Читать книгу Sophienlust Classic 40 – Familienroman - Bettina Clausen - Страница 3
Оглавление»Liza, hör auf, mir die Haare zu zerstruwweln«, rief der fünfjährige Rolf und packte sein übermütiges Schwesterchen bei den Handgelenken. Das dichte dunkle Haar hing ihm widerspenstig in die Stirn.
»Au, lass mich los«, wehrte sich Liza. »Du denkst, weil du ein Jahr älter bist, kannst du alles mit mir machen, was du willst.« Sie entwand ihre Hände dem Bruder und lief durch den Garten aufs Haus zu.
»Wo willst du hin?«, rief Rolf ihr nach.
»Zu Mutti!«
»Bleib da! Oder hast du vergessen, dass wir sie den ganzen Nachmittag in Ruhe lassen wollten, weil sie sich nicht wohlfühlt?«, erinnerte Rolf seine Schwester.
Liza blieb stehen und strich sich die blonden Locken aus dem Gesicht. Ein enttäuschter Ausdruck trat in ihre Augen. »Ooch«, machte sie. »Warum geht es Mutti so oft schlecht?«
»Weiß ich doch nicht. Auf jeden Fall dürfen wir sie nicht immer stören, wenn sie sich mal hinlegt.«
»Sie legt sich aber oft hin«, schmollte Liza. Sie hatte ein großes Bedürfnis nach Liebe und Zärtlichkeit. Und gerade das vermisste sie in der letzten Zeit bei der Mutter.
»Na ja, weil sie sich eben oft nicht wohlfühlt und Ruhe braucht«, erklärte der Bruder seiner Schwester altklug.
»Das ist aber gar nicht schön. Man kann nie mit Mutti spielen und sie auch gar nichts mehr fragen«, beschwerte sich Liza. »Wenn Vati wenigstens da wäre …« Es klang wie ein Seufzer.
»Dass Mädchen immer so quengelig sein müssen«, schnaufte Rolf. »Vati ist weit weg in Afrika. Er kann nicht hier sein, weil er dort arbeiten muss. Schließlich hast du ja mich.«
»Phh«, machte Liza und winkte mit der Hand ab. »Dich kann ich doch nicht das fragen, was ich Vati fragen möchte.«
»Dann musst du eben noch ein halbes Jahr warten, bis Vati wiederkommt«, antwortete Rolf beleidigt.
»Warum muss er so lange in Afrika bleiben?«, wollte Liza zum soundsovielten Male wissen.
»Weil er dort Häuser baut«, erklärte der Bruder überlegen.
»Er baut selbst Häuser?«, fragte Liza verwundert.
Rolf schlug sich mit der Hand vor den Kopf, wie er es von Erwachsenen gesehen hatte. »Natürlich baut er selbst keine Häuser. Vati ist Architekt, er macht die Pläne dafür.« Wie das in Wirklichkeit aussah, konnte er sich allerdings selbst nicht vorstellen. Aber das hätte er natürlich nie zugegeben.
Liza war gekränkt. »Wenn ich dir nicht gescheit genug bin, dann brauchst du ja nicht mit mir zu spielen«, stellte sie beleidigt fest und lief davon.
Doch das konnte Rolf nun wieder nicht ertragen. Er liebte seine Schwester zärtlich, auch wenn er ihr ab und zu zeigen musste, wer der Ältere und Klügere war. »Lizalein, warte doch«, rief er und lief ihr nach. »So habe ich das doch nicht gemeint«, entschuldigte er sich atemlos, als er sie eingeholt hatte.
Liza schaute den Bruder an und sagte nichts.
Bittend ergriff Rolf ihre Hand. »Bist du wieder gut?«
Liza nickte. Sie hätte einen Streit mit dem Bruder gar nicht ertragen. Plötzlich verdunkelten sich ihre Augen. »Rolfi, glaubst du, dass Mutti sterben muss?«, fragte sie kläglich und hilflos.
»Wie kannst du so etwas Dummes fragen!«, platzte da der Bruder wieder ärgerlich heraus.
Sofort begann Liza zu weinen. »Wenn sie doch so krank ist und wir sie nicht stören dürfen«, schluchzte sie.
Schreckliche Angst überfiel Rolf. Hilflos legte er seiner Schwester den Arm um die Schulter und bat: »Wein doch bitte nicht, bitte, sonst muss ich auch weinen. Mutti stirbt bestimmt nicht. Wir brauchen sie doch!«
Mit tränenblinden Augen schaute Liza den Bruder an.
»Wir haben ja sonst niemand, nicht wahr? Vati ist weit fort, und unsere große Schwester kennen wir fast gar nicht.«
»Du meinst Ramona?«, fragte Rolf.
Liza nickte.
»Sie ist ja unsere Stiefschwester«, belehrte Rolf seine kleine Schwester.
»Was ist Stiefschwester?«, wollte Liza wissen.
Sie ist unsere Stiefschwester, weil unser Vati nicht ihr Vati ist«, erklärte Rolf der Schwester.
»Das verstehe ich nicht«, beschwerte sich Liza. »Wer ist denn dann ihr Vati?«
»Ach, das weiß ich auch nicht. Die Erwachsenen haben lauter so komische Sachen«, schimpfte Rolf, der nun auch durcheinandergeraten war. »Auf jeden Fall ist unsere Mutti ganz bestimmt auch Ramonas Mutti.«
Lizas Züge hellten sich auf. Sie nickte. Das leuchtete ihr nun wieder ein. »Dann hat sie uns bestimmt auch lieb, nicht wahr?«
»Wer? Ramona?«
»Ja. Möchtest du nicht, dass sie immer bei uns ist?«, fragte Liza.
Rolf zuckte die Schulter.
»Weiß ich nicht. Wir haben sie ja nur einmal gesehen, als wir in Heidelberg bei unserer Tante waren. Und daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern. Vielleicht ist sie recht eingebildet.«
»Das glaube ich nicht«, verteidigte Liza die große Schwester. »Sie ist bestimmt nett.«
Sie beratschlagten noch eine Weile, ob sie Ramona nett finden sollten oder nicht, da rief die Mutter nach ihnen. Wie auf Kommando rasten sie alle beide zum Haus.
»Siehst du, Mutti ist aufgestanden«, rief Liza noch im Laufen dem Bruder zu. Einen Moment lang hoffte sie, die Mutter würde die Arme ausbreiten und sie auffangen, wie sie es früher immer getan hatte.
Doch dazu fühlte Marianne Timbre sich zu schwach. Sie bemühte sich um ein Lächeln und streckte ihren Kindern beide Hände entgegen. »Na, war es schön im Garten?«
»Ja«, bestätigten alle beide begeistert. »Es ist schon richtig warm.«
»Werden die Bäume bald blühen?«, wollte Liza wissen.
