Читать книгу Sophienlust 305 – Familienroman - Bettina Clausen - Страница 3

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Es war noch früh am Nachmittag und ein kühler Apriltag. Ein etwa fünfjähriger Junge kam von der Bushaltestelle her die Straße herauf. Immer wieder musste er stehen bleiben, weil ihm die Last auf dem Arm zu schwer wurde. Er trug einen dunkelbraunen, fast schwarzen Dackel auf dem Arm, dem er von Zeit zu Zeit etwas zuflüsterte.

Als das Tierheim Waldi & Co. in Sicht kam, ging er langsamer und wechselte schließlich auf die andere Straßenseite hinüber. Dann blieb er stehen. »Ich kann nicht lesen, was auf dem Schild steht«, sagte er zu seinem Hund, der seinen Kopf an die Schulter des Jungen gelegt und die Augen geschlossen hatte.

Hilflos stand Teddy Rosar da. Da sah er einen älteren Mann die Straße heraufkommen, der ein Fahrrad schob und recht freundlich aussah.

Teddy trat zu ihm. »Entschuldigung«, sagte er schüchtern.

Der Mann blieb stehen. »Ja?«

»Ich wollte nur etwas fragen.« Teddy nahm seinen Hund schnell auf den linken Arm und deutete mit dem rechten über die Straße. »Können Sie mir vielleicht sagen, was auf dem Schild dort drüben steht?«

Neugierig blickte der Mann von dem Jungen zu dem Tierheim. »Darauf steht: Waldi & Co. – das Heim der glücklichen Tiere«, las er vor.

Teddys Augen leuchteten auf. »Danke.«

Der Mann achtete nicht weiter auf den Jungen, sondern setzte seinen Weg fort. Als er um die Ecke gebogen war, lief Teddy mit seinem Hund schnell über die Straße. Er schaute sich noch einmal nach allen Seiten um und trat dann durch das offen stehende Tor.

Weit und breit war niemand zu sehen. Teddy atmete erleichtert auf und tat nun das, was er sich vorgenommen hatte. Er legte seinen Hund mitten auf den leeren Hof und versteckte sich dann schnell hinter dem nächsten Busch.

Zunächst geschah gar nichts. Teddy wartete geduldig, und der Hund sah aus, als sei er eingeschlafen. Er wirkte wie ein bewegungsloser dunkler Fleck auf hellem Grund.

Das war es, was Severin, der Dogge, zuerst auffiel – dieser dunkle Fleck, der da gar nicht hingehörte. Schnuppernd überquerte Severin den Hof. Das riecht ja nach Hund, stellte er fest, als er auf zwei Meter herangekommen war. Kein Zweifel, das war ein Hund.

Severin stupste das fremde Tier mit der Schnauze an. Doch der Dackel rührte sich nicht. Er öffnete nur blinzelnd die Augen, um sie gleich wieder zu schließen.

Hilflos schaute sich die Dogge um. Da kam auch schon Munko über den Hof marschiert. Der ausgediente Polizeihund ging vorsichtiger an die Sache heran. Aus einem Meter Entfernung bellte er den fremden Hund an. Aber der reagierte nicht.

Munko, der Schäferhund, kam näher und machte nun die gleiche Erfahrung wie Severin. Ratlos standen die beiden Hunde vor dem fremden Dackel. Schließlich begannen sie fast gleichzeitig laut zu bellen.

Das lockte den Dackel Waldi auf die Szene. Wo gebellt wurde, da war etwas los. Und wo etwas los war, dort gehörte er hin.

Waldi flitzte über den Hof. Er drängte sich zwischen Severin und Munko und begann laut und freudig zu bellen. Ein Dackel! Schwanzwedelnd umrundete er den Artgenossen und bellte wieder. Es klang werbend, wie ein Willkommensgruß. Doch nicht einmal darauf reagierte der fremde Dackel.

»Da muss doch etwas los sein«, murmelte Janosch, der Tierpfleger. »Die Hunde bellen doch nicht ohne Grund.« Er unterbrach seine Arbeit und verließ das Tierheim.

Mitten auf dem Hof sah er Munko, Severin und Waldi stehen. So, als bestaunten sie etwas.

Janosch kam näher und staunte mit. Da lag doch glatt ein fremder Hund!

Auf den ersten Blick erkannte Janosch, dass dieser Hund krank war. Er blickte sich suchend um. Irgendjemandem musste das Tier ja schließlich gehören. Aber es war niemand zu sehen.

Janosch bückte sich. Respektvoll wichen die drei Hunde zurück. Waldi achtet aber darauf, dass er Janosch am nächsten stand und genau beobachten konnte, was hier vorging.

Janosch befühlte die Schnauze des Dackels und nickte. Sie war trocken und heiß. Der arme Kerl war ja in einer furchtbaren Verfassung.

Gerade, als er ihn aufheben wollte, kam Andrea über den Hof gelaufen.

»Was ist denn los, Janosch?« Die junge Frau entdeckte den fremden Hund. »Nanu, wo kommt denn der her?«

Janosch hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Das weiß ich nicht. Plötzlich lag er hier.«

»Das gibt’s doch gar nicht.« Andrea schaute sich um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Sie wandte sich an die drei Hunde. »Was ist mit euch? Habt ihr nichts gesehen?«

Drei treue Augenpaare blickten sie an, als wollten sie sagen: Wir sind so ahnungslos wie du.

Andrea seufzte.

Da begann Munko aufgeregt zu schnuppern.

»Ja«, sagte Andrea. »Such, Munko, such!«

Der ehemalige Polizeihund schien eine Fährte gefunden zu haben. Denn er bewegte sich plötzlich von dem Dackel fort, wobei er immerzu schnupperte.

Andrea beobachtete das mit Interesse. Janosch dagegen nicht. Er bückte sich, nahm den kranken Dackel auf den Arm und trug ihn ins Haus. Er wusste, dass Dr. Hans-Joachim von Lehn noch in seiner Praxis war. Patienten waren im Moment keine da.

