Читать книгу Ein Potpourri der krummen Dinger - Bernharda May - Страница 4

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Ein Fall von Schuld und Sühne

»Deine Arbeit ist bestimmt wahnsinnig interessant! Warum veröffentlichst du deine spannendsten Fälle nicht? Krimis sind doch immer angesagt.«

Solche oder ähnliche Sätze höre ich stets, sobald ich Bekannten und Freunden auf ihre Frage nach meiner beruflichen Tätigkeit hin verrate, dass ich selbständige Privatdetektivin bin. Erst kürzlich kam eine ehemalige Schulkameradin auf mich zu und sprach exakt die obigen Worte, und ich brauchte längere Zeit, sie über die Wahrheit hinsichtlich meines Berufs aufzuklären. Ich jage keine Serienkiller durch die engen Straßen der Großstadt, befreie auch nicht die Mitglieder der Hochfinanz aus den Fängen böser Erpresser und es kommen schon gar nicht irgendwelche namhafte Blaublüter zu mir, deren dreckige Wäsche ich möglichst diskret reinigen soll. Im Gegenteil, mein Klientel besteht aus einfachen Leuten und ihre Anliegen sind fast immer die gleichen:

»Klaut einer der Mitarbeiter die Produkte aus meiner Firma?«

»Hat mein Schwiegersohn in spe wirklich eine so reine Weste, wie er behauptet?«

»Können Sie für mich einen untergetauchten Geschäftspartner ausfindig machen, der mir noch eine hohe Summe schuldet?«

Natürlich bringen solche Aufträge die üblichen Situationen mit sich, die sich jedermann vorstellt, wenn es um die Arbeit von Privatdetektiven geht – Beschattung der Verdächtigen, Befragung von Zeugen, Recherche über die Vergangenheit einer Person. Das meiste ist aber leidige (und oft langweilige) Herumtelefoniererei und Schreibarbeit. Immerhin habe ich für Letzteres meinen pensionierten Deutschlehrer, Bertram Hollender, als Sekretär engagieren können; er nimmt mir viel Arbeit ab und wird auch diesen Bericht Korrektur lesen, sobald er fertig ist.

Wahrscheinlich fragen Sie sich, werte Leser, gerade, warum ich überhaupt einen Bericht verfasse, wo ich bis eben meinen Beruf eher abschätzig beschrieben habe. Ich gebe zu, in meiner Laufbahn hat es über die Jahre hinweg doch ein paar Fälle gegeben, welche sich von den oben genannten deutlich unterschieden und die den Erwartungen meiner Bekannten (und vielleicht auch Ihrer, werte Leser) näher kommen dürften. Einen solchen möchte ich nun darlegen, und keine Sorge: Orte und Namen sind ausreichend verändert worden, damit der Datenschutz gewahrt bleibt. Einen Verstoß dagegen darf man sich in meiner Branche nicht leisten.

Vielleicht fragen Sie sich auch, wieso ich selber schreibe und nicht Bertram? Sherlock Holmes ließ immerhin all seine Abenteuer von seinem Freund Dr. Watson dokumentieren, Hercule Poirot hatte den treuen Captain Hastings. Darüber hinaus scheint Bertram als ehemaliger Deutschlehrer geradezu prädestiniert dafür, schriftstellerisch tätig zu werden und meine Memoiren festzuhalten, aber ich erinnere mich noch zu gut an den Unterricht bei ihm. Fabulierlust, ausschweifende Beschreibungen und philosophische Diskussionen waren bei ihm üblich, egal um welche Lektüre es ging. So lobenswert diese Merkmale für motivierenden Deutschunterricht sein mögen, in der Darstellung von Kriminalfällen haben sie meines Erachtens nichts verloren. Ich halte mich lieber an phantasielose, aber klare Fakten sowie kühle, nachvollziehbare Logik. Und darum nehme ich das Unterfangen um die Schilderung des folgenden Falles besser selbst in die Hand.

Wovon hier berichtet werden soll, schien zunächst eine völlig harmlose Angelegenheit zu sein und weder Bertram noch ich konnten ahnten, dass er in einem tödlichen Drama enden würde. Alles begann an einem Mittwochmorgen. Eben hatte ich einen Bericht über die Beschattung einer angeblichen Fremdgängerin abgeschlossen, inklusive Beweisfotos, Zeitprotokoll und meiner Honorarrechnung. Ich musste schmunzeln, denn der Verdacht des Auftraggebers gegen seine Frau hatte sich nicht bestätigt; in Wahrheit flüchtete seine Angetraute Abend für Abend zu ihrer Mutter, um dort ausgiebig zu speisen. Mein Auftraggeber hatte sich nämlich eine strenge Diät auferlegt, an der sich die Gattin jedoch nicht beteiligen wollte. Von ihren kulinarischen Eskapaden sollte ihr Mann allerdings nichts wissen. Wie dem auch sei, einen Geliebten hatte es weit und breit nicht gegeben.

Das Schmunzeln stand mir noch im Gesicht, als ich den Vorraum meines Büros betrat und Bertram die genannten Dokumente überreichte, damit er sie sicher verwahre. Dort fand ich auf einem der zwei Stühle, die für wartende Klienten bereitgestellt worden waren, eine vornehme Dame mit weißem Hut vor. Sie hatte ihr Kinn auf ihre Hände gelegt, die sich ihrerseits auf einen Spazierstock abstützten.

»Frau Annabelle Storm hat geduldig warten wollen, bis Sie soweit sind«, sagte Bertram zu mir.

»Ich habe leider keinen Termin im Voraus ausgemacht«, ergriff die vornehme Dame das Wort und ihre Stimme verriet, dass sie viel jünger war, als ich zunächst geglaubt hatte. »Sie sind doch Miriam Waap, die Privatdetektivin?«

Ich bejahte und wies freundlich in die Richtung meines Büros, dankbar dafür, dass es eventuell einen neuen Auftrag gab. Besonders ertragreich ist das Leben als selbständige Privatdetektivin nämlich nicht, wenn die Kunden ausbleiben.

»Sie haben Glück, ich habe Zeit. Sie können sofort mit mir kommen, damit wir ungestört reden können.«

Wir nahmen an meinem Schreibtisch Platz, ich auf meinem Bürostuhl und die junge Dame mir gegenüber im Besuchersessel.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich, erhielt aber keine Antwort, denn Frau Storm war damit beschäftigt, sich in meinem Büro umzusehen.

»Es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe«, gab sie zu.

Ich verstand sie gut. Entgegen gängiger Klischees war mein Detektivbüro hell und freundlich eingeräumt: Anstelle einer schiefen Jalousie hing eine schlichte, weiße Gardine am Fenster und statt eines Aschenbechers voller Zigarettenkippen stand eine Vase mit frischen Frühlingsblumen auf der Schreibtischecke. Aktenordner und sonstige Utensilien blieben hinter japanischen Shoji-Schranktüren verborgen.

»Womit kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte ich und war etwas enttäuscht, als sich Frau Storms Anliegen als das Gleiche herausstellte, was ich für den vorhergehenden Klienten bereits bearbeitet hatte: Verdacht auf Ehebruch. Ich erklärte, wie immer bei solchen Angelegenheiten, dass ich nur tätig werden dürfe, wenn ein berechtigtes Interesse seitens Frau Storms existiere.

»Eifersucht oder Neugier reichen da nicht aus, wissen Sie?«

»Oh, derlei Emotionen spielen gar keine Rolle«, versicherte Frau Storm und wirkte tatsächlich sehr gefasst. »Mir geht es darum, ob es im Falle einer Scheidung zu Unterhaltszahlungen käme oder die Möglichkeit besteht, das zu umgehen.«

Sie zog eine Visitenkarte aus ihrer Jackentasche und reichte sie mir.

»Falls David und ich uns trennen, würde nämlich ich Zahlungen an ihn entrichten müssen. Ich bin eindeutig die Besserverdienende.«

Ich las ihre Visitenkarten und erkannte, dass nicht irgendeine Annabelle Storm vor mir saß, sondern die Eigentümerin einer renommierten Handelsgesellschaft.

»Sie sind die Enkelin Rudolph Storms, der einst aus einem kleinen Unternehmen eine große Firma machte. Ihre Handelsgesellschaft hat unsere Stadt seit vielen Jahren wesentlich mitgeprägt.«

»Und wir sind sogar in Übersee tätig«, fügte Annabelle Storm, nicht ohne Stolz, hinzu. »Sie sehen, ich würde ungern das von meiner eigenen Familie hart erarbeitete Vermögen mit jemandem teilen, der zu einer erfolgreichen Ehe mit mir nicht fähig ist.«

Sie holte ein sorgfältig gefaltetes Papier hervor, das sie vor mir ausbreitete, und zeigte auf diverse handschriftliche Stichpunkte.

»Ich habe mich von meinem Anwalt beraten lassen. Um Unterhaltszahlungen zu entgehen, muss ich David ehefeindliches Verhalten nachweisen, was freilich weder mein Rechtsbeistand noch die Polizei für mich erledigen können. Da dachte ich, bevor ich dilettantisch herumspioniere und mich lächerlich mache, sollte das lieber ein Profi tun.«

Ich freute mich. Nicht über das versteckte Kompliment meiner Professionalität gegenüber, sondern dass meine Auftraggeberin sich bereits die rechtlichen Informationen besorgt hatte, die für eine erfolgreiche Arbeit meinerseits nötig waren. Ich studierte die Notizen.

»Wie ich sehe, sind Sie seit zehn Jahren mit David Storm verheiratet. Offenbar hat er Ihren Nachnamen angenommen. Da Sie beide nach so langer Zeit keine Kinder haben, erlauben Sie mir bitte eine recht intime Frage…«

Sie ließ mich den Satz nicht beenden.

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Mein Anwalt hat mich vorgewarnt. Der Vollzug der Ehe fand und findet statt.«

»Dennoch verdächtigen Sie Ihren Mann, Sie zu betrügen?«

Annabelle Storm wirkte für einen kurzen Augenblick unsicher, beinahe verletzlich. Aber innerhalb weniger Sekunden hatte sie zu ihrer souveränen Haltung zurückgefunden.

»Ich glaube zu wissen, dass er eine Affäre hat«, sagte sie und fuhr nach einer Pause fort: »Ich kann Ihnen sogar sagen, mit wem. Kennen Sie Gloria Horn?«

Als ich diesen Namen vernahm, verschlug es mir den Atem. Wenngleich die Handelsgesellschaft der Familie Storm über die Landesgrenzen hinaus bekannt war, im Vergleich zu Gloria Horn verlor sie enorm an Bedeutung. Kein Wunder, wurde doch die junge Filmschauspielerin international als größter weiblicher Star gefeiert und galt als schönste Frau der Welt. Das Spektrum ihres darstellerischen Könnens reichte von leichtherziger Liebeskomödie übers Historiendrama bis hin zum Arthouse-Film. Ich kannte Gloria Horns Werke aufgrund diverser Kinobesuche und musste zugeben, dass die Behauptung der Kritiker, sie verfüge über hundert verschiedene Varianten des Augenaufschlags, nicht übertrieben war. Wie aber konnte ein solcher Weltstar in Zusammenhang mit der kühlen Annabelle Storm und ihrem Gatten stehen? Die Unternehmerin las mir diese Frage vom Gesicht ab und erzählte:

»Gloria und ich sind gemeinsam zur Schule gegangen. Nicht, dass wir beste Freundinnen gewesen wären, aber wir schätzten einander und haben den Kontakt aufrechterhalten. Allein schon deshalb, weil ihr Patenonkel ein Geschäftspartner meines Großvaters war und noch jetzt unserer Gesellschaft verbunden ist.«

Sie holte eine weitere Visitenkarte hervor. Darauf stand: Laurenz Moser. Inhaber der Zichel & Wick AG.

»Das ist eben jener Geschäftspartner. Die Adresse finden Sie auf der Rückseite.«

Ich drehte die Karte um und fand die Anschrift.

»Waldweg 1, Weidensgrundl«, las ich laut vor.

»Dorthin lädt Laurenz kommendes Wochenende zum Abendessen in kleiner, geselliger Runde ein. Mein Mann und ich werden dort sein, ebenso Gloria Horn. Für sie soll es eine Art Überraschungsdinner werden, anlässlich ihrer Rückkehr von einer Filmtournee. Sollten Sie den Auftrag annehmen, sind auch Sie dabei, auf meine Kosten natürlich. Ich könnte Sie als meine Freundin oder Geschäftspartnerin ausgeben und Sie würden genug Gelegenheit haben, um herauszufinden, ob David etwas mit Gloria hat.«

Es erschreckte mich, wie genau Annabelle Storm meinen Einsatz im Vorfeld durchdacht hatte. Diese Frau war es anscheinend gewohnt, über die Köpfe anderer hinweg zu planen.

»Welchen Anlass haben Sie eigentlich, um von einer Affäre zwischen Ihrem Mann und Gloria Horn auszugehen?«

Annabelle Storm hatte sich auch auf diese Frage vorbereitet und ich bekam eine lange Liste von Indizien zu hören: Da waren die letzten zwei Urlaubsreisen, die von David gebucht worden waren und die »zufällig« in die Nähe von Glorias Drehorten geführt hatten; das plötzlich aufkeimende Interesse Davids an der Film- und Schauspielkunst, die ihn früher nie interessiert hatte; die einseitigen Bemühungen Glorias, die lose Bekanntschaft zwischen ihr und den Storms zu intensivieren und die Betonung Davids, wie freundlich er das fände…

»Und als ich vorigen Monat auf Geschäftsreise war – allein – fielen mir die Titelseiten der Klatschmagazine auf. Alle berichteten sie von Glorias Premiere in London, von ihrem Auftritt beim Filmfestival in Cannes und so weiter. Und wer war jedes Mal mit ihr auf dem Titelblatt? Mein David!«

Sie langte erneut in ihre Jackentasche, aber diesmal war es keine Visitenkarte, die sie hervorholte, sondern eine Fotografie.

»Das ist mein Ehemann.«

David Storm war mittelgroß, auffallend schmalschultrig und trug eine große Brille, die seine interessanten Gesichtszüge betonte. Sein braunes Haar war akkurat in der Mitte gescheitelt. Während ich sein Bild betrachtete, sah meine Klientin auf die Uhr und befand wohl, dass sie genug Zeit in meinem Büro verbracht hatte.

»Ich erwarte Ihre Entscheidung darüber, ob Sie meinen Auftrag annehmen wollen, nicht sofort«, sagte sie und erhob sich. »Ich rufe Sie heute Abend an. Sollten wir ins Geschäft kommen, werden wir die Einzelheiten gleich am Telefon besprechen können.«

Sie reichte mir die Hand, nickte Bertram beim Hinausgehen freundlich zu und verschwand aus der Detektei. Ein Hauch ihres Parfüms blieb in unseren Räumlichkeiten zurück; es war eine frische, aber neutrale Duftnote, die Annabelle Storms sachliche Haltung unterstrich.

»Was gibt es zu tun?«, fragte mich Bertram.

