frau Ottermayer kopfschüttelnd.

»Habt ihr das Telefon untersucht?«, fragte Tork seine Kollegen.

Da stieß Julia ein ängstliches »Oh!« aus. Die Beamten sahen sie an. Julia erklärte ihnen stotternd, wie sie mit Katharina, die immer noch in der Leitung gewesen war, gesprochen und dann den Hörer aufgelegt hatte.

»Wegen der Fingerabdrücke… Es tut mir leid…«

Tork hob wieder beruhigend die Hand:

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Frau Holten. Mit Fingerabdrücken rechnen wir da sowieso nicht. Erinnern Sie sich, dass Beumler abgenommen hatte, aber nicht auflegte? Sie haben am Telefon keine Täterspuren verwischen können.«

Er wandte sich zu den Kollegen.

»Die Aufnahmen des Anrufbeantworters kommen dann bitte zu mir.«

Vielleicht gibt es darauf Hinweise, dachte Tork bei sich. Erpressung, Drohungen – ein Professor erschlagen in seiner eigenen Wohnung, da fielen dem Kommissar viele verschiedene Theorien ein.

Im Hausflur bedankten sich Tork und Unger bei Frau Ottermayer und Julia, vergaßen dabei aber nicht, an deren Bürgerpflicht zu appellieren.

»Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie beide demnächst zu uns in die Polizeidienststelle kämen, damit wir Ihre Aussagen offiziell protokollieren könnten. Das dauert nicht lange und«, Tork wandte sich an Julia, »wird von uns auch attestiert, wenn Sie deswegen Ihrem Job fernbleiben müssen.«

Julia versprach, bald vorbeizukommen.

»Und eine weitere Bitte haben wir: Solange die Ermittlungen andauern, ersuchen wir Sie, nichts an die breite Öffentlichkeit zu bringen. Sie wissen schon, Boulevardblätter und dergleichen. Das ist Sache der Polizei.«

Die zwei Frauen nickten verstehend.

»Sehr schön. Mein Kollege Unger wird Sie zurück zu Ihrer Arbeitsstelle bringen, Frau Holten. Ich muss mit Frau Ottermayer noch etwas besprechen.«

Unger führte Julia nach draußen und Frau Ottermayer sah beiden nach.

»Armes Mädchen«, meinte sie. »Der Anblick des Toten muss ein schwerer Schock für sie gewesen sein. Und den Mut, bei so einem Anruf tatsächlich herzukommen! Ich weiß nicht, ob ich den in ihrem Alter schon gehabt hätte!«

Tork bildete sich ein, dass Frau Ottermayers Neugierde in solch einem Falle jegliche Angst verdrängt haben würde. Das Sichten des Tatorts hatte sie zumindest weitaus mehr genossen als Julia.

»Ich stimme Ihnen zu, Frau Ottermayer. Es ist bewundernswert, dass eine so junge Frau den Vorfall am Telefon überhaupt ernst nahm! Viele hätten es vielleicht als Scherz oder Irrtum interpretiert.«

»Weiblicher Instinkt«, sagte Frau Ottermayer und hob den Zeigefinger. »Ja, wir wissen oft, was vor sich geht. Weiblicher Instinkt!«

Tork wechselte das Thema.

»Sie werden entschuldigen, Frau Ottermayer, aber Professor Beumler ist…war ja Ihr Nachbar. Sie kennen nicht zufällig Verwandte von ihm, die wir benachrichtigen können?«

»Aber sicher doch, seinen Neffen! Der war heute sogar hier, bevor diese ganze Tragödie passiert ist.«

»Sein Neffe war hier? Wann?«

»Oh, so um halb neun herum, würde ich sagen. Muss zwanzig Minuten geblieben sein. Vor den Neun-Uhr-Nachrichten fuhr er weg. Muss ja auch arbeiten gehen, wie es sich gehört. Der Nachname will mir nicht einfallen, er hieß jedenfalls nicht Beumler, sondern… Ach, wissen Sie, ich schreibe Ihnen auf, wo er arbeitet. So eine neumodische Computerfirma. In der Nähe, wo früher das alte Kaufhaus war, wissen Sie?«

Erneut kam Frau Ottermayer ins Schwätzen. Mit dem Jungen habe sie sich viel besser verstanden als mit Beumler, der ja immer etwas distanziert und arrogant gewesen sei. Soweit sie es über nachbarschaftliche Plaudereien hatte herausfinden können (Professor Beumler habe sich ja nicht oft herabgelassen, mit den anderen Bewohnern des Hauses zu reden), waren es sogar dessen Bemühungen gewesen, die Robert einen Studienplatz an der Universität überhaupt erst ermöglicht hatten.

»Robert?«, fragte Tork nach.

Ja, Robert hieß er, aber der Nachname? Egal. Frau Ottermayer wusste nicht mehr, wie lange das nun her war und um was für einen dieser modernen Studiengänge es sich gehandelt hatte. Sie klangen im Ohr der alten Dame sowieso alle gleich.