»Kümmern Sie sich um ihn, Janosch?«, rief Andrea dem Tierpfleger nach.

»Mach ich, Frau von Lehn!«

Andrea nickte und beobachtete weiter den Schäferhund. Munko hatte jetzt die Rasenfläche erreicht. Vor einem Strauch blieb er stehen und umrundete ihn langsam.

Als Teddy den großen Schäferhund sah, wich er ängstlich zurück. »Tu mir nichts.«

Doch Munko kam immer näher.

Da sprang Teddy schnell auf und kam hinter der Hecke hervor.

Andrea starrte den Jungen an. Ich werde verrückt, dachte sie. Zuerst ein Hund und jetzt das Kind. Sie sah, dass sich der Junge vor dem Schäferhund fürchtete, und rief Munko zurück.

Der gehorchte augenblicklich.

»Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben«, sagte Andrea zu dem Jungen. »Er tut dir nichts.«

Schüchtern und mit gesenktem Blick stand Teddy vor ihr.

»Komm«, sagte Andrea und streckte ihm ihre Hand hin. Dabei lächelte sie so freundlich, dass Teddy zutraulich nach ihrer Hand griff.

Andrea nahm den Jungen mit ins Haus. Enttäuscht blickten die drei Hunde ihr nach. Dann zerstreuten sie sich.

Andrea führte den Jungen in die Küche und gab ihm ein Glas Milch und ein paar Kekse.

Hungrig griff Teddy danach und trank auch die Milch.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Andrea.

»Teddy. Teddy Rosar. Und mein Dackel heißt Xanti.«

»Ein hübscher Name«, sagte Andrea. »Und so ungewöhnlich.«

»Ja. Und jetzt ist er krank. Schon seit gestern und vorgestern«, erzählte Teddy und aß den letzten Rest der Kekse auf. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen. Nun stellte er plötzlich fest, dass er sehr hungrig war.

»Wo wohnst du eigentlich?«, erkundigte sich Andrea vorsichtig.

»In einem Hotel. In Mai…, Mai…«

»Maibach?«, fragte Andrea.

»Ja.« Teddys Augen leuchteten auf. »So heißt das. Meine Eltern wohnen dort.« Er schaute Andrea prüfend an und kam zu dem Ergebnis, dass er ihr vertrauen könne. »Und weil Xanti krank wurde, wollte Mutti sie totmachen lassen. Sie kann Xanti nämlich nicht leiden. Aber die arme Xanti kann doch nichts dafür, dass sie krank wurde, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Andrea sofort. »Dafür kann sie bestimmt nichts. Aber vielleicht kann sie unser Onkel Doktor wieder gesund machen.«

»Das wäre schön«, sagte Teddy andächtig. »Deswegen habe ich sie ja hergebracht. Im Hotel hat nämlich jemand erzählt, dass es hier ein Tierheim gibt und einen Onkel Doktor, der alle Tiere wieder gesund macht.«

Rührend, dachte Andrea. »Und wie bist du hierhergekommen?«, fragte sie.

»Mit dem Bus. Aber Mutti weiß nichts davon«, fügte der Junge kleinlaut hinzu.

»Und dein Vati?«, fragte Andrea.

»Auch nicht.«

Seufzend stand Andrea auf.

»Du wirst mich doch nicht verraten?«, fragte Teddy besorgt.

Lächelnd drehte Andrea sich um. »Nein, ganz bestimmt nicht. Aber du musst wieder nach Hause fahren. Sonst wird man dich vermissen.«

»Ich fahre ja wieder zum Hotel«, erwiderte Teddy folgsam und stand auf. »Aber meinen Dackel darf ich doch hier lassen, nicht wahr?«

»Wie lange willst du ihn denn hier lassen?«, erkundigte sich Andrea vorsichtig.

»Bis ihn der Onkel Doktor wieder gesund gemacht hat. Er macht das doch?« Eine bange Falte bildete sich auf Teddys Stirn.

Andrea nickte. »Ich glaube schon. Sag deiner Mutti …«

»Nein«, fiel Teddy ihr ängstlich ins Wort. »Sie darf doch nicht wissen, dass Xanti hier ist.«

»Ach, so ist das.«

»Ich habe den Dackel doch heimlich weggebracht«, erklärte Teddy. »Damit er nicht sterben muss. Er ist doch noch viel zu jung zum Sterben.« Diese Redewendung hatte er irgendwo aufgefangen.

Andrea unterdrückte ein Schmunzeln. »Und wie willst du deiner Mutti erklären, dass Xanti plötzlich verschwunden ist?«

»Ich sage einfach, dass ich nicht weiß, wo Xanti ist. Sie kann doch weggelaufen sein. Und wenn sie wieder gesund ist, dann hole ich sie wieder bei dir ab«, meinte er vertraulich.

Andrea fand den kleinen Kerl hinreißend. »Einverstanden«, erklärte sie. »Und jetzt bringe ich dich zurück nach Maibach.«

»Au ja«, meinte Teddy begeistert. »Dann brauche ich nicht mit dem Bus zu fahren.« Zutraulich griff er nach Andreas Hand und ging mit ihr in die Garage.

Auf dem Weg nach Maibach erzählte er ihr von seiner Mutter, die eigentlich gar nicht seine richtige Mutti sei.

»Eine Stiefmutti?«, fragte Andrea überrascht.

Er nickte. »Und eine garstige noch dazu.«

»Wirklich?« Andrea wollte den Jungen zum Sprechen bringen, aber das war gar nicht so schwer. Teddy klagte ihr ausführlich sein Leid. Nicht nur zu ihm sei die Mutter garstig, auch Xanti könne sie nicht leiden.

»Und dabei ist die arme Xanti so brav. In den letzten Tagen lag sie dauernd in ihrem Körbchen und hat sich nicht gemuckst. Aber trotzdem hatte Mutti sie auf den Hof hinausgestellt. Nicht einmal im Zimmer durfte die Arme bleiben.«

Das scheint wirklich eine Rabenmutter zu sein, dachte Andrea. Teddy tat ihr leid. Deshalb versprach sie, ihm zu helfen. »Weißt du was? Ich komme morgen nach Maibach in euer Hotel«, sagte sie.