»Lange kann es nicht mehr dauern«, verriet ihr die Mutter. Dann brachte sie die beiden ins Badezimmer, damit sie sich vor dem Essen noch die Hände wuschen.
»Hast du keinen Hunger, Mutti?«, fragte Liza während des Essens, als Marianne Timbre ihren Teller fast unberührt wieder von sich schob.
Ein gequälter Ausdruck trat in die Augen der Frau. Sie wusste, dass sie den Kindern ein schlechtes Beispiel gab. Aber das Schwächegefühl war einfach nicht zu überwinden.
Da kam Rolf ihr mit sicherem Instinkt zu Hilfe. »Du siehst doch, dass Mutti sich nicht wohlfühlt, Liza. Und wenn es einem nicht gut geht, kann man auch nichts essen. Stimmt’s Mutti?«
Dankbar streichelte Marianne die Hand ihres Sohnes. »Du bist wirklich ein kluger Junge«, lobte sie, bemühte sich jedoch im gleichen Augenblick auch um Liza, um keinerlei Eifersucht aufkommen zu lassen.
Mit einem innigen Kuss brachte Marianne Timbre Liza und Rolf schließlich zu Bett.
Es hilft nichts, ich muss morgen zum Arzt gehen, nahm sie sich vor, bevor der Schlaf auch sie übermannte.
Gleich am nächsten Morgen bat sie ihre Haushälterin, auf die Kinder achtzugeben, da sie zum Arzt müsse.
»Das wird aber auch Zeit, gnädige Frau«, mahnte die ältere Frau besorgt. »Sie hätten schon viel früher gehen müssen.«
Seit die Mutter sich so schlecht fühlte, besuchten Liza und Rolf jeden Vormittag einen Kindergarten. Doch eigenartigerweise konnten sie sich nicht einleben, obwohl sie ansonsten aufgeschlossen und kontaktfreudig waren. Sie freuten sich jeden Mittag, wenn sie wieder nach Hause durften.
An diesem Mittag war die Mutter nicht da, als sie nach Hause kamen.
»Eure Mutti muss jeden Moment kommen«, versuchte die Haushälterin die Kinder abzulenken.
»Aber wo ist sie denn?«, wollte Rolf nun wissen.
»Eure Mutti ist zum Onkel Doktor gegangen.« Es hatte so selbstverständlich wie möglich klingen sollen. Doch Liza und Rolf waren sofort argwöhnisch.
»Siehst du, es ist doch ganz schlimm«, jammerte Liza, an den Bruder gewandt.
»Das ist doch noch gar nicht heraus«, hielt Rolf ihr entgegen. Aber auch er fühlte plötzlich einen Kloß im Hals.
Da vernahmen die beiden das vertraute, quietschende Geräusch der Gartentür und rasten aus dem Haus. »Mutti! Mutti«, riefen beide und liefen der Mutter entgegen.
Marianne Timbre zauberte ein schwaches Lächeln auf ihr erschöpftes Gesicht. Sie küsste die beiden Kinder zärtlich.
»Bist du arg krank?«, fragte Liza ängstlich.
Eigentlich hatte die Mutter den Arztbesuch vor den Kindern geheim halten wollen, doch das ging nun nicht mehr.
»Ich weiß noch gar nicht, ob mir überhaupt etwas fehlt«, beruhigte sie die Kinder.
»Wann weißt du es denn?«, fragte Rolf.
»Vielleicht in ein paar Tagen. Ich muss erst gründlich untersucht werden, und das dauert einige Tage«, erklärte die Mutter.
»Wieso musst du dich so lange untersuchen lassen, wenn du vielleicht gar nicht krank bist«, fragte Liza verständnislos.
Marianne Timbre beugte sich herab und wollte ihre kleine Tochter auf den Arm nehmen. Doch beim Heben verspürte sie einen so stechenden Schmerz, dass sie Liza schnell wieder auf den Boden stellte. »Kommt, wir wollen zu Mittag essen. Anschließend schreiben wir Ramona einen Brief.«
Neugierig schaute Rolf auf. »Was schreiben wir ihr denn?«
»Wir werden sie fragen, ob sie uns nicht besuchen will«, erwiderte die Mutter.
Begeistert klatschte Liza in die Hände. »Das ist toll! Hast du gehört, Rolf, Ramona wird uns besuchen.«
»Ob sie wirklich kommt, wissen wir doch noch gar nicht«, belehrte Rolf seine Schwester. »Mutti will sie ja erst fragen. Soll sie deswegen kommen, weil du krank bist, Mutti?« Mit großen ernsten Augen forschte der Junge im Gesicht seiner Mutter.
Marianne Timbre zögerte sekundenlang mit der Antwort. Dann entschied sie sich für die Wahrheit. »Ja, das ist der Grund«, bestätigte sie. »Damit ich euch nicht immer allein lassen muss, wenn ich zum Arzt gehe oder mich hinlegen will.«
Der Brief an Ramona wurde nicht sehr lang. Marianne teilte ihrer Tochter in wenigen Worten mit, dass sie krank sei und Ramonas Hilfe brauche. Alles andere wollte sie ihr mündlich sagen, denn sie fühlte sich einfach nicht kräftig genug, einen längeren Brief zu schreiben.
*
Ramona erhielt den Brief der Mutter einen Tag später. Verwundert las sie die wenigen Zeilen und setzte sich dann nachdenklich ans Fenster.
»Gehst du heute nicht zur Vorlesung, Ramona?«, fragte die Tante, als sie Ramona gedankenverloren im Wohnzimmer sitzen sah, obwohl sie schon längst hätte unterwegs zur Universität sein müssen.
Ich glaube nicht«, erwiderte Ramona. Dann zeigte sie ihrer Tante den Brief der Mutter.
Langsam, Wort für Wort las die Tante den Brief. »Es ist doch sonst nicht Mariannes Art, so knapp zu schreiben«, stellte sie ebenfalls nachdenklich fest. »Schade, dass ich schon alt und gebrechlich bin. Ich würde dich sonst begleiten oder an deiner Stelle zu Marianne fahren.«
Ramona schüttelte den Kopf. »Nein, Tantchen, das ist meine Aufgabe. Mama braucht mich, und deshalb werde ich auf dem schnellsten Weg nach Hause fahren.« Sie trat zum Telefon, um sich die Abfahrtszeiten der nächsten Züge durchgeben zu lassen.
Mit Tränen in den Augen verabschiedete sich Ramona zwei Stunden später von der Tante. Ihre blauen Augen, die einen reizvollen Kontrast zu dem dunklen Haar bildeten, blickten nachdenklich und sehr ernst. Zum ersten Mal überlegte sie jetzt, ob es richtig gewesen war, in Heidelberg zu studieren. Aber schließlich war es die Mutter selbst gewesen, die ihr vor sechs Jahren geraten hatte, in Heidelberg zu studieren und bei der Tante zu wohnen. Das war kurz vor der Heirat ihrer Mutter gewesen.