Er war bereits seit Langem mein Sekretär und kannte meine Arbeitsweise: Ich lege großen Wert darauf, die für Detektive typische Recherchearbeit schon vor der Annahme eines Auftrags anzugehen, und damit dies schneller von der Hand ging, war Bertram dabei involviert. Ich reichte ihm David Storms Foto und bat:

»Finde heraus, ob dieser Mann auf den Titelseiten von Klatschmagazinen auftaucht, in Verbindung mit Gloria Horn. Es betrifft vor allem die Illustrierten vom letzten Monat.«

Bertram setzte sich an seinen PC und begann, in den Online-Auftritten diverser Zeitschriftenverlage zu surfen. Es war mir nicht entgangen, dass sein Gesicht zu leuchten begann, als der Name der berühmten Schauspielerin fiel – anscheinend war auch er ein großer Bewunderer. Dieser Rechercheauftrag würde ihm Spaß machen, dessen war ich mir sicher.

Inzwischen widmete ich mich jenem Örtchen, wohin mich meine detektivische Tätigkeit verschlagen sollte. Der Straßenatlas offenbarte mir, dass Weidensgrundl ziemlich abgelegen war und der Waldweg nur ein dünner Pfad sein musste, der zu einem einzigen Haus außerhalb der Ortschaft führte. Ein paar zusätzliche Klicks im Internet reichten, um weitere Auskunft zu erlangen: Der Großindustrielle Laurenz Moser hatte sich dort nach seinem Rückzug aus dem Geschäft ein altes Gutshaus gekauft, es renovieren lassen und lebte jetzt dort mit seiner Frau Edith und seiner Hundezucht.

»Ein Wochenende auf dem Land in solch illustrer Gesellschaft klingt verlockend«, murmelte ich.

Doch zunächst war zu klären, ob es für Annabelle Storms Verdacht wirklich einen Anlass gab. Die Geräusche des Druckers verrieten mir, dass Bertram fündig geworden war und diesbezüglich Material zusammenstellte. Auf ihn war Verlass. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wusste er exzellent mit den neuesten Medien umzugehen.

Sie müssen wissen, werte Leser, dass Bertram nach Erreichen seines wohlverdienten Ruhestands nicht wusste, wohin mit sich und seiner Zeit. Rastlos und unzufrieden hatte er nach einer sinnvollen Tätigkeit gesucht, weil ihm sonst, wie er meinte, »die Decke auf den Kopf« fiele. Wie hatte ich gestaunt, als sich auf meine Anzeige nach einem Sekretär ausgerechnet mein ehemaliger Deutschlehrer meldete, und ich glaube, auch er war überrascht gewesen, eine seiner Schülerinnen als Privatdetektiv wiederzusehen. Gleichwohl rauften wir uns zusammen, bildeten ein gutes Team und ganz nebenher wichen das leidige »Herr Hollender« und das nicht minder steife »Fräulein Waap« dem freundschaftlichen »Bertram« und »Miriam«.

»Ich habe dir Titelseiten verschiedener Zeitschriften ausgedruckt, Miriam. Wie du siehst, ist Gloria Horn auf allen abgebildet, aber nicht immer mit dem gleichen Mann.«

Zwei Fotografien zeigten die Schauspielerin Arm in Arm mit einem großen, schlanken Herrn mit dickem Schnurrbart. Bertram wusste, dass es sich dabei um Paul, Glorias Ehemann handelte.

»Er war laut diesen Berichten bei der Londonpremiere ihres Films dabei«, erzählte er. »Die nächsten drei Titelfotos stammen aus Cannes, da steht sie mit ihrem Bruder Gabriel auf dem roten Teppich.«

Gloria Horn musste in Cannes mehrmals über rote Teppiche gelaufen sein, denn auf jedem Bild trug sie ein anderes Kleid. Der Mann neben ihr dagegen hatte stets denselben grauen Anzug an. Er lächelte verkniffen und seine Pausbacken schienen vom vielen Blitzlichtgewitter zu schwitzen. »Tröstet der Bruder sie über das England-Desaster hinweg?«, lautete die Schlagzeile. Ich musste nur fragend meine rechte Augenbraue hochziehen, da lieferte mir Bertram sogleich die Erklärung:

»Ihr neuer Film kam bei den britischen Kritikern nicht besonders gut an. Es folgte aber immerhin eine Nominierung bei den Festspielen in Cannes.«

»Du bist ja ein blendend informierter Fan, Bertram«, lobte ich.

»Nicht informiert genug«, gab er zu. »Auf mehreren Titelblättern scheint Gloria Horn einen Begleiter zu haben, den ich nicht zuordnen kann.«

Er zeigte auf einen älteren Herrn mit Halbglatze und Mantel, der auf einem Bild die Schauspielerin offenbar vor einem Lichtspieltheater begrüßte, auf einem anderen in ein teures Restaurant führte.

»Das ist Julius Theveleit, der Milliardär«, erkannte ich. »Normalerweise lebt er zurückgezogen und scheut die Öffentlichkeit, weshalb nur wenige den Namen und das Gesicht dieses Tycoons kennen. Eigenartig, dass er sich plötzlich ablichten lässt!«

Ich setzte mich an meinen Laptop, tippte den Namen der Illustrierten in meine Suchmaschine ein und fand die Online-Ausgabe, die zum ausgedruckten Titelblatt passte. Der zugehörige Artikel las sich wie folgt:

»Sogar schüchterne Milliardäre können sich Hollywoods Charme nicht entziehen: Julius Theveleit sucht das Gespräch mit Gloria Horn. Will er ins Filmgeschäft investieren, nachdem sich sein Geschäftspartner Laurenz Moser zurückgezogen hat?«

Sieh an, Theveleit und Moser waren also nicht nur mit Gloria Horn, sondern auch miteinander bekannt. Das legte die Vermutung nahe, dass auch er zum Dinner im Gutshaus eingeladen worden sein könnte. Für mich als Privatdetektivin war es sehr verlockend, Kontakte in diese Richtung zu knüpfen – meinem Ruf würde es jedenfalls nicht schaden. Aber all die Herren, bei denen sich Gloria im Beisein der Kameras eingehakt hatte, waren im Moment nicht so wichtig wie jener schmale, akkurat gescheitelte Mann, der tatsächlich sowohl auf dem Londoner Foto als auch auf jenen aus Cannes im Hintergrund stand und dessen Silhouette – wenn man genau darauf achtete – ebenfalls im Fenster des teuren Restaurants in München zu erkennen war. Bertram hatte ihn, ganz der Lehrer, jedes Mal mit einem Rotstift eingekreist.

»David Storm folgt Gloria Horn überallhin«, stellte ich fest. »Sehr verdächtig. Selbst wenn er keine Affäre mit ihr haben sollte, kann dies einer unserer interessanteren Fälle werden, Bertram, denn irgendwas muss ja hinter seiner Nachstellung stecken.«

»Das heißt, du nimmst den Auftrag an?«

»Ja. Ich telefoniere mit Frau Storm und du suchst bitte die beste Zugverbindung nach Weidensgrundl heraus – falls das Nest überhaupt einen Bahnhof hat.«

Es hatte. Als Annabelle Storm uns auf dem Bahnhofsvorplatz empfing, war sie über Bertrams Anwesenheit etwas irritiert. Während wir in ihr Auto stiegen, wies sie darauf hin, dass sie bei Laurenz Moser lediglich einen zusätzlichen Gast angemeldet hatte.

»Kein Problem«, gab ich zurück, »mein Sekretär hat sich ein Zimmer im hiesigen Gasthaus genommen und wird nicht mit zum Gutshof kommen. Ich hab ihn gern in der Nähe, falls ich vor Ort Unterstützung brauche.«

Ich zeigte auf einen großen Koffer, worin sich Kamera, Mikrofon und weiteres technisches Equipment befanden.

»All das wird zunächst im Gasthaus gelagert, damit es nicht auffällt«, erklärte ich. »In einem Fall wie diesem ist es ohnehin besser, man kommt ohne die Technik aus.«

Annabelle Storm gab mir recht. Auf eine Videoaufnahme, die David und Gloria in flagranti zeigte, legte sie keinen Wert. Für ehefeindliches Verhalten reichte es ihrer Meinung nach völlig, wenn ich heimliche Liebesbriefe finden oder einen französischen Kuss zwischen den beiden beobachten würde.

»Wie wir am Telefon besprochen haben, sind Sie für die anderen eine neue Geschäftspartnerin von mir«, sagte sie, nachdem wir Bertram und mein Detektivequipment im Gasthaus abgesetzt hatten. »Auf Ihren Wunsch hin habe ich Ihren richtigen Namen angegeben. Aber ist das nicht gefährlich? Jemand könnte zufällig wissen, dass Sie Privatdetektivin sind. Wäre es nicht klüger gewesen, Sie als meine Kusine oder ähnliches auszugeben?«

»Es ist besser, immer so nah an der Wahrheit zu bleiben, wie es geht«, versicherte ich. »Zum einen sind wir ja wirklich Geschäftspartner, denn Sie haben mich engagiert. Falls es jemand genau wissen will, geht es bei meiner Detektivarbeit um Wirtschaftskriminalität. Fällt dieses Wort, werden keine weiteren Nachfragen folgen. Hinzu kommt, dass es unsere Gespräche unter vier Augen, die sicherlich mehrmals nötig sein werden, glaubhaft macht.«

»Und zum anderen?«

»Würde ich die Identität Ihrer Verwandten annehmen, müssten Sie sich eine Menge Lügen einfallen lassen, warum David und Gloria bisher nichts von mir gehört haben. Es gibt Leute, denen so etwas Spaß macht, aber Sie, Frau Storm, scheinen mir eine zu ehrliche Haut zu sein, um ein ganzes Wochenende eine Schwindelei durchzuhalten.«

Annabelle Storm errötete etwas und musste gestehen, dass meine Einschätzung richtig war.

»Sie haben eine sehr nüchterne Herangehensweise«, sagte sie und ich verstand, dass dies als Lob gemeint war.

Der Waldweg schlängelte sich durch die Landschaft und zwang aufgrund seines ungepflasterten Zustands die Fahrerin, vom Gas zu gehen. Rechts von uns standen Birken, Eichen und Kiefern dicht an dicht, links lag eine wilde Wiese, die von einem kleinen Bach durchzogen wurde. An dessen Ufern standen ein paar Weiden. Sie waren es, die dem Ort Weidensgrundl seinen Namen gegeben hatten.

»Ausgestorbene Gegend hier«, bemerkte Annabelle Storm.

»›Ausgestorben‹ würde bedeuten, dass es hier mal viele Leute gegeben hat«, sagte ich. »Mir scheint jedoch, als ob das immer schon eine wilde und dünn besiedelte Region war.«

Endlich kam ein Haus in Sicht, und je näher wir heranfuhren, desto mehr Eindruck machte seine Größe auf mich. Es besaß zwei Stockwerke und ein ausgebautes Dachgeschoss, alles neu verputzt. Das vorspringende Hauptportal mit dem Rundbogen befand sich in der Mitte der leuchtend weißen Fassade. Auf der rechten Seite des Gutshauses ging ein einstöckiger Flügel nach Südwesten, bei dem es sich wohl um einen Anbau handeln musste. An der linken Hausecke befand sich ein kleiner Teich. Das ganze Ensemble lag in einer mittelmäßig gepflegten Parkanlage, die weitestgehend auf Statuen, Bänke und anderes Zierrat verzichtete und nur aus Rasenflächen, Hecken und wenigen Bäumen bestand. Blumenbeete befanden sich ausschließlich an der Hauswand unter den Fenstern. Die Wege, einschließlich der Einfahrt, waren mit Kies bedeckt.

Etwas deplatziert in diesem Ensemble wirkte der blau-weiße Streifenwagen eines Polizisten, der direkt vor dem Hauptportal geparkt hatte. Seine Wagentür stand offen, was uns zeigte, dass er erst vor Kurzem angekommen sein musste. Der Polizist selbst, ein junger, schlaksiger Mann, diskutierte soeben mit einem ganz in Grün gekleideten Herrn, dessen untersetzte Statur ich bereits von den Fotos aus meiner Recherche kannte: Das war Laurenz Moser. Bei der dünnen, blassen Gestalt neben ihm musste es sich um seine Gattin Edith handeln. Sie war wohl dabei gewesen, ihre Blumenbeete zu pflegen, denn sie hatte eine Gießkanne in der linken Hand und in der rechten eine Harke.

Just in dem Moment, als wir neben dem Streifenwagen zum Stehen kamen, traten zwei weitere Gestalten aus dem Haus und gesellten sich zu dem regen Gespräch, das der Polizist mit Moser führte. Annabelle Storm und ich brauchten die Autotüren nicht zu öffnen, um zu erkennen, worum es ging – derart lautstark wurde diskutiert.

»Nehmen Sie’s doch nicht so persönlich, Herr Moser«, sagte der Polizist und Ungeduld schwang in seiner Stimme mit. »Die Nachbarn haben sich nun einmal beschwert und ich bin verpflichtet, Sie auf die Verordnungen hinzuweisen.«

»Ich möchte wissen, wer sich da beschwert hat«, entgegnete Moser zornig. »Gewiss jemand, der mir Übles will. Keinen Menschen haben meine Hunde jemals gestört.«

»Dennoch ist Leinenpflicht geboten«, unterbrach ihn der Polizist.

»Meine Hunde sind trainiert und hören aufs Wort«, beharrte Moser. »Soll ich ihnen als nächstes noch Maulkörbe verpassen, nur weil es irgendeinem besserwisserischem Nachbarn so gefällt?«

»Liebling, der Herr Beamte tut doch nur seine Pflicht.«

Das war Edith Moser, die versuchte, zwischen Gatten und Polizist zu vermitteln. Letzterer drehte sich zu Annabelle Storm und mir um und seine hochgezogenen Augenbrauen verrieten seine gereizte Stimmung.

»Ich bestehe darauf, dass Sie mir verraten, von wem genau die Beschwerde einging«, wiederholte Moser. »Es war bestimmt Strunk, dieser hohle Förster, von wegen seiner Wölfe.«

Jetzt mischte sich einer der Herren ein, die hinzugestoßen waren. Ich erkannte in ihm unschwer Julius Theveleit.

»Laurenz, sei vernünftig«, sprach er ruhig. »Wenn sich, wie Förster Strunk behauptet, wirklich ein Wolfsrudel hier angesiedelt hat, ist es für alle Beteiligten besser, wenn du deine Hunde anleinst. Du willst doch deine Zuchtpläne nicht zerstören, oder?«

»Was hat das mit meiner Zucht zu tun?«, fragte Moser zurück.

»Na, stell dir vor, in diesem Rudel befindet sich ein läufiges Weibchen und einer deiner Rüden wittert das und haut ab…«

Weiter musste Julius Theveleit nicht reden. Sein Freund und ehemaliger Geschäftspartner verstand, worauf er hinauswollte. Mit einem grollenden Blick auf den Polizist brummte er:

»Ich habe Ihre Ermahnung zur Kenntnis genommen.«

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und lief schnurstracks um die Hausecke, von wo unmittelbar danach fröhliches Gebell zu uns hinüberschallte. Der Beamte seufzte erleichtert, verabschiedete sich von Edith Moser und stieg in seinen Dienstwagen. Mit einer rasanten Rückwärtswende, die den Kies laut zum Knirschen brachte, verließ er das Grundstück. Erst jetzt fand die Gastgeberin Gelegenheit, ihre Gärtnerutensilien abzustellen und uns zu begrüßen.