»Erzählst du mir dann, wie es Xanti geht?«, fragte Teddy aufgeregt.

»Mach ich.«

»Aber Mutti darf davon nichts erfahren. Sonst wird sie böse.«

»Dann treffen wir uns eben heimlich«, schlug Andrea vor.

Teddy klatschte begeistert in die Hände, und Andrea fühlte sich plötzlich um einige Jahre jünger. Dieses kleine Komplott mit Teddy machte ihr Spaß.

Andrea setzte den Jungen in der Nähe des Hotels ab.

»Bis morgen«, flüsterte Teddy ihr im Verschwörerton zu.

Andrea nickte und schaute ihm lächelnd nach, als er zielbewusst davonstiefelte. Dann wendete sie und fuhr zurück nach Bachenau.

Hans-Joachim hatte den kranken Dackel inzwischen untersucht.

»Wie sieht es aus?«, fragte Andrea besorgt.

»Nicht gut. Ich weiß nicht, ob er durchkommt. Wenn ich ihn früher zur Behandlung bekommen hätte, hätte ich ihn bestimmt retten können. Wie ist er eigentlich hierhergekommen? Und wem gehört er?« Janosch hatte ihm lauter wirres Zeug erzählt. Doch das, was Andrea nun berichtete, klang auch nicht viel besser.

Hans-Joachim schüttelte tadelnd den Kopf. »Und mit einem wildfremden Kind, das noch dazu hinter dem Rücken seiner Eltern handelt, schließt du ein Komplott?«

»Ja«, sagte Andrea eigensinnig. »Weil ich es für richtig hielt. Der Junge hängt doch so sehr an seinem Hund.«

»Es ist eine Hündin«, korrigierte ihr Mann.

»Na, dann eben an seiner Hündin. Xanti heißt sie übrigens.«

»Seltsamer Name.«

»Egal. Auf jeden Fall kann doch diese Xanti wieder gesund werden«, fuhr Andrea fort. »Gibst du mir darin recht?«

Hans-Joachim nickte. »Sie kann durchkommen.«

»Na also. Und da soll der arme Junge zulassen, dass sie eingeschläfert wird? Also, ich finde, manchmal bist du recht herzlos, Hans-Joachim.«

»Schon gut. Ich sage ja gar nichts mehr, obwohl du dich wieder einmal in Angelegenheiten einmischst, die dich gar nichts angehen.«

»Es geht um ein Hundeleben«, rief Andrea entrüstet.

»Ich weiß! Und ich werde es retten, wenn’s möglich ist. Aber …«

Da fiel Andrea ihrem Mann um den Hals. »Du bist ein Schatz!«

»Und du bist eine Diplomatin übels­ter Sorte.« Er küsste sie.

Damit war die Debatte beendet. Andrea wusste, dass sie gesiegt hatte.

Vor dem Abendessen besuchte sie Xanti. Janosch hatte die Hündin mit in sein Zimmer genommen und in ein Körbchen gelegt. »So ist sie die ganze Nacht unter Aufsicht«, sagte er.

»Ob sie durchkommt?« Andrea streichelte das stumpfe Fell.

»Ihr Mann zweifelt daran, Frau von Lehn. Er sagte, das Tier habe sich schwer erkältet. Es hat Lungenentzündung.«

Andrea nickte. »Ich weiß. Arme kleine Xanti. Du musst nur ein bisschen mithelfen. Pass gut auf sie auf, Janosch.«

»Mach ich, Frau von Lehn. Mach ich ganz bestimmt. Und wenn die Medizin vom Herrn Doktor nicht hilft, werde ich für die Hündin ein paar Kräuter kochen.«

»Das kannst du doch auch jetzt schon tun«, sagte Andrea.

»Nein, nein«, wehrte der alte Mann entschieden ab. »Ich will dem Herrn Doktor nicht ins Handwerk pfuschen.«

Andrea musste lachen. Sie kannte Hans-Joachims Misstrauen gegen Janoschs Zaubermittel, und sie wusste, wie empfindlich Janosch in dieser Hinsicht war. »Warten wir ab, wie es der armen Xanti morgen geht.«

»Wie heißt sie?«, fragte Janosch.

»Xanti«

»Kommt das von Xanthippe?«

Verblüfft schaute Andrea auf. »Auf was für Ideen du kommst. Aber es könnte sein. Ich weiß es nicht.«

»Na, macht nix. Hauptsache, die Kleine wird gesund.«

»Ja«, sagte Andrea und erhob sich. »Sollte sich Xantis Zustand verschlechtern, dann rufe uns bitte.«

Janosch versprach es, und Andrea ging zurück in die Villa. Während sie Peterle ins Bett brachte und Marianne bei der Zubereitung des Abendessens half, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem kranken Hund und zu Teddy, dem Besitzer der Dackelhündin, zurück.

*

Niemand hatte Teddys Abwesenheit bemerkt. Am allerwenigsten seine Stiefmutter. Aus Bequemlichkeit ließ sie dem Jungen sehr viel Freiheiten. Sie achtete eigentlich nur darauf, dass er pünktlich zu den Mahlzeiten erschien.

Als Teddy zurückkam und das Zimmer der Eltern betreten wollte, hörte er die energische Stimme der Stiefmutter. Sie sprach mit dem Hausdiener. Teddy konnte jedes Wort verstehen, weil die Tür nur angelehnt war.