Als Ramona im Zug saß, überlegte sie, wie schon so oft, noch einmal, ob es vielleicht damals ihrem Stiefvater, Marc Timbre, nicht recht gewesen war, eine so große Tochter im Haus zu haben. Ramona hatte diese zweite Ehe der Mutter nie begriffen. Schließlich war Marc Timbre fast zehn Jahre jünger als die Mutter. Trotzdem musste es allem Anschein nach eine Liebesheirat gewesen sein. War es nicht eigenartig, dass sie ihren Stiefvater nie kennengelernt hatte? Doch sie musste zugeben, dass das allein ihre Schuld war, denn zu der Hochzeit war sie aus Trotz und Starrsinn nicht erschienen. Und nach drei Ehejahren hatte der Stiefvater dann dieses blendende Angebot in Südafrika bekommen.
Ramona rechnete nach. Zweieinhalb Jahre lebte er nun schon von seiner Familie getrennt. In einem halben Jahr musste sein Vertrag abgelaufen sein.
Ramona war so in ihre Überlegungen vertieft, dass sie erschrocken auffuhr, als der Zug auf dem Frankfurter Hauptbahnhof hielt. Schnell schlüpfte sie in ihren Mantel und angelte den Koffer aus dem Gepäcknetz. Da sie umzusteigen hatte, musste sie sich beeilen, um den Anschlusszug nicht zu verpassen.
Endlich war es dann so weit, dass sie in ihrer Heimatstadt aus dem Zug stieg. Mit einem Taxi erreichte sie das Elternhaus schon nach zehn Minuten.
Während der ganzen Fahrt hatte Ramona vor allem an die Mutter gedacht. Jetzt galten ihre ersten Gedanken Liza und Rolf.
Da öffnete sich auch schon die Haustür, und die Geschwister kamen herausgestürmt. »Sie ist es! Sie ist es«, rief eine lebhafte Jungenstimme.
Ramona stellte den Koffer ab und wartete, bis die beiden bei ihr waren. Rolf fiel ihr zuerst um den Hals, aber gleich darauf war Liza da und streckte Ramona ihre Ärmchen entgegen.
Ramona ging in die Hocke und umarmte beide gleichzeitig. Als sie die weichen Kindergesichter an ihrer Wange fühlte, spürte sie plötzlich einen drückenden Kloß im Hals. Wie lieb die beiden waren!
Sie küsste beide zärtlich und nahm sie dann bei der Hand, um mit ihnen zum Haus zu gehen.
»Der Koffer?«, erinnerte Rolf. Aber da war auch schon die Haushälterin da, um sich um das Gepäck zu kümmern. Scheu begrüßte sie das junge Mädchen, das ihr noch unbekannt war.
»Schön, dass du das bist«, flüsterte Liza der großen Schwester zu, als sie das Haus betraten.
Ramona strich ihr zärtlich über die blonden Locken. Ob sie die von ihrem Vater hatte? »Wo ist Mama?«, erkundigte sie sich.
»Mutti liegt im Bett«, antwortete Rolf. »Soll ich dich zu ihr bringen?«
Ramona nickte. Überrascht betrachtete sie die große Halle. Das Haus hatte sich auf erstaunliche Weise verändert. Früher war es ihr viel kleiner und enger vorgekommen, nicht so weiträumig. Doch dann fiel ihr ein, dass ihr Stiefvater ja Architekt war. Das erklärte alles.
Liza und Rolf blieben hinter ihr, als Ramona das Schlafzimmer der Mutter betrat. Ihr Schritt stockte, als sie die magere bleiche Gestalt in den Kissen gewahrte.
Das konnte doch nicht Mama sein! Mit einem schmerzlichen Laut in der Kehle, den sie zu unterdrücken versuchte, stürzte Ramona zum Bett. »Mama, liebe Mama!«
Die Mutter streckte die Arme aus und umfing ihre große Tochter zärtlich. »Danke, dass du gekommen bist«, flüsterte sie.
Liza und Rolf standen andächtig daneben. Sie fühlten keinerlei Eifersucht. Als Ramona sich auf der Bettkante niederließ, gingen sie zur anderen Seite des Bettes und setzten sich ebenfalls auf den Rand.
»Mutti liegt schon den ganzen Tag im Bett«, berichtete Rolf der großen Schwester.
Besorgt betrachtete Ramona das Gesicht der Mutter. »Warst du schon beim Arzt, Mama?«
Die Mutter nickte. »Ich soll von Kopf bis Fuß gründlich untersucht werden. Aber so etwas braucht seine Zeit. Jede einzelne Untersuchung nimmt fast einen ganzen Vormittag in Anspruch.«
Ramona nickte. Sie studierte Medizin. Deshalb ängstigte sie auch die große Gewichtsabnahme der Mutter so sehr. Aber sie sprach ihre Gedanken nicht aus.
»Soll ich dich zu den weiteren Untersuchungen in die Klinik begleiten?«, schlug sie vor.
»Bleib lieber bei den Kindern«, bat die Mutter. »Das ist auch der Grund, weshalb ich dir schrieb. Die beiden sind sonst zu viel allein.«
»Natürlich werde ich mich um euch kümmern.« Ramona schaute ihre Geschwister liebevoll an. »Wir können ja Mama in die Klinik begleiten und anschließend spazieren gehen«, schlug sie vor.
»Au ja, das ist fein«, freute sich Liza.
Rolf hatte gleich noch einen anderen Vorschlag. »Wir könnten auch zum Eisessen gehen.«
Da kam auch in Lizas Augen ein genüssliches Leuchten, sodass Ramona den beiden versprach, sie zum Eisessen einzuladen.
Marianne Timbre wollte rasch zum Abendessen aufstehen, doch Ramona bestand darauf, ihr das Essen ans Bett zu bringen. Sie wollte die Gelegenheit nutzen und mit der Mutter ein wenig allein sein.
»Seit wann spürst du diesen Schwächezustand?«, fragte sie, sobald sie mit der Mutter allein war.
Eigentlich schon seit einem halben Jahr«, berichtete die Mutter. »Anfangs war es nur vorübergehend und sah ganz harmlos aus. Deshalb achtete ich auch nicht weiter darauf.«
»Bitte, iss ein wenig von der kräftigen Brühe«, bat Ramona und versuchte, die Angst in ihrer Stimme zu unterdrücken.
Doch die Mutter schob das Essen von sich. »Ich kann nichts essen.« Sie schaute ihre Tochter plötzlich direkt an. »Ich glaube nicht, dass ich noch lange leben werde«, sagte sie ernst.