»Annabelle, schön dich zu sehen. Verzeih dieses Tohuwabohu. Laurenz’ Hundezucht verträgt sich mit dieser Gegend nicht so gut wie erhofft.«

»Habe schon mitgehört. Wölfe?«

In Annabelle Storms Stimme schwang mehr als nur Neugierde mit. War es die Angst vor wilden Raubtieren?

»Es gibt sie, ja«, sagte Frau Moser. »Aber ich habe selber bisher nur einen aus weiter Ferne gesehen. Sie sind scheu, keine Sorge. Keine Monstren wie in den Märchen. Die Nachbarn sind da vergleichsweise viel anstrengender.«

Und seufzend setzte sie hinzu:

»Mit etwas Glück ziehen sie mit ihrem Rudel weiter. Die Wölfe meine ich. Die Nachbarn machen sich und andere schier verrückt mit ihrer Angst, die wilden Tiere könnten sich mit den Hunden paaren und es kämen Mischlinge heraus. Man weiß ja, dass sich dann die Haushund- und Raubtiereigenschaften ungünstig vermengen…«

Ihr Blick fiel auf mich und Annabelle Storm stellte mich vor. Frau Moser versprach, dass sich ihr Gatte später wieder den Gästen widmen würde. Er müsse sich zunächst beruhigen und das falle ihm im Beisein seiner Tiere am leichtesten. Sie machte mich mit Julius Theveleit bekannt, und während wir uns die Hände schüttelten, sah ich, wie Annabelle Storm der vierten Person, die bisher nichts gesagt hatte, ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte. Das war also David, ihr Mann. Obgleich er ihr den Koffer abnahm und sie sich bei ihm einhakte, wirkten sie nicht sehr liebevoll im Umgang miteinander.

»Storms wissen, wo sie untergebracht sind«, sagte Edith Moser, »Aber Sie, Frau Waap, bringe ich persönlich auf Ihr Zimmer. Julius, du nimmst ihr sicherlich die Tasche ab?«

Er tat es, obwohl ich ihm versicherte, dass es nicht nötig sei, und wir betraten die herrschaftliche Eingangshalle. Eine ausladende Freitreppe mit verschnörkeltem Geländer dominierte den Raum. Frau Moser begann, leidenschaftlich von dem Gutshaus zu plaudern.

»Unser Ziel ist es, das Gebäude in seinen Originalzustand zurückzuversetzen. Wir wollen allerdings dabei nicht den Charme der über zweihundertjährigen Geschichte verwischen. Daher haben wir beispielsweise die wertvolle Wandtäfelung beibehalten, die erst in der zweiten Generation dem Flur hinzugefügt wurde.«

Mitten in ihrem Geplauder klingelte es an der Haustür. Damit Edith Moser mich nicht auf der Treppe stehen zu lassen brauchte, lief Julius Theveleit zurück und öffnete.

»Ein Paket für Frau Horn«, sagte eine Frauenstimme, offenbar die Postbotin. »Nehmen Sie’s an? Dann unterschreiben Sie bitte hier.«

Theveleit tat wie geheißen, empfing das Paket und schloss die Tür.

»Es ist wirklich für Gloria«, sagte er, den Adressaufkleber lesend. »Vom Modehaus Bellevue.«

»Wahrscheinlich eine Bestellung, die sie dort aufgegeben hat«, vermutete Frau Moser. »Gloria muss den Angestellten vom Bellevue verraten haben, dass sie dieses Wochenende hier bei uns ist.«

»Sehr vorausschauend von ihr«, meinte Theveleit. »Das Mädchen trägt einen klugen Kopf auf den Schultern.«

Er bestand darauf, das Paket auf Glorias Zimmer zu bringen. Sowohl sein albernes Lob als auch sein Getue um Frau Horns Post zeigten mir, dass ihm etwas an der Schauspielerin lag, das über ein bloßes Interesse am Filmgeschäft, wie es die Klatschzeitschriften andeuteten, hinausging. Während Theveleit an uns vorbeihuschte, vertraute mir Edith Moser an:

»Es ist schon sonderbar. Mir war, als ob unser Dinner eine Überraschung für Gloria sein sollte. Paul, was ihr Ehemann ist, wollte ihr ursprünglich nichts von dem Wochenende bei uns verraten. Tja, offensichtlich hat er seine Meinung geändert.«

Weil der ältliche Galan nun über das Paket mein Gepäck ganz vergessen hatte und es verloren auf der Treppe herumstand, nahm ich selber Taschen und Koffer auf und wurde endlich zum Zimmer geleitet.

Ich war im gleichen Flügel untergebracht wie das Ehepaar Storm, was hinsichtlich meines Auftrags sehr günstig war. Über dem Bett hingen zwei Bilder, Aquarelle von mäßiger Qualität, deren originellste Eigenschaft das Kürzel des Künstlers war. »E.M.« stand in geschwungenen Linien unter beiden Werken.

Von meinem Fenster aus konnte ich auf die Hundezucht schauen. Die Tiere waren in mehreren Käfigen untergebracht und eine große Rasenfläche, die an einen Sportplatz erinnerte, diente ihnen zum Auslauf. Ich hoffte, dass die Hunde nachts ruhig sein würden und keinen Wachinstinkt hätten, denn ich hatte einen leichten Schlaf und war sehr lärmempfindlich.

Sobald sich Edith Moser entfernt hatte, packte ich meine Sachen aus und inspizierte danach den Flur. Die Dielen knarrten. Das war freilich sehr ungünstig für mich. Dagegen freute ich mich über die vielen Erker, die der Architekt dieses Gutshauses zwischen die einzelnen Zimmer hatte einrichten lassen. Die ermöglichten es mir, mich unauffällig zu verstecken und zu beobachten, wer wann welche Tür aufsuchte. Ein paar Unterlagen in der Hand würden den Eindruck erwecken, ich hätte mir lediglich eine abgelegene Stelle zum Lesen gesucht. Die Hundezucht vor meinem Fenster war Ausrede genug, warum ich nicht in meinem eigenen Zimmer geblieben wäre.

Noch während ich darüber nachdachte, hörte ich leise Schritte. Ich setzte mich in den Erker und lugte vorsichtig um die Ecke. David Storm schlich, ohne mich zu bemerken, aus seinem Zimmer über den Flur, einer anderen Tür hin. Er drückte die Klinke und fand sie unverschlossen. Er öffnete sie weit genug, dass ich von meinem Platz aus einen Blick hineinwerfen konnte. Das große Postpaket auf dem Bett verriet mir, dass es sich um Gloria Horns Zimmer handelte. Ich sah David hineingehen, das Paket in die Hände nehmen und es vorsichtig schütteln, mit dem Ohr am Karton.

Als Privatdetektiv muss man schnell reagieren können. David Storm im Zimmer seiner angeblichen Geliebten, neugierig deren Post untersuchend – das könnte ein Indiz für seine wahren Gefühle sein. War es Eifersucht, die sein Handeln anstachelte? Vermutete er hinter dem Absender etwa einen anderen Verehrer, einen Konkurrenten?

Ich zückte sofort mein Handy und fotografierte das Geschehen. Dabei achtete ich darauf, die Kommode im Flur, die neben der Tür stand, im Fokus zu haben, damit David Storm im Hintergrund blieb und sein Handeln nur wie zufällig aufs Bild gebannt aussähe – man musste ja im rechtlichen Rahmen bleiben. Und die besagte Kommode war tatsächlich ein hübsches Möbelstück, dessen Design gut in mein Arbeitszimmer passen würde. Somit wirkte mein Wunsch, es zu fotografieren, durchaus glaubwürdig.

David Storm schien meine Bewegungen zu hören, hielt in seinem Tun inne und schaute kurz hinaus. Gerade rechtzeitig verschwand ich hinter der Ecke und hielt die Luft an.

Das Dumme beim Luftanhalten war in meinem Fall schon immer, dass mein gutes Gehör mich im Stich ließ, sobald ich das Atmen unterdrückte. Mein Herzschlag und das Rauschen meines Blutes schallten so dominant in meinen Ohren, dass ich Geräusche von außen kaum wahrnehmen konnte. Wenn Davids Schritte sich mir näherten und er mich im Erker entdeckte, würde ich das erst bemerken, wenn er direkt vor mir stünde. Und wie sollte ich dann meine Anwesenheit hier erklären? Ich hatte ja noch gar keine Unterlagen zum vermeintlichen Lesen in der Hand!

Zu meiner Erleichterung ließ David Glorias Tür ausreichend lautstark ins Schloss fallen, sodass es meine eigenen Körperklänge übertönte. Ich traute mich auszuatmen und vernahm, wie er in sein eigenes Zimmer zurückkehrte und seiner Gattin zurief:

»Schatz, wollen wir hinuntergehen? Laurenz möchte uns vor dem Dinner bestimmt ein Aperitif reichen.«

Storms begaben sich nach unten und ich folgte kurz darauf. Edith Mosers Prophezeiung stellte sich als wahr heraus: Ihr Ehemann hatte sich mittlerweile beruhigt und in einen redegewandten, warmherzigen Gastgeber verwandelt. Er empfing uns alle am Fuß der Freitreppe und führte uns in den Speisesaal. Unterwegs hatte er für jeden einen fröhlichen Spruch parat.

»Frau Waap«, sprach er zu mir und hob mit gespieltem Tadel seinen Zeigefinger, »Sie dürfen unsere Annabelle nicht den ganzen Abend mit geschäftlichen Gesprächen ablenken. Ich will ihr meine Zucht zeigen und danach gemütlich vor dem Kamin ein Schwätzchen halten.«

»Tun Sie das ruhig, Herr Moser«, antwortete ich, »denn ich habe genug Unterlagen von Frau Storm erhalten, deren Studium mich einige Stunden beschäftigen wird. Die halbe Nacht werde ich wach bleiben müssen.«

»Ich für meinen Teil habe ebenfalls diverse Papiere mitgebracht«, sagte Julius Theveleit, »aber ich kann in den Morgenstunden viel besser arbeiten als spät abends.«

»Ich wünschte«, sagte Moser, »die Leute würden nicht ständig ans Arbeiten denken und sich mehr ihren Hobbys widmen. Nehmt euch ein Beispiel an meiner Frau. Etwas Gartenarbeit an der frischen Luft, ein bisschen Malerei oben im Dachboden, und schon ist sie viel ausgeglichener als früher, als sie und ich in unseren Büros schufteten.«

Wir erreichten einen kleinen Saal, in dessen Mitte eine lange Tafel stand. Ein Tuch aus schwerem Damast lag darüber und Edith Moser hatte bereits für alle Gäste eingedeckt. Ihr weißes Porzellan schien beinahe zu leuchten, was wohl an dem Kronleuchter lag, der direkt über der Tafel hing. Sein Glanz spiegelte sich im Geschirr wider. Wir begaben uns an unsere Plätze und erhielten jeder ein Glas Sekt.

»Unser Ehrengast ist zwar noch nicht da, aber wir können gewiss schon im Voraus auf ihr Wohl anstoßen«, meinte Moser.

»Ohne die Flinte in deiner Hand wäre es feierlicher, Liebling«, entgegnete seine Gattin und wir mussten schmunzeln.

Laurenz Moser hatte nach seiner Rückkehr von den Hunden vergessen, seine Waffe abzulegen.

»Oh, tut mir leid«, rief unser Gastgeber aus. »Ich schaffe sie gleich fort.«

Er tippelte hastig aus dem Speisesaal.

»Braucht er für seine Züchtung eine Flinte?«, fragte Annabelle Storm ungläubig und nahm mir damit die Worte aus dem Mund.

»Ach, Julius hat sie für ihn besorgt, weil der Förster von dem Wolfsrudel erzählte«, erklärte Edith Moser. »Er will gewappnet sein, falls er auf seinen Spaziergängen einem Tier begegnet. Ich war dagegen! Jeder weiß, wie scheu Wölfe in Wahrheit sind, und Laurenz hat weder Waffenschein noch Jagderlaubnis. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn…«

Sie unterbrach sich und schaute mich skeptisch an.

»Sie werden davon doch nichts der Polizei stecken, Frau Waap?«

Ich beruhigte sie, dass ich einzig in Frau Storms Auftrag handeln würde.

»Mir geht es um Wirtschaftskriminalität. Flinten und Wölfe fallen nicht in mein Untersuchungsgebiet.«

»Und wenn doch«, mischte sich Julius Theveleit ein, »dann ist die Schuld bei mir zu suchen. Ich habe Laurenz die Idee mit der Waffe in den Kopf gesetzt.«

»Schier aufgedrängt hast du sie ihm«, verbesserte Edith Moser.

»Ich finde die Wolfsgeschichte bedenklicher als du«, entgegnete er ernst. »Nicht umsonst haben unsere Vorfahren diese Räuber ausgerottet. Die Wiederansiedlung ist romantischer Unsinn. Egal, was die Tierschützer sagen.«

Laurenz Moser kam zurück und ihm folgte ein weiterer Gast.

»Die werten Tierschützer können mich nicht drankriegen«, grinste er. »Glaubt ihr etwa, ich hätte echte Patronen in dem Ding? Nee, ich habe entgegen Julius’ Rat Platzpatronen hineingetan. Laut diverser Experten im Internet müssten der Knall und der Rauch die wilden Tiere vertreiben, ohne dass Blut vergossen wird. Nun aber zu erfreulicheren Dingen!«

Er wandte sich an den neuen Gast.

»Gerade in dem Moment, als ich die Flinte in den Flur hing, hörte ich einen Wagen vorfahren. Unsere Ehrengäste sind da! Willkommen, Paul.«

»Meine Frau und mein Schwager sind gleich soweit, sie legen noch ab«, lächelte der Ehemann der großen Schauspielerin schüchtern. »Wir kommen wohl ungelegen? Es scheint eine rege Diskussion zu herrschen.«

»Wir streiten darum, wie man mit Wölfen umgeht, ohne Gesetze und Tierschutzmaßnahmen zu prellen«, winkte Laurenz Moser ab.

Paul blickte ernst drein.

»Wilde Tiere sind kein Thema, das man unterschätzen sollte«, meinte er. »Gut, dass du eine Flinte im Haus hast. In solch abgelegener Gegend sollte man immer eine geladene Waffe parat haben, falls Raubtiere – ob aus Hunger oder Krankheit – angreifen.«

Mich überraschte diese etwas radikale Haltung, die so gar nicht zu der zurückhaltenden Erscheinung Pauls passen wollte. Allerdings hatte ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn endlich erschien Gloria Horn im Saal, Arm in Arm mit ihrem Bruder. Sofort hielt jeder mit Reden inne und starrte sie an, fasziniert von ihrer Schönheit und Präsenz – mich eingeschlossen. Wie sie dort stand, angestrahlt vom Schein des Kronleuchters, mit glänzendem Haar und tadelloser Figur, werde ich wohl nie vergessen. Ich verstand nun, warum sie als schönste Frau der Welt galt, in den Augen sowohl der männlichen als auch der weiblichen Betrachter.