»Verschwunden?«, fragte Herma Rosar jetzt gerade. »Aber wie konnte denn der kranke Hund verschwinden? Er war doch kaum fähig, sich zu bewegen?«

Teddy hielt die Luft an, und der Hausdiener, der vor Herma stand, senkte verlegen den Blick. »Ich weiß es auch nicht, gnädige Frau. Ich stehe vor einem Rätsel. Heute Mittag lag er noch in seinem Körbchen im Hof. Aber als ich ihn nachmittags holen und zum Einschläfern bringen wollte, war er verschwunden.«

»Seltsam«, sagte Herma. Doch ihre Stimme klang gar nicht verärgert. Sie zuckte nur äußerst lässig mit den Schultern. »Wenn er nicht da ist, ist er nicht da. So sparen wir uns das Geld für den Tierarzt. Ich glaube kaum, dass er den Hund umsonst eingeschläfert hätte.«

»Nein, bestimmt nicht, gnädige Frau«, sagte der Hausdiener schnell. Er war froh, nicht gerügt zu werden.

Wie gemein sie ist, dachte Teddy. Doch seine Entrüstung hielt sich in Grenzen, weil er Xanti in guter Obhut wusste. Diese netten Menschen würden bestimmt versuchen, die Hündin gesund zu machen. Teddy war jedenfalls sehr froh, dass er sich getraut hatte, Xanti heimlich wegzubringen.

»Mach dich fertig zum Abendessen«, sagte Herma nur, als der Junge eintrat.

Der Hausdiener verließ jetzt schleunigst das Zimmer.

»Hoffentlich kommt der Hund nicht doch noch zurück«, hörte Teddy die Stiefmutter ihm nachrufen.

Der Junge zuckte zusammen. Doch das merkte Herma gar nicht. Sie war in ihr Zimmer zurückgegangen und zog sich fürs Abendessen um. Die Tür hatte sie offen gelassen. Deshalb konnte Teddy jedes Wort verstehen, das sie nun mit dem Vater sprach, der gerade von einem Spaziergang zurückgekommen war.

»Es wird mir langweilig hier, Georg. Wie lange willst du noch hierbleiben?

Erschrocken schlich Teddy zur Tür.

»Wir sind doch erst vor ein paar Tagen angekommen«, hörte er den Vater sagen.

»Ich weiß.« Hermas Stimme klang ungeduldig. »Wir sind hierhergefahren, um uns zu erholen. Aber ich kann mich in diesem Nest nicht erholen. Ich sterbe vor Langeweile.«

Der Vater antwortete nicht. Das war ein schlechtes Zeichen.

Besorgt betrat Teddy das Zimmer der Eltern.

»Bist du fertig? Dann können wir ja hinuntergehen.« Herma schwang sich die Pelzstola um die Schultern und rauschte zur Tür.

Fragend schaute Teddy den Vater an. Doch der hatte noch keine Entscheidung getroffen. »Gehen wir«, sagte er nur.

Während des Essens ging die Debatte unaufhörlich weiter. Herma wollte Maibach unbedingt verlassen. »Ich pfeife auf die gute Luft«, fuhr sie ihren Mann an.

»Du schon. Du bist ja auch nicht krank gewesen wie Teddy«, hielt der Fabrikant ihr vor. »Der Junge war schließlich der Grund für diese Reise, wenn ich dich daran erinnern darf.«

Sie unterbrachen ihre Debatte, als der Ober das Essen servierte. Schweigend nahmen sie die Mahlzeit zu sich.

Teddy brachte kaum einen Bissen hinunter. Die Vorstellung, dass die Eltern Maibach schon bald verlassen könnten, ängstigte ihn sehr. Was sollte dann aus Xanti werden?

»Iss!«, herrschte Herma ihn an.

Teddy gehorchte. Er stopfte Kartoffeln und Fleisch in den Mund und schluckte qualvoll. Doch es wollte nicht hinunterrutschen.

»Wenn es dir nicht schmeckt, dann lass es stehen«, sagt der Vater gutmütig und strich Teddy übers Haar. »Du musst nicht alles aufessen.«

Herma warf ihrem Mann einen tadelnden Blick zu. »Wohin soll das führen, wenn du dem Kind so viel Freiheit lässt?«, fragte sie verhalten.

»Es hat keinen Zweck, ihn zum Essen zu zwingen«, widersprach Georg Rosar ihr.

»Nimm ihn nur noch in Schutz«, keifte Herma. Ihre Stimme nahm dabei den unangenehm schrillen Ton an, den er gar nicht mochte.

Die Auseinandersetzung zwischen Vater und Mutter dauerte so lange wie das Essen. Am Ende siegte Herma. Georg Rosar gab nach und erklärte sich bereit, am nächsten Morgen nach Essen zurückzukehren.

Entsetzt starrte Teddy seinen Vater an.

»Tut mir leid, mein Junge.« Georg strich seinem Sohn übers Haar. »Du wirst wieder zu Hause im Garten spielen müssen.«

Gegen das Spielen im Garten hätte Teddy ja nichts gehabt, wenn er nur Xanti hätte mitnehmen können. Aber wenn sie morgen abreisten, musste er den Dackel ja hier lassen.

Den ganzen Abend suchte Teddy nach einem Ausweg. Doch es wollte ihm nichts einfallen. Als er schließlich schon in seinem Bett lag, überlegte er, ob er den Eltern die Wahrheit gestehen sollte, ob er ihnen sagen sollte, dass er Xanti in ein Tierheim gebracht hatte. Aber er hatte Angst vor Hermas Reaktion. Morgen früh kann ich es ja immer noch sagen, dachte er. Darüber schlief er schließlich ein.

Doch als er am nächsten Morgen erwachte, hatten die Eltern schon gepackt.

»Beeile dich, Teddy, wir müssen frühstücken.« Herma stand schon im Reisekostüm an der Tür.

Erschrocken sprang Teddy aus dem Bett. Er wusch sich in aller Eile und putzte sich die Zähne. Ungeduldig half Herma ihm beim Anziehen. »So, und jetzt komm endlich!« Sie nahm ihn unwirsch bei der Hand und zog ihn mit sich hinunter in den Speisesaal.

Jetzt ist sie auch noch schlecht aufgelegt, dachte Teddy. Im gleichen Moment stellte er fest, dass die Stimmung des Vaters auch nicht viel besser war. Wenn ich jetzt von Xanti anfange, gibt’s ein Riesendonnerwetter, dachte der Junge.

