Читать книгу Du weißt doch, Frauen taugen nichts - Berthold Kogge - Страница 4
Ein Sommermärchen
ОглавлениеMein Gott, war das ein Sommer. Man könnte meinen, Deutschland hatte in dem Jahr 2006 ein Sonderabkommen mit Petrus abgeschlossen. Oder Petrus war einfach nur ein großer Fußballfan und hatte daher zur Fußball-WM 2006 alle Register gezogen, um zumindest wettertechnisch ein Sommermärchen vom Stapel zu lassen. Auf jeden Fall war es ein fantastisches mediterranes Wetter, und die Stimmung im Land war so gut, wie schon lange nicht mehr.
Auch mir ging es gut. Ich genoss das tolle Wetter. Mir ging es, da mögen einige verständnislos den Kopf schütteln, eigentlich sogar ziemlich gut.
Vor zehn Monaten war meine Firma den Bach runter gegangen. Die ersten Monate nach der Pleite waren schlimm gewesen, der Schock hatte tief gesessen. Zuerst der langsame finanzielle Untergang, da es einfach zu viele Kunden gab, die zwar Arbeit, aber kein Geld verteilen wollten, und dann noch die absolute Krönung, einem professionellen Betrüger auf dem Leim gegangen zu sein. Das war schon hart.
Da half es auch nicht als Trost, dass außer mir noch viele andere auf diesen Typen hereingefallen waren. Angefangen von den Justizbeamten im Hamburger Vollzug, die einen, wegen professionellen Betrugs einsitzenden, für sein letzte Jahr im Knast, in den offenen Vollzug gesteckt hatten, damit er von dort aus wieder in seinem Beruf (professioneller Betrüger?) zurückfinden und sich eingliedern konnte. Über Beamte in Brüssel, die ihm und seinem Kompagnon, während er sein letztes Jahr im Gefängnis, im offenen Vollzug absaß, Subventionen von über einer Million Euro zusagten (für eine Firma, die es gar nicht gab), bis hin zu den Firmenbesitzern, die er mit dem Wisch der Subventionszusage geleimt hat, da er angeblich mit dieser Million deren Firmen aufkaufen und sanieren wollte.
Es war zu spät, als sich herausstellte, dass der Typ sich, als angeblicher Firmensanierer, nur mit uns und anderen Firmen beschäftigt hat, um die letzten Kröten aus den Firmen zu pressen, damit er die Zeit überbrücken konnte, bis die zugesagten Subventionen, die nicht zweckgebunden waren, fließen würden. Und außerdem benötigte er uns na klar auch, um Geschäftsbeziehungen und Investitionsabsichten in Brüssel zu belegen. Sobald das Geld aus Brüssel überwiesen worden war, wollte er sich wohl, nachdem seine Haftstrafe im offenen Vollzug, während deren er, sozusagen unter der Obhut der deutschen Justiz, mit einem geleasten Porsche durch ganz Deutschland fuhr, um seine schmutzigen Geschäfte zu machen, abgelaufen war, ins Ausland absetzen.
Ich und so manch anderer waren somit nur Kollateralschaden in einem größeren Spiel gewesen.
Und somit war meine Firma im August 2005 pleite. Es dauerte einige Zeit, bis ich den Schock verkraftet hatte. Allerdings ging es mir durch die Pleite nicht nur schlechter, sondern es gab auch Dinge, bei denen ging es mir eindeutig besser. Als der Schock über die verlorene Existenzgrundlage erst einmal verflogen war, wie auch die nervlichen Auswirkungen jahrelangen Stresses des Geschäftsführerdaseins, stellte ich fest, dass die Herzstiche, die Magenschmerzen, Kopfschmerzen, schlaflose Nächte und schlechte Träume der letzten Jahre, ganz schnell verschwanden.
Zumindest gesundheitlich ging es mir somit nach der Pleite nun wesentlich besser. Das war nicht zu leugnen. Ich, im Oktober 2005 siebenundvierzig Jahre alt geworden, fühlte mich wieder wie siebenundvierzig, bzw. sogar noch jünger, und nicht wie vor der Pleite, als ich mich oft wie sechzig oder älter gefühlt habe. Als Chef gab es nur alle zwei oder drei Jahre Urlaub, die auch nur mal gerade jeweils zwei Wochen dauerten, eine 6,5 Tage Woche, und das, obwohl 40 Stunden Wochenarbeitszeit wohl schon immer am Donnerstag erreicht waren. Mir war eine Last von der Seele und dem Körper gefallen, und wenn man erst einmal ganz unten angekommen war, wie ich mit der Pleite, hatte es auch den Vorteil, dass es nicht mehr tiefer gehen konnte.
Bereits fünf Jahre vorher war ich, zumindest wohntechnisch gesehen, wieder in meine alte Heimatstadt Lübeck zurückgezogen, nachdem ich acht Jahre vorher in ein kleines Dorf in Meck-Pomm umgesiedelt war. Aber nach acht Jahren hatte ich die Nase voll von einer Idylle im Nirgendwo, die aus einem Herrenhaus, vier teilweise ungepflasterten Straßen und ca. zwanzig Häusern bestand. Nachts hätte man die Fußwege dort hochgeklappt, wenn es denn welche gegeben hätte. So tot war es dort.
Das war nun alles vorbei. - Und es war Sommer.
Immer wenn die deutsche Fußballmannschaft spielte, war vor dem griechischen Restaurant, das direkt neben meiner Wohnung lag, auf dem Fußweg und der dortigen Straßenkreuzung, die Hölle los. Der Wirt hatte vor dem Restaurant einen Großfernseher aufgestellt, damit seine Gäste, die dort auf der Terrasse saßen, und andere Vorbeilaufende sich die WM dort ansehen konnten. Spielte die deutsche Mannschaft, und sie spielte ja sogar erfolgreich, war bis morgens vor meiner Wohnung die Hölle los.
In fast jeder Kneipe in der Stadt hatten deren Wirte Fernseher aufgestellt, um die Gäste von der heimischen Bildröhre wegzulocken. Bei einem Spaziergang durch die Stadt kam ich an der Kneipe „Carrickfergus“ vorbei. Der Wirt hatte ein Schild ans Fenster geklebt: „Hier WM-freie Zone“. Typisch Horst dachte ich damals. Während die anderen mit der WM-Werbung machen, bietet er Obdach für WM-Flüchtlinge.
Als das Achtelfinale für die deutsche Mannschaft losgehen sollte, floh ich aus meiner Wohnung. Es war mir klar, sollte die deutsche Mannschaft gewinnen, würde vor meiner Wohnung bis zum Morgen jubelnder Lärm sein und Autokorsos Fahnen schwingend, laut hupend durch die Straßen fahren. Nicht nur das Wetter hatte diesen Sommer mediterrane Auswüchse. Auch die Norddeutschen zeigten ein für sie ungewohntes Temperament, während dieser Fußball-WM. Da ich somit, zumindest wenn die deutsche Mannschaft gewinnen würde, sowieso nicht in Ruhe hätte schlafen können, war ein Besuch in der „WM-freien Zone“ doch nur sinnvoll.
Früher, vor meiner Zeit in Meck-Pomm, war „Carrickfergus “, meine Stammkneipe gewesen. Als ich aus Lübeck weggezogen war, verlor es sich damit, bis ich wieder Ende 1999 nach Lübeck zurückkam. Damals fing ich erneut an mich dort wohlzufühlen, zumindest bis das, kurz, nachdem ich wieder in Lübeck und im „Carrickfergus“ heimisch geworden war, mit Carola passierte. Carola war damals neu in der Kneipe, zumindest kannte ich sie nicht von früher. Lange Haare und na ja, irgendwie nett. Sie bediente dort, wenn der Wirt selbst keine Lust hatte hinter dem Tresen zu stehen. Man plauderte, dazu ist eine Kneipe schließlich da, am Tresen locker miteinander, und lernte sich so flüchtig kennen.
Irgendwann damals, es war gerade Frühling im Jahr 2000, hatte ich von Carola dann eine E-Mail bekommen. Die E-Mail ging nicht direkt an mich, da ich damals privat keine E-Mail-Adresse besaß, sondern an die E-Mail-Adresse meiner Firma. Carola wollte mich näher kennenlernen.
Damals waren E-Mails noch ungewöhnlich. Von Kunden bekam ich vielleicht ein oder zwei Mails die Woche. Aber Sex-Mails kamen, damals gab es noch keine Spamfilter, zwanzig bis dreißig Stück jeden Tag. Es waren die plumpsten Anmach-Mails dabei, um einen auf irgendwelche kostenpflichtige Seiten zu lotsen, die bei mir des Öfteren die Frage aufkommen ließ, was würde passieren, wenn so eine E-Mail, an irgendeinen Ehemann adressiert, zufällig von dessen Frau geöffnet und gelesen werden würde? „Hallo Liebster, endlich sind die Nacktfotos fertig, die du von mir unbedingt haben wolltest, klicke hier, und du kannst mich in meiner ganzen, von dir so geliebten Schönheit bewundern.“
Da kommt der Ehemann nichts ahnend nach Hause, schließt die Wohnungstür auf, bekommt, ehe er sich versieht, die gute alte gusseiserne Bratpfanne links und rechts um die Ohren geknallt, ohne dass er überhaupt weiß, was los ist. Und nachdem er sich, geschlagen am Boden kriechend, ins Wohnzimmer gerettet hat, sieht er dort bereits den Scheidungsanwalt seiner Ehefrau auf dem Sofa sitzen.
Ich hatte keine Lust mich mit so einem Mist zu beschäftigen, und hatte daher meiner damaligen Sekretärin die Anweisung gegeben, die Anmach-Mails auszusortieren und mir nur die relevanten E-Mails unserer Kunden vorzulegen. Die Sex-Mails sollte sie einfach löschen. So bekam ich die E-Mail von Carola, da meine Sekretärin diese als „Anmach-Mail“, auch wenn es dabei keinen Link zu irgendwelchen Nacktfotos gab, in den Papierkorb schob, damals nicht zu Gesicht.
Eine Äußerung meinerseits am folgenden Wochenende an eine Freundin von Carola, die nichts mit der E-Mail zu tun hatte, sondern mit einem angetrunkenen Pärchen, das mich direkt davor in einer anderen Kneipe genervt hatte, wurde von dieser Freundin, die von der E-Mail an mich wusste, falsch verstanden, und mit der Vermutung, dass meine Bemerkung sich auf die E-Mail von Carola bezog, dieser kurzfristig brühwarm unterbreitet.
Daraufhin bekam ich ein paar Tage später, abermals an meine Firmenadresse, eine wütende, ja geradezu beleidigende E-Mail von Carola. Meiner Sekretärin hatte ich in der Zwischenzeit, mangels Geldmasse kündigen müssen, sodass ich alle Mails nun selbst lesen musste. Und so bekam ich diese E-Mail von Carola, im Unterschied zur Ersten, zu lesen.
Es stand dort irgendetwas von: „Kannst du dich nicht wie ein Erwachsener benehmen. Du bis doch kein kleines Kind mehr. Wenn du mich nicht näher kennenlernen willst, kannst du mir das doch direkt sagen, und nicht hinten herum eine dumme Bemerkung über mich machen. Ich hab ja wohl ein Recht auf eine ehrliche Aussprache, wenn ich dir eine Mail schicke, und dir dabei mein Herz öffne.“
Wow. Was war das denn? Ich verstand die Welt nicht. Was wollte die Frau von mir? Was habe ich getan? Von welcher Mail schrieb sie hier?
Ich hatte keine Ahnung.
Auch ich hatte mich damals etwas in Carola verliebt, hatte das Gefühl aber wegen Problemen in der Firma beiseite geschoben. Kunden eierten mal wieder mit der Zahlung herum, sodass ich für beziehungstechnische Dinge nicht den Kopf frei hatte. Und nun schickte Carola mir auch noch eine E-Mail, die ich überhaupt nicht einordnen konnte. Eine Liebeserklärung war die Mail auf jeden Fall nicht, und mir war auch nicht bewusst, dass sie mir gegenüber ihr Herz geöffnet hatte, und ich ihr im Gegenzug, irgendwie und irgendetwas vor den Kopf geworfen habe, was beleidigend gewesen wäre.
Ein paar Tage später, es war noch in der gleichen Woche, ohne dass ich zwischenzeitlich Carola im „Carrickfergus “ getroffen hatte, räumte ich den E-Mail-Papierkorb, den meine ehemalige Sekretärin mir in dem Computer voll hinterlassen hatte, auf. Da fand ich die erste Mail von Carola, und verstand. Sie hatte in der Mail, wie schon erwähnt, geschrieben, dass sie mich näher kennenlernen möchte. Sie hatte das letzte Gespräch in der Kneipe zwischen uns, angeblich sollte ich in dem Gespräch von meinen blühenden Apfelbäumen, die auf meinem Grundstück in Meck-Pomm, das noch nicht verkauft war, standen, geschwärmt haben, was sie wohl toll gefunden hat, sehr genossen. Und sie wollte mich daher nun auch außerhalb ihrer Kneipendienstzeit näher kennenlernen.
An das Gespräch über meine Apfelbäume konnte ich mich wirklich nicht mehr erinnern. Das war wohl etwas später an einem Abend, nach mehreren Guinness gewesen, sodass die Erinnerung darüber gleich weggespült worden war.
Aber wieso knallte sie mir mit der zweiten Mail gleich so wilde Beleidigungen um die Ohren? Auch wenn ich wirklich nicht wusste, was ich falsch gemacht haben soll, sollte zumindest sie, wenn sie doch anscheinend Wert darauf legte, dass man sich ihr gegenüber ehrlich, aufrichtig, und vor allem erwachsen benahm, wenigstens mit gutem Beispiel vorangehen. Nach irgendwelchen Beschuldigungen von anderen Leuten, ohne mir die Möglichkeit zu geben, mich zu verteidigen und Stellung dazu zu nehmen, mich so in einer E-Mail herunterzuputzen, zeugte selbst nicht gerade von einem ausreichenden Maß an „erwachsen sein“, wie ich es mir zumindest, und anscheinend ja auch sie, vorstellte.
Ich schickte ihr als Antwort eine Mail, entschuldigte mich darin für das Missverständnis und erklärte ihr, warum ich die erste E-Mail von ihr erst jetzt gelesen habe. Ich schrieb allerdings auch, dass ihre Verurteilung, ohne mich zu fragen, was das denn nun alles sollte, auch nicht gerade von einem Benehmen einer Erwachsenen zeugte, und man sollte doch nicht unbedingt mit Steinen werfen, wenn man anscheinend selbst im Glashaus sitzt. Erst recht nicht, wenn man seine Informationen nur aus zweiter Hand erhalten hat.
Carola reagierte nicht auf die Mail. Nun, dann eben nicht. Ich konnte ja nun wirklich nichts dafür, dass ich die erste E-Mail nicht, bzw. erst Tage später gelesen hatte. Wer schickt auch eine Liebesmail an eine Firmenadresse, bei der man nicht einmal weiß, wer die E-Mail alles liest, bevor die richtige Person, wenn denn überhaupt, sie erhält.
Irgendwie war ich davon überzeugt, dass es wohl ganz gut war, dass wir nicht zusammengekommen waren. Wer so beleidigend reagiert, ohne sich zu erkundigen, ob die dazugehörige Nachricht überhaupt angekommen war, wer einem nicht einmal die Chance für eine Stellungnahme gibt, war nichts für meine, sowieso schon gestressten Nerven. Mit so etwas versuchen eine Beziehung aufzubauen? – Nein danke! Somit hatte sich mein „etwas verliebt sein“ auch erledigt.
Als ich das nächste Mal in der Kneipe war, bediente Carola nicht. Somit konnte ich ihr meine Meinung nicht noch einmal persönlich an den Kopf werfen. Ich wechselte die Kneipe, verbrachte meine freien Abende im „Zolln“, in dem ich auch schon viele Abende meines Lebens verbracht hatte, und in dem jetzt im Sommer, im Gegensatz zum „Carrickfergus“, sogar noch der Vorteil vorherrschte, dass man draußen auf dem Fußweg sitzen oder stehen konnte. Nicht dass ich damals Angst hatte, Carola zu treffen, aber wenn man über sechs Tage in der Woche arbeitet, will man in der Kneipe in Ruhe sein Bier trinken, und nicht noch keifend angemacht werden. Eine Kneipe, in der man sich mit dem Wirt, bzw. der Bedienung gegenseitig angiftet, verliert die Funktion, die sie ausüben soll. Um mich zu streiten, hatte ich damals bereits meine Kunden gehabt. Da wollte ich nicht für so etwas auch noch in einer Kneipe Geld hinlegen müssen.
So vergingen, Carola war quasi „Geschichte“, die Jahre, bis zur Fußball-WM 2006.
Ich fragte mich, auf meiner Flucht vor dem Achtelfinale fiel mir die Sache mit Carola wieder ein, ob sie immer noch im „Carrickfergus“ bedienen würde. Ich ließ mich überraschen, stellte aber bei meiner Ankunft fest, dass nicht Carola, sondern Horst selbst hinter dem Tresen stand. So richtig wusste ich nicht, ob ich darüber enttäuscht sein sollte, oder, nach den früheren Geschehnissen, doch eher erleichtert. Ich fragte nicht nach Carola, genoss die altbekannte ruhige Atmosphäre der Kneipe, ging an den folgenden Abenden, während der nächsten WM Spiele, auch dort hin, und gewohnte mich langsam wieder an diese Kneipe.
Es war der vorletzte Freitag im Juli. Die WM war vorbei. Deutschland hatte sich, wenn es auch letztendlich nicht für den Titel gereicht hat, wacker geschlagen, und das normale Leben kehrte, wenn man einmal von den immer noch mediterranen Wetterverhältnissen absah, wieder in den Kneipen ein. An diesem Abend wollte ich eigentlich gar nicht ins „Carrickfergus“. Aber bei genauer Kontrolle meines Fernsehers musste ich feststellen, dass die Programme an dem Abend alle direkt an das Klo angeschlossen waren. Es gab nur Mist. Also schaute ich ins Portemonnaie und entschied, dass es für zwei Bier reichen würde.
Im „Carrickfergus“ angekommen musste ich kurz schlucken, als ich völlig unerwartet Carola an einem der Tische sitzen sah. Ich ließ mir aber nichts anmerken, nahm einen alten Spiegel aus einem Regal, setzte mich an den Tresen und blätterte in dem Nachrichtenmagazin, um nachzulesen, was vor einigen Monaten in der Welt so alles passiert war. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie Horst, während er die Biere zapfte, Carola zurechtstutzte, weil er, seit er sie vor Jahren kennengelernt hatte, des Öfteren miterleben musste, dass sie, ohne irgendwelche Rücksichten zu nehmen, reihenweise Männerherzen brechen würde, und nie eine ernste Beziehung eingegangen war. Ich wusste nicht, wie es zu dieser Auseinandersetzung gekommen war, hielt mich da raus, lauschte aber neugierig mit halbem Ohr weiter, während ich weiter in dem „Spiegel“ blätterte. Mir entging nicht, dass die Auseinandersetzung mit der Zeit ziemlich heftig wurde, und sogar das normale Stimmengewirr der Kneipe übertönte. Horst, ereiferte sich richtig, dass Carola angeblich sehr egoistisch mit Männern umging, diese ständig wechselte, öfters als andere ihre Unterhosen, Gefühle vorspielte, die anscheinend nicht wirklich vorhanden waren, und dass Carola sich wohl auch bei dem Abschütteln ihrer Liebhaber, relativ unmöglich, sprich herzlos benahm.
Von Carola, die mit Peter, der als Stammgast dieser Kneipe quasi schon seit vielen Jahren zum Inventar gehörte, am Tisch neben der Eingangstür saß, kam kaum eine Entgegnung. Nur einmal konnte ich deutlich: „Bis jetzt hat es eben nie den Richtigen gegeben“, verstehen. Ansonsten waren ihre Entgegnungen inzwischen wieder so leise, wie eingeschüchtert, dass sie fast im Kneipenlärm untergingen.
Irgendwann stellte sich Carola, Peter war inzwischen gegangen, seitlich an den Kneipentresen, und quatschte mit irgendwelchen Leuten über irgendwelche Themen, die nichts mit ihren Männergeschichten zu tun hatten. Ich hatte währenddessen zwei Bier getrunken, damit mein finanzielles Limit erreicht, und wollte zahlen. Ich erhob mich von meinem Barhocker, legte den „Spiegel“ in das Regal über der Heizung, und gab dem Wirt, mit dem Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, das entsprechende „will zahlen“ Zeichen, und stellte mich, ohne Carola bewusst zur registrieren, neben ihr an den Tresen, damit der Wirt mein Geld entgegen nehmen konnte.
„Kommst du auch morgen zu Peters Geburtstagsfeier“, kam es da von der Seite. Erst als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass es Carola war, die mich angesprochen hatte.
„Nein, wieso, hat er Geburtstag?“
Mit Sicherheit machte ich ein ziemlich dummes Gesicht bei meiner Antwort. Weniger wegen Peters Geburtstag, sondern weil Carola mich angesprochen hatte.
„Ja, und er würde sich sicher freuen, wenn du kommst.“
Peter und ich hatten früher viel zusammen gemacht. Wandern in Schweden, Billard spielen, und in den verschiedensten Kneipen für das Auskommen der Wirte mit beigetragen. Aber das war schon einige Jahre her.
„Weiß nicht.“
„Stell dich nicht so an. Los komm. Er würde sich sicher freuen.“
Ich muss zugeben, dass ich überrumpelt war. Sie tat so, als ob wir bei unserem letzten Treffen, das ja nur per E-Mail stattgefunden hatte, nicht im Bösen auseinander gegangen waren. Ich wollte nicht zu der Geburtstagsfeier. Ich hatte schon lange keinen Kontakt mehr mit Peter, und eigentlich wollte ich auch keinen Kontakt mit Carola. Mir fiel wieder der Inhalt ihrer E-Mail ein, in der sich mich in einer Art und Weise beleidigt hatte, wie es mir selten untergekommen war.
„Nein ich werde nicht kommen.“
Ich zahlte, steckte das Portemonnaie wieder ein, und wollte gehen.
„Wie wäre es, wenn wir uns morgen mal treffen?“
„Wieso das? Ich denke du feierst morgen Peters Geburtstag.“
„Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen, und wir können uns doch vor der Feier treffen“, kam es von ihr lächelnd.
Wieso lächelte sie? Das Letzte, was sie mir vor Jahren an den Kopf geworfen hatte, waren ziemlich deftige Beleidigungen gewesen.
Ich war wirklich nicht begeistert, aber ich willigte, warum auch immer, ein. Die Geburtstagsfeier sollte gegen 16:00 Uhr losgehen. Wir verabredeten uns für 14:00 Uhr im „Sachers“, einem Kneipencafé, das direkt am Elbe-Lübeck-Kanal seinen Sitz hat, und wo man direkt am Wasser, draußen im Freien auf einer Terrasse sitzend, den Binnenschiffen und den Ruderern des Ruderklubs, der am gegenüberliegenden Ufer seinen Platz hat, zuschauen konnte, während man aß und trank.
