Читать книгу Sophienlust 310 – Familienroman - Bettina Clausen - Страница 3

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Drei Wochen Urlaub! Drei Wochen, auf die sich Eric Peters schon seit Monaten gefreut hatte. Endlich war es so weit. In einer Stunde würde er das Schiff verlassen, auf dem er als Erster Offizier arbeitete. Es war ein deutsches Passagierschiff, das diesmal ohne ihn auslaufen würde.

Eric Peters war mit seinen Gedanken schon in Frankfurt bei seiner Frau und seiner Tochter. Eine knappe Stunde später ging er von Bord. Ein Taxi brachte ihn zum Hamburger Hauptbahnhof, wo er im letzten Moment den Intercity-Zug nach Frankfurt erreichte. Von dem Augenblick an dachte er nur noch an seine Tochter und seine Frau, aber eigentlich mehr an seine Tochter. Doris wurde in diesem Sommer vier Jahre alt.

Eric zog ein Foto aus seiner Brieftasche. Doris mit einer Puppe im Arm auf seinem Schoß. Süß sah sie aus in ihrer roten Latzhose, mit dem kurz geschnittenen Haar und dem ernsten Gesicht. Senta hatte das Bild aufgenommen.

Bei dem Gedanken an seine Frau überschattete sich Erics Gesicht. Ich bin neugierig, worüber sie sich diesmal beschweren wird, dachte er. Er wusste, Senta war nie zufrieden. Vor fünf Jahren, kurz nach der Hochzeit, war er ihr zu arm gewesen. Jetzt verdiente er genug, um ihre kostspieligen Wünsche zu erfüllen, hatte aber zu wenig Zeit für sie. Über irgendetwas beschwerte sich Senta immer.

Eric seufzte. Dann nahm er seinen Koffer und seinen Mantel und ging zur Tür. Der Intercity näherte sich Frankfurt.

Seine Wohnung lag in einer ruhigen Gegend, am Rande der Großstadt in einem Zweifamilienhaus. Verwundert schaute Eric an der Fassade empor. Sämtliche Fenster waren dunkel. Dabei wusste Senta doch, dass er an diesem Tag kam. Er hatte es ihr geschrieben.

Eric stellte seinen Koffer vor der Haustür ab und suchte nach dem Schlüssel.

Dabei drückte er auf den Klingelknopf. Nichts. Noch einmal. Wieder nichts. Offensichtlich war tatsächlich niemand zu Hause. Und das um neun Uhr abends.

Eric fand seinen Schlüssel und sperrte die Haustür auf. Einen Lift gab es nicht. Das Haus hatte nur zwei Stockwerke. Eric stieg die Treppe empor und schloss im zweiten Stock seine Wohnungstür auf. Dann rief er nach Doris. Das tat er immer, wenn er nach Hause kam. Aber diesmal kam die Kleine ihm nicht entgegengelaufen und warf sich nicht in seine Arme. Dabei hatte er sich gerade darauf am meisten gefreut.

Eric schluckte enttäuscht und knipste das Flurlicht an. Danach stellte er seinen Koffer ab und ging ins Wohnzimmer. Es war aufgeräumt und leer. Das Schlafzimmer ebenfalls.

Auf dem Tisch in der Küche fand Eric einen Brief. Er zögerte, ihn aufzureißen. Eine seltsame Ahnung streifte ihn.

Eric holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank.

Nach einem kräftigen Schluck öffnete er Sentas Brief. Er setzte sich und begann zu lesen. Dass er blass wurde, merkte er nicht. Dass seine Finger zu zittern begannen, sah er auch nicht. Er sah nur die Buchstaben, die vor seinen Augen hin und her tanzten. Senta schrieb, dass sie ihn verlassen habe. Für immer.

Ich gehe nach Südamerika, schrieb sie. Mit einem Mann, der mir alles das bieten kann, was ich von Dir nicht bekommen habe.

Erics Hände zitterten wie im Fieber. Er dachte nur noch an Doris. Wenn sie das Kind mitgenommen hatte …

Doris liegt im Krankenhaus, schrieb Senta weiter.