»Was schaust du denn so träumend in die Luft?«, schalt Herma. »Vor dir steht dein Kakao. Iss und trink. Wir müssen uns beeilen. Ich möchte heute Nachmittag in Essen sein.«

Unglücklich trank Teddy von seinem Kakao. Essen konnte er nichts. Aber das bemerkte Herma gar nicht. Sie sprach nur noch von der Rückfahrt und von ihren Bekannten in Essen.

»Nun hör doch schon endlich auf«, sagte der Vater schließlich gereizt. Zugleich stand er auf. »Ich bezahle und schicke jemanden nach oben, der das Gepäck holt. Ist alles fertig?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Herma und wandte sich an Teddy. »Hast du deine Spielsachen zusammengepackt?«

Der Junge schüttelte den Kopf und lief schnell hinauf ins Hotelzimmer. Doch statt sein Spielzeug in das kleine, dafür bestimmte Köfferchen zu legen, stand er vor dem Fenster und starrte hinaus. »Jetzt muss ich dich allein lassen, Xanti«, sagte er leise. »Aber ich kann doch nichts dafür. Und ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Wenn ich wenigstens jemanden fragen könnte. Aber wen?«

»Bist du fertig?«

Teddy fuhr herum. In der Tür stand Herma und machte ein Gesicht wie sieben Tage Donnerwetter.

In aller Eile warf Teddy die Spielzeugautos und die Bilderbücher in seinen kleinen Koffer. Den Stoffhund, mit dem Xanti immer so gern gespielt hatte, legte er obenauf und deckte ihn zärtlich zu.

»Nun beeil dich schon«, drängte Herma.

Zehn Minuten später saßen sie im Auto und fuhren los. Mit Tränen in den Augen schaute Teddy zurück.

*

Am Nachmittag des gleichen Tages parkte Andrea von Lehn ihren Wagen vor dem Hotel. Als sie an der Rezeption nach Teddy Rosar fragte, schüttelte der Angestellte bedauernd den Kopf. »Die Rosars sind heute früh abgereist.«

»Abgereist?«, fragte Andrea erschrocken. »Aber …« Davon hatte Teddy ihr nichts gesagt. »War die Abreise schon länger geplant oder kam das ganz überraschend?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich kann Ihnen nur die Essener Adresse der Familie Rosar geben.«

»Ja, bitte.«

Der Portier schrieb die Adresse auf einen Zettel und reichte ihn Andrea. »Vielen Dank.« Sie steckte den Zettel ein und verließ das Hotel.

Verwirrt stieg sie in ihren Wagen ein und fuhr zurück nach Bachenau. Sie wusste nicht, ob sie sich über Teddy ärgern oder ihn bemitleiden sollte.

»Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«, fragte Hans-Joachim, als Andrea vor der Villa aus dem Auto ausstieg.

»Ja.« Sie erzählte ihm, was sie in Maibach im Hotel erfahren hatte.

»Na, das ist ja großartig.« Hans-Joachim sah, dass seine Frau verärgert war. »Glaubst du, dass der Junge dich hereingelegt hat? Dass er von der Abreise seiner Eltern wusste und seinen Hund nur loswerden wollte?«

»Über diese Frage denke ich schon die ganze Zeit nach … Nein!«, sagte sie jetzt entschieden. »Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Dazu war er viel zu unglücklich darüber, dass der Dackel krank war. Ich glaube viel eher, dass seine Eltern ihn mit der plötzlichen Abreise überrascht haben.«

»Und uns bleibt der Hund«, sagte Hans-Joachim trocken.

Andrea nickte nur. Sie ärgerte sich selbst ein bisschen – aber nicht über Teddy. Der konnte ja schließlich nichts dafür. Er hatte die Entscheidung seiner Eltern wahrscheinlich auch nicht beeinflussen können. »Auf jeden Fall werde ich in Essen anrufen«, sagte sie.

»Aber warte damit noch«, riet Hans-Joachim ihr.

»Warum? Hat sich Xantis Zustand verschlechtert?«

»Er hat sich nicht verschlechtert. Aber er ist auch nicht besser geworden. Ich befürchte fast, dass die Hündin nicht durchkommt.«

Das auch noch, dachte Andrea. »In diesem Falle ist es vielleicht sogar besser, dass der Junge mit seinen Eltern abgereist ist«, sagte sie leise.

Dieser Meinung war auch Hans-Joachim.

Auch am nächsten Morgen ging es dem Dackel unverändert schlecht. »Ich fürchte, er geht ein«, sagte Hans-Joachim beim Frühstück.

Andrea erschrak. »Kannst du denn gar nichts mehr tun?«

Der junge Tierarzt zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich habe schon alles versucht. Ich wüsste nicht, was ich ihm noch geben sollte.«

Nachdenklich kaute Andrea an ihrem Brötchen. Sie gab niemals ein Tier auf, solange noch ein Fünkchen Leben in ihm war. Und Xanti lebte schließlich noch.

Nach dem Frühstück ging sie zu Janosch. Völlig ermattet und schwer atmend lag Xanti in ihrem Körbchen neben dem Ofen.

»Ihr Mann glaubt, dass der Hund eingeht«, sagte Janosch.

»Ja.« Andrea strich zärtlich über Xantis stumpfes Fell. »Armes Dackelchen. Zu schade, dass wir nichts mehr für dich tun können.«

»Wir können«, sagte Janosch, und seine Augen leuchteten dabei auf. Als er jetzt geheimnisvoll lächelte, bildeten sich noch ein paar Falten mehr in seiner runzligen Haut.

»Was meinst du?«, fragte Andrea und erhob sich.

»Ich werde dem Dackel ein Tränklein mischen. Gute alte Kräuter, die zaubern können.«

Wie der alte Mann so dastand mit erhobenem Zeigefinger, erinnerte er Andrea wirklich an einen Zauberdoktor aus dem Mittelalter. Doch sie ermutigte ihn.