An nächsten Morgen, als ich in meinem Bett aufwachte, war ich auf mich selbst sauer. Wieso hatte ich dem Treffen zugestimmt? Das war doch absoluter Käse. Eine Zeit lang war ich unschlüssig, aber entschied mich dann trotzdem, zum vereinbarten Zeitpunkt im „Sachers“ aufzutauchen. Carola musste ja sowieso zur Geburtstagsfeier von Peter, somit war die Zeit, die das Treffen dauern konnte, ja durchaus überschaubar.
Warum tat ich das? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht weil ich, trotz ihrer bösen Mail sechs Jahren vorher, ein Kribbeln im Bauch spürte. Man konnte eigentlich nicht einmal sagen, dass Carola im klassischen Sinn wirklich schön war. Aber sie hatte etwas an sich, dass mich schon vor sechs Jahren fasziniert hatte und, trotz ihres komischen Verhaltens damals, gleich wieder dieselben Gefühle, wie damals weckte, die ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gespürt hatte.
Vielleicht wollte ich außerdem auch nicht, dass Carola sich bei einigen Leuten beschweren würde, dass ich ein Date, ohne Begründung einfach platzen ließ, und ich in den folgenden Wochen im „Carrickfergus“ Rede und Antwort hätte stehen müssen, warum ich mich nicht wie ein „Erwachsener“ verhalten habe.
Aber im Grunde war es egal, warum ich hinging. Ich ging hin. Das war das Entscheidende.
Um vierzehn Uhr trudelte ich, zugegebener Maßen etwas nervös, bei Sachers ein. Carola saß bereits mit einer weiteren, mir unbekannten Frau auf der Terrasse. Beide hatten ein Glas Dunkelbier vor sich auf dem Tisch stehen.
„Wow“, dachte ich still bei mir. Erst vierzehn Uhr, eine Geburtstagsfeier noch vor sich, subtropische Temperatur, die einem auf den Kopf drückte, und dann schon Starkbier. Keine Ahnung, ob Carola meinen kritischen Blick gemerkt hatte, aber als ich mich mit einem „Hallo“ gesetzt hatte, und die unbekannte Frau, nachdem sie ihr Glas mit einem Zug ausgetrunken hatte, gegangen war, kam von Carola gleich, mit einem Kopfnicken auf das Glas weisend: „Ich musste mir ein bisschen Mut antrinken.“
„Wieso denn das?“
„Nur so.“
Nur so - hmm. Ein komischer Grund sich Mut an zu trinken, dachte ich mir im Stillen.
Später, viele Monate später grübelte ich darüber nach, worüber wir uns in den zwei Stunden unterhalten haben, bis sie von Freunden abgeholt wurde, um zur Geburtstagsfeier zu fahren. Mir fiel es nicht mehr ein. Sicher, Carola versuchte mich noch einmal zu überreden, doch noch zur Geburtstagsfeier mitzukommen. Schließlich waren Peter und ich lange Zeit dicke Freunde gewesen, und er hatte wohl auch am Abend zuvor gegenüber Carola so etwas angedeutet, dass er sich über meinen Besuch freuen würde. Mag sein, dass wir uns auch noch über das „Mutantrinken“ unterhielten. Carola hatte auch kurz erzählt, dass sie jetzt in Hannover wohnt, und nur wegen Peters Geburtstag, über das Wochenende nach Lübeck gekommen sei. Aber diese Themen waren spätestens in fünfzehn Minuten abgehakt. Trotz alledem waren auf einmal zwei Stunden vorbei, und Carola wurde von den Freunden, unter anderem auch von Carmen und Hans, bei denen sie an diesem Wochenende übernachtete, zur Geburtstagsfeier abgeholt. Und ich hatte irgendwie, obwohl es ein harmonisches Treffen gewesen war, das Gefühl, dass Carola immer noch nicht das gesagt hatte, was sie mir eigentlich hätte sagen wollen, und warum sie sich mit mir hier im „Sachers“ verabredet hatte. Was auch immer es gewesen sein mochte, es war etwas, wozu man bei brüllender Hitze, um sich Mut an zu trinken, schon um vierzehn Uhr Starkbier braucht.
„Darf ich dich morgen früh zum Frühstück einladen“, kam es noch, mit einem auffordernden und gleichzeitig zweifelnd fragenden Blick, als sie bereits vom Stuhl aufgestanden war, um zum Wagen ihrer wartenden Freunde zu gehen. „Zehn Uhr, wieder hier, gleicher Ort?“
Ich nickte. „Jo, das geht klar.“ Obwohl mir eigentlich nicht klar war, was eigentlich klar geht. Was wollte sie?
Sechs Jahre vorher waren wir, bevor wir uns überhaupt näher kennenlernen konnten, schon im E-Mail-Streit auseinandergegangen. Die Beendigung einer Beziehung wurde damals sozusagen dem Beginn vorangestellt, was, so wie die Beendigung damals abgelaufen war, wohl auch viel Ärger erspart hat. Danach waren wir uns nie wieder begegnet. Jetzt kam sie, nur für ein kurzes Wochenende, wegen einer Geburtstagsfeier nach Lübeck, wollte die Gelegenheit gleich nutzen, um alte Bekannte zu treffen, und verabredete sich dann mit mir zuerst für den Samstagnachmittag, und da das ihr anscheinend nicht genug war, gleich noch für den nächsten Morgen, statt, den doch nur sehr begrenzten Zeitraum, der ihr hier in Lübeck zu Verfügung stand, mit ihren Freunden, wozu ich nun einmal eindeutig nicht zählte, zu verbringen.
Egal. Ich hatte zugesagt, und ein Frühstück im Freien, von jemand anderem bezahlt, war nicht zu verachten. Und auch wenn ich Monate später nicht mehr wusste, was wir uns an dem Nachmittag alles erzählt haben, waren die zwei Stunden, ohne dass Langeweile aufgetaucht war, ja nun wirklich schnell vorbei gegangen. Ich ging nach Hause, nahm „Den vilden svensken“, einen Roman auf Schwedisch von Ernst Brunner, eine Flasche Multi-Vitamin-Saft, ich hatte bereits im „Sachers“ nur ein Spezi getrunken, da ich irgendwie nicht das Gefühl gehabt hatte mir Mut antrinken zu müssen, und setzte mich an den Kanal unter den Schatten eines Baumes. Ernst Brunner, mit seinen verschachtelten Sätzen, machte mir das Lesen auf Schwedisch wirklich nicht leicht, sodass ich mir über Carola schon bald keine Gedanken mehr machte.
Am nächsten Morgen traf ich pünktlich mit leerem Magen, ausgenommen einem Becher Kaffee, wieder auf der Terrasse vom „Sachers“ ein. Carola saß schon, allerdings ohne Starkbier, sondern diesmal der Tageszeit angepasst, mit einem Becher Kaffee, am gleichen Platz wie gestern.
Auch von diesem Gespräch weiß ich, viele Monate später, keine Einzelheiten mehr. Carola erzählte wohl, dass sie in Hannover dabei war, mit einer Freundin zusammen eine Praxis für Physiotherapie aufzumachen. In den nächsten Tagen sollte sich klären, ob sie die entsprechenden Räume anmieten konnten. Ich erzählte wohl von meiner Firmenpleite und davon, dass nächste Woche ein großes Event von der ARGE sein sollte, bei dem man sich mit vielen potenziellen Arbeitgebern treffen konnte, und man sich dort an einem Sonderstand der ARGE, auch für Bewerbungen ins Ausland erkundigen konnte. Ich wollte versuchen in Schweden, bei irgendeiner Firma, die für ihre deutschen Kunden einen Ansprechpartner mit Deutschkenntnissen suchte, einen Job zu bekommen. Angeblich sollten die Möglichkeiten für so einen Job in Schweden nicht schlecht sein, und da meine Deutschkenntnisse, was für Geschäftsverbindungen von Schweden nach Deutschland ja wichtig war, doch ganz ordentlich waren, sah ich da doch eine große Zukunftschance für mich. Mit meinem Schwedisch war es zwar nicht so toll, aber da ich regelmäßig schwedische Bücher las, und Lern-CDs mir anhörte, entwickelte sich auch das so langsam. Und ich war davon überzeugt, dass, sollte ich erst einmal in Schweden arbeiten und wohnen, die Routine in die schwedische Sprache schnell kommen würde.
Ansonsten? Keine Ahnung mehr worüber wir redeten, aber es war auf jeden Fall nicht langweilig. Kein Herumgestotter, kein verzweifelter Blick auf die Uhr, wann denn die Anstandszeit vorbei wäre, und man sich, ohne einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, verabschieden konnte.
Als das Frühstück verputzt war, schaute Carola mich herausfordernd an: „Hast du Lust an den Strand zu fahren, dort spazieren zu gehen?“
„Klar warum nicht.“
So klar war es eigentlich nicht, aber bei dem Wetter sich einmal wieder eine frische Meeresbrise durch die Haare wehen zu lassen, das klang nicht schlecht. Auch hatte ich die Ostsee, obwohl Lübeck nur ein paar Kilometer von ihr entfernt lag, lange nicht mehr gesehen. Und bis zu diesem Zeitpunkt war das Frühstück ja nun wirklich sehr harmonisch gelaufen.
Wobei in mir abermals die Frage auftauchte, warum Carola, nachdem sie in Lübeck eingetroffen war, am Freitagabend nur kurz in der Kneipe mit Peter zusammen gesessen hat, nur kurz den Samstagmorgen bei Carmen und Hans, viel mehr als gemütlich gemeinsam frühstücken konnte es eigentlich nicht gewesen sein, verbracht hatte, bevor sie sich mit mir am Nachmittag, vor der Geburtstagsfeier, getroffen hat, nun den Sonntagnachmittag, nachdem sie ja schon den Vormittag mit mir verbracht hat, auch noch mit mir verbringen wollte. Und sie somit ihre ganzen, seit Monaten nicht gesehenen Bekannten und Freunde, regelrecht versetzte.
Und auch wenn Carla bei unserem gemeinsamen Frühstück kein Starkbier getrunken hatte, um nicht nervös zu sein, hatte ich immer noch das Gefühl, dass sie mir nicht alles gesagt hatte, was sie eigentlich hätte sagen wollen.
Auf der Fahrt zum Strand dachte ich wieder über das Geschehnis von vor sechs Jahren nach. Damals hatte sie etwas von mir gewollt. Anstatt aber in der Kneipe, in der sie damals bediente, und ich regelmäßig Gast gewesen war, mich einfach anzusprechen, oder, sollte ihr die Kneipe zu öffentlich gewesen sein, mich zu Hause per Telefon anzurufen, hatte sie eine E-Mail an meine Firma geschickt. Ohne zu wissen, ob ich alleine im Büro sitze und die E-Mails selbst öffnen würde, oder, wie es ja dann auch geschehen war, meine Sekretärin die Mails sortierte. Carola hatte eine angedeutete Liebeserklärung an eine E-Mail-Adresse geschickt, ohne zu wissen, welche Person diese lesen würde.
Ein paar Wochen später, als wir ein Paar waren und über das Thema redeten, beichtete sie mir, dass sie damals sogar die Hilfe eines Freundes benötigt hatte, damit sie überhaupt die E-Mail-Adresse meiner Firma heraus bekommen konnte. Sie hatte sich damals richtig Mühe gegeben, um mir, oder genauer gesagt meiner Firma, etwas per E-Mail zu schicken, was man viel einfacher per Telefon, ich stand immerhin im Telefonbuch, oder wenn es romantischer sein sollte, als Brief, in dem Telefonbuch stand auch meine Wohnadresse, in den Briefkasten hätte werfen können.
Das war vor sechs Jahren gewesen. Was wollte sie jetzt, ging es mir durch den Kopf, als wir, nachdem wir in verschiedenen Nebenstraßen, Carola wusste nicht mehr, in welcher sie ihren Wagen geparkt hatte, ihr Auto gesucht hatten, Richtung Strand fuhren.
Carola hatte was, keine Frage. Sie hatte etwas, was sie wahnsinnig anziehend machte. Obwohl ich nicht einmal genau sagen konnte, was es war. Aber da war auch etwas, was sie mir jetzt verheimlichte. Ich war nie ihr Freund gewesen, zählte in ihrem Bekanntenkreis, wenn überhaupt nur unter „ferner liefen“, und das auch eher als „Persona non grata“, und nun verbrachte sie den größten Teil ihres Wochenendes in Lübeck, dem Ersten seit mehreren Wochen, wenn man einmal von ihrem Pflichtprogramm der Geburtstagsfeier und dem Samstagvormittag bei ihren Übernachtungswirten absieht, mit mir. Was war mit den ganzen anderen Leuten, die sie auch schon seit Wochen nicht mehr gesehen hat, und die, entgegen meiner Wenigkeit, zu ihrem Freundeskreis zählten?
Später, als wir zusammen waren, erzählte sie mir, wie nervös sie wirklich an diesem Samstagnachmittag gewesen war. Und dass das Starkbier kein bisschen genutzt hatte, um die Nervosität etwas einzudämmen. Während der Geburtstagsfeier, die in einer Kleingartenanlage gefeiert wurde, war sie die meiste Zeit, während die anderen saßen und quatschten, mit Peters Gießkanne verträumt durch die Beete gegangen, um diese in Ruhe zu gießen - und an mich denken. Und das auch mit einem nervösen Beigeschmack, wegen des Frühstückstreffens, das sie mit mir für den folgenden Tag vereinbart hatte.
Und nun war genau dieses Frühstück vorbei, wir fuhren an den Strand, und ich grübelte darüber, was das alles hier sollte.
– Eine Bemerkung über das heiße Wetter, damit ich nicht den Anschein erwecken würde, dass ich grüble, dann wieder irgendein Gespräch, an das ich mich heute nicht mehr erinnere, und schon waren wir am Strand.
Eine Ecke der Lübecker Bucht auf der Seite von Meck-Pomm, die ich nicht kannte, da sie früher mit Stacheldraht vom Westen abgeschnitten gewesen war.
Wir bekamen, auch wenn in dem Ort alle Bauern gegen Entgelt ihre Höfe als Parkplatz umfunktioniert hatten, nur mit Müh und Not einen Stellplatz für den Wagen, gingen das kurze Stück zum Strand, und dort barfuß durch den Sand und durch das Wasser. Irgendwann setzten wir uns irgendwo in die Dünen. Carola rauchte eine Zigarette und erzählte, dass sie die frische Meeresluft in Hannover vermisst. Gerade während dieses heißen Sommers stand die Luft dort in den Straßen. Hier am Meer wehte wenigstens eine leichte Brise, die selbst dieses Mittelmeerklima erträglich machte. Ich weiß noch, dass aus der Travemündung eine Fähre Richtung Schweden herausfuhr, und ich Carola erzählte, dass ich diesen Sommer mit meinem letzten Geld nach Schweden reisen wollte. Mit dem Zug hoch bis Abisko und von dort mit Zelt und Rucksack ins schwedische Fjäll. Ich erzählte, dass ich das dringend brauchte. Wandern ist, wie „Gehirn aufräumen“. Man wandert mit dem ganzen Müll, der sich mit der Zeit, eigentlich seit der letzten Wanderung vor mehreren Jahren, im Kopf angesammelt hat, dort durcheinander herumliegt, und lässt beim Wandern die Gedanken einfach schweifen. Es ist immer wieder faszinierend, auf welche Wege sich die Gedanken machen, wenn man sie einfach treiben lässt. Ist die Wanderung beendet, ist der ganze Müll sauber in Schubladen eingeräumt. Carola musste lachen. Wir schauten beide, jeder in seinen eigenen Gedanken vertieft, der Fähre nach.
Irgendwann stand Carola auf, zog sich aus und ging baden. Ich blieb am Strand bei den Sachen sitzen und schaute ihr gedankenverloren nach, bis sie wieder aus dem Wasser kam. Ein Handtuch brauchte sie nicht. Bei der Sommerhitze war sie schon fast wieder trocken, als sie bei mir ankam.
Worüber redeten wir sonst noch dort am Strand? Ich weiß es heute nicht mehr. Aber es war, ohne irgendwelche Einschränkung, ein toller Tag gewesen.
Irgendwann musste Carola zurück nach Lübeck, da sie Peter versprochen hatte, Stühle, die er sich für seine Geburtstagsfeier bei irgendjemandem aus Bad Schwartau, einem Ort nördlich von Lübeck, ausgeliehen hatte, wieder dorthin zurückzubringen. Wir bummelten also zurück zum Auto und fuhren wieder nach Lübeck.
Wieder in Lübeck eingetroffen setzte Carola mich in der Nähe meiner Wohnung ab. Ich wollte gerade die Beifahrertür zuschlagen, und lauerte nur noch auf ein „tschüss, dann mach es mal gut, viel Spaß in Schweden, ich kann mich ja mal melden, wenn ich wieder in Lübeck bin“, da kam: „Wollen wir uns nachher noch treffen, wenn ich die Stühle für Peter wegtransportiert habe?“
Wow – Carola hatte auf der Rückfahrt vom Strand erzählt, dass sie morgen ganz früh, fast noch in der Nacht, wieder nach Hannover fahren musste. Und nachdem sie nun schon bereits die meiste Zeit ihres Lübeckaufenthaltes nur mit mir verbracht hat, wollte sie sogar noch, nachdem ihr Versprechen an Peter eingelöst war, den Abend mit mir verbringen.
Ich sagte zu und zeigte kurz auf das Haus, in dem ich wohnte. Sie wollte gegen 20:00 Uhr bei mir klingeln.
Ich ging nach Hause und schaute dort übers Internet schwedische Nachrichten, da ich mit der Sprache vertraut werden wollte. Wie ich in den Nachrichten erfuhr, stöhnten auch die Schweden über die Hitze.
Um 21:00 Uhr, im Stillen hatte ich nicht mehr damit gerechnet, klingelte es an der Tür. Ich öffnete durch den Summer, hörte durch das Treppenhaus, wie die Haustür unten aufgeschlagen wurde, und lehnte mich gegen den Wohnungstürrahmen, während ich hörte, wie jemand die Treppenstufen hochstieg.
Es war wie erwartet Carola, die leicht pustend die Treppe hochkam. Nach dem Strandspaziergang und dem Stühletragen schien sie etwas geschafft zu sein.
Ich sagte irgendwas wie „Hallo“ und trat beiseite, sodass sie in die Wohnung konnte.
„Hast du was zu trinken“, kam es zurück. Ich hob ein Paket Multivitaminsaft Flaschen hoch. Carola nickte zustimmend.
„Was nun“, fragte ich, immer noch verwundert, dass sie auch den Abend mit mir verbringen wollte.
„Wollen wir uns auf einen von den Schiffsanlegern am Kanal setzen?“
Ich hatte nichts dagegen. Bei mir in der Wohnung waren es nur wenig unter 30°C, und auch wenn alle Fenster aufgerissen waren, stand die Luft. Da war es schön, noch einmal nach draußen zu kommen.
Am Kanal angekommen, setzten uns auf einen der Schiffsanleger, die auf den Kanal hinausragten, und an denen oft Binnenschiffe anlegten, um dort die Nacht zu verbringen. Unser Anleger war frei, ohne Schiff und ohne menschliche Konkurrenz, sodass wir uns ganz am Kopfende des Anlegers hinsetzen konnten.
Auch von diesem Gespräch weiß ich nur noch wenig. Ich weiß nur noch, dass es eine tolle Nacht war. Wir verstanden uns toll. Wir plauderten völlig locker, ohne dass irgendetwas Erzwungenes dabei war. Es waren immer noch gute 25°C draußen, wenn nicht sogar noch mehr. Eine friedliche Sommernacht. Ich fühlte mich in der Gesellschaft von Carola sauwohl, und ehe ich mich versah, war es ein Uhr morgens und es wurde für Carola Zeit zu gehen. Carmen und Hans waren sowieso schon auf sie sauer, weil der Abend eigentlich mit ihnen verplant gewesen war. Nun blieb denen am nächsten Morgen, bis dahin konnte Carola nur noch wenige Stunden schlafen, ein kurzer gemeinsamer Kaffee, an einem sehr frühen Frühstückstisch, bevor sie wieder nach Hannover fahren würde.
Carola gab mir noch ihre E-Mail-Adresse. Ich sollte ihr etwas Nettes auf Schwedisch schreiben. Sie sagte, dass sie ein Wörterbuch Deutsch/Schwedisch zu Hause hätte, und sich freuen würde, es mal benutzten zu können.
Dann gaben wir uns zum Abschied die Hand. Kühl, fast als wären wir Geschäftspartner, die sich, nach einem Meeting mit erfolgreichem Geschäftsabschluss, verabschiedeten.
Auf dem kurzen Weg nach Hause fragte ich mich, ob ich hätte versuchen sollen, ihr einen Kuss aufzudrücken. Vielleicht nicht gleich auf den Mund, aber zumindest auf die Wange angedeutet. Der kühle Händedruck hatte so etwas Formelles gehabt, das hatte irgendwie den Schluss dieses tollen Abends, bzw. dieser Nacht, ziemlich blöd beendet.
Jetzt war es zu spät. Und was soll´s. Wenn sie wirklich in ein paar Wochen wieder nach Lübeck kommen würde, wohnte ich vielleicht schon in Schweden, oder bereitete gerade den Umzug vor. Und überhaupt, auch wenn wir uns toll unterhalten hatten, hatte Carola mir, da war ich mir sicher, irgendetwas verschwiegen. Es blieb etwas Unausgesprochenes zurück. Ihr Verhalten war zu verschieden gewesen, im Vergleich zu dem E-Mail-Intermezzo, von vor sechs Jahre, über das wir uns weder auf dem Schiffsanleger noch am Strand oder beim Frühstück unterhalten hatten.
So ging der Montag, der Dienstag, und auch der Mittwoch ins Land. Am Mittwochnachmittag war mein Widerstand dann endgültig gebrochen. Also schrieb ich ihr auf Schwedisch die zugesagte E-Mail.
„Ich hoffe es hat alles geklappt und du konntest den Mietvertrag für deine Praxisräume unterschreiben. Liebe Grüße. Berthold.“
Absenden? Oder löschen? Ich zögerte, drückte dann aber doch auf Senden. Dann war es für einen Rückzieher zu spät. Die E-Mail war weg, unterwegs nach Hannover. Mal sehen, ob eine Antwort kommen würde.
An nächsten Tag war das geplante Event der ARGE, bei dem ich mich um Hilfe für eine Bewerbung in Schweden kümmern wollte. Ich führte dort, wie meine ARGE-Sachbearbeiterin es mir schon vorgeschlagen hatte, das Gespräch mit der Mitarbeiterin für das „Projekt Profil 300. Da meine Sachbearbeiterin mich bereits dafür empfohlen hatte, das war eine Voraussetzung, um dort überhaupt teilnehmen zu können, und ich einen hoch motivierten Eindruck machte, wurde ich auch angenommen. Das Konzept des Projektes war ganz einfach. Fördere den Kandidaten, so wie er es möchte, solange seine Wünsche in irgendeiner Form machbar sind und nicht ausfallend, und dann mal sehen, was herauskommt. Das Objekt ging bis Ende des Jahres. Losgehen sollte es in der zweiten Septemberhälfte. Somit konnte ich, noch bevor das Projekt praktisch begann, wie erhofft, meinen Schwedenurlaub planen und durchführen.