»Aber seitdem hingen die zwei sehr aneinander. Zu ihm war der Professor immer nett.«

Sie reichte Tork ein Blatt Papier mit dem Namen der Firma und der Adresse: Frossek IT Media, Annastraße 54.

»Sie müssen es dem Jungen schonend beibringen.«

Tork versicherte dies und wiederholte seine Bitte, nichts von den Vorfällen an die Presse zu verraten. Frau Ottermayer schwor, kein Sterbenswörtchen zu verlieren, und Tork verließ den Hausflur.

»Robert«, sagte er nachdenklich zu sich selbst. »Na, wollen mal sehen!«

Frau Ottermayer sah dem Kommissar nach, schloss ihre Wohnungstür und blickte nachdenklich vor sich hin. Dann gab sie sich einen Ruck und griff entschlossen zum Telefonhörer.

Draußen auf der Straße stand noch immer Terry. Seine Lilly schnüffelte in den Büschen vor dem Block herum, er selbst jedoch hatte mit großem Interesse wahrgenommen, wie zunächst die Schutzpolizei, dann weitere Leute und letztlich einer der Kommissare mit einer fremden, jungen Frau davonfuhren.

»Ob diese Fremde die Täterin ist?«, fragte er Lilly, aber kein zustimmendes Kläffen erklang. »Ich habe diese Frau noch nie hier gesehen. Sie hat bestimmt etwas mit der Sache zu tun. Wenn man nur mehr wüsste!«

Tork trat aus der Haustür und lief gemächlichen Schrittes zu seinem Wagen. Terry kam entschlossen auf ihn zu und sprach mit leicht gekränkter Stimme:

»Entschuldigen Sie, der Herr, aber gehören Sie zur Polizei? Sie müssen wissen, dass Ihre Kollegen mich noch nicht richtig vernommen haben.«

Tork musste ziemlich verdutzt geschaut haben, denn Terry fügte erklärend hinzu:

»Natürlich, einer von den Uniformierten hat sich etwas notiert. Schicke neue Uniformen haben wir jetzt in unserem Land, nebenbei bemerkt, finden Sie nicht auch? Jedenfalls weiß ich aus dem Fernsehen, dass ich auch von den Kommissaren interviewt werden muss. Jawohl!«

»Sie sind wohl Herr Achtelstädter?«, fragte Tork in mildem Ton.

»Eben derselbe.«

»Mein Kollege gab mir zu verstehen, dass Sie eigentlich nichts Besonderes bemerkt hätten?«

Erneut fügte Tork an seine Aussage ein unsichtbares Fragezeichen an, um Terry zum Reden zu bewegen. Es war immerhin denkbar, dass der dicke Mann doch etwas Nützliches bemerkt hatte, wenn er es schon auf sich nahm, so lange vor dem Hauseingang zu warten.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, es ist so schwer zu wissen, was man bemerkt haben soll, wenn niemand einem sagt, was eigentlich vorgefallen ist! Je nach Sachlage kann schließlich alles, was man nur beiläufig gesehen und als unwichtig abgetan hat, als wichtig gelten. Da hätten ihre Kollegen mich ruhig einweihen können.«

»Ich entschuldige mich für meine Kollegen«, lenkte Tork ein, »aber es ist für unsere Arbeit meist ratsam, nicht allzu viele Zivilisten –«

Er wurde barsch unterbrochen.

»Ich bin ein Bewohner dieser Straße und kein dahergelaufener, neugieriger Zivilist. Ich habe gesehen, wie Ihre Leute einen eingepackten Toten herausgebracht haben. Wenn hier ein Mord vorliegt, habe ich ein Recht darauf, darüber Bescheid zu wissen. Wer weiß, vielleicht ist es ein Serientäter und ich könnte das nächste Opfer sein?«

Tork staunte nicht schlecht über die blühende Fantasie des Herrn. Eine kurze Erinnerung an den letzten TV-Thriller durchzuckte ihn; war es da nicht auch um einen Serienkiller gegangen?

»Herr Achtelstädter, ich hatte sowieso vor, mit Ihnen zu sprechen«, log Tork, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Sehr gut«, sagte Terry und es klang ein bisschen, ob er einen Hund loben würde. »Dann kommen Sie am besten in meine Wohnung.«

Kurze Zeit später fand sich Tork in einem Wohnzimmer wieder, welches im völligen Gegensatz zu Beumlers privater Bibliothek stand. Ein großer Flachbildschirm hing an einer Wand, gegenüber fanden sich Landschaftsmalereien und ein Blumenkalender. Die Schrankwand war aus hellem Holz und beherbergte nur wenige Bücher, dafür umso mehr Hundespielzeug, DVDs und alte Schallplatten. Ein altmodisch aussehender Plattenspieler, der in Wahrheit sehr neu und teuer gewesen war, stand in der Ecke neben der Tür.

Terry saß in einem Sessel und sah den Kommissar eindringlich an.