»Aber, Mama, wie kannst du so etwas sagen? Du kennst doch noch nicht einmal die Diagnose der Ärzte«, hielt Ramona ihr entgegen.
»So etwas spürt man, mein Kind. Deswegen rief ich dich auch zu mir.«
Da konnte Ramona sich nicht länger beherrschen. Schluchzend sank ihr Kopf auf die Schulter der Mutter. »Das ist nicht wahr, Mama. Du wirst wieder gesund werden, du musst! Wir brauchen dich doch!«
Gerührt streichelte Marianne das Haar ihrer Tochter. »Du wirst stark sein müssen, mein Kind.«
Ramona klammerte sich hilflos an die schwachen Schultern der Mutter. Sie wollte einfach nicht wahrhaben, was sie gehört hatte, obwohl ihr eine innere Stimme dasselbe sagte.
Als Ramona die Stimmen der Kinder auf dem Korridor hörte, löste sie sich von der Mutter und trocknete ihre Tränen. »Bitte, iss ein wenig«, bat sie fast demütig. »Ich werde inzwischen mit Liza und Rolf essen.«
Ramona verließ das Schlafzimmer der Mutter. Liza und Rolf drückten sich in der Halle herum. »Wollen wir essen?«, fragte sie die beiden.
Ja, das Essen ist schon aufgetragen«, antwortete Liza und ergriff Ramonas Hand.
»Musst du schon bald wieder fort oder wirst du länger bei uns bleiben?«, fragte Rolf, als er nach dem zweiten Wurstbrot griff.
Ramona dachte an ihr Studium, das sie unterbrochen hatte. Einige Wochen Pause würden nicht schaden, das konnte sie wieder aufholen. Aber wie sollte es weitergehen, wenn die Mutter wirklich nicht gesunden würde? »Ich werde für längere Zeit bei euch bleiben. Auf jeden Fall so lange, bis Mama wieder gesund ist«, versprach sie den Kindern.
Gerührt beobachtete sie, wie Liza und Rolf sich freuten.
Nach dem Essen brachte sie die beiden zu Bett.
»Spielst du noch ein bisschen mit uns?«, bettelte Liza.
»Wenn ihr mir versprecht, danach schön brav zu schlafen«, entgegnete Ramona. Sie beschäftigte sich fast eine Stunde mit den Kindern. Zum Schluss erzählte sie ihnen eine Gutenachtgeschichte.
Als sie sich dann zu Liza hinabbeugte, um ihr einen Gutenachtkuss zu geben, flüsterte das Mädchen: »Ich bin froh, dass du da bist. Wenn du uns ins Bett bringst, dann ist das genauso wie wenn Mutti es macht. Du hast auch die gleichen Augen und die gleichen Haare wie Mutti.« Vorsichtig fuhr sie durch Ramonas dunkles, fast schwarzes Haar.
Rolf pflichtete seiner Schwester sofort bei. »Du bist genauso schön wie Mutti«, wisperte er, als Ramona auch ihm einen Kuss gab.
»Nun schlaft aber schön«, sagte Ramona weich, wobei ihre Stimme vibrierte. Sie löschte das Licht.
Aber für Liza und Rolf waren die letzten Stunden viel zu aufregend gewesen, als dass sie sofort hätten schlafen können.
Rolf richtete sich auf und spähte im Dunkeln zu seiner Schwester hinüber. »Soll ich dir etwas sagen?«, fragte er leise.
»Sag es«, kam es von Lizas Bett.
»Ich finde, dass Ramona genauso lieb ist wie Mutti und dass sie immer bei uns bleiben sollte«, erklärte er.
»Das finde ich auch. Ich hab sie richtig lieb«, flüsterte Liza zurück.
»Weißt du was, dann werden wir uns einfach darum bemühen, dass sie bleibt«, schlug Rolf vor.
»Und wie sollen wir das machen?«
»Wir müssen ihr zeigen, dass wir sie gernhaben, und alles tun, was sie verlangt«, plante Rolf.
»Und wir müssen ihr sagen, dass wir sie brauchen«, fügte Liza hinzu.
Mit diesen Gedanken schliefen die beiden schließlich ein.
Ramona hatte noch einmal zur Mutter hineingeschaut. Aber die schlief schon. Da ging sie hinauf in ihr Zimmer. Es war das gleiche Zimmer, in dem sie schon als kleines Mädchen geschlafen hatte. Hier hatte die Mutter ihr immer eine Gutenachtgeschichte erzählt und sie zum Einschlafen geküsst. Es war der einzige Raum im ganzen Haus, der unverändert geblieben war. Alle anderen Zimmer waren modernisiert worden.
Ramona war der Mutter dankbar, dass sie ihr dieses Refugium ihrer Jugend erhalten hatte. Sie setzte sich ans Fenster, öffnete es und ließ die kühle Nachtluft hereinströmen. Der Gedanke an die kranke Mutter schmerzte, legte ihr aber auch gleichzeitig eine Verpflichtung auf. Sie musste sich um die Kinder kümmern, und sie musste den Stiefvater informieren.
Kurz entschlossen setzte sich Ramona an den zierlichen kleinen Schreibtisch und nahm einen Briefbogen zur Hand. Aber die rechten Worte wollten ihr nicht sofort einfallen. Es war ja auch eigenartig, dass sie jetzt einem Mann schrieb, den sie nicht kannte, der aber der Mutter und den Geschwistern alles bedeutete.
Schließlich schilderte sie ihm in präzisen Worten den Zustand der Mutter. Was er unternahm, musste er selbst entscheiden.
*
Nach drei Wochen, in denen Marianne fast jeden zweiten Tag beim Arzt gewesen war, traf der Antwortbrief ihres Mannes ein. Er war an alle Familienmitglieder gleichzeitig gerichtete. Marianne öffnete ihn und las die Zeilen erstaunt. »Hast du Marc geschrieben?«, wandte sie sich danach an Ramona.
Etwas verlegen nickte Ramona. »Irgendjemand musste ihn doch über deinen Zustand informieren«, verteidigte sie sich.
»Ich mache dir ja gar keinen Vorwurf, Kind«, lenkte die Mutter ein. »Im Gegenteil, Marc bedankt sich für deinen Brief und lässt dir sagen, dass du genau das Richtige getan hast.«
»Kommt Papi nach Hause?«, mischte sich da Rolf in das Gespräch ein. Auch Ramona schaute die Mutter fragend an.
»Sein Vertrag läuft erst in einem halben Jahr ab. So lange muss er noch mit der Rückkehr warten«, antwortete Marianne.