Was war aber mit Carola?
Nach dem ARGE-Event schaute ich abends in meinen E-Mail Posteingang. Es gab dort einiges. Von Viagra zum Schnäppchenpreis, über einen garantierten Gewinn eines Mittelklassenautos, bis kostenlose Reisegeschenke war alles vertreten. Aber keine E-Mail von Carola. Also war alles doch nicht so heiß, wie ich es eventuell gefühlt hatte. War sicher auch besser so, da immerhin Schweden wartete, und das nun sogar in doppelter Hinsicht. Und ihr mieses Verhalten, das sie vor sechs Jahren an den Tag gelegt hatte, erinnerte auch noch daran, dass es wohl besser war, die Finger von ihr zu lassen.
Von Freitag bis Montag hatte ich so viel Stress, dass ich gar nicht daran dachte, mein E-Mail-Konto durchzusehen. Ich hatte noch ausgeliehenes Geld zurück zu bekommen, und da ich nun einmal selbst knapp bei Kasse war, musste ich schnell hinter dem Geld her drängeln, was wie immer auf wenig Gegenliebe stieß. Man sollte wirklich niemals Geld verleihen, erst recht nicht, wenn man eigentlich selbst gar nichts hat. Wer weiß, wann man es zurückbekommen würde. Und ich brauchte die Knete nun einmal für meine Schwedenreise.
Erst am Montagnachmittag schaffte ich es, glücklich mit ein paar Scheinen mehr in meinem Portemonnaie, mir mein E-Mail-Konto anzuschauen, und war überrascht eine E-Mail von Carola, die sie bereits gestern geschrieben hatte, im Posteingang zu finden. Sie bedankte sich in der E-Mail für meine netten Zeilen und schrieb, dass sie am Montag um 22 Uhr vor meiner Tür stehen würde.
Montagabend. - - Das war heute.
Puh. Was war das jetzt? Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Ich hatte mit einer Antwort gerechnet, nach dem Motto, „danke, dass du mir eine E-Mail geschickt hast, habe mich gefreut, vielleicht sehen wir uns ja irgendwann“.
Aber nun wollte sie heute Abend hier bei mir aufschlagen.
Eine ganz kleine, leise Alarmglocke fing in meinem Kopf an zu klingeln. Nur leise, aber ich hörte sie.
Carola wohnte in Hannover. Wieso wollte sie heute Abend bei mir aufschlagen? Wieso wollte sie, wenn sie zufällig doch so kurzfristig erneut in Lübeck ist, mich nicht mit den vielen anderen, die sie ja nun am vorletzten Wochenende kaum gesehen hatte, und bei denen sie ja doch wohl einiges nachzuholen hat, in einer Kneipe treffen?
Und wenn sie sich nur mit mir treffen wollte, wo gedachte sie zu übernachten? Wieder bei Carmen und Hans, wie bereits vorletztes Wochenende, und die sie, durch ihre Treffen mit mir, sicher ziemlich verprellt hatte? Wollte sie sich abermals bei denen einquartieren, wenn sie ihre Zeit in Lübeck dann mit mir verbringen wollte? Wenn sie aber nicht nur mich sehen würde, und dann auch entsprechend bei anderen übernachtete, warum sollten wir beide uns bei mir treffen, und nicht im „alten Zolln“, im „Carrickfergus “, oder sonst wo?
Und wieso hatte sie nicht angerufen, um überhaupt zu fragen, ob ich Zeit habe, mich mit ihr zu treffen? Mich angerufen und nicht erreicht, hatte sie nicht, das hätte ich auf dem Telefondisplay gesehen.
Egal wie toll der Sonntag gewesen war, konnte die Frau doch nicht vergessen haben, was vor sechs Jahren passiert war. Und jetzt schickte sie wieder eine E-Mail, wo doch ein Anruf viel sinnvoller und kommunikativer gewesen wäre.
Nach dem Motto:
„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, ich bin am Wochenende wieder in Lübeck, wollen wir uns treffen?“
Oder:
„Hallo Berthold, danke für deine E-Mail, würde am Wochenende gerne zu dir kommen. Wollen wir was unternehmen? Müsste aber auch bei dir übernachten können.“
Aber anstatt zu telefonieren, einfach eine E-Mail, bei der man nicht einmal genug Zeit hat zu reagieren. Auch wenn Carola die E-Mail schon am Sonntag geschrieben hat, wusste sie doch nicht, wie oft ich in mein E-Mail Postfach schaue. Hatte Carola aus dem Desaster von vor sechs Jahren, das damals so heftig gewesen war, dass sie es nicht vergessen haben konnte, denn nichts gelernt?
Ein bisschen dämmerte mir der E-Mail Streit ins Gedächtnis, der sich vor sechs Jahren abgespielt hatte.
Damals hatte sie, obwohl ich persönlich und telefonisch erreichbar gewesen war, eine E-Mail an meine Firmenadresse geschrieben. Nun hatte sie, das war immerhin schon ein Fortschritt, an meine Privatadresse eine E-Mail geschickt. Aber sich per Mail selbst einzuladen, ohne zu wissen, ob man Zeit hat. Und wo will sie übernachten? Doch nicht etwa bei mir. Wir hatten uns, auch wenn der Sonntag wirklich toll gewesen war, nachts kühl mit einem Handschlag verabschiedet. Und überhaupt verabredet man sich doch nicht einfach so per E-Mail, sodass man nicht einmal rechtzeitig antworten kann, ob man überhaupt Zeit hat, und wie der Abend gestaltet werden soll. Zumindest tut man doch wohl so etwas nicht, wenn man sich im Grunde nicht kennt und keine Verbindung miteinander hat, wenn man einmal von dem E-Mail-Intermezzo von damals absah.
Will sie wirklich hier übernachten, ohne zu fragen, ob es mir passt? Was sollte ich tun? Anrufen? Ich hatte keine Telefonnummer. E-Mail? Wer weiß, ob sie die noch liest, bevor sie los fährt. Vielleicht ist sie ja sogar schon auf der Autobahn. Und selbst wenn sie die E-Mail rechtzeitig lesen würde, wann sollte sie dann antworten, um auf meine Absage, oder auf meine Frage, wie sie sich das Treffen vorstellt, wiederum per E-Mail zu reagieren? Immerhin war tolles Wetter. Ich wollte eigentlich nicht den ganzen Tag in der Bude hocken und auf einen Anruf von ihr warten.
Wollte sie mir die Möglichkeit nehmen, die Sache zu stornieren? Nach dem Motto: Hätte ich angerufen, hätte er vielleicht „nein“ gesagt. Wenn ich erst einmal vor der Tür stehe, wird er mich schon nicht rausschmeißen.
Ist das ihre Methode mit Situationen umzugehen, bei der man auf Zusagen von andern angewiesen ist? Einfach ein „Nein“ zu umgehen, in dem man gar nicht erst fragt, sondern einfach vollendete Tatsachen schafft?
Und auch nach dem Sonntagabend, bzw. der halben Nacht auf dem Schiffsanlegesteg, war immer noch nicht klar, wieso Carola am Samstagnachmittag so nervös gewesen war, dass sie um 14:00 Uhr schon ein Starkbier hatte trinken müssen, und wieso sie fast das ganze Wochenende mit mir zusammen verbracht hat, ohne mir zu sagen, warum sie so nervös gewesen war. Wenn es wegen ihres Verhaltens von damals gewesen war, hätte sie es ja, bei unserem gemeinsamen Spaziergang, oder abends auf dem Schiffsanleger aus der Welt schaffen können. Oder war da noch etwas anderes gewesen, weswegen sie an der alten Sache nicht rühren wollte?
Egal ob am Strand oder abends auf dem Schiffsanleger. Wir hatten wunderbar miteinander geplaudert. Sie hatte von Peters Geburtstagsfeier gesprochen, von ihren Plänen in Hannover. Ich von meinen Plänen in Schweden. Und da wir alleine schon fast vier Stunden auf dem Steg gesessen hatten, mussten wir auch noch über andere Dinge gequatscht haben. Über was weiß ich nicht mehr. Aber es war nicht, nicht einmal andeutungsweise, zu einem Gespräch über eine nähere engere Beziehung zwischen uns beiden gekommen. Und Hände halten, gegenseitiges Anlehnen oder sonstige Annäherungsversuche, hatten wir auf dem Schiffsanleger auch nicht, nicht einmal andeutungsweise durchgeführt. Und nun heißt es plötzlich „bin gleich da“.
Ich hatte keine Ahnung, was das sollte. Und ich hatte keine Ahnung, was ich wollte, und wie ich damit umgehen sollte.
Das, was da als Antwort auf meine E-Mail gekommen war, wollte ich auf jeden Fall nicht. Zumindest nicht so. Hätte sie angerufen, hätte ich eine Wahl gehabt. Das wäre fair gewesen, und man hätte sich absprechen können. Immerhin darf man auch nicht unsere, nicht gerade harmonische Vorgeschichte vergessen. Oder gehörte das auch dazu? Alte Differenzen werden einfach unter den Tisch gekehrt. Man tat einfach so, als ob nie etwas geschehen war.
Aber ich konnte es nicht leugnen. Trotz der Fragezeichen, trotz der nicht geraden positiven Erfahrung in der Vergangenheit, hatte ich Herzklopfen. Also konnte ich mir auch das Grübeln sparen. Irgendwann würde heute spät abends Carola bei mir aufschlagen. Dann würden wir weiter sehen. Ändern konnte ich daran sowieso jetzt nichts mehr. Es sei denn, ich lösche alle Lichter, tue so, als ob ich ihre E-Mail noch nicht gelesen habe, und ich, da der Abend anders verplant, nicht zu Hause bin. Aber das wäre albern gewesen.
Ich räumte also notdürftig die Wohnung auf und setzte mich dann an meinen Computer, um mein Schwedisch weiter zu verbessern. Zuerst mit Kopfhörer, da damit die Sprache unverfälschter ins Ohr dringen konnte, ab 21:30 Uhr in natura, damit ich nicht aus Versehen die Wohnungstürklingel überhören würde.
Äußerlich völlig locker, schaute ich doch mindestens alle fünf Minuten auf die Uhr, und als 22:00 Uhr vorbeiging, wohl sogar noch öfters.
Gegen 22:30 bimmelte die Wohnungsklingel.
Ich druckte auf den Summer und lauschte durch das Treppenhaus, ob die Haustür unten aufgeht, und ging, als ich das Klacken der Haustür vernommen hatte, wieder ins Wohnzimmer an meinen Computer, während ich die Wohnungstür angelehnt offen ließ. Carola wusste ja noch vom vorletzten Wochenende, in welcher Wohnung ich wohnte, und auch wenn ich mich freute, war ich mir nicht klar darüber, was ich von der ganzen Sache halten sollte und wollte sie etwas distanziert, und nicht gleich freudestrahlend an der Tür, begrüßen.
Carola kam mit einem großen Wanderrucksack auf dem Rücken in die Wohnung. Der Rucksack schien ziemlich voll zu sein. Das sah zumindest schon einmal nicht so aus, als ob sie nur hier wäre, um mich zu einem Kneipenbummel abzuholen.
„Guten Abend, Hallo da bin ich.“
„Das merk ich. Was machst du denn schon wieder in Lübeck?“
Eine blöde Begrüßung, aber auch ich hatte mal das Recht nervös zu sein. Und dieses Gefühl hatte ich nicht, wie Carola vorletztes Wochenende am Samstag, mit Starkbier leicht betäubt. Zumindest grinste ich sie dabei, sodass es aussah, als ob ich mich über ihr Erscheinen freute, an.
„Ich wollte unbedingt hier herkommen. Im Moment kann ich sowieso in Hannover nichts machen.“
„Warum wolltest du denn unbedingt nach Lübeck?“
Carola zuckte mit ihren Schultern. „Nur so.“ Und lachte mich etwas verlegen an. Dabei stellte sie den Rucksack, der zwar voll, aber nicht unbedingt sehr schwer schien, ab.
Vielleicht hätte ich doch vorher zwei Flaschen Starkbier oder eine halbe Flasche Rotwein trinken sollen.
In irgendwelcher Weise, wie weiß ich heute gar nicht mehr, beschnupperten wir uns irgendwie. Carola war wie ich nervös, das merkte ich ihr an. Es schien Carola durchaus klar zu sein, dass ihre Selbsteinladung ohne Bestätigungsformular nicht ganz in Ordnung war. Und sie schien sich zu fragen, ob sie wirklich, immerhin sogar mit vollem Rucksack, willkommen war.
Bei allem Herzklopfen mischte sich doch auch ein bisschen Schadenfreude mit in meine Gefühlswelt hinein. Das hatte sie sich selbst eingebrockt. Das kommt davon, wenn man statt anzurufen eine E-Mail schickt, um eine Absage zu verhindern.
Zumindest schien uns beiden klar zu sein, dass die Situation nicht ganz normal war, und keiner von uns beiden so richtig wusste, wie es jetzt weiter gehen sollte. Wobei ich eindeutig den moralischen Vorteil hatte, diese Situation so nicht heraufbeschworen zu haben. War auch irgendwie fair, immerhin hatte sie sich die Sache eingebrockt. Eigentlich hätte sie sich so etwas bereits denken können, als sie die E-Mail auf den Weg gebracht hatte.
Endlich machte Carola den Vorschlag, einen Spaziergang durch die nächtliche Altstadt zu machen, da sie mehrere Stunden in ihrem Auto gesessen hatte, und ihr nach etwas Bewegung war. Dagegen war nichts einzuwenden, da die Temperaturen sich in den letzten acht Tagen nicht verringert hatten, und im Freien wenigstens noch ein schwaches Lüftchen wehte.
Ich war erleichtert, dass eine Richtung vorgegeben war, und die Situation sich dadurch erst einmal entspannte.
Ich schaltete sofort meinen Computer aus, und wir gingen mit zwei Flaschen Multivitaminsaft nach draußen und schlenderten durch die Altstadt. Die Luft hatte noch immer, obwohl es schon fast 23 Uhr spät war, mindestens 25°C. Am Mühlenteich setzten wir uns auf eine Bank und schauten über den Teich in Richtung Mühlenstraße, auf der um diese Zeit nur noch schwacher Autoverkehr, den man zwar sehen, aber nicht hören konnte, herrschte. Der Dom von Lübeck, links von uns, durch starke Lichtstrahler angestrahlt, spiegelte sich vor uns im dunklen, spiegelglatten Mühlenteich. Ein paar Schritte von uns entfernt, schliefen ein paar Enten auf dem Rasen am Ufer, und ließen sich von uns nicht stören. Die Stimmung war ruhig, still, romantisch, nervös, gespannt, und ????? Keine Ahnung, wie man sie sonst noch nennen könnte. Zumindest hatten wir auf dem Weg zum Mühlenteich kaum gesprochen. Und selbst wenn man mich unter Folter setzen würde, ich wüsste heute nicht mehr, über was wir dort auf der Bank geredet haben, und ob wir viel oder wenig miteinander geredet haben, während wir dort auf der Bank saßen. Aber, wenn man einmal davon absah, dass ich mich fragte, wie es weiter gehen sollte, immerhin stand bei mir zu Hause noch ein voller Rucksack, der nicht mir gehörte, herum, war es ein toller Abend, bzw. da schon fast Mitternacht, eine tolle Nacht.
Nachdem wir am Mühlenteich eine ganze Weile auf der Bank gesessen hatten, gingen wir auf dem Mühlendamm, auf dem im Mittelalter die städtischen Mühlen gestanden hatten, in Richtung der Wallstraße. Von dort ging es durch das Kaisertor aus dem 13. Jahrhundert, das in die Wallanlagen aus dem 16. und 17. Jahrhundert eingebunden war, hinab zum Elbe-Lübeck-Kanal, der hinter den Wallanlagen, ein paar Treppenstufen abwärts, lag. Der Fußweg durch den Einschnitt der alten Wallanlagen war stockdunkel. Keine Laterne leuchtete den Weg aus, und auch der Mond wurde von den Bäumen verdeckt. Durch das Kaisertor ging es noch relativ gut. Aber die grob gehauenen Felssteine, die hinter dem Tor als Treppe zum Spazierweg an dem Kanal führten, waren nur zu erahnen, und man konnte leicht stolpern. Und im Dunkeln sah man nicht, wohin man fallen würde.
Carola zögerte und wäre wohl am liebsten umgedreht, sagte aber nichts, während ich vorging und versuchte sie so gut es ging zu führen. Ohne Unfall schafften wir es durch diese hohle Gasse, zum Fußweg am Kanal zu kommen, dessen Verlauf, vom Mond und dessen Spiegelung auf dem Wasser, so gut ausgeleuchtet war, dass wir ohne Gefahr zu meiner Wohnung zurückgehen konnten.
Bei mir zu Hause wartete immer noch der Rucksack, von dessen Anwesenheitsgrund Carola immer noch nichts erzählt hatte. Und es war auch inzwischen ca. ein Uhr morgens. Irgendwo am Kanal zelten wollte sie sicher nicht.
Empfand Carola es als selbstverständlich, dass sie bei mir übernachten konnte, oder scheute sie, wie schon vor sechs Jahren, eine direkte Konfrontation? Bei dem Gedanken, wie Carola vor sechs Jahren reagiert hatte, fing erneut die Alarmglocke in meinem Kopf leicht an zu bimmeln. Aber nur ganz leise, sodass ich sie schon nach kurzer Zeit nicht mehr hörte.
Ohne dass wir noch über irgendetwas gestolpert waren, schafften wir es heil wieder zu mir nach Hause.
„Wo kann ich denn schlafen? Ist noch Platz in deinem Bett?“
Und da war sie, die Frage aller Fragen. Wobei Carola nicht fragte, ob sie überhaupt bei mir schlafen konnte. Das hatte sie, ohne zu fragen, wie auch überhaupt ihre Einladung, schon für sich geklärt. Es drehte sich nur noch um die Frage wo.
„Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht.“
Das war nicht ganz die Wahrheit, aber auch nicht so ganz gelogen. Eigentlich hatte ich mir ja eher gefragt, wo sie in Lübeck überhaupt übernachten wollte. Meine Wohnung vermutete ich da, wenn denn überhaupt, nur als eine Option von mehreren (sie hatte doch wohl sicher einen Plan B). Aber sollte sie sich für meine Wohnung entscheiden, hatte ich mir über die Details noch keinen Kopf gemacht. Eigentlich war ich auch immer noch der Meinung, dass man jemanden vorher fragt, zumindest wenn man kein Partnerverhältnis hat und eine durch Missverständnisse geprägte, gemeinsame Vergangenheit, ob man bei jemandem übernachten darf. Auch wenn wir uns vorletztes Wochenende wirklich gut verstanden hatten, gehörte ich nun einmal nicht, auch nur annähernd zu ihrem Freundeskreis. Und das auch am vorletzten Wochenende nicht angesprochen Thema, „was war im Jahr 2000 los gewesen“, was mich damals immerhin bei Carola zu einer „Persona non grata“ abgestempelt hat, hing, zumindest bei mir, wie vor langer Zeit ein Schwert über Damokles, über meiner Gefühlswelt. Carola konnte das doch nicht vergessen haben, was damals geschehen war.
Ein paar Tage später gab Carola dann zu, dass sie für die Nacht keinen Plan B gehabt hatte. Wäre ich nicht zu Hause gewesen, hätte sie, gegen 22:30 Uhr bei mir vor verschlossener Tür stehend, herum telefoniert, ob sie noch wo anders hätte unterkommen können. Hätte sie kein Schlafplatz gefunden, wäre sie wieder Richtung Hannover gefahren, oder hätte einfach in ihrem Wagen übernachtet.
Hannover-Lübeck-Hannover, das war mehr als 400 km. Fast eine ganze Tankfüllung nur auf Verdacht. Und ich wusste, dass Carola im Grunde pleite war, solange die Praxis nicht lief, sie jeden Cent dreimal umdrehen musste. Im Zeitalter der modernen Kommunikation, das soll heißen, im Zeitalter des Telefons, hätte mir, erst recht nach meinen bisherigen Erfahrungen mit Carola, das zu denken geben sollen. Tat es zwar auch etwas, aber leider nicht genug.
Mit meinem heutigen Wissen ist mir klar, dass Carola einfach in der stillen Erwartung losgefahren war, dass es zu keinen Problemen oder Konflikten, wegen ihres Aufschlagens in Lübeck, kommen würde. Es musste so kommen, wie sie es sich in ihrer Traumwelt, heute würde ich es Parallelwelt nennen, gewünscht hatte. Hätte sie nur andeutungsweise von meinen Zweifeln gewusst, wäre sie schon alleine deshalb nie losgefahren, weil sie sich in Lübeck einem Problem hätte stellen müssen. Sie hätte aber auch nicht, wenn sie von meinen Zweifeln eine Ahnung gehabt hätte, angerufen, um zu klären, ob ich wirklich Zweifel habe, und sie diese eventuell durch den Anruf hätte ausräumen können. Das hätte nämlich bedeutet, sich mit einem persönlichen Konflikt zu beschäftigen; vielleicht sogar einem anderen gegenüber einen Wunsch, und damit eine Schwäche zu zeigen. Und so etwas konnte Carola nicht, was ich damals aber nicht wusste. Obwohl, meine Erfahrungen aus dem Jahr 2000, wie Carola mit Konflikten umgeht, hätte mir zu denken geben sollen.
Hätte - eigentlich.
„Wenn du nicht möchtest, dass ich in deinem Bett schlafe, kann ich auch im Wohnzimmer auf dem Sofa oder dem Fußboden schlafen.“
Na, das wäre jetzt aber wirklich albern gewesen. Ich fand ihre „Selbsteinladung ohne Bestätigungsanforderung“ zwar immer noch unmöglich, auch immer mit dem Hintergedanken, über unsere nicht gerade harmonische Vergangenheit, aber wenn sie schon einmal da war …..
„Nein, nein, das muss nicht sein“
Das klang lockerer, als es in meinem Kopf zuging. Irgendwo in meinem Kopf wanden sich die Gehirnschleifen immer noch um die Erinnerung, dass Carola mir vor sechs Jahren gezeigt hatte, dass sie völlig unberechenbar ist, und auch ihr Verhalten zu dieser Begegnung hin, war nicht so, zumindest in meiner Vorstellung, wie man mit Menschen umgeht. Ich habe eigentlich immer die Vorstellung, dass man andere Menschen so behandeln soll, wie man selbst behandelt werden möchte. Hätte ich eine E-Mail nach Hannover geschickt, und wäre dann, ohne auf Antwort zu warten, einfach vor ihrer Wohnungstür aufgeschlagen? Mit Sicherheit nicht.
Hätte Carola so einen Überfall prickelnd gefunden? Weiß nicht.
Heutzutage würde ich behaupten, sie hätte es nicht prickelnd gefunden, da sie sich von mir hätte bedrängt gefühlt. Also hat sie schon damals etwas getan, was hier erst viel später zur Sprache kommen wird. Von anderen etwas erwarten, was sie im umgedrehten Fall nie akzeptiert hätte.
Die Alarmglocke in meinem Schädel, die, wenn auch nur leise, aber doch nicht aufhören wollte zu läuten, machte mich nervös.