»Wer ist denn nun ermordet worden? Das alte Ehepaar aus dem zweiten Stock? Ein Selbstmord vielleicht? Der Schichtarbeiter ganz oben, ich glaube, er ist Fernfahrer, sah in letzter Zeit immer gestresster aus. Oder war es diese Ottermayer? Ihr Fenster steht fast immer offen, neugierig, wie sie ist.«

»Über den Toten werden Sie morgen eine ausreichende Meldung in der Zeitung finden«, erwiderte Tork. »So viel können Sie wissen: In Ihrem Nachbareingang hat sich allem Anschein nach zwischen neun Uhr und halb zehn ein Mord ereignet.«

Terry atmete hörbar ein. Am liebsten hätte er zu seiner Lilly etwas gesagt, aber in Anbetracht des Gastes hielt er sich zurück.

»Sie haben während dieses Zeitraums nichts bemerkt?«

Terry dachte nach.

»Als ich heute Morgen aus dem Fenster sah, fuhr gerade ein Ehepaar aus dem anderen Block mit verdächtiger Eile in den Urlaub. Aber Moment, das war weit vor neun Uhr… Der Zeitraum hilft natürlich, sich auf die Ereignisse besser zu konzentrieren. Ich muss da gerade von meinem verspäteten Spaziergang zurückgekommen sein. Das war kurz vor 9. Aha!«

Der Aufruf erschreckte Tork etwas. Terry begann, aufgeregt und heftig gestikulierend zu erzählen:

»Vielleicht war es auch kurz nach neun und meine Uhr geht nach, sehr gut möglich, aber es passt, Herr Kommissar! Eine vermummte Gestalt verließ das Haus, lief an mir vorbei in ein rotes Auto – ich glaube, ein Cabrio – ich kenne mich da nicht aus – und verließ überstürzt die Straße! Das ist Ihr Verdächtiger!«

»Eine vermummte Gestalt?«

Tork fand diese Beschreibung unglaubwürdig.

»Na ja, kein Terrorist oder so. Keine Skimütze überm Kopf. Ich meine, dieser Jemand, wer auch immer er war (man kann zwischen Mann und Frau heute sowieso kaum unterscheiden, finden Sie nicht?) hatte den Schal über der Nase und so eine Schiebermütze tief ins Gesicht gezogen, langer Mantel aus Cord, ob das wieder modern ist? Und Handschuhe und so weiter…«

»Also der Jahreszeit entsprechend angezogen«, konkretisierte Tork Terrys Beschreibung.

»Ja«, antwortete Terry kurz und dachte bei sich, dass Polizeibeamte mit ihrer lakonischen Art jegliche Spannung, jedwede Dramatik aus den Fällen nahmen.

»Und die Uhrzeit ist unsicher?«

»Wie gesagt, um neun herum. Plus-minus fünf Minuten.«

Tork lächelte nachsichtig.

»Herr Achtelstädter, ich bedanke mich bei Ihnen. Sie haben soeben eine Aussage von Frau Ottermayer bestätigt. Vielen Dank dafür.«

Terrys Augen leuchteten auf.

»Das heißt, Sie sind durch mich schon einen Schritt weiter?«

»Oh ja.«

»Und ich habe dem Mörder ins Antlitz gesehen? Wie aufregend!«

»Ich fürchte, da muss ich Sie enttäuschen. Es war nicht der Mörder, den Sie sahen. Aber jemand, der dank Ihnen nicht weiter verdächtigt werden muss. Er fuhr weg und kehrte nicht wieder?«

»Nein, soweit ich weiß nicht«, antwortete Terry leicht enttäuscht. »Sind Sie sicher, dass es nicht der Mörder gewesen ist? So vermummt und so in Eile, ich finde das sehr verdächtig!«

Tork wunderte sich, dass Terry das nicht bereits verdächtig fand, als er vorhin vom Kollegen befragt worden war. Vielleicht war an der Fortbildung seines Kriminaldirektors doch etwas dran und es gab Zeugen, die sich ihre Realität selbst zusammenbauten und Stück für Stück etwas dazu erfanden. Im Falle Terrys würde das Zehntel, das verwendbar war, nur schwer zu finden sein – und möglicherweise wäre es so unbedeutend, dass es gar nichts zur Aufklärung des Falles beitrüge.

11.31 Uhr

Als Julia ins Call-Center zurückkehrte und das Großraumbüro betrat, wollte Frau Happ zu einer langen und ernsten Rede über Zuständigkeit und Hierarchie ansetzen, in der ihre eigene Person eine große und Julia eine bewusst kleine Rolle spielen sollte. Aber sie hielt sofort inne, als neben Julia ein unfehlbar wirkender Mann erschien und seine ernsten Augen über das Center schweifen ließ.

»Hallo Julia«, sagte Frau Happ schlicht und setzte hinzu: »Guten Tag, Herr…?«

»Unger. Kriminalkommissar Unger.«

Er reichte ihr nicht die Hand. Er stand nur steif da.

»Ähm, freut mich, mein Name ist Happ. Angelika Happ, Julias Vorgesetzte. Kommissar, heißt das, dass…«

»Was Frau Holten am Telefon gehört hat, war tatsächlich ein Gewaltverbrechen, Frau Happ«, beantwortete Unger die unausgesprochene Frage. »Wir gehen davon aus, dass damit das unerlaubte Entfernen vom Arbeitsplatz seitens Frau Holtens entschuldigt ist?«

Er sah sie mit unverändertem Gesichtsausdruck an.