»Mach das, Janosch. Misch der armen Xanti eins von deinen Wundermitteln. Vielleicht hilft es.«

»Nicht vielleicht«, wies Janosch sie zurecht. »Es hilft bestimmt.«

Andrea musste lächeln. »Ich will gern versuchen, daran zu glauben.«

Sie ging zurück in die Villa und erzählte ihrem Mann von Janoschs Absicht.

Der Tierarzt zog eine Grimasse. »Dort, wo die moderne Medizin versagt, will Janosch mit seinen Kräutern etwas ausrichten?«

»Wer weiß?«, sagte Andrea nur und musste über das Gesicht ihres Mannes lachen. »Gib ihm doch eine Chance, Hans-Joachim.«

»Mache ich ja. Aber du wirst mir gestatten, dass ich zweifle.«

Zweifle ruhig, dachte Andrea. Aber vielleicht überrascht Janosch uns alle.

Andrea widmete sich nun ihren täglichen Erledigungen. Als sie am Nachmittag zu Janosch hinüberschaute, stand er vor einem dampfenden Topf, in dem eine undefinierbare Kräutermasse schwamm.

»Das sieht ja richtig gefährlich aus«, meinte Andrea. Und unappetitlich, fügte sie in Gedanken hinzu. Sie hätte gern gewusst, was da nun wirklich alles drin war, aber sie wusste, dass es keinen Zweck hatte, Janosch danach zu fragen. Dieses Wissen um die Kräuter und deren Wirkung war sein großes Geheimnis. Er hütete es wie einen Schatz.

Als Janosch gerade dabei war, das schwarzbraune Gebräu abzuseien, klopfte es, und Hans-Joachim trat ein. Er sah die dunkle Brühe und verzog das Gesicht. »Und das soll dem Hund helfen?«

»Ja, Herr Doktor«, sagte Janosch stolz und würdevoll. Er war sich seiner Wichtigkeit voll bewusst. »Ich weiß, dass Sie zweifeln. Aber spätestens übermorgen werden Sie nicht mehr zweifeln.«

»Da bin ich aber gespannt«, erwiderte Hans-Joachim skeptisch. »Wenn diese tausend Kräuter oder Wurzeln oder was es ist …«

»Es sind, bitte, keine tausend«, unterbrach Janosch ihn höflich.

»Wie viele sind es denn?«, fragte Andrea schnell.

Da lächelte der Alte nur. »Viele. Und sehr viele unbekannte sind dabei. Unbekannt sind nicht die Kräuter, aber ihre Wirkung.«

»Da können wir uns ja auf etwas gefasst machen«, sagte Hans-Joachim trocken.

»Nur auf etwas Gutes«, parierte Janosch. »Meine Kräuter sind ebenso gut wie Ihre modernen Medikamente, Herr Doktor. Manchmal sogar noch besser.« Er hatte den Sud jetzt abgeseit.

Neugierig betrachtete Andrea die aufgequollenen Pflanzenteile. Aber die Masse war undefinierbar. Man erkannte nicht mehr, ob es Blüten oder Pflanzenteile oder gar Wurzeln waren.

»Jetzt muss es nur noch abkühlen«, sagte Janosch.

»Und diese schwarze Brühe soll der arme Hund trinken?«, fragte Hans-Joachim mit schlecht gespieltem Entsetzen.

»Ihre modernen Medikamente sehen auch nicht gerade gut aus«, konterte Janosch sofort.

Andrea musste lachen. »Womit er natürlich recht hat«, meinte sie. »Und schmecken tun sie manchmal auch ganz entsetzlich.«

»Ich sehe schon, dass ihr euch gegen mich verschworen habt«, sagte Hans-Joachim. »Da geh ich lieber.«

Andrea blinzelte Janosch zu und blieb. Sie wollte selbst sehen, wie er dem Hund das Kräutertränklein einflößte.

Der Dackel schluckte geduldig und schicksalsergeben alles, was Janosch ihm gab. Nach dem ersten Schluck aber wollte er nicht mehr.

»Schmeckt dir nicht«, sagte Janosch. »Kann ich verstehen. Aber es hilft«, sagte er zu Xanti und öffnete ihr das Maul. Dann beugte er den Dackelkopf nach hinten und flößte dem Hund die Medizin Schluck für Schluck ein, bis der Topf halb leer war.

»Morgen früh werden wir wissen, ob es hilft oder nicht«, sagte er.

»Gut«, erklärte Andrea. »Spätestens morgen früh komme ich wieder.«

Aber sie hielt es nicht so lange aus. Noch am gleichen Abend kam sie, um nach Xanti zu schauen.

Der Dackel lag noch genauso apathisch, mit geschlossenen Augen und immer noch schwer atmend, in seinem Körbchen.

»Unverändert«, sagte Janosch. »Aber ich habe auch nichts anderes erwartet. Die Wirkung wird sich frühestens morgen zeigen.«

»Na gut.« Andrea erhob sich und wünschte Janosch eine gute Nacht. »Vielen Dank, Frau von Lehn.« Janosch kehrte zurück zu seinem Lieblingsplatz, dem hohen Lehnstuhl.

Als Hans-Joachim am nächsten Vormittag in seine Praxis ging, überquerte Andrea schnell den Hof und trat bei Janosch ein. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen, Frau von Lehn«, sagte Janosch erfreut und deutete auf den Dackel.

Xanti hatte bei Andreas Eintreten den Kopf gehoben. Zwar konnte sie noch nicht aufstehen, aber man konnte sehen, dass es ihr besserging.

»Nicht zu fassen«, murmelte Andrea. »Das grenzt ja fast an ein Wunder.« Sie beugte sich zu Xanti herab.

Neugierig beschnupperte der Hund ihre Hände. Seine Lebensgeister waren wieder erwacht. Daran konnte kein Zweifel bestehen.

Janosch strahlte über das ganze Gesicht – genau wie ein großer Wissenschaftler nach einem geglückten Experiment.

»Gratuliere«, sagte Andrea und drückte Janosch herzlich die Hand. Das war für ihn der allerschönste Lohn. Wenn Andrea ihn bewunderte, fühlte er sich wie ein König. Denn er verehrte die junge Frau des Herrn Doktor sehr.