Ich nahm ein zweites Federbett und drückte es seitlich neben die Matratze auf den Lattenrost, um die Ritze zur Wand, meine Matratze war nur 90 cm breit, den Lattenrost aber 140 cm, zuzustopfen, damit ich nicht in die Ritze rutschen konnte. Eine zweite Decke, und das würde dann schon gehen. Wozu überhaupt eine Decke? Bei einer Raumtemperatur, die wohl nur knapp unter 30°C lag, war deren Sinn allerdings wirklich fraglich.
Und somit kamen wir uns, obwohl Carola ihre Zukunft in Hannover, und ich in Schweden plante, näher.
Und dafür hatte sie bereits am vorletzten Wochenende ihre ganze freie Zeit eingesetzt, und war heute extra aus Hannover nach Lübeck, ohne zu wissen, ob sie hier willkommen war, gefahren. Das hätte sie doch in ihrem Bekanntenkreis, in dem es auch ausreichend Singles gab, sogar schon vorletztes Wochenende leichter haben können. Peter wäre doch sicher immer bereit gewesen, für eine Nacht das Bett mit ihr zu teilen.
Und wie lange, dachte Carola eigentlich zu bleiben? Da sie an einem Montag gekommen war, war es, zudem unter Berücksichtigung des immerhin vollen Rucksacks, der ja auch kein kleiner Tagesrucksack, sondern ein ausgewachsener Trekkingrucksack war, anscheinend kein kurzer Wochenendbesuch.
Heutzutage weiß ich nicht einmal, ob ich mir diese Fragen damals wirklich so intensiv gestellt habe. Erst nach den Erfahrungen der letzten Monate und Jahre stellen sich diese Fragen vielleicht so klar und deutlich da, bzw. ich habe heutzutage auf viele Fragen bereits die Antworten. Antworten auf Fragen, die mir damals wohl gar nicht so richtig bewusst waren. Ich bin mir nach so langer Zeit nicht sicher, was ich damals wirklich dachte. Aber damals ließ ich es einfach darauf ankommen. Die meiste Zeit meines Lebens war ich Single, und sechs Jahre vorher war ich ja in Carola verknallt gewesen. Wäre damals ihre blöde E-Mail nicht gewesen, wären wir vielleicht schon im Jahr 2000 uns, wie weit auch immer, näher gekommen, und es hätte sich dann vielleicht nie die Frage nach Schweden gestellt.
An nächsten Morgen standen wir erst spät auf. Es hatte schon angefangen zu dämmern, als wir überhaupt zum Schlafen gekommen waren. Ich war zwar schon wieder früh wach, lange schlafen war nie mein Ding gewesen, aber Carola war anscheinend eine Langschläferin. Als sie merkte, dass ich wach war, kuschelte sie sich im Halbschlaf an mich und schlief weiter, während ich sie dabei an- und ihr zusah. Es war ein schönes Gefühl ihre Körperwärme zu spüren. Trotzdem fragte ich mich, wo das hinführen sollte. Für einen One-Night-Stand hatte Carola, selbst wenn es mehrere Nächte werden sollten, ganz schön Aufwand betrieben. Wie schon erwähnt, hätte sie so etwas bereits letztes Wochenende, mit wesentlich weniger Konfliktpotenzial, einfacher haben können. Und für etwas Längeres? Etwas Ernstes?
Eine Fernbeziehung zwischen Lübeck und Hannover, sollte Carola überhaupt eine ernsthafte Beziehung haben wollen, war sicher noch hinzugekommen. Aber Hannover und irgendwo in, das konnte auch im sehr weit entfernten Norden sein, Schweden. Das musste ein tot geborenes Kind werden.
„Wann fährst du eigentlich wieder zurück nach Hannover“, fragte ich vorsichtig, als Carola den Übergang vom Halbschlaf zum Wachsein anscheinend durchbrochen hatte.
„Willst du mich schon wieder los werden?“
Ihre Stimme klang, obwohl Carola wach schien, doch noch verschlafen.
Nein, loswerden wollte ich sie nicht unbedingt, darüber war ich mir schon im Klaren. Aber so ein bisschen „Butter bei die Fische“, wie wir Norddeutschen zu sagen pflegen, oder normal ausgedrückt, ein bisschen mehr Information, was Carola sich nun eigentlich mit ihrem Überfall gedacht hat, wäre schon ganz nett.
„Ohne dich loswerden zu wollen, wie lange hast du geplant hier zu bleiben?“
Immer noch an mich angeschmiegt kam: „Na ja, die Praxisräume sind gemietet, aber zurzeit können wir nichts machen. Erst in zwei Wochen können wir in die Räume und mit dem Einrichten beginnen. Das, was jetzt getan werden muss, kann Britta auch alleine in Hannover erledigen, bzw. ich hier vom Telefon aus.“
Britta, das hatte ich bereits am vorletzten Wochenende mitbekommen, war Carolas Kollegin, mit der sie in Hannover eine Physiotherapiepraxis eröffnen wollte. Beide waren, vor nicht ganz einem Jahr, dafür von Lübeck nach Hannover gezogen, da nach irgendeiner Studie, die sie durchgeführt hatten, es in Hannover noch nicht so viele solcher Praxen pro Einwohner geben sollte, wie in Lübeck oder ähnlichen Städten.
„Und solange willst du hier bleiben?“
„Wenn ich darf.“
Es heißt ja, dass man später immer schlauer ist. Jetzt ist es leicht kluge Sprüche zu klopfen. Normalerweise hätten damals, an dem Punkt wirklich alle Alarmglocken schellen müssen. Im Nachhinein verstehe ich wirklich nicht, wieso das nicht passierte. Liebe macht ja bekannterweise blind, aber unsere gemeinsame Vorgeschichte war ja nun wirklich nicht ganz unbelastet. Carola wollte zwei Wochen bei mir wohnen, hatte es aber nicht einmal für nötig gehalten, oder sollte ich lieber schreiben, hatte nicht den Mut gehabt vorher abzuklären, ob das überhaupt möglich ist, und ob ich dieses überhaupt wollte. Ich war telefonisch erreichbar gewesen. Sicher, ich hatte ihr nicht meine Nummer gegeben, aber es gab die Auskunft. Und wie ich später noch erfuhr, hatte Carola in Hannover ein Lübecker Telefonbuch, in dem ich nun einmal eingetragen war. Und ich war der Einzige mit meinem Namen dort. Ich stand sogar mit Straße und Hausnummer, die Carola ja vom vorletzten Wochenende kannte, in dem Telefonbuch. Also wirklich superleicht zu finden. Aber anstatt anzurufen, hatte sie nur eine E-Mail geschickt, und das ziemlich spät, sodass ich kaum rechtzeitig darauf reagieren konnte.
Es war schon damals so, dass Carola nicht in der Lage war über Probleme, zumindest wenn es sich um persönliche Probleme handelte, oder noch genauer, über Beziehungsprobleme, zu sprechen. Aber es schellte bei mir damals keine Alarmglocke laut genug. Ich war bereits zu sehr in dem herrlichen Gefühl eingenebelt, sie neben mir liegen zu haben. Und na ja, toll hatte ich sie ja schon sechs Jahre vorher gefunden, bevor damals die Seifenblase durch ihre E-Mail platzte. Allerdings hätte mir der Streit zwischen Carola und Horst, dem Wirt vom „Carrickfergus“, vor zehn Tagen wieder einfallen müssen. Aber nichts dergleichen passierte. Mein Kopf war auf Liebe, zumindest auf Zärtlichkeit eingestellt. Und so begann etwas, was von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Ich konnte dieses aber nicht sehen, und Carola, der es im Grunde klar war, zumindest in ihrem Unterbewusstsein, dass es nicht funktionieren würde, wollte das sich selbst nicht eingestehen. Sie täuschte nicht nur mich, sondern auch sich selbst, da sie sich mit sich selbst nicht auseinandersetzen konnte, und das, auch wenn sie es aus ihrem Bewusstsein verdrängte, im Grunde auch wusste. Viel später, als alles zu spät war, gab sie, bei dem einzigen Telefongespräch, das wir nach der Trennung noch führten, selbst zu, dass sie von Anfang an gewusst hat, dass es mit uns falsch war. Sie gab aber auch dabei nicht den wahren Grund zu, warum sie es von Anfang an wusste, und warum sie es trotzdem so weit kommen ließ, wie es dann kam.
Nicht ganz drei Jahre später, nachdem ich ein längeres Telefongespräch mit der hiesigen Frauenhilfsorganisation geführt hatte, saß ich völlig verwundert, nachdem ich den Telefonhörer wieder aufgelegt hatte, an meinem Schreibtisch, und fragte mich, wieso hatte ich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. So vieles war in den drei Jahren passiert, waren die Zeichen zu sehen gewesen. Und doch benötigte ich ein Gespräch bei der Frauenhilfsorganisation, damit ich den Wald, in dem ich doch selbst stand, endlich klar und deutlich sehen konnte. Und gleichzeitig fragte ich mich, was war mit den ganzen anderen blinden Vögeln? Michael, der Lebenspartner meiner Schwester. Vor vielen Jahren, als er bei einem ganz normalen Stadtspaziergang mit Carola in der Stadt unterwegs war, klatschte er, als Carolas, damals noch kleine Tochter Zuneigung zu dem großen Onkel, der so toll lustig war, zeigte, voll gegen Carolas Fassade (Mauer). Als Carola merkte, wie ihre Tochter Michael anhimmelte, ging bei ihr auf einmal die Klappe herunter. Die gerade noch fröhliche junge Frau wurde von einer Sekunde auf die andere abweisend, geradezu aggressiv zu ihm, und war in keiner Art und Weise mehr für Michael ansprechbar. Das Erlebnis war für Michael so intensiv gewesen, dass er es niemals vergessen hat. Er hatte mit Carola, nachdem er ihr ein Praktikum bei seinem Arbeitgeber besorgt hatte, zusammen gearbeitet, war privat mit ihr befreundet gewesen. Aber dann ist er, wie beschrieben, wirklich voll mit dem Kopf gegen den Baum geknallt, sah aber weder den Baum, geschweige den ganzen Wald. Und sieht den Wald auch heute noch nicht.
Was war mit Britta, die mir, als alles zu spät war, erklärte, dass Carola sich immer so, bei den, von ihr provozierten Trennungen benahm, wie sie es dann später bei mir durchgezogen hat? Und dass Carola zwar ihre Freundin sei, sie aber die Abmachung haben, dass Britta aus den Männergeschichten Carolas heraus gehalten werden wollte. Sie fand das Spiel, das Carola mit den Männern trieb, nicht richtig, und wollte da nicht involviert werden. Wieso hat Britta nicht erkannt, dass Carola nicht spielte, sondern sich vor der Wahrheit, vor sich selbst versteckte?
Was war mit Susanne, die, nachdem Carola ungefähr anderthalb Wochen bei mir gewohnt hat, sich wunderte, dass Carola nicht, wie doch sonst immer, schon nach der zweiten oder dritten Nacht, aus unserem gemeinsamen Bett geflohen war?
Oder Horst, der zwar in seiner Kneipe mit Carola über ihre Männergeschichten gestritten hat, aber anscheinend den Grund ihres Verhaltens nie hinterfragte. Sie alle kannten Carola über Jahre. Was waren da die paar Wochen, die ich sie näher habe kennenlernen dürfen. Wobei, was heißt hier näher kennenlernen dürfen.
Ich durfte in der kurzen Zeit, in der ich mit Carola zusammen gewesen war, nur das kennenlernen, was sie bereit war, von sich preiszugeben. Und das war, wie ich heute weiß, eben nicht gerade sehr viel.
Aber die, die Carola jahrelang gekannt und erlebt haben, und die die Symptome anscheinend über Jahre durchaus mitbekamen, - warum waren die so blind gewesen?
Wobei die Menetekel klar und deutlich an der Wand, für jeden weit leuchtend sichtbar, standen.
„Und sieh! Und sieh! An weißer Wand, da kam´s hervor wie Menschenhand, (… …), Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand. (………) Die Magier kamen, doch keiner Verstand zu deuten die Flammenschrift an der Wand.“ (Heinrich Heine, aus Belsazer)
Man hätte sie nur deuten müssen. Wobei na klar überhaupt erst einmal die Bereitschaft da sein musste, die Zeichen zu beachten. Aber man hat ja manchmal regelrecht den Wunsch blind zu sein.
Nach dem gemeinsamen Frühstück trennten wir uns erst einmal. Carola wollte Carmen, deren gemeinsame Gespräche vorletztes Wochenende, wegen mir, zu kurz gekommen waren, treffen. Irgendwo Kaffee trinken und klönen, und danach zusammen an die Ostsee fahren, um weiter zu klönen, um die in Hannover vermisste frische Meeresbrise zu spüren, und um bei ihrer Freundin etwas, wegen der versetzten Zeit vorletzten Wochenendes, wieder gut zu machen.
Ich war dabei, Männer stören nur bei Frauengesprächen, das wusste selbst ich, nicht nur überflüssig, sondern absolut fehl am Platze. Und daher beschloss ich in die Bücherei, dort lag das „Svenska Dagbladet“ aus, was ich sowieso regelmäßig dort las, zu gehen.
Und erst jetzt, wo ich dieses hier niederschreibe, kommt diese Frage zum Vorschein. Carola wollte sich mit Carmen treffen, in einem Café Kaffee trinken gehen. Danach an die Ostsee. Wenn ich in meiner Erinnerung herumkrame, kann ich mich nicht erinnern, dass Carola an diesem Morgen Carmen angerufen hat. Mag sein, dass ich es einfach vergessen habe, aber eigentlich glaube ich es nicht. Schon vor dem Frühstück war klar gewesen, dass wir heute Vormittag erst einmal getrennte Wege gehen würden. Ich frage mich, hatte Carola bereits aus Hannover diese Freundin angerufen, und sich für das Treffen verabredet: „Hej, ich bin am Dienstag in Lübeck, hast du Zeit, wollen wir Kaffee trinken gehen, plaudern.“ Sie muss angerufen haben. Woher wusste sie, dass die Freundin an diesem Dienstag nicht arbeiten musste. Wenn das stimmt, dann hat sie, bevor sie aus Hannover losfuhr, nachgefragt, ob die Freundin Zeit für einen Plausch haben würde. Während sie mir nur per E-Mail mitgeteilt hatte, dass sie bei mir am Montagabend aufschlagen würde, ohne zu fragen, ob mir das passte, und ohne mir mitzuteilen, in welchem Umfang die Invasion, es hatte ja schon den Umfang einer solchen, sein würde. Und selbst wenn Carola von meiner Wohnung aus, ohne dass ich es mitbekommen habe, Carmen an diesem Morgen angerufen hat, ist es schon bemerkenswert. Carmen, die zu Fuß zehn Minuten von mir entfernt wohnte, wurde angerufen, um zu schauen, ob sie Zeit hat. Und zu mir fuhr sie 200 km, ohne zu wissen, ob ich da bin und Zeit habe, und sollte ich nicht da sein, sie eventuell 200 km wieder zurückfahren musste. Wobei das Risiko einer Rückfahrt bei Nacht nicht unbedingt wahr sein musste, da sie anscheinend doch einen Plan B, der wohl Carmen hieß, gehabt hatte.
Carola hatte keine Schlüssel für meine Wohnung. Sie sollte mich daher anrufen, wenn sie wusste, wann sich wieder dort aufschlagen würde, oder sie sich mit mir irgendwo treffen wollte.
Nach meinem Studium des „Svenska Dagbladet“, unter Beihilfe eines Wörterbuches ging das schon ziemlich flüssig, bummelte ich durch die Lübecker Altstadt. Trotz der eher spanischen Sommertemperaturen, war es in Lübeck eher wie ein Kurzurlaub in Stockholm oder Göteborg. Die Fußgängerzone war voll, und wenn man aus Versehen angerempelt wurde, bekam man meistens ein „förlåt“ oder „ursäkta“ zu hören, kaum ein „´tschuldigung“. Was teilweise aber sicher auch daran lag, dass Deutsche sich grundsätzlich nicht entschuldigen, während die Schweden dieses bei jeder Kleinigkeit tun. Die kühlen Elchköppe sind ein höfliches Völkchen. Nicht so etwas Stures wie wir.
Lübeck ähnelte damals also durchaus einer schwedischen Stadt mit spanischem Wetter, und ich war herrlichster Stimmung. Zum ersten Mal seit Langem fand ich das Leben mal wieder richtig toll, wobei das nicht an meinem Urlaubsfeeling lag. Ich hatte eindeutig Schmetterlinge im Bauch. Mir war in keiner Art und Weise klar, wie das weitergehen sollte. Ich war mir auch immer noch unsicher, was Carola nun wirklich wollte. Alle Initiative war von ihr ausgegangen. Sollte das nur ein zweiwöchiges Intermezzo sein, ein kleines Zwischenspiel, oder etwas Ernsthaftes. Keine Ahnung. Ich war verknallt. Und auch wenn ich mir bei Carola nicht klar war, was sie wollte, wurde meine eigene Wunschliste, was das betraf, doch langsam länger und klarer. Und das trotz meiner Pläne nach Schweden zu ziehen. Aber das stellte ich jetzt beiseite. Es war ja auch noch gar nicht raus, ob es mit Schweden so klappen würde, wie ich es mir erhoffte.
„Genieße den Tag.“ Manche Dinge muss man einfach auch mal auf sich zukommen lassen. Es war ein verdammt schönes Gefühl durch die sommerliche Stadt, von lauter Elch- und Faxeköppe (das soll keine Beleidigung an die Schweden und Dänen sein) umgeben, zu bummeln, und an Carola zu denken.
Am Nachmittag schickte Carola eine SMS, dass es am Strand länger dauern würde. Ich schicke eine SMS zurück, dass ich zu Hause sein würde, wenn sie genug gequatscht, bzw. genug Seeluft getankt hatte.
Als Carola dann später bei mir eintrudelte, nahmen wir uns jeder eine Flasche Multivitaminsaft und setzten uns wieder an den Kanal auf einen der Schiffsanleger. Es wurde wieder ein sehr harmonischer Abend, eine tolle Nacht. Obwohl ich eigentlich kein Freund von solch warmen Temperaturen bin, und ich es hasste, wie sich die Temperatur bei solchem Wetter in meiner Wohnung staute, waren solche Nächte auf einem Schiffsanlegersteg schon toll.
Wieder zu Hause stellte sich nicht mehr die Frage, wo Carola schlafen würde. Ja, so konnte es weiter gehen.
Carola war eindeutig jemand die, solange kein Wecker klingelte, gern lange schlief, während ich meistens doch sehr früh wach wurde. Am nächsten Morgen lag ich so völlig entspannt neben ihr, während sie sich an mich anschmiegte. Ich genoss es, sie einfach nur anzuschauen, wie sie da friedlich, nur der Kopf schaute aus der Bettdecke hervor, neben mir schlief.
Es war spät, als Carola wach wurde, und wir uns aus dem Bett schälten. Nach dem Frühstück machten wir dann einen längeren Spaziergang am Kanal längs. Abends wollte Carola sich wieder mit Carmen treffen und danach mit deren Lebenspartner Hans, bzw. Lebensabschnittsgefährten, wie es wohl heutzutage offiziell heißt. Die beiden waren noch etwas stinkig, da Carola sie vorletztes Wochenende so extrem vernachlässigt hatte. Da war noch einiges gut zu machen. Ich sollte mich später dann zu ihnen gesellen, und ging daher erst einmal in eine irische Kneipe und lauschte irischer Musik, um dann später, nachdem ich per SMS erfahren hatte, dass das persönliche Gequatsche zu Ende war, im „If“, auch eine von uns bevorzugte Altstadtkneipe, zu ihnen zu stoßen. Carola saß mit dem Freund und anderen am Tresen. Auch ich kannte davon einige, die auch ich schon länger nicht mehr getroffen hatte, und es wurde ein gemütlicher Kneipenabend.
Damals ist es mir gar nicht aufgefallen. Erst mit den Ereignissen, die sich später einstellten, fiel mir eine Sache auf, die ich damals gar nicht registrierte. In der Kneipe, unter den Augen ihrer Freunde und Bekannten, war Carola sehr distanziert, nicht so, wie eine frisch Verliebte, man sah so etwas ja nun öfters, wenn man abends unterwegs war, sich benahm. Ein Außenstehender musste an dem Abend schon sehr genau hinsehen, um festzustellen, dass wir beide, obwohl das nicht offiziell beschlossen wurde, waren wir das wohl, irgendwie zusammen waren.
Auf dem Weg zu mir nach Hause, wir bummelten gemütlich Hände haltend durch die Stadt, erzählte Carola mir, dass zwei, der im „If“ angetroffenen Bekannten, gar nicht damit einverstanden waren, dass Carola und ich jetzt zusammen waren. Der eine war Peter. Er hatte selbst ein Auge auf Carola geworfen, und war eifersüchtig. Peter und ich hatten uns an diesem Abend auch miteinander unterhalten. Ich hatte nichts von der Abneigung gemerkt, aber dass mag vielleicht auch daran gelegen haben, dass Peter sich mir gegenüber nichts anmerken ließ, ich schon aus der irischen Kneipe mit zwei Guinness im Kopf ins „If“ gekommen war, und sowieso meine Gefühlsantennen Richtung Carola ausgestreckt waren, und nicht unbedingt so stark auf andere.
Den anderen, der mit unserer Beziehung angeblich nicht einverstanden war, kannte ich nur vom Sehen. Carola sagte mir, er meine, ich passe nicht zu ihr.
„Und wieso“, fragte ich. „Der kennt mich doch gar nicht.“
„Keine Ahnung, er meinte nur, dass wir nicht zusammenpassen. Warum hat er nicht gesagt.“
Dann grinste sie mich an: „Ist doch auch egal. Er muss ja nicht mit dir zusammen sein“, und gab mir auf der Straße einen Kuss.
Tja, hiermit hatte Carola das erste Mal gesagt, dass wir „zusammen“ wären. Das war doch schon mal toll. An Schweden dachte ich nicht. Moskau und der Zar, bzw. Schweden und der König, waren weit weg.
Die nächsten Tage verliefen voller Harmonie und Sonnenschein. Wären wir nicht in Lübeck gewesen, hätte man denken können, wir verbrachten in Spanien oder sonst wo im Süden, gerade einen gemeinsamen Urlaub. Carola hatte sich Schlüssel für meine Haus- und Wohnungstür machen lassen, sodass sie nicht von mir abhängig war, um in die Wohnung zu kommen, wenn sie sich mit alten Freunden und Kollegen zum Kaffeetrinken treffen wollte, während ich mit Schwedisch, oder sonst was beschäftigt war.
Für den folgenden Samstag waren wir bei Carmen und Hans zu einem abendlichen Essen in ihrem Hinterhof eingeladen.
„Dieter ist auch eingeladen und wird kommen“, strahlte Carola mich an.