»In der Hoffnung, dass solche Fälle die Ausnahme bleiben«, erwiderte Frau Happ trocken, »kann Julias Verhalten als gerechtfertigt angesehen werden. Freilich hätte sie zunächst mich informieren sollen, damit ich die nächsten Schritte einleite. Aber was soll man tun, diese jungen Frauen handeln heutzutage sehr impulsiv.«

»Mag sein«, sagte Unger. »Frau Holten wird demnächst noch einmal auf unsere Dienststelle kommen müssen, um ihre Aussage behördlich aufnehmen zu lassen.«

»Dafür«, erwiderte Frau Happ mit einem kalten Seitenblick auf ihre Angestellte, »wird sie dankenswerterweise einen Zeitpunkt außerhalb ihres Dienstplanes nutzen.«

Julia spürte die schlechte Laune ihrer Vorgesetzten und eilte davon.

»Den PC bitte nicht berühren«, rief Unger ihr noch hinterher.

»Sie haben wahrscheinlich viele Fragen über unser Call-Center?«, fragte Frau Happ.

Nach ihrer anfänglichen Verunsicherung hatte sie das Gefühl, wieder die Oberhand im Gespräch gewinnen zu müssen.

Unger bejahte und Frau Happ entlud ihr Wissen in einem Redeschwall, der anschaulich machte, weshalb es diese Person ins Telefongeschäft gezogen hatte. Worte wie Out-Bound, Statistik, Predictive Dialer, Klienten, Agenten und Call Blending sprudelten aus ihr hervor und durch die Brille sah sie Unger mit kritischen Augen an, welche ihm zu sagen schienen:

»Wehe, du verstehst nicht, wovon ich hier spreche!«

Unger ließ sich nichts anmerken, innerlich fühlte er sich aber sehr unwohl. In seiner Schulzeit hatte er eine Geschichtslehrerin gehabt, die in genau der gleichen Art reden und gucken konnte: Das Fräulein Fischer, der Schrecken aller Schüler. Ihre Augen schienen ständig zu sagen:

»Wenn du nicht weißt, von welcher historischen Schlacht ich gerade rede, dann gnade dir Gott!«

Unger hatte jene Lehrerin regelrecht als Heimsuchung empfunden, wo doch Geschichte an sich bereits sein »Unlieblingsfach« gewesen war, wie er das damals nannte. Er unterbrach Frau Happ, als er die Informationen, die Tork bereits von Julia kannte, bestätigt sah:

»Meine Fragen, Frau Happ, richten sich hauptsächlich an die technische Seite Ihrer Einrichtung. Das Gespräch mit dem Klienten ist nicht zufällig aufgezeichnet worden?«

Frau Happ sah Unger zweifelnd an und erklärte im kalten Ton, die Polizei wisse sicherlich, dass es ohne Sondererlaubnis jeder Firma gesetzlich verboten sei, Anrufe mitzuschneiden.

»Wir protokollieren schriftlich, das heißt am PC, die Ergebnisse der Umfrage.«

»Das Telefonat mit dem Verstorbenen – können Sie mir am PC zeigen, wann es stattfand?«

Frau Happ führte Unger durch das Büro, zeigte auf Julias Arbeitsplatz und tippte mit ihrem langen, dünnen Zeigefinger auf den Bildschirm:

»Wir haben freilich nichts berührt oder verändert, außer dass wir Katharina ans Headset gesetzt haben, sobald Julia so mir nichts, dir nichts verschwand. Wie Sie sehen können, wählte unser System die Nummer des Klienten um siebzehn Minuten nach neun an.«

Unger notierte sich die Zeit und bat, den PC weiterhin unberührt zu lassen.

»Es werden Kollegen kommen und ihn untersuchen, möglicherweise beschlagnahmen.«

Frau Happs Mimik verriet, dass sie diese Aussicht als nicht besonders angenehm empfand. Wieder fühlte sich Unger an seine Geschichtslehrerin erinnert.

»Sie erzählten etwas von einem Outbound-Call-System. Wie genau habe ich mir das hier vorzustellen?«, fragte er.

»Nun, wir sind hier ein Center, das Aufträge diverser Firmen annimmt und durchführt. Sie dürfen uns nicht mit einem Kundenservice irgendeines Versandhauses verwechseln. Meistens handelt es sich um Umfragen hinsichtlich des Konsumverhaltens der Bürger. Wir führen mithilfe einer Software Outbound-Calls durch – also Telefonate, die wir von unserem Center aus anwählen.«

Unger nickte verstehend und machte sich Notizen.