Ich schielte zu den anderen Frauen. Edith Mosers neidlose Bewunderung stand in ihrem hageren Gesicht geschrieben. Annabelle Storm lächelte tapfer, doch die erröteten Wangen verrieten Ärger. Beide machten keine gute Figur neben Gloria Horn. Während jene als neue Marlene Dietrich, Brigitte Bardot oder Sophia Loren gefeiert wurde (je nach Herkunft ihres Publikums), waren Edith und Annabelle nichts weiter als langweilige Alltagserscheinungen. Wie froh war ich, dass der Saal über keinen Spiegel verfügte; nur ungern hätte ich mich selbst in jenem Augenblick mit der schönsten Frau der Welt verglichen.

Gloria Horn begrüßte jeden Einzelnen von uns, wobei sie den Männern ein weitaus breiteres Lächeln schenkte als uns Frauen. Ihr Bruder Gabriel wich ihr nicht von der Seite, sogar an der Tafel setzte er sich unmittelbar neben sie (wohingegen Paul, ihr Ehemann, der Schauspielerin gegenüber saß). Gloria scherzte über so viel geschwisterliche Fürsorge:

»Gabriel ist immer um mich herum, damit einer auf mich aufpasst. Richtig süß, oder? Er hat sich schon zweimal gewehrt, als ich ihn mit einer Kollegin verkuppeln wollte, so treu ergeben ist mir mein kleiner Bruder. Dabei hatte ich ihm bildhübsche Frauen ausgesucht.«

»Sei froh, dass ich verzichtet habe«, spielte Gabriel den Witz galant mit. »Es reicht, wenn nur einer aus der Familie die Klatschspalten füllt.«

Doch seine Schwester hörte ihm gar nicht zu. Sie war viel zu entzückt von allem, was sich ihr bot, angefangen beim Dinner und den Gästen bis hin zum Gutshaus. Ihre Begeisterung schien dabei authentisch und in keinster Weise aufgesetzt zu sein.

»Das ist wahrhaftig eine tolle Überraschung«, freute sie sich, »all meine Freunde in diesem prachtvollen, alten Gebäude wiederzutreffen. Onkel Laurenz muss mir nachher alles ganz genau zeigen. Nun aber wollen wir Tante Ediths Suppe kosten. Ich bin schon ganz verhungert nach der langen Reise!«

»Es gibt Flusskrebssüppchen, das schmeckt dir doch so gut«, sagte ihre Gastgeberin. »Zum Hauptgang Fasan und als Dessert eine Puddingspeise.«

Gloria Horns Augen leuchteten auf.

»Ich werde ja richtig verwöhnt! Und ordentlich gestärkt dazu, was ich gut gebrauchen kann.«

»Klingt, als hätten Sie sich Arbeit mitgebracht?«, fragte Theveleit.

»Meine Gattin hat ein Rollenangebot erhalten, kurz bevor wir gestern in den Flieger stiegen«, erklärte Paul. »Sie soll in einer Verfilmung von Jack Londons Biografie die Ehefrau spielen. Im Flugzeug sind wir bereits ihre Szenen durchgegangen.«

»Eine herausfordernde Figur«, behauptete Gloria.

»Hier, die Neuigkeit steht sogar schon im Feuilleton eurer Lokalzeitung«, fügte Gabriel hinzu und legte das Weidensgrundler Blatt auf den Tisch, das er sich am hiesigen Bahnhof gekauft hatte.

»Irgendwas Sinnvolles muss man ja tun, solange man aufs Taxi wartet«, lachte er.

Die Seite mit den »News aus Hollywood« war demonstrativ aufgeschlagen und zeigte ein Pressefoto der Schauspielerin.

»Das wird ein aufregender Dreh!«, rief Gloria Horn begeistert aus. »Ich muss einfach dabei sein. Darum ist es wichtig, dass ich die Szene fürs Casting perfekt hinlege. Am besten hilft mir jemand beim Proben.«

Sie sah von einem zum anderen und entschied:

»David, du wirst mir die Stichworte zuwerfen. Keine Sorge, die Szene ist nicht lang und du kannst das Drehbuch haben. Ich bin schließlich diejenige, die alles auswendig lernen muss.«

»Ich hätte Ihnen ebenfalls gern geholfen«, bot sich Theveleit an, aber Gloria Horn lehnte charmant ab. Sie wisse doch von ihrem Patenonkel, wie viel so ein Geschäftsmann um die Ohren hat – da wolle sie ihn nicht extra in Anspruch nehmen und womöglich von wichtigen Deals ablenken.

Ich wunderte mich, warum die Wahl nicht auf ihren Bruder oder ihren Mann gefallen war, aber die Schauspielerin klärte mich auf, indem sie unbefangen weiter plauderte:

»Auf dem Flug hierher haben Gabriel und Paul mit mir das Skript schon mehrmals durchgesehen. Die haben vorerst genug von dem Stoff und sollen sich erholen.«

So ging es die ganze Zeit, alle drei Gänge hindurch. Gloria dominierte das Tischgespräch, ohne es wirklich zu wollen, weil ihr immer wieder einer der Herren Fragen zum Showbusiness stellte. Auch die negativen Kritiken aus Großbritannien wurden erwähnt, doch die Schauspielerin schwor, sich mit solcherlei Kram niemals auseinanderzusetzen.

»Die Arbeit an einem Film ist nach dem letzten Drehtag für mich abgeschlossen. Was die Leute danach darüber schreiben, interessiert mich nicht mehr, denn mein Kopf ist bereits voll von Ideen für neue Projekte. Darum ist es ungeheuer wichtig, dass man David und mich nicht stört, wenn er mir bei der Castingszene behilflich ist.«

Annabelle Storm und ich tauschten einen Blick aus. Die letzten Worte Gloria Horns klangen verdächtig und es war an mir zu untersuchen, ob tatsächlich nur eine Filmszene geprobt werden sollte.

Leider hatten David und Gloria am Tisch keine genaue Zeit für ihr Treffen ausgemacht, weshalb ich mich für den Rest der Nacht auf die Lauer legen musste. Ich suchte mir dafür wieder den Erker aus, der so günstig zwischen den Zimmern lag. Diesmal hatte ich auch Papiere aus Storms Firma dabei, die als Ausrede für mein anhaltendes Wachsein dienen konnten. Die Nacht brachte allerdings ganz andere Beobachtungen als erwartet!

Zunächst erschien es mir sonderbar, dass nicht Paul seine Ehefrau auf ihr Zimmer begleitete, sondern ihr Bruder Gabriel. Er sprach von einer weiteren Überraschung, und als er die Tür öffnete und sie das Paket sah, wurde der Sachverhalt um die seltsame Postsendung klar: Gabriel hatte im Modehaus Bellevue eine Spezialanfertigung für Gloria Horn anfertigen und ans Gutshaus schicken lassen, um seine Schwester damit zu erfreuen. Weil Gloria vor dem Eintreten ihre Hände vor das Gesicht halten sollte (»Bloß nicht schummeln«, hatte ihr Gabriel in kindlichem Tonfall befohlen), legte sie das Drehbuch, von dem sie vorhin gesprochen hatte, auf die Kommode im Flur ab. Während die beiden ins Zimmer gingen, ergriff ich die Chance und schlich an eben jene Kommode, um einen Blick auf das Drehbuch zu werfen. Sollte es sich bei besagter Castingszene nämlich um eine Liebes- oder gar Kussszene handeln, hätte ich ein weiteres Indiz in der Hand, das Annabelle Storm dienlich sein könnte.

Ich zückte erneut mein Handy und fotografierte möglichst viele Seiten. Auf einigen fanden sich gelbe Markierungen und einmal war ein Rand mit einem Klebezettel versehen, der wahrscheinlich als Lesezeichen diente. Das Umblättern der Seiten konnte niemand hören, denn ein viel lauteres Rascheln tönte aus Glorias Zimmer, wo offenbar das Geschenk aus jeder Menge Polystyrol gefischt wurde. Da meine Beschäftigung recht langwierig war, kam ich nicht umhin, das Gespräch zwischen Bruder und Schwester mit anzuhören.

»Gabriel, das wäre wirklich nicht nötig gewesen!«

»Doch, doch, das ist es. Alles für meine Lieblingsschauspielerin! Trägt er sich denn gut?«

»Oh ja, er ist warm und angenehm zu tragen. Aber meinst du nicht, es ist heutzutage zu kontrovers, Pelz anzuziehen?«

»Es ist ja kein echter, Gloria!«

»Na, hoffentlich. Die Farbe ist sehr unorthodox, muss ich zugeben.«

»Weil du unorthodox bist! Das ist als Vorzug zu verstehen. Einen solchen Mantel besaßen nur wenige Prominente. Gunter Sachs zum Beispiel.«

»Mit anderen Worten, der Mantel ist eher unweiblich.«

»Na und? Marlene Dietrich hatte ihre Hosenanzüge, du hast deinen Mantel. Er wird zu deinem Markenzeichen werden, glaub mir. Vielleicht wird sogar die Modewelt auf dich aufmerksam, dann bräuchtest du dich nicht mehr so oft mit der Filmbranche herumzuärgern!«

Ich wusste nicht, ob ich die Begeisterung in Gabriels Stimme als brüderliche Zuneigung interpretieren sollte oder als ungesunde Schwärmerei. Beinahe schien es, als ob er am liebsten die Stelle seiner Schwester als schönste Schauspielerin der Welt eingenommen hätte.

Nachdem ich das Skript vollständig abfotografiert hatte, zog ich mich in den Erker zurück. Freilich konnte ich es jetzt nicht lesen, das hätte mich zu sehr von meinem eigentlichen Auftrag abgelenkt. Aber wozu hatte ich einen treuen Sekretär, der zudem als ehemaliger Deutschlehrer ein flinker Leser sein musste? Ich schickte Bertram die Fotos kurzerhand mit folgendem Auftrag zu:

»Sind bei den markierten Szenen intime Handlungen seitens der weiblichen Hauptrolle vorgesehen? Bitte prüfen und rückmelden!«

Dann zog ich mich in den Erker zurück, gerade rechtzeitig, bevor Gabriel Glorias Zimmer verließ. Er wünschte ihr gute Nacht, sie nahm sich das Drehbuch und verschloss ihre Tür. Wohin Gabriel ging, konnte ich nicht sehen, aber ich hörte ihn nochmals »Gute Nacht« sagen. Es war Annabelle Storms Stimme, die ihm antwortete; sie waren sich wohl auf dem Flur oder der Treppe begegnet. Ich nutzte die Gelegenheit, meine Auftraggeberin ein letztes Mal für diesen Abend unter vier Augen zu sprechen. Wir taten so, als würde es um ihre Firma gehen (man wusste ja nicht, wer zufällig mithörte); in Wahrheit zeigte ich ihr das Foto von David und dem Paket.

»Ich weiß nicht, was das Verhalten meines Mannes bedeuten soll«, gestand Annabelle. »Herumschnüffeln ist sonst nicht Davids Art. Wir könnten ihn fragen, aber ich weiß momentan nicht, wo er sich aufhält und möchte selber gern ins Bett.«

»Dann schlafen Sie gut«, sagte ich. »Wir klären das schon noch.«

Annabelle Storm ging in ihr Zimmer und ich wartete an meinem Platz, was weiterhin passieren würde. Ich rechnete damit, dass David innerhalb der nächsten Stunde an Gloria Horns Tür kommen und klopfen würde, doch nichts dergleichen geschah. Er kam nicht einmal hinauf, um sein eigenes Schlafzimmer aufzusuchen, auch nicht, als die Uhr lange nach Mitternacht anzeigte. Und Paul, Glorias Gatte, zeigte sich genauso wenig, was mir äußerst merkwürdig vorkam.

»Die zwei heimlich Liebenden verpassen hier eine ideale Möglichkeit für ein Schäferstündchen«, notierte ich mir. »Ob die Herren unten am Kamin die Zeit vergessen haben? Vielleicht sind sie während einer Zigarrenrunde eingeschlafen.«

Ich hielt es in meinem Versteck nicht mehr aus und machte mich, den knarrenden Dielen zum Trotz, auf ins Erdgeschoss. Auf halber Treppe sah ich, wie Paul sich an der Garderobe zu schaffen machte. Seine Hand steckte in der Tasche eines grau-blauen Anoraks. Er musste meine Anwesenheit bemerkt haben, denn er drehte sich zu mir und lächelte schüchtern:

»Ich suche mein Schnupftuch, wissen Sie. Aber ich glaube, es ist gar nicht in meiner Jacke.«

Er ließ von der Garderobe ab und ging die Treppe hinauf. Als er an mir vorbeilief, nickte er mir freundlich zu, aber meinen Augen wich er aus.

»Komischer Kauz«, dachte ich mir und ging weiter.

Tatsächlich fand ich Julius Theveleit und David Storm im Kaminzimmer. Sie waren dabei, ihre Whiskygläser beiseite zu räumen.

»Unsere Gastgeber haben sich gerade zu Bett begeben«, sagte Theveleit, als er mich erblickte, »aber wenn Sie noch einen Nachttrunk haben wollen, kann ich Ihnen einschenken.«

Ich lehnte dankend ab und behauptete, nur einen kurzen Abendspaziergang machen zu wollen.

»Hüten Sie sich vor den Wölfen«, warnte Theveleit im Scherz.

David sprach kein Wort, sondern wankte zur Treppe. Er hatte anscheinend ein bis zwei Whisky zu viel getrunken. Da Paul schon hinaufgegangen war, hielt ich es für unwahrscheinlich, dass es diese Nacht noch zu einem Stelldichein kommen würde. Also vertrat ich mir draußen vor dem Haus noch ein bisschen die Füße, indem ich die Einfahrt auf und ab ging. Erst als alle Lampen im Hause erloschen waren, begab ich mich wieder nach drinnen, um es mir einmal mehr im Erker bequem zu machen. Ich drehte das Innere meines Blazers nach draußen (es war eine Wendejacke), nahm die Brosche von meiner Bluse und legte stattdessen eine Halskette um. Zum Schluss steckte ich mir die Haare hoch und veränderte geringfügig das leichte Make-up, das ich trug. Auf diese Weise würden Leute, die mich auf ihrem morgendlichen Gang über den Flur im Erker finden würden, glauben, ich hätte bereits ausgeschlafen und mich frisch gemacht. Niemand würde annehmen, ich hätte die ganze Nacht auf diesem Posten gesessen. Die Unterlagen aus Storms Firma platzierte ich vor mich hin, darauf achtend, dass eine der hinteren Seiten aufgeschlagen war. Es sollte schließlich so aussehen, als wäre ich mit meinen Untersuchungen gut vorangekommen.

Also saß ich auf der Lauer, doch bald schon forderten die späte Nachtstunde und das gute Essen ihren Tribut. Die Lider wurden schwer und ich gab ihrem Gewicht nach, mich auf meinen leichten Schlaf verlassend. Jedweder Laut würde mich schon rechtzeitig wecken, sobald etwas geschah.