Ramona spürte, wie Hilflosigkeit in ihr aufstieg. In einem halben Jahr konnte viel geschehen. In den letzten drei Wochen hatte sich der Zustand ihrer Mutter so rapide verschlechtert, dass Ramona vor der endgültigen Diagnose des Arztes zitterte. Insgeheim nahm sie sich vor, ihrem Stiefvater auf alle Fälle noch einmal zu schreiben, sobald sie mit dem Arzt gesprochen hatte. Dieses Gespräch sollte in den nächsten Tagen stattfinden, sobald die endgültigen Untersuchungen vorlagen.
Marianne lag jetzt fast dauernd im Bett. Ihr Körper ermüdete so schnell, dass sie sich nicht einmal mehr während der Mahlzeiten auf den Beinen halten konnte. Deshalb war sie froh, als Ramona sich erbot, ihr den Gang zum Arzt abzunehmen.
»Dürfen wir heute nicht mit in die Stadt kommen?«, bettelte Rolf.
»Heute nicht, weil ich zum Arzt gehe«, entschied Ramona. »Ich muss mit ihm über Mama sprechen.«
Folgsam ließen sich die Geschwister zum Kindergarten bringen. Sie baten Ramona jedoch, sie recht bald wieder abzuholen.
Diesen Wunsch konnte Ramona ihnen nicht erfüllen. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten, als sie die Klinik verließ. Sie flüchtete in den Park, der in der Nähe lag. Hier konnte sie ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie war froh, dass weit und breit kein Spaziergänger zu sehen war. »Mama«, flüsterte sie immer wieder, und ihr Körper wurde von Schluchzen geschüttelt.
Der Arzt hatte ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Die Krankheit der Mutter war fortgeschritten und unheilbar. Da die Mutter aber nicht erfahren durfte, wie schlimm es um sie stand, musste Ramona das Schicksal der Familie in die Hand nehmen. Deshalb trocknete sie ihre Tränen und ermahnte sich selbst zur Ordnung. Mit Verzagtheit und Schwäche war niemandem geholfen. Sie musste jetzt in erster Linie an die Kinder denken.
Ramona erhob sich und schlug den Weg zum Kindergarten ein. Je näher sie ihrem Ziel kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Musste ihr verweintes Gesicht Liza und Rolf nicht misstrauisch machen? Sie holte einen Taschenspiegel hervor und überprüfte ihr Aussehen. Die Augen waren rot und verschwollen. Nein, so konnte sie den Kindern jetzt noch nicht gegenübertreten.
Ramona ging noch eine halbe Stunde in der frischen Luft spazieren, bis ihr Aussehen sich einigermaßen normalisiert hatte. Dabei fasste sie den Entschluss, noch am gleichen Abend dem Stiefvater zu schreiben und ihm die Wahrheit mitzuteilen. Das hielt sie für ihre Pflicht.
Als sie schließlich den Kindergarten betrat, hatte sie sich so weit in der Gewalt, dass sie nach außen hin sicher und ruhig wirkte. Nur der Schmerz in ihren Augen ließ sich nicht verbergen. Aber um diesen zu bemerken, waren Liza und Rolf noch zu oberflächlich. Sie stürmten der großen Schwester erfreut entgegen.
»Puuh, war das langweilig«, stöhnte Rolf. »Bin ich froh, dass wir jetzt nicht mehr jeden Tag hierherkommen müssen. Zu Hause ist es viel schöner.«
»Du wirst doch nicht wieder fortgehen und uns allein lassen?«, fragte Liza plötzlich ängstlich, als Ramona nichts sagte.
»Wir waren doch immer lieb und haben uns Mühe gegeben, dir zu folgen«, erinnerte Rolf die große Schwester.
Da beugte sich Ramona zu den beiden herab und schloss sie in ihre Arme. »Ich werde euch nie mehr allein lassen«, versprach sie. »Wenn ihr wollt, bleibe ich immer bei euch.«
Liza und Rolf, die den tieferen Sinn dieser Worte nicht verstanden, erdrückten Ramona fast vor Begeisterung. »Nie mehr? Versprichst du uns das?«, vergewisserten sie sich.
Ramona nickte ernst.
Da war die Seligkeit der beiden vollkommen. Munter plaudernd legten sie den Heimweg zurück. Ihre Freude war so groß, dass sie den ganzen Nachmittag damit beschäftigt waren, sich das künftige Zusammenleben mit Ramona auszumalen.
Ramona war froh darüber. Sie wäre an diesem Nachmittag nicht in der Lage gewesen, mit den Kindern zu spielen. Die zwei Stunden, die sie am Bett der Mutter verbrachte, bedeuteten Qual und Schmerz zugleich. Als die Mutter endlich eingeschlafen war, ging Ramona in ihr Zimmer, um dem Stiefvater zu schreiben.
Diesmal diktierte die Verzweiflung ihr die Worte. Dass es einen Menschen auf der Welt gab, der sie verstehen und mit ihr trauern würde, erleichterte sie fast ein wenig. Zum Schluss ihres Briefes bat sie den Stiefvater, sofort zu kommen.
*
Marc Timbre war ein konsequenter Mensch. Was er tat, das erledigte er gründlich. So hatte er sich seit zweieinhalb Jahren in seine Arbeit vertieft und ihr sogar seine Freizeit geopfert.
Ramonas erster Brief hatte ihn zum ersten Mal aus diesem Trancezustand aufgerüttelt. Ihre zweite Nachricht stürzte ihn in tiefste Verzweiflung. Trotz aller Nachteile, die sich daraus ergaben, kündigte er seinen Vertrag nun sofort.
Obwohl Marc zehn Jahre jünger war als seine Frau, liebte er Marianne doch von ganzem Herzen. Er wusste, dass sein Herz immer nur ihr gehören würde. Und nun war sie krank, unheilbar krank. Verzweiflung und Schmerz übermannten ihn, sodass er am liebsten aufgeschrien hätte.
Bevor er heimreisen konnte, musste er noch alles für seinen Nachfolger vorbereiten. Man weigerte sich, ihn vorher gehen zu lassen. Besessen arbeitete er Tag und Nacht.
Da Ramona ihm geschrieben hatte, dass Marianne das ganze Ausmaß ihres Leidens nicht kenne, verzichtete er darauf, sein Kommen in einem Telegramm anzukündigen: Es hätte Marianne nur erschreckt. Er sandte nur ein paar kurze Zeilen an Ramona ab, um ihr das voraussichtliche Datum seiner Ankunft mitzuteilen.
Zu dem Zeitpunkt, da Ramona diese Nachricht in Händen hielt, wusste auch Marianne bereits, wie es um sie stand.
Niemand hatte es ihr gesagt. Doch ihre Krankheit war so rapide fortgeschritten, dass sie das nahe Ende spürte. Deshalb erzählte ihr Ramona auch, dass sie an Marc geschrieben habe und dass er so schnell wie möglich kommen wolle.