»Wir haben verschiedene Nummern unseres Einzugsgebietes gespeichert, freilich nur die, welche auch im Telefonbuch ohne Weiteres zu finden sind. Diese werden von der Software an die verschiedenen Arbeitsplätze verteilt, und an den Arbeitsplätzen wählt der PC automatisch die Nummern an. Die Mädchen brauchen nur höflich die Fragen des Unternehmens zu stellen, welches uns den Auftrag gegeben hat. Zurzeit machen wir eine Umfrage zum Lebensmittelverbrauch.«

»Also war es reiner Zufall, dass Julia Holten den Klienten ausgerechnet kurz vor seinem Tod anrief?«

»Sozusagen. Es war ja nicht Julia, sondern der Computer. Die Software hat ihr die Nummer schlicht zugewiesen.«

»Aha.«

Unger wurde nachdenklich. Er bat darum, dass Frau Happ bald auf die Dienststelle kommen möge, um dort ihre Aussage zu Protokoll zugeben.

»Und diese Katharina würden wir auch gern vernehmen«, fügte er hinzu.

Widerwillig gab Frau Happ ihr Einverständnis und fragte zögernd:

»Herr Kommissar, können Sie mir sagen, ob ich etwa aufs Gericht muss? Eine Aussage machen?«

Unger schüttelte den Kopf.

»Das ist bei dem derzeitigen Ermittlungsstand sehr unwahrscheinlich. Es reicht uns, wenn Sie Ihre Aussage in der Dienststelle wiederholen. Fürs Protokoll. Bis dahin möchte ich Sie bitten, nichts von alledem nach außen dringen zu lassen.«

Frau Happ versprach es mit überraschendem Enthusiasmus.

»Ich werde alles tun, um zu verhindern, dass mein Betrieb da irgendwie hineingezogen wird. Darauf können Sie sich verlassen. Gleich jetzt werde ich den Mädchen hier eine ordentliche Rede halten. Haben Sie dahingehend keine Sorge, Herr Kommissar.«

Als sie begann, alle Mädchen des Großraumbüros um sich zu versammeln, verließ Unger eilends das Call-Center, um Frau Happs »ordentliche Rede« nicht miterleben zu müssen. Das Fräulein Fischer hatte damals im Unterricht genügend solcher Reden gehalten.

Etwa zur gleichen Zeit bog Kriminalhauptkommissar Tork in die Annastraße ein und suchte einen geeigneten Parkplatz. Nr. 54 war nur eine von vier Eingängen eines großen, gläsernen Gebäudekomplexes, in dem verschiedene Firmen ansässig waren. Nr. 51 gehörte einem Luxusmöbelhaus, bei dem wahrscheinlich bereits jeder Fußabtreter einen dreistelligen Betrag kostete. In Nr. 52 hatten sich mehrere kleine Büros einquartiert: ein wissenschaftlicher Verlag, eine sich seriös nennende Dating-Agentur und einer Unternehmensberatung. Nr. 53 schien aus privaten Appartements sowie einer Zahnarztpraxis zu bestehen. In Nr. 54 zuletzt fand sich die Software-Firma Frossek IT Media.

Tork ließ seinen Wagen auf dem Kundenparkplatz für Frossek stehen, denn einen öffentlichen Platz gab es nicht. Beide Parkreihen vor dem Gebäudekomplex waren Kunden oder Privateigentümern vorbehalten.

Vor dem Eingang Nr. 54 stand ein junger dunkelhaariger Mann mit Cordmantel und Schal. Er rauchte eine Zigarette und trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Als Tork sich ihm näherte, trafen sich ihre Augen und der junge Mann sprach ihn an:

»Sind Sie von der Polizei?«

Tork war etwas verwundert, aber bejahte freundlich.

»Wieso fragen Sie?«

»Entschuldigen Sie, das war vielleicht zu direkt, aber ich habe Sie erwartet.«

Torks Verwunderung stieg und musste wohl auf seiner Stirn zu lesen sein, denn der junge Mann fügte erklärend hinzu:

»Ich bin Robert Egert. Beumlers Neffe. Frau Ottermayer hat mich eben angerufen und vorgewarnt. Etwas Schreckliches bezüglich meines Onkels sei passiert und ich solle auf den Besuch eines Polizeibeamten gefasst sein.«

Also hat die Alte es nicht lassen können und doch getratscht, dachte sich Tork ärgerlich. Äußerlich ließ er sich jedoch nichts anmerken. Er grüßte und bat um eine Unterhaltung im Inneren des Gebäudes. Robert öffnete dem Kommissar die Tür.

»Ich stand nur draußen, um auf Sie zu warten und nebenbei eine Zigarette zu rauchen«, erzählte er. »Klar, eine unangenehme Angewohnheit bei diesem Wetter.«

Er nickte der jungen Empfangsdame von Frossek IT Media zu, die den fremden Besucher musterte. »Für mich«, sagte Robert nur kurz und die Empfangsdame wandte ihren Blick wieder auf ihre Notizen.

»Zu meinem Büro geht es geradeaus. Wollen Sie den Chef sprechen? Unsere Mäntel können wir bei mir aufhängen.«

Tork bemerkte, dass das Gebäude nicht so viele Fenster besaß, wie es von außen zunächst den Anschein hatte. Robert Egerts Büro war klein und bestand aus mehreren Computern, Monitoren und summenden Geräten, die Tork als Server identifizierte.