*

Das Geräusch, was mich letztlich kurz vor Sonnenaufgang weckte, war allerdings keine knarrende Diele, auch kein zaghaftes Türklopfen oder quietschendes Klinkendrücken. Es war ein Pfiff, der von weiter weg zu kommen schien. Ich schlug die Augen auf und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, wo ich war. Aus dem Erkerfenster war nichts zu sehen, also war der Pfiff woanders hergekommen. Ich schlich die Treppe herunter und sah zu meiner Überraschung Licht aus dem Kaminzimmer in den Flur dringen. Ich lugte hinein und fand Julius Theveleit, der an einem Tisch saß und diverse Papiere durchwühlte. Schon von Weitem fiel mir auf, dass ziemlich viele Zahlen rot gedruckt waren.

»Guten Morgen«, begrüßte ich ihn. »Sie arbeiten tatsächlich sehr früh!«

»Ihnen auch einen guten Morgen!«, erwiderte er und kritzelte nebenher dicke Ausrufezeichen auf seine Unterlagen. »Sind Sie aufgestanden, um von mir zu lernen, wie viel Gold im Mund der Morgenstunde liegt?«

Ich lächelte höflich über seinen Scherz und erkundigte mich, ob er gepfiffen habe. Er verneinte und fügte hinzu:

»Wenn ich arbeite, bekomme ich selten etwas von meiner Umgebung mit. Dass kein Laut an mein altes Ohr drang, muss also nichts bedeuten.«

»Sonderbar«, sagte ich.

»Vielleicht war es der Hausherr, der nach seinen Hunden pfiff«, mutmaßte Theveleit und musste lachen. »Die Tierchen schaffen etwas, das ich mein Lebtag nicht hinbekommen habe: Aus dem lieben alten Langschläfer einen Frühaufsteher zu machen!«

Plötzlich ertönte ein Schrei und machte seine gute Laune zunichte.

»Was war das?«

»Klang wie eine Frau in Not!«

»Es kam von draußen!«

Aufgeregtes Hundegebell drang vom Hinterhof durchs Fenster.

»Ob etwa das Wolfsrudel…?«

Theveleit beendete den Gedanken nicht, sondern rannte aus dem Kaminzimmer in die Eingangshalle, wo er die Flinte schnappte und nach draußen eilte. Ich folgte ihm.

Im fahlen Licht der Dämmerung sahen wir an der Hausecke, dort wo der Teich lag, einen Mann lehnen, der mit Armen und Händen eine weitere Gestalt abstützte oder abwehrte – es war nicht richtig auszumachen, ob sie ihn bedrängte. Sie schien ein helles Fell zu haben und dementsprechend nicht menschlich zu sein.

»Das sind mindestens zwei dieser räuberischen Ungeheuer«, rief Theveleit, legte an und schoss.

Es knallte, der Lauf der Flinte rauchte, der Mann an der Hausecke zuckte zusammen und irgendetwas fiel mit einem leichten »Platsch!« ins Teichwasser. Die pelzige Gestalt aber flüchtete nicht, wie es Laurenz Moser beim gestrigen Tischgespräch versprochen hatte. Sie sackte in sich zusammen. Ein dunkler Fleck erschien auf dem grauen Fell.

»Die Waffe war scharf geladen«, erkannte ich.

Wir stürzten zur Hausecke und fanden David Storm, wie er aschfahl auf das Wesen blickte, das stöhnend von seinen Armen glitt.

»Ich glaubte, es wären Platzpatronen«, keuchte Theveleit. »David, hat Ihnen das Biest arg zugesetzt?«

Tränen füllten die Augen des vermeintlich Angefallenen und er konnte nicht antworten. Er deutete nur auf die zusammengesackte Gestalt. Erst jetzt, mit den ersten Sonnenstrahlen, die hinter den Weiden am Bach aufblitzten, sahen wir, worum es sich wirklich handelte: Kein Wolf war es, der dort niedergeschossen worden war, sondern Gloria Horn, in einen Mantel aus grauem Wolfspelz gehüllt.

»Sie hat nicht geschrien, weil uns irgendwelche Tiere bedrohten«, erklärte David, als er seine Stimme wiederfand. »Sie probte nur eine Szene für den neuen Film, den sie drehen wollte!«

Theveleit ließ die Flinte fallen, kniete nieder und hielt sich die Hände vor den Mund. David Storms Unterlippe bebte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und blickte hilflos um mich her. Aus dem Haupteingang sah ich weitere Personen stürzen, die entweder von dem Schrei oder dem Schuss geweckt worden waren. In ihrer Eile hatten sie kaum etwas über ihre Nachthemden und Schlafanzüge geworfen; lediglich Paul hatte Zeit gefunden, sich einen grünen Anorak überzuwerfen.

Wie sie alle um Gloria Horns Leiche standen, war es wider Erwarten ihr eigener Gatte, der am meisten gefasst blieb. Theveleits Beteuerungen, er habe sie nicht erschießen wollten, schenkte er sogleich Glauben und er hielt sogar tröstend Davids Arm, der ihm immer wieder schwor, es sei alles ein furchtbarer Zufall gewesen. Gabriel sagte nichts, sondern weinte still vor sich hin. Ich weiß nicht, wie viele Minuten wir auf diese Weise an der Hausecke standen, aber schließlich fragte Annabelle Storm:

»Was sollen wir jetzt tun?«

Eine pragmatische Frage, für die es keine einfache Antwort gab. Ein Arzt konnte nichts mehr tun, andererseits musste jemand Offizielles Todesursache und -zeitpunkt festhalten. Das Wort »Polizei« fiel und Laurenz Moser runzelte die Stirn. Seine Frau Edith entschied, dass es das Beste sei, die Polizei hinzuzuziehen.

»Auch wenn es ein Unfall war«, betonte sie, als sie der erschrockenen Blicke Theveleits und Mosers gewahr wurde.

Die Storms und Laurenz blieben bei der Leiche stehen, um auf das Eintreffen der Beamten zu warten. Edith kümmerte sich um den Anruf und überdies um einen heißen Tee für uns alle. Paul und Gabriel zogen sich ins Kaminzimmer zurück. Ich blieb am Teich stehen und wartete, dass die Polizei eintreffen würde. Dabei entdeckte ich, was vorhin ins Wasser gefallen war, bückte mich danach und zog es heraus. Es handelte sich um das Drehbuch, das nun völlig durchnässt und unbrauchbar geworden war. Jegliche Markierungen darin hatte das Teichwasser gelöscht oder verschmiert.

»Sie haben geprobt«, flüsterte ich vor mich hin. »Einfach nur geprobt.«

Aber ich verstand nicht, wie David und Gloria das Haus verlassen haben konnten, ohne dass ich es gemerkt hatte.

Die Sonne stieg etwas höher und beschien die Frontfassade des Gutshauses mit rosafarbenen Streifen. Erst jetzt fiel mir das Spalier neben dem Eingang auf, das an der Wand angebracht war. Es war unten schmal und verbreiterte sich nach oben hin, bis es in etwa dort endete, wo sich Gloria Horns Fenster befinden musste. Eine Kletterhortensie rankte sich daran empor, hatte aber nur das untere Drittel erreicht und war demzufolge erst vor Kurzem gepflanzt worden. Das sauber geharkte, schwarze Beet, dem sie entsprang und wo sonst nichts wuchs, bekräftigte meine Annahme.

Ich erinnerte mich an einen Film, worin Gloria Horn eine kecke Einbrecherin gespielt und angeblich alle Stunts selbst gedreht hatte. Dort hatte es ebenfalls ein Spalier an einer Hauswand gegeben. Da wurde mir klar, dass es nicht nur den Weg über die knarrenden Dielen gab, den die heimlich Liebenden gegangen sein konnten, und ich schalt mich, gestern nicht bereits auf das Spalier aufmerksam geworden zu sein. Wenn mir das eher aufgefallen wäre, hätte das Schlimmste womöglich verhindert werden können.

*

Eine halbe Stunde später saßen wir alle im Kaminzimmer mit unseren Teetassen in der Hand (außer David Storm, der einen Whisky vorzog) und lauschten betroffen der Standpauke, die der Polizist – es war ein anderer als gestern – den Herren hielt.

»Eine nicht gemeldete Waffe im Haus, Herr Moser? Das gibt ein ordentliches Bußgeld. Wir beschlagnahmen sie natürlich. Schießen ohne Waffenschein, Herr Theveleit. Sehr unbedacht, auch wenn Sie behaupten, Sie wären früher im Besitz eines solchen gewesen. Und wieso waren Sie mit der Dame draußen in finsterer Nacht, Herr Storm?«

»Ich sagte es Ihnen schon«, erwiderte der Angesprochene, »um mit ihr eine Filmszene zu proben. Ich ging unter ihr Fenster, stieß einen Pfiff aus und sie erkannte das Zeichen sofort. Sie stieg aus dem Fenster, kletterte hinab und traf mich an der Hausecke.«

Er sah verunsichert in die Runde und fügte hinzu:

»Der Aufwand war nötig, damit wir niemanden aufweckten und ungestört proben konnten.«

»Sie wären im Speisesaal ebenso ungestört gewesen«, gab der Polizist zurück.

»Das ging nicht«, widersprach David. »An einer Stelle sollte sie kreischen, das hätte ja das ganze Haus geweckt.«

»Aha, der Schrei, der Theveleit und Waap aus dem Haus lockte«, erinnerte sich der Polizist und überprüfte seine Notizen auf dem kleinen Block, den er bei sich trug. »Der führte ja erst zu dem Missverständnis. Nichtsdestotrotz weckte Gloria Horns Kreischen ohnehin die anderen, so schnell, wie alle laut Frau Waaps Aussage aus dem Haus stürmten.«

Er schaute mich an und ich nickte bestätigend.

»Also hätten Sie ebenso gut drinnen proben können«, fuhr er fort. »Dann hätte Gloria Horn auch nicht ihren Pelzmantel getragen, der ebenfalls ein Faktor ist, der zu dem tragischen Missverständnis führte. Im Übrigen eine geschmacklose Idee, ihr einen Wolfspelz zu schenken, wo wir hier eine Gegend sind, die stolz ist auf die Wiedereinführung dieser edlen Tiere!«

Gabriel verstand den Seitenhieb und errötete.

»Es war kein echtes Wolfsfell«, warf er ein. »Außerdem wusste ich nichts davon, dass es hier diese wilden Tiere geben soll.«

Der Polizist ignorierte den Beitrag und studierte seine bisherigen Notizen.

»Alles deutet auf eine Verkettung unglücklicher Umstände hin«, sagte er, »doch wir haben noch nicht geklärt, warum die Flinte überhaupt echte Patronen geladen hatte. Laurenz Moser und Julius Theveleit beharren darauf, dass darin Platzpatronen stecken müssten.«

Wir schauten uns alle ratlos an. Dabei blieb mein Blick auf Paul haften, der verloren in einer Ecke saß und noch immer seinen grünen Anorak trug. Da erinnerte ich mich an meine Beobachtung von gestern Abend. Unvermittelt fragte ich ihn:

»Ist das Ihre eigene Jacke, Paul?«

»Bitte? Äh, ja, natürlich. Wieso?«

»Gestern hantierten Sie in der Tasche eines grau-blauen Anoraks herum, angeblich auf der Suche nach Ihrem Schnupftuch«, erinnerte ich ihn.

Paul antwortete nichts. Der Polizist hingegen hob interessiert die Augenbrauen und schlug vor, in der Garderobe nach eben jener Jacke zu schauen. Sie hing noch immer dort, wo ich sie letzte Nacht gesehen hatte.

»Das ist meine«, gestand Julius Theveleit. »Was hatten Sie an meiner Jacke zu schaffen, Paul?«

Der Polizist durchsuchte die Taschen und fand etwas, dessen Anblick uns alle beeindruckte.

»Die Platzpatronen aus meiner Flinte«, rief Laurenz Moser aus und Theveleit pfiff durch die Zähne, was mich an mein aufgeschrecktes Erwachen von heute Morgen erinnerte.

»Sie haben die Ladung der Waffe ausgetauscht«, warf er Paul vor. »Manipuliert haben Sie sie. Warum?«

»Ich hörte bei meiner Ankunft, wie Sie von Platzpatronen sprachen, die den Angriff eines Wolfes aufhalten sollten. Mir war das nicht sicher genug. Moser wollte Gloria und mich heute mitnehmen, wenn er seine Hunde ausführt. Ich wollte einfach, dass wir uns dabei vollkommen sicher fühlen können.«

»Und dafür hatten Sie ganz zufällig scharfe Munition bei sich?«, höhnte der Polizist.

»Gloria hat letztens bei einem Film über Jäger mitgewirkt und am Ende hatte die Requisite die Patronen übrig. Man fragte uns, ob jemand Verwendung dafür hätte, ehe man sie entsorgte. Ich meldete mich, weil ein Bekannter von mir Jäger ist. Dem wollte ich sie ursprünglich mitbringen. Das können Sie alles gern nachprüfen.«

»Ohne uns etwas davon zu sagen, Paul«, schimpfte Edith Moser verzweifelt.

»Du hättest es ja nicht zugelassen, als Befürworterin dieser elenden Raubtiere«, entgegnete Paul.

»Wenn es wenigstens bloß Betäubungspfeile gewesen wären«, seufzte Annabelle Storm.

»Das ist Unsinn«, schüttelte Laurenz Moser den Kopf. »Betäubungsgewehre sind ganz anders gebaut als Theveleits Flinte.«

»Wieso steckten Sie die Platzpatronen in eine fremde Jacke?«, fragte der Polizist streng.

Paul konnte nur mit den Schultern zucken. Er sagte, er wüsste nicht mehr genau, was er sich dabei gedacht hatte. Er wollte die Dinger nur schnell loswerden.

»Auf mich wirkt es eher, als wollten Sie Theveleit den Austausch der Munition in die Schuhe schieben«, sagte der Polizist. »Aber da zu jenem Zeitpunkt noch keiner wissen konnte, zu welchem Unglück die ganze Sache führt, müssen wir das getrennt von dem Todesfall betrachten.«

Wir hörten Motorengeräusche und das Knirschen von Autoreifen auf Kies. Der Wagen, der Gloria Horns Leichnam abholte, fuhr soeben davon. Der Polizist bemerkte, wie alle die Köpfe senkten, und nahm sich in seiner Strenge etwas zurück.

»Die Angehörigen bedürfen nun gewiss etwas Zeit für sich. Ich werde einstweilen auf die Wache fahren und das Protokoll anfertigen. Rechnen Sie damit, von mir für eine Unterschrift eingeladen zu werden.«

Er wandte sich zum Gehen.

»Mein Beileid Ihnen allen«, sagte er noch.

Die Gesellschaft zerstreute sich. Laurenz und Edith Moser gingen Arm in Arm nach draußen, wo der Gastgeber seine Hundepfeife zückte und damit einen hohen, kaum hörbaren Ton ausstieß. Fröhliches Gebell antwortete ihm.

›So klingt also eine Hundepfeife‹, dachte ich mir und stellte fest, noch niemals zuvor eine gehört zu haben.

Annabelle Storm nahm mich beiseite.

»Ich denke, Sie sollten den Polizisten bitten, Sie mit ins Dorf zu nehmen. Hier können Sie ja doch nichts mehr tun. Ich zahle Ihnen selbstverständlich Ihre bisherige Tätigkeit.«

Ich fand den Vorschlag sinnvoll, denn als Einzige, die von Gloria Horns Tod nicht persönlich getroffen war, kam ich mir in der Runde reichlich überflüssig vor. Also eilte ich dem Polizisten nach, bat ihn, noch fünf Minuten zu warten, und packte zügig meine Sachen zusammen.