Ich weiß nicht wann, aber in irgendeiner Nacht auf dem Schiffsanlegesteg, hatte ich Carola erzählt, dass Dieter und ich vor Jahren, das mochte wohl so zwanzig Jahre her gewesen sein, dick zusammen gewesen waren. Eigentlich haben wir damals fast jeden Abend im „Carrickfergus“ gehockt und haben dort zu viel getrunken, oder waren Billard spielen, oder sonst wo unterwegs gewesen. Auch mehrere Wanderungen hatten wir zusammen in Finnland, Schweden, Schottland und Irland durchgeführt. Eine Zeit lang hatten wir sogar zusammen die gesamte Jugendarbeit einer Kirchengemeinde geleitet, nachdem der dortige Diakon, aus Gesundheitsgründen, für mehrere Monate ausgefallen war.
Dieter und ich hatten durchaus eine bewegte gemeinsame Vergangenheit hinter uns, und nun würde ich ihn also das erste Mal seit vielen Jahren wieder sehen. Ich freute mich darauf.
Als der Termin zu dieser Hinterhofparty nahe war, bummelten Carola und ich gemütlich von meiner Wohnung, quer durch die Altstadt, in Richtung des Hauses der Gastgeber. Unterwegs wurde Carola plötzlich von einer Passantin auf der Straße aufs Herzlichste begrüßt.
Irgendeine Bekannte von Carola. Man hatte sich wohl längere Zeit nicht gesehen, was ja auch kein Wunder war, da Carola schon seit fast einem Jahr in Hannover wohnte. Sie wechselten beide die üblichen Begrüßungsfloskeln aus. „Wie geht’s?“ – „Was machst du so?“ „Ach, Hannover, das wusste ich ja gar nicht.“ Ein Blick zu mir. „Und - in Hannover also schon fündig geworden.“
„Nein, der ist ganz frisch, von hier aus Lübeck.“
„Ach, du ziehst nach Hannover und suchst dir dann einen Freund in Lübeck.“
Carola grinste und zuckte mit den Schultern.
„Manchmal kommt es anders, als man denkt.“
Ich stand die ganze Zeit, mit Carola Hände haltend, daneben und schaute amüsiert von der einen zur andern.
„Und, ist es was Ernstes?“
Carola nickte: „Ja, das ist was Ernstes.“
Wow – Treffer. Ganz plötzlich stieg meine Herzfrequenz. Es war Carola ernst. Obwohl ich ihr während unserer ersten Schiffsanleger-Nacht, vor zwei Wochen, von meinen Zukunftsplänen in Schweden erzählt hatte, wir, nachdem sie so unerwartet vor knapp einer Woche vor meiner Tür gelandet war, nie das Thema Schweden irgendwie weiter erläutert haben, war es ihr ernst. Na ja, wir waren erst fünf Tage zusammen. Sicher weiß Gott zu früh, um gemeinsame Zukunftspläne zu schmieden, aber irgendwie erschien nun doch die Frage: Was passiert, wenn ich wirklich einen Job in Schweden bekommen würde?
Trotz dieser Frage, die nur ganz leise in meinem Hinterstübchen auftauchte, fand ich es toll, dass Carola unsere Beziehung als eine ernste Sache einstufte.
Wir verabschiedeten uns von Carolas Bekannten und gingen weiter zu der Samstagabendeinladung. Dort saßen bereits alle im Hinterhof, der Tisch war schon gedeckt. Carmen und Hans kannte ich, wenn auch nur flüchtig, doch schon seit vielen Jahren. Auch wenn ich Dieter schon seit rund zwanzig Jahren, ausgenommen vielleicht bei zufälligen Treffen in irgendwelchen Kneipen, nicht mehr gesehen hatte, waren wir immerhin einmal dicke Kumpels gewesen. Und mit Peter, der auch anwesend war, war ich, als die Freundschaft mit Dieter auseinander gegangen war, viele Jahre fast wie Brüder, mehrmals in der Woche, entweder in der Kneipe, beim Billard oder sonst wo zusammen gewesen. Auch hatten wir beide zusammen so manche Wanderung im schwedischen Fjäll durchgezogen. Wir kannten uns also alle.
Besonders hatte ich mich darauf gefreut Dieter, den Trinkkumpan aus meiner wilden Sturm und Drangphase, wieder zu sehen. Aber er war schweigsamer, als ich mir das vorgestellt hatte. Ich hatte eigentlich gedacht, dass der alte Funke wieder überspringen würde, oder er zumindest so feucht fröhlich war, wie bei den wenigen zufälligen Treffen, in irgendwelchen Kneipen, die in den letzten Jahren passiert waren. Aber das war nicht so. Trotzdem wurde es ein gemütlicher Hinterhofabend, bei den schon, für dieses Jahr als selbstverständlich hingenommenen hohen Sommertemperaturen, die selbst als es dunkel wurde, nicht einmal das leiseste Frösteln, selbst wenn man nur mit einem T-Shirt und kurzer Hose dort saß, aufkommen ließ.
„Was war denn mit Dieter los, der kam ja heute gar nicht aus sich raus“, kam es von Carola, als wir gegen Mitternacht, Arm in Arm durch die Altstadt nach Hause gingen.
Also war nicht nur mir die ungewöhnliche Zurückhaltung von Dieter aufgefallen, der ja sonst eher wegen seiner Ausgelassenheit bekannt war, oft Scherze machte, die laut und, das war eine negative Seite von ihm, oft auf Kosten von anderen gingen. Allerdings hatte ich zuerst gedacht, da ich ihn im Grunde seit zwanzig Jahren, mit Ausnahme der zufälligen Treffen, bei denen Dieter eigentlich immer voll gewesen war, nicht mehr getroffen hatte, er ja vielleicht allgemein mit den Jahren ruhiger geworden war. Und nun schien es auch Carola aufgefallen zu sein, dass Dieter außergewöhnlich ruhig gewesen war, und er sich auch, was in seiner Jugendzeit nie seine Art gewesen war, relativ früh verabschiedet hat. So kannte ich Dieter nicht, auch wenn er sich für seinen frühen Aufbruch damit entschuldigte, dass er am nächsten Tag noch am Computer arbeiten musste.
„Ja merkwürdig war das. Ich kenne ihn anders. Aber das ist auch schon sehr lange her.“
„Wusstest du eigentlich, dass Dieter und ich mal zusammen waren.“
Carola fragte das ganz locker, so als ob sie fragte, ob ich wüsste, was sie heute zu Mittag gegessen hat. Eine lockere Frage, nichts Wichtiges.
„Nö, ich hatte ja nun auch zu ihm seit Jahren kein Kontakt.“ Ich drückte Carola mit dem Arm etwas. „Und wie war ´s?“
„Hat nicht lange gedauert“, kam es ohne weitere Erklärung.
Jetzt war aber doch meine Neugier geweckt.
„Woran ist es denn gescheitert.“
„Dieter war zu einer Fete bei Freunden, in seinem Wohnort eingeladen. Ich war das erste Mal, offiziell als seine Freundin, bei so etwas mit. Da war ein Typ, dem habe ich mich im Laufe des Abends an den Hals geworfen. Da war es dann aus.“
Auch das kam von Carola total locker aus ihrem Mund. Wie die Erklärung einer Speisekarte. Ich schaute sie etwas kritisch, leicht verwundert, und mit Sicherheit auch sehr irritiert, von der Seite an:
„So was ist aber auch nicht in Ordnung.“
„Na ja. Es war damals alles irgendwie nicht richtig.“
Klingelingeling. Wo waren da meine Alarmglocken gewesen? Ich hätte doch noch brühwarm, es waren ja gerade zwei Wochen her, den Streit zwischen Carola und Horst in seiner Kneipe in meinem Gehirn haben müssen, bei dem Horst ihr doch vorgeworfen hat, dass sie ständig die Männerherzen bricht; und das in einer Art und Weise, die wirklich nicht in Ordnung ist. Carola, immerhin schon 39 Jahre alt, sollte doch schon etwas vernünftiger sein. Und ich, acht Jahre älter, doch nicht so realitätsfremd. Glaubte ich denn wirklich, dass jemand, der sich noch vor Kurzem wie ein unreifer Teenager verhalten hat, plötzlich in mir die große Liebe findet und damit ihre ganze Art sich Männern gegenüber zu verhalten plötzlich über Bord wirft? Ständige Wechselspiele, sich einem anderen an den Hals werfen, wenn man mit dem neuen Freund zu einer Fete eingeladen war. Normal ist das doch nicht. Da hatte Carola ein paar Stunden vorher zu einer anderen Frau gesagt, es wäre ihr ernst mit mir, und ich schwebte so im siebten Himmel, dass ich die Menetekel an der Wand wirklich nicht sah.
„Und sieh, und sieh, an weißer Wand, ........“
In der Woche nach dieser Hinterhofparty verbrachten wir beide viel Zeit miteinander, gingen spazieren, lagen am Kanal in der Sonne und fuhren an den Ostseestrand. Zwischendurch besuchte Carola in der Woche eine ehemalige Kollegin, die auch in ihrer Branche eine Praxis betrieb. Carola konnte dort, ihre Praxis war ja noch nicht eröffnet, und sie lebte daher von geliehenem Geld, etwas zu verdienen, in dem sie bei den Kassenabrechnungen half.
Als Carola von so einem Treffen bei der ehemaligen Kollegin abends nach Hause kam, fiel sie mir in die Arme und strahlte mich regelrecht an.
„Susanne“, das war ihre Freundin und ehemalige Kollegin, „ist völlig überrascht, dass ich hier mit dir jetzt schon seit mehr als einer Woche zusammenwohne.“
Ich schaute sie, sie immer noch in meinen Armen haltend, verwundert an. „Wieso?“
„Na ja, wenn ich sonst mit einem Freund zusammen war, bin ich schon in der zweiten oder dritten Nacht aus dem Bett geflohen.“
„......................Buchstaben aus Feuer, ........“
„Ding, ding, ding.“ Eine ganz kleine Alarmglocke meldete sich ganz vorsichtig in meinem Kopf. Aber nur leise und vorsichtig, ohne wirklich laut vor der Gefahr zu warnen.
„Wow, muss ich mir Sorgen machen?“ Ich schaute Carola doch ziemlich ernst ins Gesicht. „Muss ich damit rechnen, dass du mitten in der Nacht fluchtartig Bett und Wohnung verlässt, und ich plötzlich alleine aufwache?“
Sie kuschelte sich an mich: „Nein auf keinen Fall, ich fühle mich bei dir sauwohl. Du brauchst wirklich keine Angst zu haben. Ich finde es toll neben dir einzuschlafen und wach zu werden.“
Klingelingeling, Klingelingeling, Klingelingeling.
Puh – noch ein Grund, um die Alarmglocken in Bewegung zu setzen. Inzwischen hätten doch die gesamten Lübecker Altstadtkirchenglocken, in meinem Kopf Sturm läuten müssen. Der Streit mit Horst, dass sie immer….. . Ihr Geständnis, dass sie, während sie zusammen mit ihrem damaligen Freund bei einer Fete war, sich einem anderen an den Hals geworfen hat. Jetzt, dass sie angeblich wohl nie länger als drei Nächte, oft auch weniger, bei einem Mann aushalten konnte. Zumindest hatte Susanne bis jetzt immer den Eindruck gehabt, und Carola schien da ja nicht widersprechen zu wollen, dass es bis jetzt immer so war. Im Nachhinein muss ich sagen, dass meine Resistenz gegenüber den Einschlägen, die ich erfuhr, wirklich erschreckend war. Habe ich mir wirklich keine Fragen gestellt, oder wollte ich die Gefahr einfach nicht erkennen? Ich weiß es nicht.
„......., doch keiner verstand zu deuten die Flammenschrift an der Wand.“
Nun, die kleine leise Alarmglocke verstummte wieder, während Carola sich noch an mich schmiegte, und ehe ich den Glockenton wirklich ernsthaft registrierte. Wir verbrachten noch eine herrliche Woche zusammen, bevor Carola die Woche drauf, am Montag ganz früh, zurück nach Hannover fahren musste. Sie konnte jetzt in die Praxisräume hinein, da der Vormieter ausgezogen war. Es gab viel zu tun, um die Praxis einzurichten und dann zu eröffnen.
Ich dagegen musste am Dienstag zur ARGE, damit die Einzelheiten für meine Vermittlungsversuche nach Schweden besprochen werden konnten. Losgehen sollte das Projekt erst um den 10. September, aber an diesem Dienstag sollte das Grundsatzgespräch geführt werden, um abzuklären, wie die Förderung durchgeführt werden sollte. Wenn alles klappte, konnte ich, bevor das Projekt losging, sogar noch drei Wochen nach Schweden zum Wandern fahren. Kosten würde mich das nur die Zugfahrt, sollte das Wetter während der Wanderung schlecht sein, zwei oder drei Übernachtungen in Schutzhütten, und als Abschluss eine Übernachtung in der Fjällstation Saltoluokta. Ansonsten hatte ich mein Zelt mit, und da ich Verpflegung auch in Lübeck hätte kaufen müssen, würde der ganze Spaß nicht sehr teuer werden.
„Du hast es gut, du kannst nach Schweden fahren“, jaulte spaßeshalber Carola in der letzten gemeinsamen Nacht.
„Jeder so, wie er es verdient“, grinste ich, und drückte sie an mich. „Ich brauch das aber auch. Ich habe seit Jahren keinen Urlaub mehr gehabt. Und bis die Firma pleite ging, habe ich sechs Tage die Woche gearbeitet, hatte kaum Freizeit. Ich brauch den Urlaub, muss meinen Kopf freibekommen. Beim Wandern kann ich alles wieder sortieren und in die Schubladen packen.“
Carola schaute mit einem skeptischen Blick in meine Richtung.
Ich erklärte ihr, wie ich es ja auch bereits während unseres ersten Strandspazierganges, vor ca. drei Wochen angedeutet hatte, dass ich beim Wandern wunderbar abschalten konnte. Irgendwann fangen die Gedanken beim Wandern von ganz alleine an zu schweifen. Man muss sie nur laufen lassen. Dadurch wird alles, was sich so seit der letzten Wanderung, und die war ja bei mir nun schon einige Jahre her, in meinem Kopf angesammelt hat, durch sortiert, so als ob man einen großen Stapel ungeordneter Zettel sortiert und in die entsprechenden Schubladen abgelegt. Ist die Wanderung vorbei, habe ich immer das Gefühl, dass mein Kopf wieder richtig frei ist. Alles ist einsortiert oder, falls überflüssig, weggeschmissen.
Wandern macht den Kopf frei.
Carola fuhr am Montag also nach Hannover. Am nächsten Tag bekam ich eine SMS. „Ich vermisse dich.“
Ich strahlte über alle vier Backen. Das Leben ist schön.
Da Carola in den nächsten Wochen im Stress sein würde, hatten wir vereinbart, dass wir uns erst nach meiner Schwedenreise wieder treffen würden.
Als alles bei der ARGE geklärt war, ich sollte nach dem 10. September einen Supercrashkurs in Schwedisch bekommen, außerdem wollte sich die Auslandsabteilung des Arbeitsames direkt mit dem schwedischen „Arbetsförmedling“ in Verbindung setzen, eilte ich direkt zum Bahnhof und buchte die Zugverbindung nach Gällivare und zurück. Bereits zwei Tage später sollte ich mit dem Zug Richtung Norden fahren. Somit war heute und morgen noch einkaufen und packen angesagt. Alles sehr spontan, aber was soll´s. Jeder Tag zählte.
Am Sonntag, den 03. September musste ich spätestens wieder in Lübeck eintreffen. Am 04. September hatte ich den nächsten Termin bei der ARGE. Bis dahin sollten alle behördlichen Vorbereitungen abgeschlossen sein, damit dann am Montag darauf, das war dann der 11. September, alles beginnen konnte.
Mit meinen Zugtickets in der Hand eilte ich nach Hause, um Carola anzurufen, und ihr die ganzen Neuigkeiten zu erzählen. Das hörte sich doch alles sehr gut an. Die schwedischen Wirtschaftsverbindungen zu Deutschland wurden immer intensiver, und man war davon überzeugt, dass schwedische Unternehmen Leute suchten, die Deutsch als Muttersprache haben, um mit ihren deutschen Geschäftspartnern zu kommunizieren. Deutsche Sanitär- und Heizungsarmaturen waren in Schweden sehr beliebt, sodass gerade Baumärkte in Schweden enge Beziehungen zu Deutschland hatten.
Auch wenn sich das alles sehr toll anhörte, bekam ich langsam aber sicher einen Knoten in meinem Magen. Ich fühlte mich bei Carola wahnsinnig wohl. Sicher, wir waren erst zwei Wochen zusammen, und es wäre Wahnsinn, seine Zukunft darauf auszurichten. Aber dadurch, dass Schweden nun einmal als Arbeits- und Wohnort bei mir in Planung war, gab es da für mich inneren Konfliktstoff. Wäre das mit Carola ein halbes Jahr vorher passiert, wäre es ganz anders gewesen. Man hätte mehr Zeit gehabt, um sich kennenzulernen. Nun musste, da die Frage Schweden – Carola aufkam, aber eine Entscheidung getroffen werden, für die es eigentlich viel zu früh war. Und ich musste feststellen, dass ich für diese Entscheidung nicht bereit war. Ich konnte mich nicht gegen Schweden entscheiden. Aber ich wollte mich auch nicht gegen Carola entscheiden.
Trotz der Schmetterlinge im Bauch war die Lage, ganz simpel ausgesprochen, irgendwie beschissen.
Von zu Hause aus rief ich Carola an und erzählte ihr alles, was zu berichten war. Dass das alles gut aussah, so wie ich mir das vorgestellt habe, fand sie toll. Dass das Endergebnis, wenn alles klappte, so wie ich mir das vorstellte, bedeuten würde, dass ich nach Schweden ziehen musste, schien sie nicht zu belasten, oder sie ließ sich dazu nichts anmerken.
Erst als ich ihr sagte, dass ich wohl von einer richtigen Schwedin einen Crashkurs in Schwedisch bekommen würde, und so wie es bei der ARGE geklungen hatte, sogar als Einzelunterricht, kippte bei ihr, man hörte es regelrecht an ihrer Stimme, die Stimmung.
„Wehe du verliebst dich in sie.“
Das war nicht als Scherz gesagt. Da klang Panik mit. Das war
Eifersucht. Nicht einfach so gespielt, um einen zu necken. Nein, das war eindeutig ernst. Carola hatte wohl gleich eine blonde, schlanke Mittzwanzigerin im Kopf, und fühlte sich nicht konkurrenzfähig.
„Ej, nun mal keine Panik. Da passiert schon nichts.“
„Wer weiß, du hattest dich vor mir so lange nicht verliebt. Vielleicht willst du das jetzt alles nachholen.“
„In dem ich mich jetzt an dauernd neu verliebe?“
„Na ja, so ähnlich.“
Puh, ich war, auch wenn ich mir im Stillen eingestehen musste, dass ich es toll fand, dass sie wirklich ernsthaft eifersüchtig war, ganz schön platt. Mit so einer Reaktion hatte ich nicht gerechnet. Eine Lehrerin für Schwedisch. Es war nicht einmal geklärt, wie jung, wie alt, ob dick oder schlank, und ob, wie man sich Schwedinnen vorstellt, mit blonden Haaren.
„Wie kommst du denn auf so einen Quatsch? Ich weiß, dass ich mich selten verliebe. Wenn aber, dann gründlich. Und ich habe mich bereits gründlich verliebt, und bin wahnsinnig happy dabei. Da kann auch eine Schwedischlehrerin nichts daran ändern. Sollte die sich in mich verlieben, käme sie zu spät. Für die ist der Zug jetzt abgefahren.“
So mit der Zeit konnte ich Carola wieder beruhigen. Ich war verliebt, bis über beide Ohren und in die Haarspitzen. Und da konnte nun einmal auch eine Schwedischlehrerin nichts daran ändern. Komisch war das alles aber schon. Die Frage, was passiert, wenn mit der Jobvermittlung wirklich alles so klappt, wie ich mir das vorstellte, wurde nicht gestellt.
Einen Tag, bevor die Schwedenreise losgehen sollte, brachte ich am Vormittag noch die, während meiner Abwesenheit fällig werdenden Bücher zurück in die Bücherei. Mehr per Zufall, als bewusstes Interesse, schaute ich dort auf die Pinnwand, die in dem Vorraum der Bücherei an der Wand hing. Jemand bot eine neue, noch original verpackte Matratze, in der Größe 200 x 140 cm, zum Schnäppchenpreis an. Meine alte Matratze war nur 90 cm breit. 140 cm wären na klar toll, wenn Carola öfters bei mir übernachten würde. Ich schnappte mir den Zettel, eilte nach Haue und rief unter der Telefonnummer an. Ich hatte die Möglichkeit gleich vorbeizukommen. Sollte ich die Matratze kaufen, würde der Verkäufer sie auch zu mir nach Hause bringen. Ich steckte mir das notwendige Geld ein, und machte mich auf die Socken. Wir wurden uns einig und brachten gemeinsam die Matratze zu mir nach Hause. Dann noch schnell in die Stadt, ein entsprechendes Bettlaken kaufen, und Carola und ich konnten nach meinem Urlaub viel bequemer hier übernachten.
Nachdem mein neues Bett gerichtet war, schaute ich in meinen Computer. Ich hatte eine E-Mail von Carola, in der sie sich wahnsinnig entschuldigte.
„So, deine quakige Freundin schreibt dir noch, bevor sie total abstürzt. Die Nachbarn haben ihr Baby geholt, und als Dank für das Babysitten eine Flasche Rotwein dagelassen. Britta und ich trinken und kochen nebenbei. Das wird meist besonders lecker……
Ich wollte dir nur sagen, dass ich weiß, dass ich gerade recht jaulig bin. Dieses Nichtrauchen macht mich ziemlich weinerlich und raubt mir meine sonst fast immer gültige Gelassenheit. Ich finde es prima, dass das alles so klappt mit den Möglichkeiten. Die Frau Schulze lebe hoch, und die Ich-bring-dir-schwedisch-bei-Frau auch. Es kann nicht besser laufen, und ich kriege mich schon wieder sortiert, so eifersuchtsmäßig ….. ist offenbar eine Schwäche von mir.
Vergiss keine wichtigen Sachen einzupacken. Ich will dich am 03.09. wieder sehen. Dir einen schönen Abend, und ich esse jetzt mit der Weiber-Familie……. Sei allerliebst umärmelt!!!!! Und geküsst!!!
Deine Carola.“
Nachdem ich die E-Mail gelesen hatte, musste ich grinsen. Der Frau Schulze, das war die Sachbearbeiterin bei der ARGE, die mich in das Objekt „Profil 300“ eingeschleust hatte, wurde von Carola für ihre Tat Absolution erteilt, die Schwedin durfte mir Schwedisch beibringen, und Carola würde ihre Schwäche der Eifersucht schon wieder einkriegen.
Außerdem versuchte sie anscheinend mit dem Rauchen aufzuhören. Wegen mir? Ich war zwar Nichtraucher, hatte aber nie angesprochen, dass sie aufhören sollte. Sie hatte sogar in meiner Wohnung, ohne dass ich die Nase verzogen habe, rauchen dürfen. Allerdings, das muss ich zugeben, es war Sommer, und meine Fenster standen Tag und Nacht, um wenigstens einen kleinen erfrischenden Lufthauch, falls so etwas überhaupt bei den Außentemperaturen möglich war, zu erwischen. Und ich hatte angedeutet, dass bei Außentemperaturen, bei denen ich die Wohnung nicht auf Durchzug schalten konnte, mich es doch stören würde, wenn die Wohnung nach Rauch riecht. Das hatte Carola aber nicht gestört, da ihre jetzige Mitbewohnerin auch Nichtraucherin war, und Carola schon heutzutage in Hannover, sich zum Rauchen immer auf den Hausflur verkrümeln musste.