»Sie sind hier der IT-Mensch?«, fragte er und Robert nickte.

»Nebenan werden die Konzepte theoretisch ausgearbeitet, ich bin für die Programmierung zuständig. Zusammen mit einem Kollegen.«

»Sind das bereits alle Mitarbeiter?«

»Oh nein, wir haben einen großen Stab. Es gibt den Sales-Bereich, dann das Büro unten, wo unsere Verwaltung sitzt, die hauseigenen Elektriker und so weiter. Wir sind ein relativ junges Unternehmen, aber im beständigen Wachstum begriffen – so in etwa würde das unser Chef ausdrücken. Aber Sie wollen sicher nicht die Struktur der Frossek IT Media kennenlernen, oder? Sagen Sie mir lieber, was los ist. Frau Ottermayer hat mich neugierig gemacht.«

Tork hatte Robert aufmerksam gemustert. Ein junger Mann, lässig und mit positiver Grundstimmung. Gehörte sicher zu den Beliebten in Schule und Uni. Sein dunkles Haar war sympathisch zerzaust, sein Lächeln selbstsicher, die hellblauen Augen funkelten aufmerksam. Robert Egert war niemand, der sich tatenlos irgendwelcher Sorgen hingibt, da war Tork sicher. Dieser junge Mann wollte das Leben genießen und das Beste daraus machen. Ein langes, blondes Haar auf Roberts Schulter, welches Tork als Frauenhaar interpretierte und der Neffe des Verstorbenen selbst wohl noch nicht bemerkt hatte, schien diesen Eindruck zu bestätigen. Robert Egert würde vom Tode seines Onkels betroffen sein, aber gewiss nicht lange trauern.

»Herr Egert, es tut mir aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass heute Vormittag Ihr Onkel, Professor Herbert Beumler, verstorben ist.«

Robert hob die linke Augenbraue und blieb stumm. Sein Blick wanderte von Tork fort in Richtung Fenster.

»Hm«, machte er kurz.

Tork schwieg. Nach ein oder zwei Minuten sah Robert den Kommissaren wieder an.

»Und wer sind Sie?«, fragte er in einem veränderten Ton, der nicht mehr fröhlich, sondern beinahe feindselig wirkte.

»Verzeihung, ich habe mich nicht vorgestellt. Tork ist mein Name. Kriminalhauptkommissar.«

»Kriminalhauptkommissar? Soll das heißen, dass etwas nicht stimmt?«

Tork nickte und umriss die Umstände des Todes von Professor Beumler.

»Grundgütiger«, entfuhr es Robert (und Tork war überrascht, dass junge Leute diesen Ausspruch noch benutzten), »dann war ich womöglich der Letzte, der ihn lebend sah? Sie müssen wissen, ich war heute Morgen noch bei ihm und…«

Er verstummte.

»Frau Ottermayer hat uns gegenüber geäußert, dass Sie dort waren und vor dem Vorfall wieder gingen. Worum ging es bei Ihrem Besuch?«

»Nichts Weltbewegendes. Ich besuche den Alten – ich meine, habe ihn immer mal zwischendurch besucht und nach dem Rechten gesehen. Er tut zwar immer rüstig, aber ist doch dankbar, wenn man für ihn die Einkäufe erledigt und so weiter. Wir haben ein bisschen über mein neues Auto gequatscht. Er weigerte sich, mir bei der Finanzierung unter die Arme zu greifen.«

Robert deutete auf das Fenster, das nach hinten hinaus ging.

»Sehen Sie den roten Sportwagen dort? Ist er nicht ein Traum? Naja, hab mir etwas gegönnt und muss jetzt ein bisschen improvisieren, was das Geld angeht.«

Es handelte sich um einen modernen Roadster. Der rote Lack leuchtete selbst im Nieselwetter, das Verdeck war klassisch schwarz. Die Linienführung der Karosserie war, wie für diesen Autotyp üblich, geschwungen und suggerierte dem Betrachter, dass dieser Wagen unbedingt in hoher Geschwindigkeit gefahren werden wollte.

»Von null auf hundert in weniger als sieben Sekunden. Ziemlich geringer Verbrauch im Vergleich. Super angelegtes Geld, meiner Ansicht nach. Und er sieht klasse aus, oder?«

»Der Schnitt gefällt mir«, gab Tork zu.

Robert nickte und fuhr fort:

»An den Radkappen will ich vielleicht noch was machen, die finde ich langweilig so. Mal sehen.«

»Muss ein teures Stück gewesen sein«, warf Tork ein.

»Ja, leider.«

»Verdienen Sie hier denn genug?«

»Doch, doch. Und bald noch mehr, wenn alles klappt. Hab eine Beförderung in Aussicht. Aber solange wollte ich nicht warten. So ein schönes Teil!«

Ein Lächeln erschien auf dem jungen Gesicht, dass aber schnell wieder verschwand.

»Was muss ich denn jetzt tun, Herr Kommissar?«

»Wir würden uns freuen, wenn Sie uns bereitwillig ein paar Fragen beantworten.«

»Uns?«

Robert grinste leicht.