Kurze Zeit später fuhren wir in seinem Dienstwagen an den Weiden vorbei zum Dorf und er setzte mich vor dem Gasthaus ab. Bertram wartete bereits davor, die gestrige Ausgabe vom Weidensgrundler Blatt in der Hand. Schon von Weitem konnte man die reißerische Überschrift des Leitartikels erkennen:

»Wolfsrudel gesichtet! Worauf Sie jetzt zu achten haben!«

›Wer weiß‹, dachte ich, ›wie in der kommenden Ausgabe die Schlagzeile lautet, sobald die Umstände um Gloria Horns Ableben erst einmal bekannt werden.‹

Noch wusste kaum jemand außerhalb des Gutshauses Bescheid. Via Handy hatte ich Bertram über die tragische Wendung unterrichtet, aber um Stillschweigen gebeten. Als ich aus dem Polizeiwagen stieg, schaute er eher irritiert denn betroffen drein. Auf seinem Zimmer erfuhr ich auch, weshalb.

»Was mich verwirrt, ist dein Auftrag an mich. Ich sollte ja nachlesen, ob für Gloria Horns Hauptrolle eine Liebesszene vorgesehen ist. Da steckt aber schon der Knackpunkt drin: Die Rolle, die sich Gloria Horn markiert hatte, war überhaupt keine Hauptrolle! Sie sollte nicht Jack Londons quirlige, zweite Frau spielen, sondern seine puritanische erste Gattin, die in gerade mal drei Szenen vorkommt.«

»Das sieht danach aus, als ob Gloria nach dem England-Desaster keine guten Angebote mehr hatte«, schlussfolgerte ich, »und sogar undankbare Rollen annehmen musste. Jedenfalls beantwortet das automatisch meine Frage nach einer Liebesszene. Die wird wohl nicht enthalten sein, wenn Jack sich nach drei Auftritten von ihr trennt, wie?«

Bertram schüttelte den Kopf. Ich wollte noch etwas Tröstendes hinzufügen (ich wusste ja, dass er ein Fan der Horn gewesen war), aber da realisierte ich erst, welche Worte er gewählt hatte.

»Du sagtest, sie sollte Jack Londons puritanische erste Frau spielen?«

Diese Neuigkeit beunruhigte mich. Ich nahm mein Handy, ging die Fotografien des Drehbuchs durch und stellte fest, dass mein treuer Sekretär recht hatte. Gloria Horns Rolle war als langweilige, ernste Figur konzipiert worden, die eher der indirekten Charakterisierung Jack Londons dienlich war, als einen eigenen nennenswerten Tiefgang zu besitzen.

»Puritanisch«, wiederholte ich. »Das ergibt doch rechnerisch gar keinen Sinn!«

»Wieso rechnerisch?«, fragte Bertram verblüfft.

An dieser Stelle muss ich Ihnen, werte Leser, verraten, dass ich schon immer einen Faible für die Mathematik hatte. Logisches Denken, die Ermittlung unbekannter Variablen, all das faszinierte mich von jeher und war vielleicht sogar schuld an meiner Berufswahl gewesen. Denn wenn sogar hochkomplexe physikalische Vorgänge mathematisch hergeleitet werden konnten, dann gewiss auch unerklärlich scheinende Vorfälle im zwischenmenschlichen Bereich.

Um Bertram meine Irritation hinsichtlich Gloria Horns Tod zu erläutern, nahm ich ein Blatt Papier zur Hand und schrieb allerlei mathematische Gleichungen darauf. Statt irgendwelcher Terme benutzte ich jedoch die Namen aller Anwesenden sowie bestimmte Stichworte, die mit dem Fall im Zusammenhang standen. Bertram sah mir über die Schulter und las mit:

»Glorias Tod = Pelzmantel + Flinte + scharfe Munition + Schrei. Miriam, ich weiß, dass du früher im Mathe-Leistungskurs warst. Ich hingegen bin nur ein mittelmäßiger Deutschlehrer gewesen. Was soll mir diese Gleichung sagen?«

»Sie zeigt, dass etwas sehr faul an der ganzen Sache ist«, erwiderte ich. »Wir werden den Herrn Polizisten noch einmal sprechen müssen und dann zum Gutshaus zurückfahren. Es gibt Anlässe, die feine Gesellschaft dort genauer unter die Lupe zu nehmen.«

»Du sprichst, als ob du von einem Verbrechen und nicht von einem Unglück ausgehst. Welche Anlässe meinst du denn genau?«

»Da wäre erstens die puritanische Rolle in dem Drehbuch, zweitens das Weidensgrundler Blatt und drittens ein verräterischer Pfiff. All diese Dinge führen zur Erkenntnis, dass mindestens vier Menschen heute Morgen die Polizei angelogen haben und die schöne Gleichung zu Gloria Horns Tod keinen Sinn mehr ergibt. Und eine sinnfreie Gleichung, Bertram, die darf es nicht geben.«

*

Keine Viertelstunde später trafen wir im Gutshaus ein. Zufällig hatten wir das gleiche Taxi bestellt, das gestern Gloria Horn und ihre beiden Begleiter hergefahren hatte. Es hielt direkt vor dem Spalier mit der Kletterhortensie, und ehe ich ins Haus ging, überprüfte ich noch einmal das säuberlich geharkte Beet. Richtig, drei Kieselsteine lagen dort auf dem Mutterboden. Ich hob einen davon auf, weil er eine Bestätigung für die dritte Lüge darstellte, und betrat anschließend mit Bertram die Eingangshalle. Dort hörten wir Stimmen, die aus dem Kaminzimmer drangen.

»Ich kann noch immer nicht fassen, was passiert ist«, seufzte Edith Moser.

»Ich auch nicht«, sagte ihr Mann. »Zu denken, dass wegen dieser dummen Gerüchte über Wölfe… Zu denken, dass diese vermaledeite Flinte… Wir tragen quasi alle die Schuld an diesem Unglück auf unseren Schultern!«

Das war mein Stichwort. Ich öffnete die Tür zum Kaminzimmer und sprach:

»Die Schuld ist tatsächlich bei einigen von Ihnen zu suchen. Nur Sie, Herr Moser, müssen nichts fürchten. Sie haben keinerlei Anteil an Gloria Horns Tod, im Gegensatz zu ein paar anderen der hier Anwesenden.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Moser, den meine Worte weitaus mehr überraschten als meine plötzliche Wiederkehr.

»Ohne Visualisierung fällt es mir schwer zu erklären, was genau ich meine. Aber Ihre Gattin malt ja in ihrer Freizeit, habe ich erfahren?«

»Nur ein paar stümperhafte Aquarelle«, winkte Edith Moser ab.

Ich wandte mich ihr zu.

»Dann haben Sie gewiss eine Staffelei?«

»Sicher.«

»Wenn wir die als Flipchart missbrauchen dürften, kann ich Ihnen allen meinen Gedankengang aufzeigen.«

Edith Moser warf ihrem Gatten einen fragenden Blick zu. Der zuckte mit den Schultern und sagte nur:

»Von mir aus.«

»Meine Staffelei steht auf dem Dachboden«, sagte Edith Moser. »Ich kann sie unverzüglich holen lassen, die Leinwand ist noch unbenutzt.«

»Sehr gut, tun Sie das«, erwiderte ich. »Inzwischen setzt sich der Rest mit mir in den Speisesaal. Dort kann ich Ihnen anhand meiner Aufzeichnungen zeigen, wer für den Todesfall wirklich verantwortlich gemacht werden kann.«

Ich hatte mit Widerstand gerechnet, doch die Anwesenden folgten mir wie Lämmchen. Bertram und ich setzten uns ans Kopfende der Tafel, bewaffnet mit Papier und Stiften. Direkt neben uns nahmen links Laurenz Moser und rechts Annabelle Storm Platz. David setzte sich neben seine Frau. Er hatte die Whiskyflasche vom Kaminzimmer mitgebracht und nippte immer wieder daran, während Annabelle still daneben saß und hilflos wirkte. Julius Theveleit blieb stehen und Gloria Horns direkte Angehörige setzten sich ans gegenüberliegende Ende der Tafel. Als die Staffelei hereingebracht wurde, holte ich das Papier mit meiner Gleichung hervor, stellte sie an die Leinwand, damit sie jeder sehen konnte, und erklärte:

»Ich möchte die Suche nach der Schuld in Form einer mathematischen Gleichung darstellen. Glorias Tod ist, und da werden Sie mir zustimmen, das Ergebnis von vier unabhängig voneinander scheinenden Summanden. Zum einen der Schrei, den sie ausstieß und der Julius Theveleit und mich nach draußen lockte. Zum zweiten die Flinte, welche den tödlichen Schuss abgefeuert hatte, aber eigentlich nur mit Platzpatronen geladen sein sollte. Der dritte Summand ist also die scharfe Munition. Den vierten Summanden stellt der Pelzmantel dar, denn hätte Gloria ihn nicht getragen, hätte Theveleit ihn nicht mit echten Wölfen verwechselt und ergo nicht abgedrückt.«

»Das wissen wir doch schon«, bemerkte Edith Moser und nahm neben ihrem Gatten Platz.

»Wir glauben es zu wissen«, entgegnete ich. »Aber ich mag es, die Dinge noch einmal genau zu überprüfen, und als eine Frau der Logik nutze ich dafür gerne die Welt der Mathematik. Ich appelliere nun an die Geschäftsleute unter Ihnen, mir mithilfe Ihrer rechnerischen Begabung zu folgen.«

Da es keinerlei Einwände gab, fuhr ich fort.

»Konzentrieren wir uns auf das Wichtigste: die tödliche Waffe. Der Schuss ging von Herrn Theveleit aus, wie ich persönlich bezeugen kann. Wir könnten also einen Teil unserer Gleichung ersetzen: Glorias Tod = Theveleit + scharfe Munition + Pelzmantel + Schrei. Dabei entdecken wir, dass Theveleit selbst zwar mit der Flinte austauschbar ist, ohne dass die Gleichung verfälscht wäre, sich aber die anderen drei Summanden nicht durch ihn ersetzen lassen. Wir könnten also ebenso gut aufschreiben: Theveleit = Flinte – scharfe Munition – Pelzmantel – Schrei

»Soweit, so gut«, sagte Laurenz Moser. »Aber so ähnlich wird es doch bei allen Anwesenden hier aussehen, oder?«

»Eben das probieren wir jetzt durch. Zunächst nehmen wir Paul, der die Waffe immerhin mit echten Patronen geladen hat, angeblich um seine Frau zu schützen. Allerdings wissen wir nicht, ob ihm der Pelzmantel bereits bekannt war – Gloria erhielt ihn von Gabriel, als Paul noch unten im Kaminzimmer war, und er ging erst spät zu Bett. Womöglich schlief seine Gattin schon und er sah ihr Geschenk nicht?«

»Ich möchte mich dazu nicht äußern«, knurrte Paul, auf den Boden blickend. »Ihre Herleitungen sind albern und führen ohnehin zu nichts.«

Seinen Beitrag nicht weiter kommentierend, schrieb ich auf: Paul = scharfe Munition – Flinte – Pelzmantel – Schrei.

»Demzufolge ist er unschuldig«, stellte Edith Moser fest. »Zu viele Minuszeichen.«

»Soweit richtig, denn er drückte nicht ab und war auch an der Herbeiführung des Schreis nicht beteiligt. Also nehmen wir uns nun David Storm vor, der ja immerhin am Tatort war. Er sah spätestens dort trotz der Dunkelheit, dass Gloria einen Wolfspelzmantel trug, und er war dabei, als Mosers über die Existenz eines echten Wolfsrudels in der Nähe sprachen. Daher wäre es ihm zumindest theoretisch möglich gewesen, Theveleits Irrtum vorauszusehen.«

David Storm reagierte darauf nicht, seine Gattin aber warf ein:

»David hatte nichts mit der Flinte oder den Patronen zu schaffen! Vergessen Sie das nicht!«

»Also halten wir folgende Formel fest: David = Schrei + Pelzmantel – Flinte – scharfe Munition

»Es ist wieder nicht alles im positiven Bereich«, stellte Bertram fest. »Doch immerhin schon ein Faktor mehr als bei den anderen.«

»Summand, nicht Faktor«, berichtigte ich ihn.

David schluckte hörbar. Der Rest schwieg und schaute mir zu, wie ich eine vierte Rechnung aufstellte: Gabriel = Pelzmantel - Schrei – Flinte – scharfe Munition. Vom Bruder der Verstorbenen ertönte keine Widerrede, also fuhr ich ungestört fort, meine Liebe zur Mathematik auszuleben. Gleichungen zu Annabelle Storm und den beiden Mosers wurden hinzugefügt, bei denen alle Terme mit einem Minus versehen werden mussten und die somit als mögliche Schuldige gänzlich ausschieden.

»Es sind also, um in den Worten unseres Gastgebers zu sprechen, längst nicht alle Schultern mit Schuld beladen«, schloss ich die erste Runde meines Vortrags.

Ohne auf eine Reaktion zu warten, nahm ich einen Rotstift und unterstrich die Namen David Storm, Paul, Gabriel und Julius Theveleit.

»Die rot markierten Namen gehören zu jenen Herren, die sich eingehender mit der Schuldfrage beschäftigen sollten, denn wir sehen: Sie alle stimmen mit einem der Summanden überein, die zu Frau Horns Tod führten. Julius Theveleit ist der Flinte gleichzusetzen, David Storm dem Schrei, Gabriel entspricht dem Pelzmantel und Paul den tödlichen Patronen.«

»Alles Zufall«, behauptete Theveleit.

»Könnte man denken, wenn nicht eben jene vier Personen noch wegen eines weiteren Sachverhalts negativ auffallen würden«, entgegnete ich. »Ausgerechnet diese vier Herren, die zu Gloria Horns Tod geführt haben, haben sich diverser Lügen schuldig gemacht.«

»Lügen?«, fragte Edith Moser. »Was für Lügen denn?«

»Da wäre zunächst der Schrei, der uns alle hinauslockte und der angeblich vom Skript der Schauspielerin vorgesehen war. Dies kann aber überhaupt nicht stimmen, denn wir wissen mittlerweile, dass Gloria Horn für die Rolle von Jack Londons erster Frau vorgesehen war – einer Puritanerin. Und wodurch, glauben Sie, zeichnen sich Mitglieder dieser Glaubensrichtung aus? Durch stoische Gemütskontrolle. Nie und nimmer hätte eine solche Filmfigur ihre Emotionen frei herausgelassen, schon gar nicht mit einem Schrei.«

»Wie wollen Sie das beweisen?«, unterbrach mich Paul. »Das Drehbuch fiel ins Wasser, keiner kann mehr was erkennen.«

»Das Skript lag mir zufällig vor, bevor es unbrauchbar wurde«, erklärte ich. »Darin ist kein Schrei vorgesehen. Ich habe Fotos, auf denen das jeder nachprüfen kann.«

»Wieso schrie Gloria heute Morgen denn dann?«, fragte Edith Moser, ohne zu hinterfragen, wieso ich eigentlich Fotos vom Drehbuch hatte.