Aber nun schien sie mit dem Rauchen aufhören zu wollen. Auch wenn sie sich das in ihrem Leben vielleicht schon oft vorgenommen hatte, welcher Raucher tut das nicht, war ich wohl doch eine weitere Motivation, den Absprung von der Zigarette weg, zu versuchen.
Ich schickte ihr eine E-Mail zurück, schrieb darin, dass ich sie vermisse, mich darauf freue sie bald wiederzusehen, und schrieb von meiner neuen Matratze. Dann packte ich meinen Rucksack.
In der letzten Nacht vor der Schwedenfahrt schlief ich das erste Mal auf der neuen Matratze. So alleine auf ihr liegend, war sie ganz schön groß.
Am nächsten Tag sollte am späten Nachmittag mein Zug fahren. Der Rucksack war gepackt, der Beutel mit dem Reiseproviant auch. Die Frikadellen, es war bei mir Tradition, dass es als Reiseverpflegung selbst gebrutzelte Frikadellen gab, gebraten und eingepackt. Es konnte losgehen. Ich wartete nur noch auf den Zug, bzw. darauf, dass es Zeit wurde, zum Bahnhof zu gehen.
Ich hatte Lust endlich loszufahren. Allerdings war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich wirklich in das nordschwedische Fjäll wollte, oder nicht doch lieber nach Hannover. Carola fehlte mir.
Ich hatte noch Zeit, bis ich zum Bahnhof musste, schaltete daher noch einmal meinen Computer an und schaute in meine E-Mail-Box.
Es gab eine E-Mail von Carola.
„Sei zum Abschied noch ganz lieb umärmelt,
…….ich küsse und knuddel dich und halte mich an deiner Hand fest, auch wenn du gerade durch ferne Gegenden läufst …. Ich freue mich ganz doll darauf, dich wieder zu sehen, leuchtende Augen und dein Lachen, Haut an Haut mit dir … Bis bald …. Und nicht meine Schublade aufräumen, zuschließen und den Schlüssel wegwerfen .…. Bis dann, deine Geliebte.“
Wow, das saß. So was liest man doch gerne. Da strahlte und klopfte das Herz. Aber wieso war ich nur so bescheuert gewesen, meinen Urlaub, oder genauer, meine „genehmigte Abwesenheit vom Wohnort“, in Schweden verbringen zu wollen? Hannover war sicher keine tolle Stadt, aber sie hatte eine Sehenswürdigkeit in ihren Mauern, die man ständig ansehen und in den Armen halten konnte, ohne sich woanders hinzuwünschen.
Ich bekam immer mehr Lust Zug zu fahren. Aber nach Norden? Da war ich mir nicht mehr so sicher.
Und Carola hatte sich daran erinnert, dass ich ihr gesagt habe, dass ich die Wanderung benötige, um meinen Kopf freizubekommen. Das Chaos der letzten Jahre mit meiner Firma, die ja dann mit einem Konkurs in die ewigen Wirtschaftsjagdgründe gegangen war, und einiges andere noch im Kopf aufzuräumen, in Schubladen einzusortieren, oder wegzuschmeißen. Auch wenn, nach meiner Firmenpleite, Carola sicher das größte Chaos war, was in meinem Schädel herumgeisterte, hatte ich nicht vor, sie auszusortieren und zu entfernen.
Ich schrieb ihr noch schnell eine E-Mail.
„Ich sehne mich auch nach dir, auch deine nackte Haut zu spüren, dich auf die Nase, Mund, Brüste, Bauchnabel und (…..) zu küssen.“
Da erspare ich mir hier weitere Details; es soll hier ja jugendfrei bleiben.
Weiter schrieb ich noch: „Über deine Schublade brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie ist abgeschlossen, der Schlüssel ist weggeschmissen. Ich habe nur ein kleines Loch gelassen, um hineinzuschauen und Neues hinein zu stopfen. Aber etwas heraus ziehen, das geht nicht. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich in die falsche Richtung fahre.“
Ich hatte damals wirklich eine tolle E-Mail von Carola erhalten. Und dass sie mit dem Rauchen aufhören wollte, rechnete ich schon, zumindest zum Teil, ihren Gefühlen mir gegenüber an. Auch wenn das Thema Zukunft in Schweden nur ab und zu, wie ich ja bereits geschrieben habe, indirekt erwähnt, konkret aber bis jetzt beiseite geschoben wurde, konnte ich die Möglichkeit, die mir das Projekt „Profil 300“ ermöglichte, nicht einfach verstreichen lassen, oder darum bitten, die Sache um sechs Monate nach hinten zu schieben. Es musste eine Entscheidung fallen, dringend, bevor ich am 11. September wieder zur ARGE musste. Ich weiß es nicht mehr, aber vielleicht wollte ich auch mit Ruhe durch das schwedische Fjäll wandern, um meinen Kopf klar zu bekommen, und vielleicht eine Lösung oder Entscheidung dort treffen. Befürchtete Carola genau das, als sie mich aufgefordert hat, die Schublade „Carola“ in meinen Kopf nicht auszuräumen? Die Wanderung verschaffte mir die nötige Ruhe, darüber nachzudenken. Ich wollte weder auf meine Zukunftschancen in Schweden verzichten noch auf Carola.
Kurz vor 19:00 Uhr stieg ich in den Euro-City der dänischen Staatsbahn, und fuhr Richtung Kopenhagen, mit großer Vorfreude auf Schweden, auf das nordschwedische Fjäll, die Wanderung, sich abends einen schönen Platz an einem See oder Bach zum Zelten zu suchen, vor dem Zelt, auf dem Rucksack sitzend zu kochen, die Landschaft und Ruhe zu genießen, die Seele und die Gedanken baumeln zu lassen, und irgendwann in den Schlafsack zu kriechen.
Aber gleichzeitig, während ich mich auf das Fjäll freute, war mir bewusst, dass ich mich mit dem Zug immer weiter von Carola entfernte.
Spät abends kam ich in Kopenhagen an. Der X-2000 nach Stockholm sollte erst am nächsten Vormittag fahren, und da der Bahnhofssaal von Kopenhagen um Mitternacht abgeschlossen wurde, ging ich über einen Nebeneingang auf den Bahnsteig, von dem der X-2000 losfahren sollte. Dort legte ich mich auf eine Bank und dachte, vor mich hin dösend, an Carola. So richtig fest schlafen wollte ich hier nicht. Es war sicher kein Problem im schwedischen Fjäll an einem Baum oder Stein liegend, eine Runde zu schlafen, aber auf einem Bahnsteig von Kopenhagen war das sicher nicht gerade empfehlenswert. Wäre ich statt nach Kopenhagen in Richtung Hannover gefahren, würde ich jetzt neben Carola liegen, ohne vorsichtig ein Auge halb offen zu halten, um zu schauen, ob jemand gedenkt, vielleicht über mich herzufallen.
Und selbst wenn in Hannover Carola mitten in der Nacht über mich herfallen würde, wäre es sicher etwas anderes gewesen, als das, was mich hier in der Nacht, auf einen leeren Bahnsteig erwarten konnte.
Obwohl ich nicht geschlafen hatte, fühlte ich mich am nächsten Morgen richtig wohl und fit, als der Zug auf meinem Bahngleis einlief. Eine Dusche wäre nicht schlecht gewesen, aber es war nicht so schlimm, dass ich ohne Dusche negativ auffallen würde.
Im Zug nach Stockholm döste ich ein bisschen Schlaf nachholend, während ich aus dem Fenster die Landschaft bewunderte. Auch wenn ich noch nicht sehr weit nördlicher von Lübeck war, wurde es doch schon sehr viel urwüchsiger, schwedischer da draußen.
Am frühen Nachmittag in Stockholm angekommen, packte ich meinen Rucksack im Bahnhofsgebäude in ein Schließfach, und genoss in dem Bahnhofscafé ein kurzes Fast-Food-Mittagessen, bevor ich mich in das Stockholmer Straßenleben stürzte. Wie nicht anders erwartet, war auch hier herrliches Wetter, sodass ich in aller Ruhe, die Klarabergsgatan zur Fußgängerzone hoch schlenderte. Dort bummelte ich langsam in Richtung „Gamla Staden.“ Die ganze Zeit stellte ich mir vor, wie es wäre, wenn Carola neben mir gehen würde. Wie es wäre mit ihr durch die Fußgängerzone und der Stockholmer Altstadt, Hände haltend zu bummeln. So gerne ich in Stockholm war, sie fehlte mir, und ich genoss es, sie in meiner Fantasie neben mich zu haben. So sehr ich meine Anwesenheit in dieser Stadt viele Jahre vermisst hatte, fehlte diesmal etwas hier. Etwas, was ich in früheren Jahren hier nie vermisst habe.
Spät nachmittags ging ich zum Bahnhof zurück, setzte mich wieder in das Bahnhofsrestaurant, das offen, nur durch eine, ein Meter hohe Glas-Stellwand von der Wartehalle abgetrennt war, und beobachtete das Treiben in der großen Wartehalle. Ob es nun am Bahnhof lag, oder an Stockholm, war mir nicht klar, aber dieser Bahnhof bereitete mir immer ein gewisses Kribbeln im Körper, wenn ich hier auf einen Zug wartete. Es gibt Orte, die liebt man einfach. Da kann man sich stundenlang aufhalten, ohne dass es langweilig wird. Der Stockholmer Bahnhof gehört für mich zu solchen Orten.
Hier zu sitzen war immer etwas Besonderes. Wäre jetzt noch Carola hier, wäre das Glück vollkommen.
Im Nachtzug ging es dann Richtung Norden. Hin zu einer wunderbaren Landschaft, mit sehr wenig Menschen und viel Natur, allerdings leider immer weiter weg von Carola. Während die Landschaft am Zugfenster vorbeizog, dachte ich an sie.
Auch in Boden, dort musste ich vom Nachtzug in den Regionalzug, der bis nach Narvik in Norwegen fuhr, umsteigen, schien die Sonne vom blauen Himmel, allerdings mit inzwischen doch angenehmer Lufttemperatur. Hier war es nur noch knapp über 20°C, was allerdings für diese Ecke auch schon über durchschnittlich war. Endlich stieg ich gegen Mittag in Gällivare aus dem Zug und war somit fast da, wo ich hinwollte. Für mich war hier die Zugfahrt zu Ende. Ungefähr eine Stunde nach meiner Ankunft hier, würde vom Bahnhofsvorplatz der Bus nach Ritsem starten, von wo aus ich mit der Wanderung auf dem Padjelantaleden beginnen wollte, und die Zivilisation endlich, nach noch einer kleinen Bootsfahrt über den dortigen See, hinter mir lassen würde.
Der Bahnhof von Gällivare war ein schönes altes Gebäude aus massivem Holz. Auch so ein Ort, wo ich mich wohl fühle. Ich setzte mich am Bahnhof auf eine Bank und schaute von dort auf die Berge, die in der Ferne zu sehen waren. Die Luft war frisch. Es roch nach Fjäll.
Es war herrlich hier zu sein. Nur wo war die Sonne, die doch selbst noch in Boden geschienen hatte, geblieben? Der Himmel war grau von Wolken, und es gab einen leichten Nieselregen. So etwas hatte ich schon seit Monaten nicht mehr erlebt. Ich war doch nicht nach Nordschweden gefahren, um dort norddeutsches Schmuddelwetter, das es in Norddeutschland allerdings schon seit Monaten nicht mehr gegeben hat, zu erleben.
Aber egal. Es war Urlaub. Nachdem ich meinen ersten Hunger nach „Landschaft“ befriedigt hatte, schloss ich die Augen und träumte von Carola, die leider ganz schön weit weg war.
Eine Viertelstunde, bevor der Bus fahren sollte, hielt ich es nicht mehr aus, öffnete meinen Rucksack und suchte in dessen Tiefen mein Handy, das dort, in einer Plastiktüte geschützt, irgendwo lag. Noch war ich in der Zivilisation, noch gab es Funkkontakt. Nach etwas blindem Wühlen fand ich mein Handy. Den Rucksack schnell wieder zugemacht, und Carolas Nummer gewählt. Dabei sah ich schon den Bus um die Ecke kommen. Nummer gedrückt, und das Handy ans Ohr gehalten. Ein Freizeichen hatte ich schon mal. Dann hörte ich eine erstaunte Stimme am Telefon. Carola hatte meine Nummer erkannt:
„Hallo, was ist denn mit dir los? Ich denk du bist in Schweden.“
„Bin ich auch. Ich bin gerade in Gällivare aus dem Zug gestiegen. Mein Bus kommt gerade, der mich nach Ritsem bringen soll. Hier ist wohl das letzte Mal, dass ich Funkkontakt habe. Ich vermisse dich. Ich wäre viel lieber in Hannover bei dir.“
„Ich vermisse dich auch wahnsinnig. Und wie geht es dir sonst?“
„Oh wunder, hier regnet es.“
„Nein.“
„Doch wirklich. Ich wusste gar nicht mehr, wie ein grauer Himmel aussieht. Mein Bus ist gekommen. Ich muss Schluss machen. Wir sehen uns am Lübecker Bahnhof.“
„Ich bin mit Sicherheit da.“
„Ich vermisse dich.“
„Ich dich auch. Wehe du kommst nicht zurück. Und räume nicht meine Schublade aus.“
„Nein, keine Angst. Den Schlüssel hab ich schon in Lübeck weggeworfen. So ich muss zum Bus. Küsschen.“
„Auch. Viel Spaß beim Wandern. Und komm auf jeden Fall wieder.“
Das war’ s. Ich musste in den Bus, sonst wäre dieser noch ohne mich losgefahren. Aber es war mir klar, dass ich mich auch durchaus schon darauf freute, in ungefähr zwei Wochen, hier von Gällivare aus, wieder in den Zug nach Süden zu steigen.
In Ritsem angekommen, der Bus hielt direkt an dem Bootsanleger, ging es dann noch mit einem kleinen Schiff über den Akkajaure, an dessen Südufer ich erstmalig seit Jahren wieder meinen Rucksack, richtig für eine Wanderung, mir auf den Rücken schnallte.
Es war Sommer 2006. Genau vor dreißig Jahren, im Jahr 1976 hatte ich meine erste Wanderung, damals in den schottischen Highlands erlebt, fiel mir so bei den ersten Schritten ein. Meine Gedanken wanderten also schon, so ganz alleine vor sich hin.
Und nun stapfte ich, Richtung Süden laufend, hier in Nordschweden in das Fjäll. Von dem Regen, den es noch in Gällivare gegeben hatte, war hier nichts zu sehen. Der Himmel war wieder so blau, wie ich ihn die letzten Monate ständig in Lübeck erlebt hatte. Es war warm. Mindestens 20°C im Schatten, gute 5-10°C wärmer als es in dieser Ecke normal war.
Die Kunst beim Wandern den Kopf freizubekommen, liegt darin, einfach zu laufen, sich an der Gegend zu erfreuen, und an nichts Bestimmtes zu denken. Irgendwann wandern die Gedanken von ganz alleine in irgendeine Richtung. Der Trick ist, dieses nicht bewusst beeinflussen zu wollen, sondern die Gedanken einfach treiben zu lassen.
Automatisch landeten meine Gedanken immer wieder bei Carola. In meinen Gedanken ging sie oft neben, vor oder hinter mir. Ich zeigte ihr die Landschaft, Lemminge, Rentiere, Vögel, halb verfallene Samenkoten, deren Gerippe aus Baumästen von Erdsoden bedeckt waren. Wir durchwateten zusammen Bäche und überquerten Flüsse über Holzhängebrücken.
Wie sollte das bloß erst werden, wenn ich in ein paar Monaten in Schweden arbeiten und wohnen würde? Ich konnte dann ja wohl schlecht den halben Tag träumend aus dem Fenster starren und an Carola denken.
Ab und zu schweiften meine Gedanken auch zu meiner Firmenpleite und zu den Folgen, die mir dadurch entstanden waren. Einige Gläubiger, die versuchten das Geld, das meine ehemalige Firma ihnen schuldete, von mir zu bekommen, setzten mir zu. Ich dachte auch an Osmar, einem ehemaligen Geschäftspartner, aus der Zeit, als ich meine Installationsfirma gehabt habe, der mir, nach meiner Pleite, auf gut Glauben einen Computer bezahlt hat, und ich nicht wusste, wie ich ihm das Geld zurückzahlen sollte. Die Hälfte hätte ich ihm zurückzahlen können, wenn ich auf meine Schwedenreise verzichtet hätte. Ich hatte deshalb schon ein schlechtes Gewissen, aber ich brauchte diese Auszeit hier. Noch mehr als in Lübeck merkte ich jetzt hier, durch das Fjäll laufend, wie sehr ich das hier vermisst hatte.
Aber ständig wanderten meine Gedanken wieder zurück zu Carola. Obwohl sie in Hannover war, war sie bei mir. Was hatte sie mir noch per E-Mail geschrieben, kurz bevor ich zum Bahnhof gegangen war?
„….. ich küsse und knuddel dich, und halte mich an deiner Hand fest, auch wenn du gerade durch ferne Gegenden läufst …“
Ich spürte ihre Hand. Und das war ein schönes Gefühl.
An diesem ersten Wandertag ging ich vom Bootsanleger nur noch ca. 5 km in Richtung Süden. Ich kannte dort eine Stelle an einem Bach, schön versteckt. Da hatte ich schon einmal vor Jahren gezeltet.
Es war herrlichstes Wetter. Ganz schön warm fürs Wandern, und es gab so gut wie keinen Schatten. In kurzen Hosen und T-Shirt, an so manchem Bach eine kleine Trinkpause einlegend, ging es zu dem, von mir ausgesuchten Übernachtungsplatz. Ich fand die Stelle wieder, die eine genügend ebene Fläche für mein Zelt und einen Vorplatz zum Kochen hatte, von drei Seiten von Gebüsch umgeben war, und an der vierten Seite frei herunter zum Bach ging, der ungefähr fünf Meter entfernt vorbeilief.
Nachdem ich das Zelt aufgebaut hatte, ging es erst einmal für eine gründliche Wäsche zum Bach. Das Wasser war a… kalt. Also wurde die Körperreinigung schnell durchgezogen, und dann sich in die Sonne gestellt, um wieder warm zu werden. Dann gab es das wohlverdiente „Corned Beef“ mit Reis, in meinem Spiritus-Trangia-Kocher zubereitet.
Nach diesem exquisiten Essen, mit gefühlten zwei Sternen, stellte ich das Geschirr zum Einweichen mit Wasser gefüllt an den Bach, und legte mich vor dem Zelt, gegen den Rucksack gelehnt, in die Sonne. Ich schaute mich um. Mein Blick schweifte über den Ahkka, dem höchsten Berg hier in der Gegend, der östlich von mir lag und von der Abendsonne angestrahlt wurde. Ich ließ die Seele baumeln. Meine Gedanken wanderten wieder Richtung Carola. Schade, dass sie nicht hier war. So blieb mir nur an sie zu denken, während die Sonne langsam im Westen unterging.
Mit dem Sonnenuntergang wurde es schnell kühl. Ich packte den Rucksack unter das Außenzelt, kroch ins Zelt und legte mich in meinen Schlafsack. Die erste Nacht seit Langem, die ich in einem Zelt verbrachte. Herrlich. Ich schlafe auf so einer Wanderung im Zelt nie tief, aber trotzdem gut und lange, sodass ich mich am nächsten Morgen richtig gut und ausgeschlafen fühlte, als ich wach wurde. Als ich den Reißverschluss vom Schlafsack öffnete, merkte ich allerdings, dass es während der Nacht saukalt geworden war. Mein Waschlappen, den ich draußen an einer Zeltleine zum trocknen aufgehängt hatte, war sogar steif gefroren. Den Temperaturen angepasst, gab nur eine Katzenwäsche, und dann ging es schnell in die warmen Klamotten. Aber die Sonne strahlte schon wieder vom blauen Himmel. Die Luft wurde schnell wärmer.
Ich backte mir in der Pfanne meines Kochers, für das Frühstück kleine Brotfladen und schmierte darauf Kaviar bzw. Käse mit Krabbenfleisch, beides typisch schwedischer Brotaufstrich aus der Tube, den ich in Stockholm eingekauft hatte. Dazu trank ich noch eine kleine Kanne heißen Tee und fing danach an, nach einem kurzen Abwasch, meine Sachen zusammenzupacken, und die erste richtige Tagesetappe zu starten.
Das Wetter blieb so, wie ich es schon die letzten Monate aus Lübeck kannte. Woher das kurze und anscheinend kleine Schlechtwettergebiet hergekommen war, das ich einen Tag vorher, mittags in Gällivare angetroffen hatte, wusste ich nicht. Es schien auch nur ein Ausrutscher gewesen zu sein. Vielleicht wollte Petrus auch nur einmal kurz daran erinnern, dass er durchaus auch anders konnte, wenn er denn wollte.
Bei mir blieb das Wetter auf jeden Fall auch weiter richtig heiß, sodass ich froh war, wenn ich etwas tiefer, unterhalb der Baumgrenze gehen konnte, um durch die Bäume vor den Sonnenstrahlen geschützt zu werden. Meistens ging der Weg aber oberhalb der Baumgrenze, wo es keinen Schatten gab. Dafür hatte ich dann eine herrliche Aussicht über die Landschaft. Südlich von Staloluokta, einer bewirtschafteten Schutzhütte auf meinem Weg, konnte ich ein Hochtal bewundern, das ich zwar ein paar Jahre vorher schon einmal durchwandert war, allerdings damals in strömendem Regen, von Wolken umgeben, und mit einer Sichtweite, die unter zehn Meter gelegen hatte. Jetzt bei herrlichem Wetter war der Blick fantastisch. Carola wäre sicher beeindruckt gewesen, wenn sie das hätte sehen können.
Eigentlich wollte ich die Strecke bis zur Fjällstation Kvikkjokk in acht Wandertagen schaffen, den Tag an dem ich mit dem Boot über den Akkajaure gekommen war, nicht mit eingerechnet. Von Kvikkjokk sollte es dann, in weiteren vier Tagen bis Saltoluokta gehen, der Fjällstation, von der ich in den Bus zurück nach Gällivare steigen wollte. Aber irgendwie verlor ich unterwegs einen Tag. Ob ich nun langsamer ging, weil es so warm war, oder die Aussicht so umwerfend, weiß ich nicht. Vielleicht auch beides.
Da durch den Zeitverlust ein Durchmarsch bis nach Saltoluokta nur Stress bedeuten würde, und dafür war die Wanderung nicht gedacht, beschloss ich in Kvikkjokk die Wanderung zu beenden. Die drei Tage, die ich die Wanderung dadurch früher beenden würde, konnte ich ja versuchen, früher nach Lübeck zu kommen.