»Nun, mir«, verbesserte sich Tork. »Ich spreche stellvertretend für die gesamte Mordkommission.«

»Mordkommission. Wer ermordet denn bitte den alten Prof? In seiner Wohnung? Hören Sie, ich war es nicht! Als ich ging, war er quicklebendig!«

»Schon gut, Herr Egert, es beschuldigt Sie keiner«, beruhigte ihn Tork. »Deswegen bin ich nicht hergekommen.«

»Trotzdem, damit das klar ist. Die Ottermayer muss mich gesehen haben!«

Tork wollte diesbezüglich nicht ins Detail gehen. Stattdessen sagte er:

»Wenn Sie sich erinnern könnten, in welchem allgemeinen Zustand sich Professor Beumler befand, als Sie ihn verließen, könnte das eventuell weiterhelfen.«

Robert dachte nach, schüttelte aber den Kopf.

»Da war nichts Besonderes. Er war wie immer. Hatte irgendwelche Lektüren im Kopf, aber er wirkte nicht beunruhigt oder aufgeregt oder so.«

»In Ordnung. Das bestätigt unsere Eindrücke.«

»Was sind denn Ihre Eindrücke? Erzählen Sie mir alles, ich kann es verdauen. Und er war ja mein Onkel!«

»Es könnte eine Art spontaner Raubmord gewesen sein. Wir hoffen natürlich auf Ihre Hilfe bei der Überprüfung, ob irgendetwas Wertvolles fehlt.«

»Mein Onkel besaß ein paar teure Bücher, aber ansonsten nichts Wertvolles in der Wohnung. Er war ja kein Archäologe, der seltene Münzen bei sich aufbewahrt. Wegen irgendwelcher wissenschaftlichen Erstausgaben wird man ihn doch nicht ermorden?«

Auf Torks Bitten hin willigte Robert dennoch ein, sich in der Wohnung genau umzusehen.

»Wenn Sie denken, dass Raub nicht in Frage kommt, haben Sie vielleicht eine Idee, wer Ihren Onkel aus dem Weg haben möchte? Hatte er irgendwelche Feinde, wissenschaftliche Gegner, gab es private Auseinandersetzungen? Sie müssen wissen, bisher deutet alles darauf hin, dass der Mörder von Professor Beumler in die Wohnung gelassen wurde. Möglicherweise äußerte Ihnen gegenüber, dass er Besuch erwartete?«

Robert schüttelte den Kopf. Tork fuhr fort:

»Wie ich Ihnen darstellte, hat er ohne jeglichen Verdacht das Telefongespräch begonnen…«

»…um dann von hinten erschlagen zu werden, ja.«

Robert schüttelte erneut den Kopf.

»Ich weiß von keinen Feinden. Aber ich glaube, Onkel Herbert hätte mir auch nichts darüber erzählt.«

Tork überlegte, ob er die nächste Frage bereits jetzt stellen oder lieber bis zur offiziellen Vernehmung warten sollte. Seine Überlegung wurde von Roberts Frage unterbrochen, ob er eine Zigarette rauchen gehen dürfe.

»Der Schreck, Sie verstehen.«

Tork hatte nichts dagegen und beide nahmen sich Ihre Mäntel. Robert ging geradewegs nach draußen, während Tork bei der Empfangsdame stehenblieb, seine Polizeimarke aus der Brusttasche holte und sie ihr vorlegte. Die junge Frau atmete gespannt ein und kam sich plötzlich sehr wichtig vor.

»Ich habe nur eine kleine Frage an Sie«, lächelte Tork.

Die Empfangsdame sah ihm neugierig entgegen. Sie hatte ein Namensschildchen an der Brust, laut dem sie Milena hieß und einen unaussprechlichen, komplizierten Nachnamen hatte, der mit einem großen T begann und zwischen den Vokalen unverhältnismäßig viele Konsonanten aufwies.

»Milena, wann kam Herr Egert heute ins Büro?«

»Oh, das war etwa drei Minuten nach neun«, erwiderte die Empfangsdame.

Sie hatte einen deutlich slawischen Akzent – ihr »r« rollte klangvoll – und Tork vermutete, dass sie ursprünglich aus Polen stammte. Milena schien sehr gesprächig zu sein, denn sie fuhr unvermittelt fort:

»Wir haben gleitende Arbeitszeiten für die IT-Jungs, müssen Sie wissen. Da brauchen sie nicht immer pünktlich zu sein.«

Tork unterbrach sie so liebenswürdig wie möglich, um zu sagen, dass das bereits alles sei. Er verabschiedete sich von ihr und es entging ihm dabei nicht, dass sie hellblondes Haar hatte. So blond wie das Haar auf Roberts Schulter.

Tork folgte nach draußen. Robert lehnte an der Tür und zog nachdenklich an seiner Zigarette. Der optimistische Ausdruck war aus seinem Gesicht verschwunden.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte Tork im unaufdringlichen Ton, der Besorgnis nur höflich andeutete.