»Das ist schön«, lächelte Marianne. »Ich sehne mich so sehr danach, ihn noch einmal zu sehen.«
»Du wirst ihn bestimmt wiedersehen«, versprach Ramona zuversichtlich. Doch innerlich war sie alles andere als zuversichtlich. Wenn Marc sich nicht beeilte, würde er seine Frau kaum noch in die Arme schließen können.
Ramona unternahm jeden Tag ausgedehnte Spaziergänge mit den Kinder, um sie abzulenken. Dabei erzählte sie ihnen eines Tages, dass ihr Papi nun bald kommen werde.
»Wirklich?«, fragte Liza erfreut.
Rolf dagegen wollte es gleich genau wissen. »Wann kommt er, Ramona?«
»Genau in vierzehn Tagen«, beantwortete Ramona seine Frage.
»Einmal hast du aber gesagt, er bleibt noch ein halbes Jahr in Afrika«, erinnerte Rolf seine große Schwester.
»Er hat es sich anders überlegt, weil Mutti so krank ist«, belehrte ihn Ramona.
»Sie ist sehr krank, nicht wahr?«, sagte Liza, und ihre Stimme klang weinerlich.
Ramona überlegte, dass es keinen Zweck hatte, den Kindern etwas vorzumachen. »Ja, sie ist sehr krank«, gab sie zu.
»Muss sie sterben?«, fragte Rolf. In seinen Augen lag Angst, aber trotzdem spürte Ramona, dass er die volle Tragweite dieses Wortes noch nicht ganz begriff. Vielleicht war es besser so.
»Warum sagst du nichts, Ramona?«, drängte er.
»Ob unsere Mutti bei uns bleibt oder von uns geht, weiß nur der liebe Gott. Wir müssen hoffen und beten.«
»Hilft das denn?«, fragte Liza naiv.
»Vielleicht hilft es.«
»Und wenn es nicht hilft?« Nun kamen Liza doch die Tränen. »Dann haben wir keine Mutti mehr.« Sie begann bitterlich zu weinen.
Schnell nahm Ramona die kleine Schwester auf den Arm. »Weine nicht, mein Liebling, du hast doch noch deinen Bruder und deinen Papi und mich.«
»Wirst du ganz bestimmt immer bei uns bleiben, wenn Mutti stirbt?«, fragte nun Rolf. Seine Stimme zitterte und seine Augen forschten ängstlich in Ramonas Gesicht.
»Ich werde euch niemals allein lassen.«
»Ganz bestimmt, oder sagst du das jetzt nur so?«, bohrte Rolf weiter.
»Ich verspreche es euch«, antwortete Ramona feierlich. Sie war sich bewusst, dass sie dieses Versprechen halten musste, um den Kindern nicht den letzten Rest von Vertrauen und Sicherheit zu nehmen.
Mit geröteten Wangen kehrten sie schließlich ins Haus zurück. Es war ein heiterer Vorfrühlingstag, der einen kalten Wind mit sich brachte. Trotzdem spürte man schon den Frühling.
Je weiter der Frühling vorrückte, desto schwächer wurde Marianne.
»Wann kommt Marc?«, fragte sie Ramona jeden Tag.
Das Mädchen bangte und zitterte seinem Kommen entgegen und fragte sich immer wieder, warum er noch nicht da sei. Schließlich bat sie ihn in einem Telegramm, unverzüglich zu kommen, weil er sonst seine Frau nicht mehr lebend anträfe.
Doch es war schon zu spät. An einem milden Tag voller Wärme und Sonne, der neues Leben und Wachsen verhieß, schlief Marianne für immer ein. Es wirkte wie ein Beispiel für den ewigen Kreislauf von Kommen und Gehen.
Ihre letzte Stunde war voller Frieden und Ruhe. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen und die Kinder an ihr Bett gebeten. Liza und Rolf bei den Händen haltend, ruhten ihre Augen in den letzten Minuten auf Ramona. »Versprich mir, bei ihnen zu bleiben und auf sie achtzugeben«, bat sie.
Ramona nickte mit tränenblinden Augen.
Und kümmere dich um Marc. Er hat jetzt nur noch die Kinder«, flüsterte die Mutter mit schon ersterbender Stimme. Ihr Blick liebkoste ein jedes Kind ein letztes Mal, dann schloss sie friedlich die Augen.
Liza und Rolf schauten die große Schwester fragend an. Mit tränenüberströmtem Gesicht nickte Ramona. Da traten die Kinder lautlos zu ihr und bargen ihre Gesichter an der Brust der großen Schwester. Ramona spürte die Berührung der kleinen Körper, die sich schutzsuchend an sie schmiegten, und umschloss sie fürsorglich mit beiden Armen. Lange Zeit verharrten sie so, schweigend und schutzbedürftig aneinandergepresst.
Endlich führte Ramona die Kinder hinaus und brachte sie selbst zu Bett. Keine Minute wich sie von ihrer Seite. Die Beschäftigung mit ihnen lenkte sie für kurze Zeit ab. Erst als sie die regelmäßigen Atemzüge der beiden vernahm, verließ sie das Kinderzimmer.
Eine unstillbare Sehnsucht zog Ramona noch einmal zu dem Zimmer der Mutter. Sie setzte sich neben das Bett und hielt schweigend Wache. Nur der Gedanke an die Kinder und die Bitte der Mutter, auf sie achtzugeben, hielt sie aufrecht. Nur in Liza und Rolf sah sie jetzt den Sinn ihres Lebens. Sie war dem Schicksal dankbar für die Geschwister, die das Einzige waren, was ihr von der Mutter geblieben war. Die Liebe zu den beiden hilflosen kleinen Wesen würde ihr helfen, den Verlust zu überwinden.
*
Marc Timbre traf an dem Tag in der Heimat ein, an dem seine Frau beigesetzt wurde. Auf Ramonas Telegramm hin war er unverzüglich abgereist. Dass es schon zu spät war, wusste er noch nicht.
Ein Taxi brachte ihn vom Flughafen zu seinem Haus. Verwundert betrachtete er das ruhig und unbewohnt aussehende Haus. Auf sein Läuten hin öffnete niemand. Er drückte die Klinke der Gartentür herunter, die nachgab. Auch die Haustür war nicht verschlossen.
Marc trat ein. Erschrocken fuhr er zusammen, als er die schwarz gekleidete Gestalt aus der Küche kommen sah. Erst nach genauerem Hinsehen erkannte er die alte Haushälterin.
Die alte Frau begann bitterlich zu weinen, als sie ihren Herrn erkannte.
Mit zwei Schritten war Marc an ihrer Seite. »Wo ist meine Frau?«, brachte er mühsam hervor.
Die alte Frau gab keine Antwort. Sie schaute ihn nur an.
Marc brauchte keine Auskunft mehr. Er wusste nun, was geschehen war. Tief in seinem Inneren begann der Schmerz zu wühlen. Er presste die Hände vors Gesicht und war sich nicht bewusst, dass sein Körper von schluchzenden Stößen geschüttelt wurde.