Carola hatte mir, an einem der Tage vor meiner Abfahrt, am Telefon erzählt, dass sie das erste Wochenende im September auf der Insel Rügen verbringen wollte, um dann zum Sonntagabend rechtzeitig in Lübeck einzutreffen, um mich dort vom Bahnhof abzuholen.
Wenn ich statt am Sonntagabend schon am Donnerstag in Lübeck eintreffen würde, könnte ich ja vielleicht noch bis Rügen weiterfahren, und sie dort treffen. Ich fand die Idee toll, bevor ich in Kvikkjokk zwei Tage herumgammeln würde, könnten wir doch noch auf Rügen anderthalb Tage gemeinsam Urlaub machen.
Leider verlor ich dann einen weiteren Tag auf meiner Wanderung. In der Fjällhütte Såmmarlappa kaufte ich mir als Wegzehrung zwei Snickers. Ich weiß nicht, ob es an denen lag oder am Wasser, auf jeden Fall, nachdem ich in einer Wanderpause an einem Bach diese beiden Snickers, zusammen mit einem kräftigen Schluck aus dem Bach, als Wegzehrung gegessen hatte, fing mein Magen an zu knurren und regelrechte Knoten zu bilden. Ich kam mit Müh und Not bis zur Fjällhütte Njunjes, wo ich mich, zu schlapp um mein Zelt aufzubauen, einquartierte, und da es mir am nächsten Morgen nicht besser ging, ich den ganzen Tag und noch eine weitere Nacht dort verbrachte. Die Hüttenwirtin, eine alte Frau, sie hieß netterweise Carola (das ist kein Scherz), machte sich richtig Sorgen um mich. Aber nach einem Tag Pause konnte ich mich auf den Weg nach Kvikkjokk aufmachen. Dieser letzte Tag meiner Wanderung war der erste Tag, an dem die Sonne nicht schien, und ich unter Wolken, durch den Regen meinen Weg ging.
Durch diesen weiteren verlorenen Tag war jede Hoffnung vorbei, früher nach Lübeck zu kommen, und Carola noch auf Rügen zu besuchen.
Schade.
Nach einer Übernachtung in der Fjällstation von Kvikkjokk, in dessen Shop ich von meinem letzten überflüssigem Geld einen Knuddelelch kaufte, der einen gestrickten blauen Schwedenpullover trug, und für Carola als kleines Mitbringsel gedacht war, ging es am nächsten Tag mit dem Bus nach Jokkmokk. Die Hauptsaison war schon vorbei, der Busfahrplan schon entsprechend für die Nebensaison ausgedünnt, sodass ich diesen Tag nicht mehr bis Gällivare kam, sondern in Jokkmokk noch eine Übernachtung einlegen musste.
Somit war noch ein Tag verloren.
Während der Busfahrt zog die wahnsinnig schöne Landschaft an mir vorbei. Hier zu arbeiten und zu leben musste toll sein. Selbst wenn man hier sicher auch als Physiotherapeutin einen Job finden würde, hatte Carola sich mit ihrer Praxis auf Hannover eingestellt, dort investiert und war Britta gegenüber in die Pflicht gegangen. Sie konnte, selbst wenn sie wollte, dort nicht einfach alles hinschmeißen.
Nicht sie, sondern ich war derjenige, der, zumindest zurzeit noch, relativ flexibel in Sachen Arbeits- und Wohnort war. – Noch.
Wie erhofft hatte ich das Gefühl, dass der Müll, der sich in den letzten Jahren in meinem Kopf angesammelt hatte, während der Wanderung in die richtigen Schubladen gelegt, wieder sortiert war. Allerdings gab es jetzt eine Schublade zu viel. Für die beiden Schubladen Schweden und Carola gab es nur ein Schubladenfach. Eine von den beiden Schubladen musste entsorgt werden. Die Frage war nur welche.
In Jokkmokk angekommen, eilte ich gleich zum Vandrarhem. Das erste Mal seit zwei Wochen, dass ich wieder wegen der Uhrzeit hetzen musste. Der Bus hatte Verspätung gehabt, und die Rezeption im Vandrarhem würde bald schließen. An der Rezeption lagen mehrere Zeitungen, die man kostenlos mitnehmen konnte. Eine Zeitung hieß „Framtid i Jokkmokk“. Übersetzt: „Zukunft in Jokkmokk.
Während ich in der Küche mein Abendessen verputzte, blätterte ich in der Zeitung. Jokkmokk ist berühmt für sein Samenmuseum und für seinen Wintermarkt, den es seit 1605 gibt, und zu dem die Samen aus ganz Lappland hinkommen, um ihre Waren dort zu verkaufen bzw. die Dinge, die sie fürs Leben im folgenden Jahr benötigen, einzukaufen. Außerdem ist Jokkmokk ein bekannter Touristenort. Im Winter gibt es Möglichkeiten für Ski-Langlauf und für den Sommer ausgewiesene Wanderwege. Gerade im Tourismusbereich wurden Mitarbeiter gesucht. Besonders mit Englischkenntnissen wurden Mitarbeiter benötigt. Das war bei mir mau, müsste also ausgebaut werden. Aber sie suchten auch hier im Ort Mitarbeiter mit Deutschkenntnissen. Und Deutsch geht bei mir ja ganz gut.
Hier arbeiten, in der Touristenbranche oder in einem Outdoor-Shop, das wäre schon was. Herrliche Gegend, man wäre schnell im Fjäll, um dort die Natur beim Wandern, und im Winter beim Langlaufski zu erleben. Auf Skiern stand ich zwar noch nie, aber wenn ich hier wohnen würde, hätte ich sicher Zeit und Gelegenheit es zu lernen. Und mit dreitausend Einwohnern, Touristen nicht eingerechnet, war der Ort auch übersichtlich. Trotz der geringen Einwohnerzahl war Jokkmokk mit Einrichtungen gesegnet, wie sie ein Ort dieser Größe in Deutschland nicht hat. In Lappland gehört Jokkmokk zu den „großen“ Orten. Jokkmokk ist sozusagen ein Schwerpunktort.
Am nächsten Morgen fuhr der Bus so früh in Richtung Gällivare, dass ich nicht mehr die Zeit hatte, auf gut Glück einfach mal bei der örtlichen „Arbetsförmedling“ vorbei zu schauen, um mich schon einmal unverbindlich nach Arbeitsmöglichkeiten zu erkundigen. Aber ich packte die Zeitung „Framtid i Jokkmokk“ ein. Mal sehen, was die Mitarbeiter des Projektes „Profil 300“ dazu sagen würden.
Aber wie wird das dann mit Carola? Jokkmokk lag in Nordschweden, da war es schon von vornherein klar, dass die Beziehung nicht halten würde. Bei dem Gedanken wurde mir mulmig im Magen. Egal wie ich mich entscheiden würde, ich würde etwas verlieren. Entschied ich mich für Schweden, wenn es denn überhaupt klappen würde, würde ich Carola verlieren.
Entschied ich mich für Carola, müsste ich die Aktion bei der ARGE abblasen. Mit welchen rechtlichen Konsequenzen, sollte ich mich auf einmal quer stellen, gerade nachdem ich auch noch so gedrängt hatte, um in das Projekt hereinzukommen, war mir auch nicht klar.
Durfte ich überhaupt wegen einer Beziehung, die gerade einmal, wenn man die Urlaubsreise nicht mit rechnete, drei Wochen existierte, meine berufliche Zukunft infrage stellen?
Das hier war Jokkmokk, und nicht Seattle. Ich war auch nicht Tom Hanks, der seinem leicht überaktiven kleinen Sohn nach New York hinterher flog, um eine durchgeknallte Reporterin auf dem Empire State Building in die Arme zu schließen.
Und ich war auch nicht Harrison Ford als abgehalfterter Pilot, der nur noch Interesse an Alkohol und eine schnelle Nummer hatte, und dann mit einer überkandidelten Modedesignerin eine Bruchlandung auf einer einsamen Insel hinlegt, sechs Tage und sieben Nächte sich gegen die Frau und gegen Piraten wehren muss, und danach, schlabberig, wie er war, auf dem Flugplatz die durchgestylte Tussi in die Arme nimmt, und erklärt, sein ganzes Leben für sie ändern zu wollen.
In Hollywood wurde dann immer mit einem großen „Ende“ abgeblendet. Und niemand erfuhr, ob die Sache, trotz der verschiedenen Welten in der die Teilnehmer lebten, wirklich gut ging.
Und das hier war nicht Hollywood. Hier wurde nicht nach einer tollen Urlaubsreise, die Frau auf dem Bahnhof in die Arme genommen, die Drehbuchautoren von „Schlaflos in Seattle“ und „Sechs Tage sieben Nächte“, wären von der Szene begeistert gewesen, beide schworen, sich niemals mehr zu trennen, nicht einmal getrennt in den Urlaub zu fahren, um sich dann dort auf dem Bahnsteig, eng umschlungen ab zu knutschen, während die Kamera langsam zurück, über den Bahnsteig aus dem Bahnhof fährt, und dann in einen blauen Himmel schwenkt, wo, in Form eines weißen Wolkengebildes, ein großes „Ende“ erscheint.
Anderseits stellte sich aber auch die Frage genau in die andere Richtung. Konnte ich mich von Carola ganz bewusst trennen, und mit Liebeskummer in Jokkmokk eine neue Zukunft aufbauen? Könnte ich mich dort vernünftig auf einen neuen Arbeitsplatz konzentrieren, mich in die Umgebung einleben, wenn mir Carola fehlen würde.
Wie dachte eigentlich Carola darüber? Sie hatte mir E-Mails geschickt, die ganz klar zeigten, dass sie mich haben wollte. Anderseits war sie begeistert, dass die ARGE mir die Möglichkeit einräumte, mit ihrer Unterstützung mich in Schweden zu bewerben. War Carola nicht bewusst, dass beides, Schweden für mich, und für sie eine Beziehung mit mir, nicht machbar ist? Oder hatte sie das Problem, genauso wie ich bis jetzt, einfach verdrängt?
Wie schon geschrieben. Ich war weder Tom Hanks noch Harrison Ford, und niemand schrie „Schnitt“. Aber die wahre Bahnhofszene hätten wir sowieso noch einmal wiederholen müssen. Carola hat sie nämlich versaut. Aus dem gleichen Grund, der sie dazu veranlasste, in der Öffentlichkeit nie ihre Gefühle zu zeigen. Aber noch war es nicht so weit, da der Bahnhof von Lübeck noch fern war. Noch saß ich in Jokkmokk in dem Bus, um nach Gällivare zu fahren.
Auch in Gällivare musste ich noch einmal im örtlichen „Vandrarhem“ übernachten. Die Reiseplanung litt eindeutig dadurch, dass ich mir die Zugverbindung nicht selbst aus dem Internet zusammengesucht hatte, sondern beim Kauf der Tickets es dem Mann am Schalter überlassen habe die Züge auszusuchen. Aber das war jetzt nicht mehr zu ändern.
Zumindest war ich wieder zurück in der Zivilisation. Also holte ich mein Handy aus dem Rucksack, setzte mich in der Nähe des Vandrarhem ins Grüne und versuchte Carola zu erreichen, ihr mitzuteilen, dass ich noch lebe, nicht in einem Fluss ertrunken, von keinem Berg gestürzt, und auch nicht von Lemmingen zerfleischt worden bin. Ich schnupperte schon wieder Zivilisation und war auf dem Weg zu ihr. Leider erzählte mir mein Handy, dass ich nicht mehr genug Guthaben auf meiner Handykarte, für einen Anruf nach Deutschland hatte. Ich hatte versäumt, mir vor der Fahrt noch genügend Nachschlag zu kaufen. Also musste ich mit einem Lebenszeichen warten, bis ich sie in die Arme nehmen konnte. Das würde noch ungefähr achtundvierzig Stunden dauern.
Gällivare, Boden, Stockholm, Malmö, Kopenhagen, die Sundfähre von Rödby nach Puttgarden. Alles klappte, obwohl der Zug von Boden nach Stockholm fast eine viertel Stunde Verspätung hatte, und mein planmäßiger Aufenthalt in Stockholm daher von fünfundzwanzig Minuten, auf gerade einmal zehn Minuten schrumpfte, und ich, auf dem Stockholmer Bahnhof ankommend, noch nicht einmal wusste, auf welchem Gleis, in diesem weitverzweigten Bahnhof, mein Zug nach Malmö abfahren sollte.
Endlich näherte ich mich Lübeck. Am Bahnhof eingetroffen, nahm ich meinen Rucksack, der Knuddelelch schaute aus der oberen Rucksacktasche hervor, nur halb auf den Rücken, eilte aus dem Zug, schmiss den Rucksack auf den Bahnsteig, und schaute mich sehnsuchtsvoll, in Erwartung, dass man mich gleich stürmisch umarmen und abknutschen würde, um.
Aber es war niemand Bekanntes zu sehen, niemand stürmte auf mich zu.
Puh. Damit hatte ich nicht gerechnet. So stand das nicht in meinem persönlichen Drehbuch. Sie wollte mich hier doch empfangen. War etwas dazwischen gekommen? Wo war sie?
Enttäuscht schulterte ich meinen Rucksack, ging zur Treppe, die nach oben zu der Bahnsteigüberquerung führte, und schaute mich weiter nach Carola um. Endlich sah ich sie. Sie stand auf dem oberen Treppenabsatz und lachte mir zu. Mit einem breiten Grinsen stürzte ich auf sie zu, umarmte und küsste sie.
„Da bist du ja. Und ich dachte schon, du hättest mich versetzt“, grinste ich sie an.
„Wieso?“
„Na ja, eigentlich hatte ich mir vorgestellt, dass du gleich auf mich zu stürmst, sobald ich aus dem Zug gestiegen bin, und mich ordentlich abknutscht.“
„So was mach ich in der Öffentlichkeit nicht.“
„Schade. Hast du mich wenigstens vermisst?“
„Ganz doll.“
Na das war doch wenigstens etwas. Ich nahm sie bei der Hand, schlenkerte ihren und meine Arm voller Übermut nach vorne und hinten, während wir zum Ausgang gingen.
Zum Glück war Carola mit ihrem Wagen zum Bahnhof gekommen. Mit dem Rucksack und mit meinem, sicher nicht ganz zivilisierten Aussehen, wollte ich nicht unbedingt durch die Lübecker Altstadt laufen. Ich war nicht mehr in Jokkmokk, Gällivare oder auf dem Bahnhof von Stockholm, wo man am Anblick von leicht verschmutzten Wanderern, die gerade aus der Wildnis kamen, gewöhnt war. Und außerdem hatte ich inzwischen das dringende Bedürfnis schnell unter meine Dusche zu springen.
Wir fuhren in meinen Stadtteil. Die paar Meter, vom Parkplatz zu meiner Wohnung, wollte Carola unbedingt meinen Rucksack tragen. Obwohl kaum noch Lebensmittel in ihm steckten, wog er sicherlich noch so seine zwanzig Kilo, also ein ganz anderes Kaliber, als ihr Rucksack, der nur Klamotten enthielt, wenn sie aus Hannover zu kommen pflegte. Aber ihr Wunsch war mir Befehl, und zu gehen, ohne das Gewicht des Gepäcks auf den Rücken zu spüren, hatte ich in den letzten Wochen nur sehr selten genießen können.
Zu Hause angekommen gab es noch einmal, ohne Zuschauer, eine kräftige Begrüßung unter uns. Dann stopfte ich schnell die erste Runde dreckiger und stinkiger Wäsche in die Waschmaschine, damit deren Duft sich nicht erst noch, trotz Plastiktüten, in der Wohnung verbreitete, und flüchtete danach selbst, obwohl ich schon in Kvikkjokk meinen Wandergeruch ausgiebig herunter gerubbelt hatte, schnell unter die Dusche, da auch meine Klamotten, wenn auch in Kvikkjokk sauber angezogen, doch nicht mehr die frischesten gewesen waren, und auch meine letzte Körperreinigung zwei Tage zurück lag.
Nachdem ich nicht nur sauber, sondern rein war, ein leichter Duft von Kräutershampoo umwehte mich, was mir wohl nur durch dreiwöchige Abstinenz auffiel, machten wir beide uns es auf dem Sofa gemütlich. Carola hatte drei Flaschen Dunkelbier mitgebracht, und so erzählte ich, bei dem ersten vernünftigen Bier seit drei Wochen, von meiner Schwedenwanderung. Ich schwärmte von der herrlichen Landschaft, von der Stimmung, die ich dort erlebt hatte, z.B. als ich vor dem Zelt gegen den Rucksack gelehnt, auf den Silbersee, damit war der Vastenjaure gemeint, schauen konnte, dessen Oberfläche durch die Abendsonne eben total wie Silber geglänzt hatte.
Und ich erzählte, wie ich sie in Schweden vermisst habe, wie ich während der Wanderung von ihr geträumt, und mir gewünscht und vorgestellt habe, sie wäre bei mir.
Carola dagegen erzählte, was sie alles inzwischen in Hannover geschafft hat. Die Praxis war tapeziert, und jetzt fingen sie mit der Einrichtung an. Sie hofften, Anfang übernächster Woche die Zulassung zu bekommen. Bis dahin musste alles fertig sein, damit die behördliche Abnahme für die Praxisräume erfolgen konnte. Hatten sie die Zulassung, konnten sie sich bei den entsprechenden Ärzten vorstellen und Werbung für ihre Praxis machen.
Neben dem ganzen gegenseitigen Erzählen wurde es auf dem Sofa ein ausgiebiger Schmuseabend. Wir hatten uns drei Wochen lang nicht gesehen. Da gab es einiges nachzuholen.
Während wir auf dem Sofa schmusten, erzählte Carola, dass sie, statt am Wochenende auf die Insel Rügen zu fahren, wie es eigentlich geplant gewesen war, schon am Freitag in Lübeck eingetroffen war, und sich in meiner Wohnung breitgemacht hatte. Nur zum Duschen hatte sie zu ihren Freunden ausweichen müssen. Ich hatte vor meiner Reise den Gashahn abgestellt, und Carola, die das nicht gewusst hat, hatte daher nur kaltes Wasser zur Verfügung gehabt. Die Abende hatte sie bei Horst in der Kneipe mit den Freunden verbracht. Peter war auch da gewesen, erzählte sie mir.
„Treff dich doch mal mit ihm“, sagte Carola und schaute mich bittend an. „Peter würde sich freuen, ihr ward doch früher so dick zusammen gewesen, und er fand es wirklich schade, dass du zu seiner Geburtstagsfeier nicht mit wolltest.“
So richtig wollte ich nicht. Peter und ich hatten uns seit Jahren kaum gesehen, und ich hatte auch bei dem kurzen Treffen im „If“, kurz vor meiner Schwedenreise, nicht das Gefühl bekommen, dass wir uns noch viel zu sagen haben. Außerdem war er doch angeblich auf mich eifersüchtig, fiel mir wieder ein.
„Ihr könnt doch Billard spielen gehen, wie früher“, setzte Carola mir weiter zu.
Warum nicht. Unsympathisch war mir Peter ja nun auch nicht. Vielleicht sprang ja der alte Funke wieder über, und Billardspielen war ich auch schon lange nicht mehr. Da er zu den Bekannten von Carola gehörte, konnte ich ihm sowieso nicht ausweichen. Vielleicht war es wirklich besser, wenn ich versuchte mich mit ihm gut zu verstehen. Daher sagte ich Carola zu, dass ich, wenn ich wieder bei Horst in der Kneipe Peter treffe, zumindest mit ihm einmal eine Runde klönen wollte.
„Horst hat übrigens eine neue Freundin“, kam es von Carola, nachdem das mit Peter geklärt war. „Als ich gestern in der Kneipe war, hat er davon erzählt.“
„Und“, kam es von mir etwas überraschend. Ich wusste überhaupt nichts von dem Liebesleben von Horst und wunderte mich, dass Carola sich dafür interessierte.
„So ein junges Ding, gerade mal zwanzig, wenn überhaupt.“ Das klang richtig verächtlich. Na ja, Horst war ungefähr um die sechzig, aber das war doch wohl eher ein Problem seiner Freundin, nicht das von Carola.
„Wenn er das mit meiner Tochter machen würde“, die war ungefähr in dem Alter, „würde ich ihn umbringen.“
Plötzlich war Carolas Stimmung gekippt. Eben noch schmusig und voller zärtlicher Gedanken, wirkte sie jetzt fast wie ein versteinerter Racheengel.
„Das ist doch ihre Sache. Die Frau muss doch wissen, ob sie so einen alten Knacker will oder nicht. Zumindest hält der Staatsanwalt nicht mehr die Hand davor.“
„Trotzdem, mit meiner Tochter dürfte er das nicht machen“, kam es todernst zurück.
Was sollte denn das nun? Erstens war die Freundin von Horst nicht Carolas Tochter, und selbst wenn sie es gewesen wäre, wäre sie volljährig und müsste selbst wissen, wem sie sich an den Hals wirft. Aber ich war nicht aus Schweden zurückzukommen, um mich mit Carola wegen der Beziehungen von Horst zu streiten. Ich wechselte das Thema und Carola vergaß wieder ihre „Mutterinstinkte“, und wurde erneut schmusig.
Erst ein paar Monate später, als der Lebensgefährte meiner Schwester, von einem Erlebnis, das er mit Carola, in Verbindung mit ihrer Tochter, vor mehreren Jahren gehabt hatte, mir erzählte, musste ich wieder an diese Geschichte denken.
Nach weiteren stürmischen Zärtlichkeiten und Ausgequatsche, zeigte ich Carola die Zeitungen, die ich aus Schweden mitgebracht hatte. SvD, Framtid i Jokkmokk und andere.
Framtid i Jokkmokk dämpfte ein bisschen die Stimmung. Ich wiegelte ab. Noch war ja nichts entschieden. Carola fing aber erstmalig deutlich an kundzutun, dass sie nicht wollte, dass ich nach Schweden auswandere. Erst recht nicht nach Jokkmokk, das nach ihrer Auffassung fast am Nordpol lag. Sie wollte mich auf gar keinen Fall verlieren, fand es aber, und da musste ich ihr Recht geben, illusorisch zu glauben, dass eine Beziehung über gut zweitausend Kilometer Entfernung eine Zukunft hat.
Carola hatte aus Hannover, für mein Bett eine Bettdecke mitgebracht, die 2 x 2 m groß war. Eine Decke für uns beide zusammen. Und ganz viele kleine passende Kissen hatte sie auch noch auf das Bett verteilt. Ich fand es toll. Carola hatte aus meinem Bett, nachdem ich dieses vor meiner Fahrt schon mit der neuen Matratze für uns beide gemütlicher gemacht hatte, ein kleines Liebesnest gebaut.
Als wir spät abends unter die große Decke krochen, sagte Carola, sich an mir kuschelnd: „Du bist der erste Mann, bei dem ich das Gefühl habe, mit ihm unter einer gemeinsamen Decke schlafen zu können.“
Wow, wenn das eine neununddreißigjährige Frau sagt, ließ das für die Zukunft doch viel hoffen. Eine große Matratze, eine gemeinsame große Bettdecke, und eine tolle Frau, die sich selig an mich schmiegte. Ich fühlte mich wie im siebten Himmel.