»Vielleicht hat sie improvisiert«, schlug Bertram vor und setzte melodramatisch hinzu: »Eine Impro, die ihr das Leben kostete.«

»In diesem Fall hätte uns David ehrlich darauf hinweisen müssen, dass jene Lautäußerung off script war, wie es in der Filmsprache heißt«, entgegnete ich. »Das hat er aber nicht. Im Gegenteil, er behauptete, dass alles nach Drehbuch gelaufen sei – und das war die erste Lüge.«

David schwieg.

»Er blieb aber nicht der Einzige, der sich ihrer bediente. Zwei weitere in unserer Mitte beteiligten sich an der Verbreitung dieser Unwahrheit. Nicht wahr, Paul?«

Der Angesprochene ignorierte den Vorwurf und starrte ausdruckslos auf die Tischplatte. Ich fuhr unbeirrt mit meinen Ausführungen fort.

»Paul sagte gestern beim Dinner, er habe mit seiner Gattin und seinem Schwager das Skript bereits während des Fluges durchgearbeitet. Darum hätten auch er und Gabriel wissen müssen, dass gar kein Schrei vorgesehen war. Dass sie David nicht widersprachen, macht sie ebenfalls zu Lügnern.«

»Sie sagten eben ›erste Lüge‹«, mischte sich Edith Moser ein. »Soll das heißen, es folgten weitere?«

»Oh ja«, antwortete ich. »Gabriel hat an anderer Stelle ein zweites Mal geschwindelt.«

»Ich?«, empörte sich Glorias Bruder, und wieder klang er wie ein kleines Kind. »Was erlauben Sie sich?«

In diesem Augenblick klatschte ich mit aller Kraft das Weidensgrundler Blatt auf den Tisch, ihm direkt vor die Nase. Das war zwar melodramatisch, aber effektvoll – Gabriel hielt sofort den Mund.

»Sie haben selbst zugegeben, das Lokalblatt gekauft zu haben, um sich zu zerstreuen. Dementsprechend müssen Sie unweigerlich über den Artikel der Titelseite gestolpert sein. Ich zitiere: ›Wolfsrudel gesichtet! Worauf Sie jetzt zu achten haben!‹«

Gabriel begann zu zittern. Er deutete ein kurzes Nicken an, dann schaute er verunsichert nach den anderen.

»Sie waren also über die Wölfe in dieser Gegend unterrichtet. Vorhin haben Sie dem Polizisten gegenüber allerdings behauptet, nicht zu wissen, dass es hier wilde Tiere geben soll.«

»Lüge Nummer zwei«, stellte Edith Moser fest.

»Ganz richtig. Und es gibt noch eine dritte, eine letzte Lüge.«

Ich setzte den Anwesenden auseinander, wie ich von einem Pfiff geweckt worden war. Wir erinnerten uns an Davids Geschichte – er habe Gloria mittels eines leisen Pfeifens aus dem Zimmer locken wollen.

»Mein Zimmer war auf der gegenüberliegenden Seite«, erklärte ich, »und dort hätte ich das Geräusch gewiss nicht hören können. Der Pfiff, den ich vernahm, hatte mit dem Rendezvous zwischen Herrn Storm und Gloria nichts zu tun.«

»Womit soll ich sie denn bitte schön sonst herausgelockt haben?«, fragte David ungeduldig.

»Damit«, sagte ich kurz und zeigte ihm den Kieselstein, den ich im Beet gefunden hatte. »Draußen unter Glorias Fenster liegen zwei weitere, die dort nicht hingehören. Oder doch, Frau Moser?«

Die Gastgeberin schüttelte den Kopf. Sie hatte die Beete erst gestern frisch geharkt und keinerlei Steinchen darin hinterlassen.

»Jemand muss sie dort hingeworfen haben«, klagte sie.

»Nicht direkt geworfen«, entgegnete ich. »Herr Storm warf Kieselsteine von der Einfahrt aus an Gloria Horns Fenster, um sie auf sich aufmerksam zu machen. Er hat nicht daran gedacht, sie wieder aufzulesen, nachdem sie ihn erhört hatte.«

»Aber der Pfiff?«, fragte Laurenz Moser.

»Das warst wahrscheinlich du«, mischte sich nun Julius Theveleit ein, der lange nichts gesagt hatte. »Hast nach den Hunden gepfiffen und das wird Frau Waap geweckt haben.«

»Das haben Sie mir schon versucht, heute Morgen einzureden«, lächelte ich den Geschäftsmann an. »Aber es ist zwecklos. Herr Moser verwendet eine Hundepfeife. Das Pfeifen, das mich weckte, war ein menschliches. Eines, das heute nochmals erklang, nur erkannte ich es in jenem Moment nicht wieder.«

»Wann erklang es denn?«, fragte Theveleit gereizt und seine Augen wurden zu Schlitzen.

»Als man die Platzpatronen fand, stießen Sie einen Pfiff durch die Zähne aus. Genauso klang das Geräusch, das mich weckte. Sie, Herr Theveleit, haben mich absichtlich aus dem Schlaf geholt, und es im Nachhinein geleugnet.«

»Die dritte Lüge«, fasste Edith Moser zusammen. »Aber ihren Zweck verstehe ich nicht.«

Ich wandte mich meinen Gleichungen zu und tippte auf die roten Markierungen.

»Sehen Sie, dass eben jene vier Männer, die bis eben als versehentliche Unfallverursacher gegolten haben, genau dieselben sind, die sich als Lügner herausstellen? Und nicht nur das!«

Ich verband mit dem Rotstift die Namen von David Storm, Gabriel Horn und Paul.

»Diese drei halten zusammen, was die Lüge um Glorias Schrei angeht. Und diese beiden«, (an dieser Stelle verband ich Theveleits mit Storms Namen), »halten wiederum zusammen, wenn es darum geht, uns mit dem Pfiff in die Irre zu führen. Über David Storm hängen also alle vier miteinander zusammen. Mit anderen Worten: Sie stecken unter einer Decke!«

Zugegeben, die Gleichungen sahen nun etwas verschmiert aus. Aber ich wollte auf etwas Bestimmtes hinaus. Ein Gegenargument seitens Laurenz Moser spielte mir in die Hände:

»Aber Paul hat Julius die Patronen unterschieben wollen! Diese beiden Teile Ihrer Gleichung können also nicht verbunden werden. Die vier stecken nicht alle unter einer Decke.«

Ich hob die Augenbrauen und ließ Mosers Einwand für eine Weile im Raum stehen. Niemand äußerte sich, und eben das veranlasste Laurenz, seine eigenen Worte zu überdenken. Er schaute skeptisch von Theveleit zu Paul und wieder zurück und sagte dann langsam:

»Ich könnte mich freilich irren. Möglicherweise haben die beiden den Patronenfund in der Jacke inszeniert, um uns vorzugaukeln, sie würden aufeinander keine Rücksicht nehmen.«

»Inszeniert?«, wiederholte Theveleit und sah Moser ins Gesicht. »Alter Freund, so etwas traust du mir zu?«

»David und Gabriel haben sich bereits als zweifache Lügner entpuppt«, sagte Moser. »Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass auch Paul und du doppelte Schwindler seid.«

»Und davon geht auch meine Rechnung aus«, fuhr ich dazwischen. »Wenn wir annehmen, dass sich auch Paul und Herr Theveleit miteinander abgesprochen haben, sehen wir, dass alle vier Elemente Verbindungen untereinander eingegangen sind. Verbindungen, die bei dem Einzelnen das schöne, neutralisierende, ja entlastende Minus tilgt und zu einem Plus macht!«

»Jetzt kommt neben der Mathematik wohl auch noch Chemie dazu?«, bemerkte Bertram.

Ich schenkte ihm keine Beachtung.

»Das heißt im Folgeschluss: Diese vier Herren tragen nicht etwa versehentlich die Schuld an Gloria Horns Tod. Sie haben ihn heimlich geplant und miteinander ausgeführt. Mathematisch eindeutig bewiesen.«

Während ich sprach, besserte ich die Gleichung auf der Leinwand aus: Glorias Tod = Theveleit + Paul + Gabriel + David Storm. Die anderen schauten drauf und sagten erst einmal gar nichts. Annabelles Augen waren aufgerissen, was ihr vornehmes Gesicht entstellte. Die Mosers standen beide mit heruntergelassener Kinnlade da. Die Beschuldigten kniffen ihre Münder fest zusammen, bis auf David Storm, der einen weiteren, großen Schluck Whisky nahm. Bertram war der Erste, der meine These kommentierte.

»Mit anderen Worten, du wirfst allen vier Herren ein abgekartetes Spiel vor! Du unterstellst ihnen, sich untereinander abgesprochen zu haben, um eine Verkettung von Missverständnissen zu inszenieren, damit Glorias Tod wie ein Unfall aussähe. Das wäre ja glatter…«

»Mord!«, rief Annabelle Storm aus.

Ihre Hände begannen zu zittern. Sie suchte Davids Augen, doch der wich ihrem Blick aus.

»Aber wieso sollten sie das tun?«, platzte es aus Edith Moser heraus. »Sie waren doch alle verrückt nach ihr! Selbst ein Blinder konnte das sehen.«

»Verzeihung, Julius«, räusperte sich Laurenz Moser, »Edith meint das nicht so.«

Der Geschäftsmann schaute kühl vor sich hin, aber seine rot glühenden Ohren bewiesen, dass Frau Mosers Diagnose stimmte: Er hatte tiefe Gefühle für Gloria Horn entwickelt.

»Gloria war ein Mensch, den alle liebten«, meldete sich Gabriel zu Wort. »Niemand von uns wäre fähig gewesen, sie dermaßen zu hassen. Außerdem – wie hätten wir uns denn absprechen sollen? Ich für meinen Teil wusste ja nicht einmal, wer hier in Weidensgrundl alles auf der Gästeliste stand!«

»Gabriel hat recht«, sagte David Storm. »Ich habe ihn und Paul seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Und Julius ebenso nicht. Wie hätte man da solch einen Unfall absichtlich herbeiführen sollen, wenn wir vier uns erst hier trafen?«

»Dieser Unfall, wenn wir ihn weiter so nennen wollen, kann ohne Probleme langfristig geplant worden sein«, gab ich zurück. »Schon allein, dass ein Wolfspelz hierher bestellt worden ist, weist auf sorgfältige Vorbereitung hin. Da wir wissen, dass Gabriel hinsichtlich der Wölfe in dieser Gegend gelogen hat, könnte er sehr wohl in voller Absicht einen Mantel aus eben jenem Fell besorgt haben, das seiner Schwester zum Verhängnis wurde. Und Sie alle, meine Herren, konnten ohne Probleme davon wissen. Paul zum Beispiel muss den Mantel spätestens beim Zubettgehen entdeckt haben. Wenn es vorher eine Verabredung zwischen den Männern gegeben hat, wusste er spätestens in jenem Augenblick, was los war und was er zu tun hatte: die Patronen austauschen und sich schlafend stellen, sobald David die Steine ans Fenster wirft. Die Ankunft des Pakets und dessen Inhalt war gewissermaßen das geheime Codewort zwischen unseren vier Lügnern.«

»Julius brachte das Paket nach oben«, warf Edith Moser ein, »und hätte dabei die Möglichkeit gehabt, es vorsichtig aufzureißen, einen Blick hineinzuwerfen und danach wieder zu verkleben.«

»Spekulation!«, rief der Geschäftsmann.

»Und ich?«, fragte David Storm.

»Du warst ebenfalls in Glorias Zimmer und hast das Paket untersucht«, antwortete Annabelle unvermittelt und nahm ihr Handy aus der Tasche. »Ich habe ein Foto davon. Zuerst glaubte ich, du würdest aus Eifersucht in Glorias Post herumschnüffeln, aber nun zeigen mir Frau Waaps Ausführungen, dass ganz andere Absichten dahinterstecken könnten.«

David Storm war verblüfft, zum einen über das Foto von ihm mit dem Paket in der Hand, das ich meiner Auftraggeberin hatte zukommen lassen; zum anderen darüber, dass seine eigene Frau ihm in den Rücken fiel.

»Annabelle, wie kannst du nur…?«, hauchte er und sein Entsetzen schien echt.

»Die Frage ist eher«, mischte sich Theveleit ein, »wie deine Frau zu dieser Fotografie kommt.«

Ohne dass mir eine Chance blieb, darauf zu antworten, erzählte Annabelle Storm frank und frei, was es mit mir und meinem Auftrag wirklich auf sich hatte.

»Ich ließ Frau Waap herkommen, um Beweise für Davids ehebrecherische Taten zu sammeln. Nun stellt sich heraus, dass sie Indizien für einen heimtückischen Mord gefunden hat.«

Ihre Stimme klang nicht mehr verunsichert, sie klang verbittert. Ich sah, dass David Storm Tränen in die Augen traten.

»Da müssen gerade Sie von Lügen reden, Frau Waap«, entrüstete sich Paul, und zwar so plötzlich, dass alle um ihn erschrocken zurückfuhren. »Und nun stellt sich heraus, dass Sie selbst Unwahrheiten über sich und Ihren Auftrag hier verbreiteten!«

»Da ist was dran«, stimmte Theveleit zu. »Es gibt für uns keinerlei Grund, Ihnen weiter zuzuhören, Frau Waap.«

»Und ob es den gibt«, feuerte ich zurück. »Schließlich haben Sie vier, werte Herren, ausgerechnet mich benutzt, damit Ihre Unfallgeschichte glaubwürdig wird!«

»Sie benutzt?«, wiederholte Edith Moser.

»Oh ja«, sagte ich und erklärte: »Ich fand es heute Vormittag sehr merkwürdig, dass Paul nicht von selbst zugegeben hat, was er mit den Patronen getan hatte. Wieso nicht? Seine Zurückhaltung musste einen Grund gehabt haben. Wenn wir auf meine Gleichungen schauen, erfahren wir ihn: Mit einem Zeugen käme seine Behauptung, Gloria beschützen zu wollen, viel glaubwürdiger rüber! Sie, Paul, haben gestern Abend im Flur solange gewartet, bis ich die Treppe hinunterkam. Ich sollte sehen, wie sie die Patronen in die Jacke taten – es war gar kein Zufall. Ebenso sollte es mir auffallen, dass Sie heute Morgen eine ganz andere Jacke trugen.«

»Stimmt«, sagte Laurenz Moser. »Eine Außenstehende wirkt immer glaubhafter als ein direkt Betroffener, wenn es um unnatürliche Todesfälle geht. Hätte Paul hingegen gesprochen, ohne dass es Zeugen gäbe, hätte es gewirkt, als wolle er Julius in Schutz nehmen.«

»Und das durfte nicht passieren, denn dann wäre ein Zusammenhang dort ersichtlich geworden, wo die Herren keinen wünschten«, führte ich den Gedanken zu Ende. »Während dieser Überlegung fiel mir noch etwas anderes ein: der Pfiff, der Theveleit entwichen war, als wir die Patronen in seiner Jacke entdeckten. Er hatte genauso geklungen wie der Pfiff, der mich geweckt hatte und den er angeblich selber nicht gehört hatte. War die ganze Angelegenheit etwa fingiert? Sollte gerade ich erwachen, um Zeugin des Schreis zu werden, der zu Gloria Horns Tod führte – zu ihrem Mord?