Die alte Haushälterin nahm ihn sacht beim Arm und führte ihn zu einem Stuhl. Stumm stand sie dann neben ihm.
So schnell, wie der Schmerzensausbruch gekommen war, so rasch ging er auch vorüber. Beschämt blickte Marc auf.
»Ich gehe zur Beerdigung. Kommen Sie mit?«, fragte die Haushälterin schüchtern. Der Zusammenbruch dieses starken Mannes hatte sie verwirrt.
Marc schaute überrascht auf. »Sie ist noch nicht beigesetzt?«
»Nein. Das Begräbnis ist heute. Wir kommen sicher schon zu spät«, belehrte ihn die alte Frau.
Wie unter einer zentnerschweren Last erhob er sich, um zum Friedhof zu gehen.
Der Pfarrer sprach gerade die letzten Worte, als Marc und die Haushälterin an dem offenen Grab ankamen.
Ein überraschtes Murmeln ging durch die Reihen der Trauergäste, als Marc zum Rand des Grabes vordrang. Erstaunte und neugierige Blicke folgten ihm. Doch Marc nahm nichts davon wahr. Er hörte nicht die letzten Worte des Pfarrers, bemerkte nicht, wie die Menge sich auflöste, sondern starrte nur unentwegt auf das sich allmählich mit Erde füllende Grab. Er schaute erst auf, als er vorsichtig am Arm berührt wurde. Neben ihm stand ein kleiner Junge und schaute ihn mit großen Augen fragend an.
Sekundenlang starrte Marc in die bekannten Gesichtszüge. Mein Sohn, durchzuckte es ihn dann. »Rolf!« Er beugte sich hinab und nahm den Jungen auf den Arm.
Rolf schlang seine Arme um den Hals des Vaters und murmelte unter Tränen immer nur das eine Wort, das er so lange hatte entbehren müssen: »Papi, Papi, Papi!«
Während Marc das Haar seines Sohnes streichelte, sah er Liza auf sich zukommen. Er stellte Rolf auf den Boden, um sein Töchterchen in die Arme schließen zu können. Erst als er sie auf dem Arm hielt, sah er, dass ihre hübschen blauen Augen vom vielen Weinen verquollen waren und sich auch jetzt wieder mit Tränen füllten. »Mein Liebling«, flüsterte er und hielt sie fest umfangen.
»Ich möchte weg von hier«, flehte Liza.
Erst da gewahrte Marc, dass außer ihnen und einer jungen Frau niemand mehr am Grab stand. Er behielt Liza auf dem Arm und führte Rolf mit der anderen Hand. Langsam gingen sie dem Ausgang des Friedhofes zu.
Ramona ging drei Schritte vor ihnen. Sie wollte das Wiedersehen zwischen dem Vater und den Kindern nicht stören. Erst bei ihrem Wagen, der gleich beim Ausgang stand, blieb sie stehen und wartete auf Marc und die Kinder.
Wie um sich zu ihr zu bekennen, ließ Rolf die Hand seines Vaters los und trat zu seiner großen Schwester. »Ramona«, sagte er.
Überrascht schaute Marc auf. Das ist also meine Stieftochter, dachte er. Er trat zu Ramona und hielt ihr seine Hand entgegen. »Ich bitte um Verzeihung, dass ich dich nicht sofort begrüßt habe«, murmelte er.
Ramona ergriff die dargebotene Hand. »Das macht doch nichts«, erwiderte sie tonlos. »Steigst du mit ein?«
Marc nickte und setzte sich mit Liza auf den Rücksitz. Rolf nahm neben Ramona Platz.
Schweigend legten sie den Weg nach Hause zurück. Sie trafen gleichzeitig mit der alten Haushälterin ein. Ramona ließ den Wagen vor der Garage stehen und stieg aus.
Während die Haushälterin Marc und den Kindern im Wohnzimmer eine Erfrischung servierte, begab sich Ramona auf ihr Zimmer. Als sie von draußen einen Laut vernahm, trat sie zum Fenster.
Ihr Stiefvater ging mit Liza und Rolf langsam durch den Garten. Ramona fiel auf, wie groß und breitschultrig er war. Seltsamerweise war er rein äußerlich nicht das, was man sich unter einem Familienvater vorstellte. Er hätte viel eher in ein Modejournal gepasst. Doch als Ramona dann seine gequälten Züge sah und die fürsorgliche Art, mit der er Liza und Rolf behandelte, schämte sie sich solcher Gedanken. Bestimmt hatte er ihre Mutter geliebt, und sie selbst hatte ihm all die Jahre hindurch Unrecht getan.
Ramona löste sich vom Fenster und ging nach unten. Fast gleichzeitig mit ihr betrat Marc das Wohnzimmer. Liza und Rolf waren im Garten geblieben, um von dem Goldregen einige Zweige abzubrechen.
Als Marc Ramona so unverhofft vor sich stehen sah, machte er unwillkürlich eine Bewegung auf sie zu und blickte sie lange an.
Ramona erwiderte fragend seinen Blick.
»Verzeih«, murmelte er schließlich und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte er ein imaginäres Bild fortwischen. Er schaute sie wieder an, und diesmal galt sein Blick ihr. Das spürte Ramona, und ihre Wangen begannen sich zu röten.
Als er endlich zu sprechen begann, klang seine Stimme wie rostiges Eisen: »Es ist erschreckend, aber wenn ich dich ansehe, glaube ich, Marianne zu sehen. Hat dir noch niemand gesagt, dass du ihr wie aus dem Gesicht geschnitten bist? Die gleichen Augen, das gleiche Haar und derselbe Gesichtsschnitt. Sogar ihre Art zu gehen und dich zu bewegen hast du.«
Ramona wandte sich ab und ging zur Couch. Sicher, es war ihr schon des öfteren bestätigt worden, dass sie ihrer Mutter sehr ähnlich sehe. Aber noch keinen hatte diese Ähnlichkeit erschreckt oder durcheinandergebracht. »Ich bin schließlich ihre Tochter«, platzte sie heraus.
»Natürlich«, murmelte er und fuhr sich wieder übers Gesicht. »Es hat mich nur so erschüttert, weil ich nicht darauf vorbereitet war«, entschuldigte er sich.
Da betraten Liza und Rolf das Haus. Beide trugen eine Handvoll gelber Zweige. »Sind sie nicht schön?«, fragte Liza zaghaft.
»Sehr schön«, bestätigte Ramona und nahm den Kindern die Zweige ab, um sie in eine Vase zu stellen.