»Ich kann es noch gar nicht glauben«, sagte Andrea. »Jetzt muss ich schnell zurück, um meinem Mann in der Praxis zu helfen. Aber ich komme heute Nachmittag wieder.«

Als sie bei Hans-Joachim eintrat, behandelte er gerade eine junge Boxerhündin, die sich einen winzigen Nagel in die Pfote getreten hatte.

Andrea wartete, bis der vierbeinige Patient mit seinem Frauchen verschwunden war. »Du wirst es nicht glauben«, sagte sie dann zu ihrem Mann.

Fragend schaute er auf. »Was meinst du?«

»Dass es Xanti bessergeht.«

»Nein!« Ungläubig schaute der Tierarzt seine Frau an.

»Du kannst es mir ruhig glauben. Ich habe mich selbst davon überzeugt. Jetzt eben.«

»Du meinst, Xantis Zustand hat sich seit gestern wesentlich verbessert?«, fragte Hans-Joachim. Er konnte es noch immer nicht fassen.

»Nicht wesentlich. Aber es geht ihr besser. Sie ist nicht mehr so apathisch. Sie hat sogar den Kopf gehoben und mich beschnuppert. Ich weiß, das klingt nicht überwältigend«, gab sie zu.

Doch schließlich war Hans-Joachim Tierarzt. Er wusste, wie viel es zu bedeuten hatte, wenn ein Tier wieder Interesse an seiner Umwelt zeigte. »Ich glaube, dass wir den alten Janosch und seine Kräutermixtur ganz gewaltig unterschätzt haben.«

»Wir?«, fragte Andrea. »Du hast ihn unterschätzt. Ich habe von Anfang an an die Wirkung seiner Kräuter geglaubt.«

Hans-Joachim musste lachen. »Du stellst dich doch immer auf die Seite des Erfolgs.« Er musterte seine Frau prüfend. »Du warst gestern genauso skeptisch wie ich, mein Liebling.«

»Das ist eine Verleumdung«, widersprach sie ihm eigensinnig. »Ich war zwar skeptisch, aber noch lange nicht so wie du. Ich habe an Janosch geglaubt.«

Als Hans-Joachim am Nachmittag zu Janosch kam, versuchte Xanti schon, sich zu erheben. Es gelang ihr jedoch noch nicht. Sie knickte immer wieder ein, aber sie probierte es eifrig weiter.

Janosch war mächtig stolz auf den Dackel. Und Hans-Joachim beglückwünschte Janosch zu seinem Erfolg. Er war fair und gab zu, dass Janosch in diesem Fall der Erfolgreichere war.

Am nächsten Tag lief Xanti schon in der Stube herum. Sie ging sogar schon allein hinaus und suchte einen Baum auf. Janosch musste sie nicht mehr tragen.

Am übernächsten Tag stand fest, dass Xanti ihre Krankheit überwunden hatte. »Jetzt geht sie bestimmt nicht mehr ein«, sagte Hans-Joachim.

Daraufhin entschloss sich Andrea, bei der Familie Rosar in Essen anzurufen. Sie sprach zuerst mit dem Hausmädchen. »Ist Teddy zu Hause?«, fragte sie.

»Ja«, sagte das Hausmädchen. Man hörte ihrer Stimme an, dass sie ein bisschen verwundert war.

»Holen Sie ihn doch bitte an den Apparat. Es geht um seinen Hund. Den Dackel Xanti.«

Minuten später hörte Andrea Teddys atemlose Stimme. »Ist Xanti wirklich gesund?«

Andrea bestätigte es dem Jungen. »Was sollen wir denn nun mit deinem Hund machen?«

»Ich …, ich möchte ihn gern zurückhaben«, sagte Teddy.

»Dann musst du aber mit deinen Eltern sprechen und ihnen erzählen, wo er ist.«

»Ja, das mache ich. Sie werden ihn doch so lange behalten und nicht weggeben?«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, versprach Andrea ihm. »Wir behalten deinen Hund, bis du ihn abholst.«

»Danke«, sagte Teddy leise. Dann legte er schnell auf.

Andrea ahnte, warum. Wahrscheinlich war die Stiefmutter ins Zimmer gekommen.

Herma Rosar hatte doch tatsächlich einen Teil von Teddys Gespräch mitangehört. »Heraus mit der Sprache«, verlangte sie, nachdem Teddy den Hörer aufgelegt hatte. »Was ist mit dem Hund?«

Unglücklich stand Teddy vor ihr.

Er hatte eigentlich zuerst mit dem Vater sprechen wollen. Der hätte ihn bestimmt verstanden und hätte ihm auch geholfen, seinen Hund zurückzuholen.

»Was ist?«, fuhr Herma ihn an. »Was wird hier hinter meinem Rücken gespielt?«

Teddy suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. Aber die wollten ihm einfach nicht einfallen.

»Also, bockig bist du auch noch. Erst lügst du mich an …«

»Nein«, rief Teddy. Er wusste genau, dass er die Stiefmutter nicht angelogen hatte. Er hatte gar nichts gesagt, weil ihn niemand nach Xanti gefragt hatte. »Du hast doch gedacht, Xanti sei weggelaufen.«

Dafür bekam der Junge eine Ohrfeige.

»Dann wäre es deine Pflicht gewesen, mich darüber aufzuklären, dass du sie heimlich weggebracht hast. Aber heimtückisch und hinterhältig, wie du nun einmal bist, hast du geschwiegen.«

Weinend lief Teddy aus dem Zimmer.

Doch Herma war ihren Zorn noch nicht ganz losgeworden. Sie wartete nur darauf, dass Georg nach Hause kam.

Noch vor dem Abendessen berichtete sie ihrem Mann entrüstet von Teddys Eigenmächtigkeit.

»So schlimm ist das doch nun auch wieder nicht«, sagte Georg Rosar.

»Nicht schlimm«, echote Herma. Ihre Stimme klang schon wieder so schrill, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.