Da begann ich zu grübeln: Wenn wir hier einen Mord hätten, müsste der Täter die Flinte absichtlich benutzt und sie dafür mit scharfer Munition geladen haben. Er hätte wissen müssen, dass es sich bei dem Pelz um Gloria Horn im Mantel handelte und er hätte ebenso für den Schrei sorgen müssen, den es laut Skript gar nicht gab. Des Weiteren wäre es wichtig gewesen, Zeit und Ort der Tat zu inszenieren, damit der Irrtum, ein Wolf greife an, glaubwürdig erschien. Dafür wiederum muss der Täter von dem echten Wolfsrudel gewusst haben, das gesichtet worden ist. All das wollte ich mit den Pluszeichen in meinen Gleichungen darstellen, und die Mathematik beweist, dass nur die vier Herren gemeinsam den Mord verüben konnten.«

»Hören Sie doch auf, von Mord zu reden«, schimpfte Theveleit. »Keiner von uns vier angeblich Verdächtigen hat für sich ein Verbrechen begangen! Niemand kann uns beschuldigen und niemand kann uns mit Sühne drohen!«

»Mathematisch richtig kann dennoch menschlich verkehrt sein«, gab Laurenz Moser zu bedenken. »Sie haben uns immer noch nicht verraten, welche Motive die vier Männer gehabt haben sollten, Frau Waap.«

Bedächtig trat Bertram vor mich, hob beschwichtigend die Hände und sprach:

»Frau Waap denkt sehr wissenschaftlich, das haben Sie ja gemerkt. Sie ist jemand, die Fakten sprechen lässt. Die zwischenmenschlichen Lücken überlassen Sie am besten mir.«

»Dem Deutschlehrer«, bemerkte Paul spöttisch.

»Genau, dem Deutschlehrer. Einer, der von Lessings Emilia Galotti über Schillers Räuber bis hin zu Shakespeares Othello alljene Variationen von Liebe kennt, die zum Tod führen. Da gibt es Väter, die ihre Töchter töten, um deren Ehre zu retten. Liebhaber, die ihrer Verlobten das Gleiche antun, um sie vor Schande zu bewahren. Und freilich die klassische Eifersucht.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Laurenz Moser. »Dass Gloria Horn nicht aus Hass, sondern aus Liebe ermordet wurde?«

»Richtig«, sagte Bertram. »Ich habe in meinen Recherchen herausgefunden, dass Gloria Horns Karriere langsam zu enden drohte. Ein Verriss des letzten Films, die neue Rolle nur eine Nebenfigur – damit seine Schwester diesen tiefen Fall nicht zu erleiden hatte, schützte der liebende Bruder sie, indem er sie auf dem Höhepunkt ihres Ruhms aus dem Leben riss.«

Gabriel erblasste.

»Eine solch reizvolle Frau zieht unweigerlich immer neue Verehrer an. Ihre vielen Reisen und vielfältigen Engagements können einen schlichten Ehemann, der sich vielleicht nur nach häuslichem Frieden sind, sehr, sehr anstrengen. Eifersucht gilt für manche Ärzte sogar als Krankheit, die die Psyche auffrisst. Manch einer kann sich erst heilen, indem das Objekt seiner Liebe allen anderen Männern unzugänglich gemacht wird. Das Opfer, auch selbst nicht mehr die Geliebte zu besitzen, erscheint in dem Zusammenhang für den Betroffenen als erträglich, ja geringfügig.«

Pauls Unterlippe zitterte.

»Andere Verehrer leiden mitunter jedoch ebenso wie der eifersüchtige Gatte selbst. Sie haben vielleicht bereits Familien, wollen ihren Frauen treu sein und sehen sich plötzlich ständiger Verführung ausgesetzt. Gloria mag gar nicht geahnt haben, wie David empfindet, aber er selbst sah sich zerrissen zwischen der Sehnsucht nach der schönen Schauspielerin und dem Pflichtgefühl gegenüber der Gattin. Wie leicht könnte er seine Ehe retten, wenn es die Sirene nicht mehr gäbe!«

David Storm nahm einen weiteren Schluck Whisky.

»Und zuletzt der ältliche Freund, der ahnt, dass er nie eine romantische Rolle im Leben der begehrten Frau spielen wird. Der merkt, dass er aus Torheit die Geschäfte vernachlässigt. Aber auch wenn die Firma leidet, für Gloria Horn muss er Termine platzen lassen – es hilft nichts, er kann nicht anders. Und wie das Geld zur Neige geht, merkt er, dass er eine Entscheidung treffen muss: Gibt er den Beruf auf, möglicherweise auf Kosten vieler Mitarbeiter, und gibt sich einer unglücklichen Schwärmerei hin? Oder sollte er den hübschen Störfaktor entfernen, um die Geschäfte zu retten?«

Julius Theveleit schwitzte.

»Keiner von uns – ich wiederhole – keiner von uns hat sich etwas zuschulden kommen lassen«, knurrte er. »Niemand kann uns etwas nachweisen. Sie nicht und Frau Waap nicht. Es war eine Verkettung unglücklicher Umstände. Es war ein Unfall.«

Annabelle legte die Hand auf Davids Schulter.

»Was sagst du?«, fragte sie ihn.

Da brach es aus ihm heraus:

»Liebling, ich hab es doch für dich getan! Für uns! Sie musste weg, sie war einfach zu… Sie hatte einfach zu viel Macht über mich… Aber du bist es, die ich…«

Seine Stimme versagte ihm und er schniefte. Der Whisky fiel ihm aus der Hand.

»Halt deine verfluchte Klappe«, herrschte ihn Theveleit an.

»Halt du sie doch«, schrie Gabriel hysterisch. »Merkst du nicht, dass wir aufgeflogen sind? Da steht es doch schwarz auf weiß!«

»Aber keiner von uns hat konkret Schuld«, beharrte Theveleit.

»Und das war ja der Plan«, sagte unvermittelt eine Stimme, mit der keiner der Anwesenden gerechnet hatte.

Der Polizist von heute Morgen trat in den Saal. Im Schlepptau hatte er den schlaksigen Kollegen, mit dem sich am Vortag Laurenz Moser gezankt hatte.

»Frau Waap war so freundlich, mir mitzuteilen, dass hier ein Polizeihut vergessen worden ist, der entweder meinem Kollegen oder mir gehören soll«, sagte er. »Angeblich würden wir ihn im Speisesaal finden. Also sind wir schnellstens herbeigeeilt, durch die offene Türe, und konnten nicht umhin, Ihr durchaus interessantes Gespräch mit anzuhören.«

Er schaute nacheinander in die Gesichter von David Storm, Julius Theveleit, Gabriel Horn und Paul.

»Ich denke, die vier werten Herren sollten uns aufs Revier begleiten. Meinen Sie nicht auch?«

Und zu mir gewandt, fragte er:

»Der Polizeihut…«

Ich schüttelte bedauernd den Kopf schütteln und gab zu, mich dahingehend wohl geirrt zu haben.

*

Der Bahnhof in Weidensgrundl beinhaltete neben einem Fahrkartenschalter und einem Kiosk auch eine kleine Eisdiele, in der Bertram und ich die Zeit bis zur Abfahrt des Zuges abwarten wollten. Die Mosers hatten uns freundlicherweise hergebracht und ließen es sich nicht nehmen, uns Gesellschaft zu leisten.

»Ich kann immer noch nicht ganz glauben, was geschehen ist«, sagte Laurenz Moser. »Aber wie die vier, allen voran ausgerechnet Julius, der Polizei gefolgt sind, kommt ja einem Geständnis gleich.«

»Sie müssen wahrlich wie Irrsinnige unter ihrer Liebe zu Gloria gelitten haben«, setzte Edith hinzu.

»Aber sogar ihr Bruder?«, zweifelte ihr Mann.

»Ganz besonders der«, betonte ich. »Erinnern Sie sich, wie Gloria lachend bemerkte, dass Gabriel sogar zwei ihrer attraktiven Schauspielkolleginnen links liegen gelassen hat, nur um seiner Schwester nahe bleiben zu können? Sie hat wahrscheinlich gar nicht bemerkt, was sie da eigentlich sagte.«

»Sie meinen, Gabriels Zuneigung ging über geschwisterliche Liebe hinaus?«

Edith Mosers hagere Wangen wurden rot.

»Es ist zumindest anzunehmen«, sagte ich. »Es würde erklären, warum er sich zu dieser Verzweiflungstat hinreißen ließ.«

»Ich frage mich, wessen Idee es war.« Laurenz Moser kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Über diverse Ecken kannten sie sich ja tatsächlich alle untereinander. Julius habe ich persönlich mit Gloria bekannt gemacht. Da musste er ja Paul und Gabriel über kurz oder lang über den Weg laufen, und dieser David Storm stieß in seiner Schwärmerei ja später auch dazu.«

»Sie müssen einander als Leidensgenossen erkannt haben«, sagte ich, »und haben in dem Zusammenhang wohl gemerkt, dass jeder von ihnen ohne Gloria zufriedener sein würde.«

»Weil das Glück, das sie verhieß, in Wahrheit Unglück war«, philosophierte Bertram.

»Aber sich deswegen zusammenzusetzen und einen Mordplan zu schmieden, ist wirklich beinahe undenkbar«, meinte Edith.

»Ich glaube nicht, dass sich das so krass verhielt«, widersprach ich. »Wahrscheinlicher ist, dass immer mal wieder Bemerkungen fielen, als die Männer unter sich waren. Immer nur theoretische Bemerkungen, im Konjunktiv. ›Wenn sie doch sterben würde‹ oder ›Wenn es einen Unfall gäbe‹, so in etwa. Und daraus ergab sich irgendwann die Idee: Was wäre, jemand von uns würde sie versehentlich erschießen, weil er sie für ein wildes Tier hielt? Für einen Bären vielleicht – sie liebte ja Pelzwaren. Oder irgendein anderes Tier, wie eben einen Wolf? Dann könnte kein Außenstehender ein schlechtes Urteil fällen.«

»Auf den Wolf muss Julius gekommen sein«, sagte Laurenz Moser, »nachdem ich ihm schon vor einigen Wochen von dem Rudel in unserer Gegend erzählt habe.«

»Ich zweifle daran, dass es ein richtiger Mordplan im eigentlichen Sinne war«, fuhr ich fort. »Es war eher eine Abmachung: Du besorgst den Pelzmantel, du besorgst die Patronen, du tauschst sie aus, du bringst sie zum Schreien, du schießt… Keiner konnte wissen, ob der jeweils andere seinen Part wirklich erfüllen würde, und somit musste sich keiner als alleiniger Täter fühlen.«

»Sie meinen, Julius könnte bis zum Schluss gehofft haben, dass Paul die Patronen nicht ausgetauscht hat?«, fragte Edith. »Und David hat vielleicht insgeheim gehofft, es käme auf den Schrei niemand heraus?«

»Oder Gloria würde nicht den Pelz, sondern etwas anderes tragen«, nickte ich. »So in etwa. Keiner wollte die alleinige Schuld tragen. In ihren Augen haben sie dem Schicksal lediglich Impulse gegeben, die ebenso gut in eine andere Richtung hätten gehen können.«

Laurenz Moser schüttelte den Kopf.

»Was Menschen sich alles einreden können! Hoffentlich stimmt das Gericht ihnen am Ende nicht noch zu!«

Er hörte auf, sich am Kinn zu kratzen, und rang sich ein Lächeln ab. Mir war, als wäre es sein erstes an jenem Tag.

»Sie beide, Frau Waap und Herr Hollender, sind jedenfalls ein gutes Team. Auf der einen Seite die nüchterne Wissenschaftlerin, auf der anderen der mitfühlende Schöngeist. Wie gut sich das ergänzt, haben wir heute erleben dürfen. Wenn ich einmal die Hilfe eines Privatdetektivs in Anspruch nehmen muss, werde ich mich vertrauensvoll an Sie wenden. Versprochen!«

Wir dankten ihm für das Lob und ich rieb mir insgeheim die Hände. Hatte es trotz der Tragödie also doch geklappt mit dem Knüpfen von guten Kontakten!

Eine Lautsprecheransage des Bahnhofs führte unser Gespräch zu einem jähen Ende – der Zug war da. Bertram und ich verabschiedeten uns von den Gastgebern und fuhren heimwärts, wo uns Annabelle Storm einige Tage später einen weiteren Besuch abstattete.

»Ich möchte Ihnen den Scheck persönlich überreichen«, sagte sie und hielt ihn mir hin. »Sie haben Ihre Arbeit gut gemacht.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »David Storm habe ich keine eindeutigen ehebrecherischen Absichten nachweisen können, nur kleine Hinweise.«

»Ihre Fotos vom Drehbuch und von David in Glorias Zimmer haben dazu beigetragen, die Indizienkette zu schließen, die zu den vier Mördern meiner Schulfreundin führte«, erklärte Annabelle. »Das ist mehr, als mein ursprünglicher Auftrag verlangte.«

Sie vertraute mir an, was auf dem Polizeirevier und später geschehen war. Die vier Männer waren dem Kommissariat vorgeführt worden und hatten Geständnisse abgelegt, alle in der Hoffnung, rechtlich nicht oder nur wenig belangt werden zu können. Dennoch war gleich eine Gerichtsverhandlung angesetzt worden und die Richterin war bekannt für ihre Strenge und Gründlichkeit.

»Ich werde David in dem Ausmaß beistehen, wie es sich für einen Ehepartner gehört«, schloss Annabelle ihre Ausführungen, »aber keinen Deut darüber hinaus.«

Sie ging und hinterließ wieder jenen frischen, aber neutralen Hauch Parfüm, der so gut zu ihr passte. Ich nahm mir vor, herauszufinden, wie der Duft hieß, um ihn an mir selbst auszuprobieren. Und ich nahm mir ebenfalls vor, in nächster Zeit keine weiteren Aufträge hinsichtlich des Verdachts auf Ehebruch anzunehmen.

Mittlerweile liegt dieser Fall lange, lange zurück. Die Öffentlichkeit hat die Einzelheiten über Gloria Horns Tod nie erfahren. Die vier Täter wurden von der unerbittlichen Richterin endgültig als solche durchschaut und kamen jeweils ihrer gebührenden Strafe zu. Obwohl ihre echten Namen heute kaum jemandem mehr etwas sagen dürften, habe ich sie in dieser Niederschrift geändert; ebenso die Orte. Die Angehörigen und andere Unbeteiligte sollen im Nachhinein nicht noch geschädigt werden.

Wenn Sie, werte Leser, nach dem Studieren dieses Falles meinen, die eine oder andere Formulierung komme zu gestelzt daher, dann lassen Sie mich Ihnen versichern: Das liegt nur an Bertram, der diesen Bericht Korrektur gelesen hat. Mein lieber, ehemaliger Deutschlehrer hat bestimmt nicht widerstehen können und versucht, den Stil hier und da etwas zu heben.

Ein Potpourri der krummen Dinger

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