Statt im siebten Himmel zu schweben, hätten mal lieber einige Alarmglocken anschlagen sollen. Carola hatte das nämlich ernster gemeint, als es für mich klang. Sie hatte nämlich überhaupt Probleme, neben einem Mann in einem Bett zu schlafen.
„......., doch keiner verstand zu deuten die Flammenschrift an der Wand.“
Irgendwann in der Nacht grübelte ich, Carola war neben mir inzwischen eingeschlafen, über meine Zukunft nach. Langsam aber sicher kam ich zu dem Entschluss, mit der ARGE über mein Problem zu sprechen. Es war besser jetzt, bevor praktisch irgendetwas angeleiert wurde, mit den Leuten zu reden, als später mitten im Projektverlauf. Ich wollte nicht meine Zukunft, sondern unsere gemeinsame. Und zurzeit war ich noch derjenige, der über den Ort seiner Zukunft relativ flexibel entscheiden konnte. Carola war in Hannover gebunden. Daran war nichts zu ändern.
Am Montag sollte ich bei der ARGE das Abschlussgespräch haben, bevor es ins Eingemachte ging. Bei diesem Gespräch wollte ich die private Veränderung, von der ich, als ich mich für das Projekt beworben hatte, noch nichts geahnt habe, ansprechen. Vielleicht gab es ja eine Lösung. Zumindest konnte ich eher jetzt auf eine Lösung hoffen, als später.
Bevor wir uns am Montagvormittag trennen wollten, sprach ich das Thema bei unserem gemeinsamen Frühstück an. Carola war begeistert. Ich sollte unbedingt die Chance, einen Job in Hannover zu bekommen, sollte man sie mir geben, nutzen. Als wir uns vor meiner Haustür trennten, gab sie mir einen dicken Kuss.
„Viel Glück, und sorge dafür, dass du nach Hannover kommen kannst.“
Das Gespräch bei der ARGE verlief besser als ich gedacht hatte. Das Motto des Projektes: „Wir machen alles, was der Kandidat möchte, solange es sinnvoll erscheint“, wurde anscheinend ernst genommen. Mein Schwedischkurs war bereits für mich gebucht, allerdings kein Crashkurs, sondern ein Anfängerkursus in einer größeren Gruppe. Nun, einen Anfängerkursus hätte ich auf keinen Fall benötigt, allerdings sollte ich an ihm, da er schon einmal gebucht war, trotzdem teilnehmen, auch wenn ich nicht mehr plante, nach Schweden auszuwandern. So ganz kam man auch hier an der berüchtigten deutschen Bürokratie nicht vorbei. Gebucht ist nun einmal gebucht. Aber im Grunde war es kein Problem, dass ich aus privaten Gründen mein Lebensziel geändert hatte. „Es bringt doch nichts, wenn wir sie nach Schweden vermitteln, und sie eigentlich ganz woanders sein wollen“, erklärte mir der Sachbearbeiter bei der ARGE zu meiner Erleichterung.
Ich sollte zwar die Einzelheiten noch mit der Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein (WAK), die die praktische Ausführung des Projekts durchführte, durchsprechen, aber man würde den dortigen Mitarbeiter schon im Vorfeld über die neue Sachlage informieren, sodass dieser vorbereitet war.
Der Schwedischkurs sollte am Montag, den 18. September, losgehen. Eine Woche vorher, am Montag den 11. September, war mein Termin bei der WAK, worauf noch in der gleichen Woche die Vermittlungsbemühungen losgehen sollten.
Der Montag und der Dienstag vergingen für Carola und mich wie im Flug. Wir fuhren auch mal wieder an die Ostsee, gingen viel spazieren und besuchten unsere Stammkneipe „Carrickfergus“. Nachts genossen wir die große neue Matratze. Wir unterhielten uns intensiv darüber, dass ich alles daransetzen sollte und würde, um in Hannover einen Job zu finden. Carola hoffte und drückte die Daumen, dass unsere gemeinsame Zukunft klappen würde. Sie wollte mich nicht, genauso wie ich sie nicht, an Schweden verlieren.
Am Mittwoch früh konnte Carola ihre Abreise, sie musste wieder nach Hannover, da sie jetzt die Einrichtung der Praxisräume beenden musste, nicht mehr hinausschieben. Bereits kurz nach vier stand sie auf, duschte kurz und verabschiedete sich von mir. Es half nichts, sie musste die letzten Sachen erledigen, damit die Abnahme der Praxis, durch die entsprechende Behörde, mit Erfolg durchgeführt werden konnte. Sie gab mir, der noch im Halbschlaf im Bett lag, einen dicken Kuss, als sie die Wohnung verlassen wollte.
„Bleib doch noch.“
Carola lachte. „Das geht nicht. Ich muss nach Hannover, sonst bekommen wir keine Abnahme. Und stell dich nicht so an. Du kommst ja schon übermorgen fürs Wochenende nach Hannover. Sorge inzwischen dafür, dass die WAK keinen Mist macht.“
„Das wird schon klargehen“, murmelte ich im Halbschlaf.
Dann war Carola weg.
Bei meinem Treffen mit dem WAK-Mitarbeiter ging alles glatt über die Bühne. Man hatte sich bereits mit einem privaten Personalvermittler in Verbindung gesetzt, der für mich in Hannover auf Jobsuche gehen sollte. Eigentlich fand ich das, was man für mich hier anstellte, herausgeschmissenes Geld, also Steuerverschwendung. Man gab sich riesige Mühe, um mich in Hannover zu vermitteln. Das fand ich zwar ganz toll, aber es wurde dadurch, auch wenn die Aktion ordentlich Steuergelder kostete, kein einziger zusätzlicher Arbeitsplatz geschaffen. Bekam ich in Hannover einen Job, hieße das nur, dass man viel Geld ausgegeben hat, um mir, der in Lübeck wohnte, einen Job zu vermitteln, den sonst ein Hannoveraner, durch die völlig normale Vermittlungsbemühung der ARGE-Hannover, hätte bekommen können, und der jetzt leer ausging. Ich schätzte, dass die ganze Aktion Profil 300, es wurde, sich ja nicht nur um mich gekümmert, sicher einige Hunderttausend Euro kosten würde. Dafür hätte man in Lübeck schon den einen oder anderen Meter Straße sanieren können, und damit nicht nur echte Arbeitsplätze geschaffen, bzw. sichern können, sondern man hätte auch etwas sehr dringendes geleistet. Lübeck hat es wirklich bitter nötig, dass die Straßen saniert werden, damit die notwendige kommunale Infrastruktur erhalten bleibt.
Aber ich wollte mich nicht beschweren. Der Topf war nun einmal bereitgestellt, und wenn ich nicht aus ihm schlabbern würde, würde es ein anderer tun. Und egal, wie ich über den Sinn und Unsinn der Ausgaben dachte, am Freitag fuhr ich mit dem Zug nach Hannover und freute mich schon darauf Carola in die Arme zu nehmen und ihr freudestrahlend zu erzählen, dass sich alle nur noch damit beschäftigten, mich in Hannover unterzubringen, und niemand sich mehr um Schweden kümmerte.
Auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofs Hannover, wo Carola mich abholen wollte, war keine Carola zu sehen. Auch in der großen Halle, ich wusste ja nun schon bereits, dass Carola stürmische Begrüßungen am Bahnsteig, direkt am Zug, nicht unbedingt mochte, fand ich keine Carola. Zum Glück war diesmal wenigstens mein Handy aufgeladen. Ich klingelte sie an:
„Ich steh hier heulend, einsam und verlassen, mitten auf dem großen Bahnhof. Ich weiß nicht wohin, und es ist keine Tante da, die mich abholt.“
„Wo bist du“, fragte Carola lachend.
Ich schaute mich schnell um.
„ÄÄhh. Moment mal. Hinter mir ist ein Mc.Donalds.“
„Dann weiß ich, wo du bist. Warte mal da. Wir sind gleich bei dir.“
Schon kurz drauf sah ich Carola, freudestrahlend über alle vier Backen grinsend, mit ihrer Tochter in meine Richtung laufen. Man sah ihr an, dass sie mich vermisst hat, auch wenn sie selbst noch am Mittwoch gelästert hatte, dass wir uns doch schon in zwei Tagen wieder sehen würden. Die Begrüßung war stürmisch. – Wow, es ging also doch. Carolas Tochter verdrehte die Augen, als Carola und ich uns gegenseitig die Zunge in den Mund steckten. Ich nahm meinen Rucksack, den ich vor dem Telefongespräch abgesetzt hatte, und wir bummelten Hand in Hand zu ihrem Wagen.
Bei ihr zu Hause stellte Carola mich ihrer Mitbewohnerin und Partnerin, der im Werden befindlichen Praxis, Britta vor. Wir verbrachten einen gemütlichen Küchen-Rotwein-Abend, der aber nicht bis in die Puppen ging, da am nächsten Tag noch in der Praxis gearbeitet werden musste.
Carola wollte mir unbedingt, voller Stolz die Praxis zeigen, die ich na klar auch sehen wollte. Außerdem musste an Nachmittag noch für das Wochenende eingekauft werden. Die Wände der Praxis waren bereits frisch tapeziert und angemalt. Jetzt hieß es, die Räume ihrer Bestimmung entsprechend einzurichten.
Auch wenn ich das alles ganz toll fand, irritierte mich Carolas Verhalten. Sie war völlig anders als in Lübeck, oder wie sie es auch noch gestern, bei der Begrüßung im Bahnhof gewesen war. In Lübeck war sie nicht nur für jede Zärtlichkeit, die ich ihr gegenüber zeigte, zu haben gewesen. Sie selbst hatte oft von sich aus, auch in kleinen Gesten, Zärtlichkeit gezeigt und gesucht. Wollte meine Hand halten, streichelte mit geschlossenen Augen, nur um ihn zu spüren, meinen Kopf, gab Küsschen. Oft kleine „zufällige“ Berührungen, wollte oft in den Arm genommen werden. Hier in der Praxis, wie auch bereits in ihrer Wohnung war sie sehr zurückhaltend. Ich hatte das gleich gespürt, als wir gestern in der Wohnung eingetroffen waren. Am Bahnhof und auf der Fahrt zur Wohnung war Carola richtig aufgekratzt gewesen. Sobald wir in der Wohnung angekommen waren, wurde sie zurückhaltend, ja richtig distanziert. Wobei auch schon in Lübeck Carola immer so distanziert gewesen war, wenn Bekannte von ihr sich in Sichtweite aufhielten. Als ob Carola sich scheute, vor ihnen ihre Gefühle mir gegenüber zu zeigen, sie sich ihrer Gefühle schämte.
Am Abend gab es wieder einen gemütlichen Küchenabend mit Rotwein. Zum Ausgehen hatte niemand Geld über, und wir wollten außerdem auch früh ins Bett. Am nächsten Tag feierte Britta Geburtstag, da musste noch einiges vorbereitet werden, und wer weiß, wie lange die Feier dann dauern würde. Etwas vorschlafen war da gar nicht so falsch.
Den Samstagvormittag verbrachten wir hauptsächlich damit Brittas Geburtstagsfeier vorzubereiten, bis dann am Nachmittag die ersten Gäste kamen. Das erste Paar war, wie ich erfuhr, auch erst relativ kurz zusammen. Sie war von Britta und Carola eine nähere Freundin, die die beiden in den letzten Monaten hier gefunden haben, er war sozusagen, wie ich, ein Anhängsel, der, außer seiner eigenen Freundin, niemand kannte. Sobald die beiden eingetroffen waren, wurde Carola mir gegenüber noch zurückhaltender, als sie es sowieso schon gewesen war. Jetzt verhielt sie sich mir gegenüber, als ob ich nur ein entfernter Bekannter von ihr wäre, den sie, da ich nun einmal zufällig in der Nähe gewesen war, einfach mal so kurz, weil die Kaffeemaschine sowieso gerade lief, auf einen Kaffee eingeladen hat. Da hatte es der neu Angekommene besser. Auch wenn die drei Frauen miteinander quatschten, bekam er seine regelmäßigen Streicheleinheiten und leicht angedeutete Zuneigung von seiner neuen Freundin, während Carola mich kaum beachtete, ja meine Anwesenheit fast schon ignorierte.
Zum späten Nachmittag füllte sich dann die Wohnung mit noch mehr Freunden von Carola und Petra. Auch wenn es ein gemütlicher Abend wurde, fühlte ich mich ausgeschlossen. Wenn man einmal davon absah, dass zwei Leute Gitarre spielten und die Leute, zumindest die, die die Lieder kannten, dazu sangen, war es eine reine Klickenfeier. Es war keine große Gruppe, in der jeder jeden kannte, sondern es waren einzelne Klicken, jeweils mit zwei bis vier Leuten, die sich untereinander kannten und sich entsprechend unterhielten. Im Stillen beneidete ich den jungen Mann, der mit seiner Freundin als Erstes hier als Gast erschienen war. Er kannte, wie ich auch, niemanden, hatte aber das Glück, dass sich seine Freundin, selbst wenn sie sich mit anderen unterhielt, ihn mit einbezog und zärtliche Gesten ihm gegenüber zeigte, so wie man es bei frisch verliebten oft sah. Ich dagegen fühlte mich nicht von der Gruppe, auch ich quatschte mit einigen von denen, sondern von Carola ausgeschlossen. Sie beachtete mich fast den ganzen Abend gar nicht. Erst als die Gäste gegangen waren, taute sie wieder etwas auf. Allerdings längst nicht so, wie in Lübeck.
Es war schon komisch mit ihr. Immer wenn Bekannte und Freunde von ihr in Sichtweite waren, scheute sie sich Gefühle zu zeigen.
Nach der langen Feier schliefen wir am nächsten Morgen bis in die Puppen, bevor wir aus dem Bett krochen. Während Carola und ich alleine im Badezimmer waren, war Carola wieder so, wie ich sie mochte. Wir duschten gemeinsam seiften und brausten uns gegenseitig ab, trockneten uns ab, putzten nebeneinander vorm Spiegel die Zähne. Erst als wir wieder mit den anderen zusammen am Frühstückstisch saßen, war sie wieder richtig distanziert.
Es war Sonntag und die Sonne schien. Carola und ich ließen die anderen alleine in der Wohnung zurück, und machten uns auf zu einem Stadtbummel. Obwohl Carola schon fast ein Jahr in Hannover wohnte, hatte sie selbst bis jetzt kaum Gelegenheit gehabt, sich hier umzuschauen. Somit erkundigten wir beide gemeinsam ihre neue Heimatstadt, die auch bald meine werden sollte.
Das Rathaus, die Altstadt, den Fluss Leine, an dem man wunderbar spazieren gehen konnte, die Grünanlagen. Wir waren mit der Straßenbahn in die Innenstadt gefahren, und bummelten nach der Stadtbesichtigung gemütlich zu Fuß zurück zu ihrer Wohnung. Während dieses Stadtbummels war Carola wieder so, wie ich sie aus Lübeck kannte. Es war ein toller Tag mit ihr.
Wir kamen an einem Zirkuszelt, einer sehr berühmten Artistengruppe vorbei, der hier gastierte. Britta hatte zum Geburtstag zwei Karten für eine Vorstellung der Gruppe geschenkt bekommen, und wollte mit Carola in den nächsten Tagen in die Show gehen. Ein Plakat hing am Zaun, mit schönen muskulösen Männern, in eng anliegenden Artistenkostümen, die an verschiedenen Geräten durch die Luft flogen.
„Es gibt zwei Arten von Männern“, kam es auf einmal von Carola, als wir uns das Plakat anschauten. „Welche zum Anschauen und welche zum Heiraten.“
Dabei grinste sie mich an, gab mir einen Kuss, und ging mit mir Hand in Hand weiter. Ich schaute sie auch grinsend an, und schwenkte voller Übermut ihren Arm.
Das Leben kann wirklich toll sein.
Kaum aber waren wir wieder in Carolas Wohnung, war sie so zurückhaltend, wie am Tag zuvor. Am folgenden Tag fuhren wir alle wieder in ihre Praxis, um diese weiter einzurichten. Carola und Britta mussten so schnell wie möglich mit der Einrichtung fertig werden. Sie mussten endlich Geld verdienen. Das ersparte und geliehene Geld zerrann zwischen ihren Fingern. Ich fand es toll, auch wenn Carola wieder sehr zurückhaltend war, mit ihr zusammen zu sein, und kümmerte mich unter anderem um die Telefonanlage, die sich lange weigerte so zu funktionieren, wie sie es laut Beschreibung tun sollte.
Als ich, weil etwas nicht funktionierte, leise zu mir selbst fluchte, reagierte Carola richtig aggressiv. „Wenn du das nicht machen willst, lass es doch sein“, kam es von ihr sauer.
„Was ist denn mit dir los“, lachte ich sie an und auch leicht schelmisch aus „Fluchst du nicht vor dich hin, wenn etwas nicht so funktioniert, wie du es willst? Wieso hast du denn schlechte Laune?“
„Ich hab keine schlechte Laune.“
Nun wurde sie mal wieder richtig abweisend. Als sie einmal auf den Hof eine Zigarette rauchen ging, das Nichtrauchen hatte sie bereits, während ich noch in Schweden war, wieder aufgegeben, und ich sie durch die offene Tür gebeugt angrinste, verzog sie kein bisschen das Gesicht zu einem Lächeln.
„Ej, was ist?“
Sie zuckte nur mit den Schultern. „Bin wohl nur etwas genervt. Wird Zeit, dass die Praxis fertig wird.“
Als es für mich nichts mehr in der Praxis zu tun gab, verabschiedete ich mich und machte einen Spaziergang zum Hauptbahnhof, um mir schon einmal für Dienstagabend das Ticket für die Heimfahrt zu kaufen. Mittwoch hatte ich ein wichtiges Gespräch bei der Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein, bei dem ich mich auch noch einmal vergewissern wollte, dass mit der Vermittlung nach Hannover alles klar ging. Auf dem Weg zum Bahnhof fing ich an, über Carola zu grübeln. Es war merkwürdig, wie sie, in Anwesenheit von anderen, sich regelrecht innerlich zurückzog. Normal war das nicht. Es wäre besser gewesen, dachte ich bei mir, wenn das Projekt „Profil 300“ ein paar Monate später gestartet wäre, und Carola und ich mehr Zeit gehabt hätten, uns kennenzulernen, bevor die Frage, wo ich denn hinziehen möchte, zur Entscheidung gestanden hätte. Aber ich musste mich nun einmal jetzt, und nicht erst in zwei oder drei Monaten zwischen Schweden und Hannover entscheiden. Aber irgendwie war das alles Mist. Zuerst hat man eine Ewigkeit gar nichts, und dann gleich zwei Dinge auf einmal, die auch noch geografisch total in verschiedene Richtungen liefen.
Mit meiner Fahrkarte in der Tasche machte ich mich wieder auf den Weg zurück zu Carolas Wohnung. Auf dem Weg bekam ich eine SMS: „Wo bleibst du?“ Ich schickte nur kurz eine SMS zurück, dass ich die Zeit genutzt hatte, mir schon einmal eine Zugkarte zu kaufen, und gleich bei ihr sein würde.
Wieder zurück in der Wohnung, war die Stimmung immer noch gespannt. Carola hatte immer noch schlechte Laune, und ich reagierte etwas stinkig darauf und zog mich selbst etwas in mich zurück. Erst als wir im Bett lagen, nahm ich sie in den Arm.
„Wir haben beide wenig Übung darin, in einer Beziehung klar zu kommen. Wenn es Probleme gibt, müssen wir beide uns bemühen uns zusammen zu reißen, und uns auszusprechen. Ich mach sicher auch nicht alles richtig, aber wenn jemandem etwas nicht passt, muss er es sagen, und sich nicht einfach schmollend in die Ecke verkriechen. Ich möchte, dass das mit uns klappt.“
Carola schmiegte sich an mich und versprach sich Mühe zu geben.
Auch am Dienstag mussten die beiden Mädels in ihrer zukünftigen Praxis weiter arbeiten. Für mich gab es dort nichts zu tun, und so bummelte ich noch einmal alleine durch die Innenstadt von Hannover. Bereits gestern war ich mit Carola am niedersächsischen Landesmuseum vorbeigekommen. Dabei hatte ich einen Blick auf die Ausstellungsbeschreibung geworfen. Archäologische Fundstücke aus 500.000 Jahren, von der Steinzeit bis ins Hochmittelalter. Faszinierende Exponate von Fossilien und Dinosauriern und Darstellungen der Tektonik der Erdplatten und Erbeben. Außerdem gab es eine große Kunstsammlung. Unter anderem mit Bildern von Max Liebermann. Und wenn man etwas weiter in die Vergangenheit blickte, von Caspar David Friedrich und anderen, sowie noch weiter in die Vergangenheit zurück, Bilder von Lucas Cranach. Wobei aus der Beschreibung nicht zu ersehen war, ob der Ältere, der Jüngere, oder beide Cranachs gemeint waren. Außerdem sollten Werke des Bildhauers Tilman Riemenschneider ausgestellt sein. Geschichte und Archäologie haben mich schon immer interessiert. Max Liebermann, Caspar David Friedrich, die beiden Cranachs, so wie Riemenschneider waren mir ein Begriff und sagten mir mehr als das, was man heutzutage teilweise als Kunst fabrizierte. Weiter durch die Stadt zu laufen, – na ja, so toll ist Hannover als Stadt nun wirklich nicht, hatte ich keine Lust. Somit beschloss ich, in das Museum zu gehen. Die Hoffnung an dem einen Tag alles zu schaffen, hatte ich nicht. So begann ich in dem Teil, in dem die Künstler ausgestellt waren, die noch mit Naturfarben ihre Jagderfolge an Höhlenwänden verewigt hatten.
Wie erwartet, war ich lange noch nicht mit allem durch, als ich von Carola eine SMS erhielt:
„Sehen wir uns noch, bevor du fährst?“, stand da.
Ich eilte aus dem Museum und rief Carola an. Sie waren mit der heutigen Arbeit fertig, und ich versprach, so schnell wie möglich zu ihrer Wohnung zu kommen. Es war aber trotzdem schon spät am Nachmittag, als ich dort eintrudelte. So konnten wir uns nur noch kurz, damit wir mal alleine waren, in einem Café treffen, bevor ich auch schon zum Bahnhof eilen musste, um wieder nach Lübeck zu fahren. Unter uns war Carola wieder so, wie ich es toll fand. Am Freitag wollte Carola bereits wieder nach Lübeck kommen. Einmal überhaupt um mich zu sehen und bei mir zu sein, aber auch, weil ich am Samstag zu einer Sommergartenparty meiner Schwester und ihrem Lebenspartner Michael eingeladen war. So wie Carola mir erzählt hatte, waren sie und Michael, auch wenn sie sich schon mehrere Jahre nicht gesehen haben, dicke Freunde. Michael hatte ihr vor vielen Jahren sehr dabei geholfen, eine Praktikantenstelle zu bekommen. Michael hatte damals sogar dafür gesorgt, dass der Träger der Praktikantenstelle, für Carolas kleine Tochter eine Kinderbetreuung organisierte. Und über viele Jahre war Michael dann ein guter Freund der Familie gewesen. Ich hatte meiner Schwester erzählt, dass ich nicht alleine kommen würde, hatte aber den Namen meiner Begleitung nicht genannt. Ich wollte Michael überraschen.