»Dein Sohn hintergeht uns, lügt uns an und verheimlicht uns alles Mögliche – und du sagst, das sei nicht schlimm.«

»Er hat es doch nur aus Angst um seinen Hund getan.« Georg hatte diese ewigen Auseinandersetzungen schon satt. Er war abgespannt und müde und wollte seine Ruhe haben.

Doch Herma dachte gar nicht daran, ihm seine Ruhe zu lassen. »Er hat hinter unserem Rücken und ohne unser Wissen gehandelt. Und ich denke gar nicht daran, so ein Kind länger unter meinem Dach zu behalten.«

»Was willst du damit sagen?«, fragte Georg.

»Wir haben schon oft genug darüber gesprochen.« Herma zündete sich eine Zigarette an und steckte sie in eine überlange Zigarettenspitze. »Bringe den Jungen in ein Heim. Dort muss er lernen, sich unterzuordnen und zu gehorchen.«

»Ich denke nicht daran«, erklärte Georg und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Und das ist mein letztes Wort in dieser Sache. Teddy kommt nicht in ein Heim. Er bleibt hier.« Er ging aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Zornig drückte Herma ihre Zigarette im Aschenbecher aus. Das war noch nicht dein letztes Wort, dachte sie, und ihre Augen funkelten dabei gehässig.

Das Hausmädchen, das in diesem Moment eintrat, erschrak, als es die Augen der Hausherrin sah. »Das Essen ist fertig, gnädige Frau. Darf ich servieren?«

»Fangen Sie schon an.«

Die Mahlzeit verlief schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. Georg dachte an seine erste Frau, an Teddys Mutter. Auf der Insel Mainau im Bodensee hatte er sie kennengelernt. Und dorthin war sie nach der Scheidung auch zurückgekehrt. Ihr Vater arbeitete dort als Gärtner.

Ich habe dem Jungen die Mutter genommen, dachte Georg. Auf gar keinen Fall werde ich zulassen, dass ihm jetzt auch noch das Zuhause genommen wird.

Herma erkannte an den abwärts gerichteten Mundwinkeln ihres Mannes, dass er zu keinem Kompromiss bereit war. Das ärgerte sie noch mehr. Doch in Teddys Gegenwart schwieg sie.

Erst nach der Mahlzeit, als sie mit ihrem Mann allein im Salon saß, schnitt sie das Thema noch einmal an. Sie ahnte nicht, dass Teddy vor der Tür stand und lauschte.

Der Junge hatte gehört, dass die Eltern vor dem Essen zuerst von seinem Hund und dann von einem Heim gesprochen hatten. Eigentlich hatte er beim Essen den Vater danach fragen wollen, doch dieser hatte so böse ausgesehen und die Atmosphäre war so eisig gewesen, dass er es nicht gewagt hatte, ihn zu fragen.

Aber er wollte doch so gern wissen, was die Eltern nun beschließen würden. Und außerdem sprachen sie so laut, dass man auch ohne zu lauschen jedes Wort verstehen konnte.

Atemlos hörte Teddy, dass seine Stiefmutter wieder von einem Kinderheim sprach. Den Hund erwähnte sie nicht mehr. War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?

»Vergiss bitte nicht, dass es mein Geld war, das dich wieder auf die Füße gebracht hat«, sagte Herma jetzt. »Ohne mein Vermögen wäre dein Betrieb doch längst pleitegegangen.«

Das verstand Teddy nicht. Er hörte auch nicht, dass der Vater etwas darauf erwiderte. Ob er sich ärgerte? Meistens schwieg er nämlich, wenn er sich sehr ärgerte.

»Dein Sohn ist genauso falsch wie seine Mutter«, sagte Herma jetzt.

Im Nebenzimmer zuckte Teddy zusammen.

»Lass Gabriele aus dem Spiel«, verlangte Georg.

»Ach? Du hast sie wohl noch immer nicht vergessen, die Gärtnerstochter?« Hermas Stimme klang abfällig. »Aber offensichtlich hast du vergessen, dass sie dich mit einem anderen Mann betrogen hat. Schließlich war das der Scheidungsgrund.«

»Hör auf!«, schrie Georg erregt.

Teddy hielt sich im Nebenzimmer die Ohren zu. Tränen standen in seinen Augen. Das ist nicht wahr, dachte er. Sie lügt. So etwas hat meine Mutti bestimmt nicht getan. Sie ist lieb und gut und schön. Er erinnerte sich noch ganz genau an die Mutter. Schließlich waren die Eltern erst vor einem Jahr geschieden worden. Und er wäre so gern bei der Mutter geblieben, aber das hatte der Vater nicht erlaubt.

Als die erregten Stimmen im Nebenzimmer weiterstritten, sprang Teddy auf und lief in sein Zimmer. Aber erst, als es finster war und er im Bett lag, ließ er seinen Tränen freien Lauf. Er dachte an die geliebte Mutti, die von Herma so ungerecht beschimpft worden war. Ich möchte zu ihr, dachte er und schnüffelte, weil er wieder einmal kein Taschentuch hatte. Als seine Tränen endlich versiegten, schlief er mit brennenden Augen ein.

*

Der nächste Tag war ein Sonnabend. »Musst du heute auch ins Büro, Vati?«, fragte Teddy beim Frühstück.

»Nur für ein oder zwei Stunden. Willst du mitkommen?«

Die Augen des Jungen leuchteten auf. Das hieß, dass er nicht in der Nähe der Stiefmutter sein musste. »Ja, ich möchte gern mitkommen. Darf ich?«

Der Vater nickte. »Wir fahren gleich nach dem Frühstück.«

Herma stand am Fenster und schaute Vater und Sohn nach. Sie war in übelster Stimmung. Wenn das Kind nicht bald aus dem Haus kommt, werde ich selbst etwas unternehmen, beschloss sie. Schließlich kann Georg gar nichts dagegen machen. Er muss sich nach meinen Wünschen richten, denn die Hälfte der Firma gehört mir. Ohne mein Vermögen würde er keinen Cent verdienen.

Sophienlust 305 – Familienroman

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