Marc schaute ihr nach, als sie aus dem Zimmer ging. So musste Marianne als junges Mädchen ausgesehen haben, dachte er. Doch damals hatte er sie noch nicht gekannt. Der Gedanke an die geliebte Frau stürzte ihn wieder in Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Vorsichtig kam Liza zu ihm und streichelte mit ungeschickten Kinderhänden seinen gebeugten Kopf. »Bist du traurig, Papi?«, fragte sie leise.
Er schaute auf. »Nicht, wenn du bei mir bist, Liza«, sagte er zärtlich und zog sie auf seinen Schoß.
Dankbar kuschelte sie sich an seine Brust. »Bleibst du jetzt immer bei uns?«
»Aber natürlich! Wie könnte ich euch jemals wieder allein lassen?«
»Ramona hat auch versprochen, nie mehr von uns fortzugehen«, sagte das Mädchen ernst.
Nachdenklich blickte der Vater sie an.
»Magst du Ramona nicht?«, fragte Liza ängstlich.
Da wurde ihm klar, wie sehr die Kinder an der großen Schwester hingen. Aber noch bevor er Lizas Frage beantworten konnte, öffnete sich die Tür, und Ramona trat wieder ein.
Marc erhob sich. »Ich habe noch einige Formalitäten bezüglich meines Passes zu erledigen«, sagte er und holte seinen Mantel. »Ich bin bald wieder da.« Er bat Ramona um die Autoschlüssel und verließ das Haus.
»Glaubst du, dass es Papi zu Hause besser gefällt als in Afrika?«, fragte Liza ihre große Schwester.
»Das glaube ich bestimmt«, erwiderte Ramona. Doch wenn sie ehrlich sein sollte, dann musste sie sich eingestehen, dass sie dessen gar nicht so sicher war. Ihr Stiefvater benahm sich sehr seltsam und machte nicht den Eindruck, als fühle er sich in seinem eigenen Haus wohl. Doch es war ja schließlich auch keine normale Situation, in der sie sich alle befanden. »Er hat uns versprochen, immer bei uns zu bleiben.« Liza schaute Ramona mit einem Blick an, der weit über ihr Alter hinauszugehen schien.
»Das wird er auch. Aber deswegen muss er tagsüber trotzdem arbeiten. Alle Väter müssen das und kommen erst abends nach Hause«, erklärte Ramona.
»Dann sind wir ja den ganzen Tag allein«, entgegnete Liza hilflos.
»Ramona ist doch bei uns«, mischte sich Rolf ein. »Nicht wahr, Ramona, du wirst uns nie allein lassen?«
Ramona bestätigte es den Geschwistern noch einmal.
»Dann wirst du tagsüber bei uns sein, so wie Mutti? Und abends kommt dann Vati nach Hause?«, vergewisserte sich Liza.
Automatisch nickte Ramona. Aber sie fühlte sich plötzlich unsicher. Was würde ihr Stiefvater zu dem Bild sagen, das sich die Kinder da ausmalten?
»Das wäre schön. Dann wären wir endlich wieder eine richtige Familie«, seufzte Rolf.
Eine richtige Familie, dachte Ramona. Das ist es, wonach die Kinder sich sehnen. Was aber, wenn der Stiefvater wieder heiratete? Würden Liza und Rolf jemals eine Stiefmutter akzeptieren? Der Gedanke, dass sie dann gehen und ihre Geschwister einer Stiefmutter überlassen müsste, blitzte ganz unerwartet in Ramona auf und peinigte sie maßlos. Sie hatte der Mutter versprochen, bei den Kleinen zu bleiben. Auch Liza und Rolf nahmen das gegebene Versprechen ernst und erwarteten, dass sie ihr Wort halte.
Ramona sah unerwartete Schwierigkeiten auf sich zukommen. Sie flehte zu Gott, dass er alles in die richtigen Bahnen lenken möge. Wie dies jedoch vor sich gehen sollte, wusste sie selbst nicht.
Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass Liza und Rolf sie prüfend betrachteten. Sie versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, als sie die Kinder zum Händewaschen schickte. Dann ging sie in die Küche, um nachzusehen, wie weit das Abendessen war.
»Ich finde, dass Ramona sich gar nicht richtig darüber freut, dass wir jetzt immer beisammen bleiben«, sagte Liza zu dem Bruder, während sich die beiden die Hände wuschen.
Rolf nickte. »Sie hat sich überhaupt so komisch benommen. »Wir sollten lieber mit Papi darüber sprechen, bevor irgendetwas schiefgeht.«
»Ja, sonst geht einer von den beiden fort, und dann sind wir wieder keine Familie«, pflichtete Liza dem Bruder bei.
»Seid ihr so weit?«, fragte Ramona und steckte den Kopf zur Badezimmertür herein. »Das Abendessen ist bereits aufgetragen.«
»Ist Papi schon da?«, wollte Liza wissen.
Ramona schüttelte den Kopf. »Er ist noch nicht zurück.«
»Aber wir können doch nicht ohne ihn essen«, rief Rolf entrüstet aus.
»Es ist schon spät, und ihr müsst ins Bett«, sagte Ramona sanft. »Morgen ist Samstag, da habt ihr euren Papi den ganzen Tag für euch.«
Diese Aussicht beruhigte die Kinder einigermaßen. Folgsam setzten sie sich an den Abendbrottisch.
Doch bei jedem Geräusch, das sie außerhalb des Hauses vernahmen, wanderten ihre Blicke automatisch zur Tür.
Aber sie waren bereits gebadet und hatten schon ihre Schlafanzüge an, als der Vater endlich heimkam. Ramona hatte gerade ihre Gutenachtgeschichte beendet und wollte das Licht löschen. Aber daran war nicht mehr zu denken, sobald Rolf das Geräusch des vorfahrenden Wagens gehört hatte. Mit einem Satz war er wieder aus dem Bett und lief aus dem Zimmer.
»Möchtest du auch noch Gute Nacht sagen?«, fragte Ramona ihre Schwester.
Dankbar nickte Liza.
»Na, dann komm!« Ramona nahm Liza auf den Arm und ging mit ihr hinunter.
Rolf saß neben seinem Vater am Tisch und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Darüber sprechen wir morgen, hm?«, versprach Marc seinem Sohn liebevoll. Er machte einen abgespannten Eindruck.
»Liza möchte dir auch noch Gute Nacht sagen«, mischte Ramona sich in die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn ein.
Liza schlang die Arme um den Hals ihres Vaters und drückte ihm einen langen Kuss auf die Wange.
Sanft streichelte er ihr Haar. »Gute Nacht, mein Liebling, schlaf gut.«
Dann bekam auch Rolf einen Kuss, und Ramona brachte die Kinder wieder nach oben in ihr Zimmer. Als sie zurückkam, saß Marc in der abgeteilten Hälfte des großen Wohnraumes, die als Arbeitszimmer eingerichtet war. Vor ihm lag ein Stoß Papiere, die er sorgfaltig durchlas.