»Geht so«, murmelte Robert. »Armer Onkel Herbert, das hab ich ihm nicht gewünscht.«

»Wenn es Sie beruhigt, Herr Egert, die Nachbarin ihres Onkels sowie ihre Mitarbeiterin hier bestätigen, dass Sie zum fraglichen Zeitpunkt nicht im Steinweg waren. Sie stehen definitiv nicht unter Verdacht.«

»Noch nicht«, grunzte Robert grimmig.

Er drehte sich zu Tork um.

»Heute muss ich bis abends am Server tüfteln, morgen früh kann ich erst auf dem Revier sein. Ich habe nämlich eine Aussage zu machen, Herr Kriminalhauptkommissar. Welche Zeit ist Ihnen recht?«

Tork war überrascht.

»Sie wünschen eine Vernehmung in der Polizeidienststelle? Sind Sie sicher, Herr Egert?«

»Ganz sicher«, erwiderte Robert düster. »Ich will nicht warten, bis ich angezeigt oder vorgeladen werde.«

15.15 Uhr

Auf der örtlichen Polizeidienststelle hatte sich die Mordkommission zur Beratung des Falles am dafür vorgesehen runden Tisch eingefunden.

»Egon, was haben deine Leute noch rausbekommen?«, fragte Tork.

»Nichts weiter, leider«, berichtete Egon. »Fingerabdrücke in der Wohnung sind vom Toten und von drei anderen Personen. Müssen die Nachbarin, die Call-Center-Frau und der Neffe sein. Sind noch am Abgleichen. Keine Abdrücke auf der Uhr! Keine Mordwaffe gefunden, auch nicht im Hausflur oder im Hof. Täter muss sie mitgenommen haben, um sie woanders zu entsorgen. Portemonnaie scheint vollständig zu sein, was der Neffe sicher überprüfen kann. Soweit wir das überblicken, ist nichts gestohlen worden, auch keines von den Büchern. Jedenfalls keine Spuren.«

Tork und Unger wunderten sich, wie man bei dem Bücherdurcheinander sicher sein könne, dass nichts gestohlen sei, doch die Spurensicherung hatte damit wohl Erfahrung.

»Aber zwei interessante Sachen«, fügte Egon hinzu. »Erstens, die Türklinke weist nur Spuren des Opfers auf. Es ist also sicher, dass Beumler den Täter eingelassen haben muss. Aus’m Terminkalender auf dem Telefontischchen sind viele Blätter herausgerissen und verschwunden. Wir haben ihn mitgebracht, vielleicht könnt ihr was damit anfangen.«

Er legte den Fund auf den Tisch und wollte sich verabschieden.

»Schriftliche Ausarbeitung macht die Jenny für euch fertig.«

»Anrufbeantworter?«, fragte Tork.

»Liegt noch unten, bringt Jenny nachher rauf. Keine verdächtigen Nachrichten drauf. So, für mich ist Schicht, meine Frau kocht heute italienisch. Bis dann!«

»Bis dann«, erwiderten die Kommissare unisono.

»Ich bin gespannt, was Egert morgen zu Protokoll geben wird«, sagte Unger. »Ob er ein Geständnis ablegen will?«

»Wohl kaum«, entgegnete Tork, »er wirkte auf mich eher wie jemand, der Angst vor falschen Verdächtigungen hat. Er will sicherlich die offiziellen Fakten darlegen, um die Angelegenheit sozusagen abzuhaken. Außerdem muss ich dich enttäuschen, Unger, die Nachbarn aus dem Steinweg haben ihm bereits ein Alibi für die Tatzeit gegeben.«

Er seufzte.

»Morgen sind wir klüger.«

Unger fragte, ob die Pressemitteilung bereits nach draußen gegangen sei.

»Rentner in eigener Wohnung von Unbekanntem erschlagen«, las Sieglinde, die korpulente Sekretärin der Kommission, laut die offizielle Mitteilung vor. »Ein 69jähriger Mann wurde von seiner Nachbarin tot neben seinem Telefon aufgefunden. Spuren deuten auf ein Gewaltdelikt mit Todesfolge hin. Der Vorfall kann von einer Mitarbeiterin eines Call-Centers bezeugt werden. Polizei ermittelt. – Soll ich noch was einbauen? Oder das mit dem Call-Center weglassen?«

Tork war jedoch mit dem bisherigen Wortlaut einverstanden.

»Schicke sie an den Direktor, damit er sie genehmigt. Danke dir!«

Er diktierte den anderen einige Punkte, welche der Spätdienst bis morgen abarbeiten sollte.

»Ottermayer und Holten sind einzuladen. Wir müssen Beumlers berufliche Tätigkeit untersuchen und generell alles Wesentliche über das Opfer erfahren. Jenny von der KTU soll den Anrufbeantworter nach oben bringen.«

Er nannte noch andere Aspekte und verabschiedete sich anschließend.

»Auch meine Schicht ist jetzt vorbei. Aber bei uns gibt’s heute indische Küche. Italienische Pasta bekommt mir nämlich nicht – behauptet zumindest meine Gattin.«

Dabei deutete er auf seinen Bauchbereich und zog die Mundwinkel schief.

Ruf doch mal an

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