Eric ließ den Bogen aufatmend sinken. Doris war in Frankfurt. Er hatte sein Kind also nicht verloren. Aber warum war sie im Krankenhaus?

Eric griff wieder nach dem Brief und las weiter. Mumps hatte die Kleine und lag im Städtischen Krankenhaus.

Eric sprang auf und begann im Wohnzimmer hin und her zu laufen. Dann nahm er Sentas Brief und las ihn noch einmal. Es stand noch immer dasselbe darin. Er hatte nicht geträumt. Von Südamerika aus wolle sie die Scheidung einreichen, schrieb Senta.

Soll sie, dachte Eric wütend und schleuderte den Brief weg. Dann schenkte er sich einen Weinbrand ein.

Während er trank, dachte er über die vergangenen Jahre nach. Weil sie verliebt gewesen waren, hatten sie geheiratet. Und vom ersten Tag an hatten sie gestritten. Nein, eine gute Ehe war es nicht gewesen.

Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, Senta zu verlassen, dachte Eric. Oder sie zu betrügen. Und sie geht mit einem anderen Mann auf und davon, lässt ihr Kind einfach im Stich. Aber eine gute Mutter war sie nie. Und sie wäre es auch nicht geworden, dachte er. Also ist es vielleicht besser so.

Eric stand auf. Im Telefonbuch fand er die Nummer des Städtischen Krankenhauses. Obwohl es schon spät war, rief er noch an.

Am nächsten Tag sei eigentlich keine Besuchszeit, sagte die Nachtschwester an der Pforte. »Aber wenn Sie Ihre Tochter so lange nicht gesehen haben, machen wir natürlich eine Ausnahme. Außerdem würde ich Ihnen raten, mit der Ärztin zu sprechen, die Ihre Tochter behandelt.«

»Das werde ich morgen Nachmittag tun. Vielen Dank für den Rat, Schwester.«

Eric legte auf. Dann holte er Sentas Bild von der Wohnzimmerkommode. Er nahm die Fotografie aus dem Rahmen und warf sie weg.

»Ich werde dir die Mutti ersetzen«, sagte er zu dem Bild von Doris. »Dass sie nicht mehr da ist, wirst du gar nicht merken.« Liebevoll betrachtete er die Aufnahme. Es war die gleiche, die er in seiner Brieftasche trug.

Zwei Monate hatte er Doris nicht mehr gesehen. Bestimmt war sie inzwischen wieder ein Stück gewachsen.

*

Am Nachmittag des nächsten Tages saß Eric im Krankenhaus der Kinderärztin Dr. Schöne gegenüber.

»Doris geht es schon wieder besser«, sagte die Ärztin. »In acht Tagen können wir sie entlassen.«

»Gott sei Dank.« Eric atmete auf. »Ich habe nur drei Wochen Urlaub. Die möchte ich natürlich mit Doris verbringen.«

»Ich verstehe. Nur frage ich mich, was Sie hinterher machen werden.« Eric hatte der sympathischen Ärztin von seiner gescheiterten Ehe erzählt.

»Über dieses Problem denke ich seit heute früh ununterbrochen nach«, gab Eric zu. »Wenn ich einen normalen Beruf hätte, würde ich überhaupt nicht zögern, Doris bei mir zu behalten.«

»Selbst dann wäre es schwierig«, sagte Frau Dr. Schöne. »Bei Ihrem Beruf aber ist es unmöglich, Herr Peters. Haben Sie keine Verwandten, die …?«

»Nein.« Eric schüttelte den Kopf. »Überhaupt keine, leider.«

»Dann bleibt eigentlich nur noch eine Lösung, Herr Peters. Sie müssen Ihre Tochter in ein Heim geben.«

»Nein! Nein, das möchte ich nicht. Ein Heim ist doch …, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.«

»Ich weiß, was Sie meinen, Herr Peters. Nur glaube ich, dass Sie gar keine andere Wahl haben. Außerdem ist Heim nicht gleich Heim. Ich kenne da zum Beispiel eins, das ein wahres Paradies für Kinder ist.«

»Trotzdem«, sagte Eric. »Der Gedanke, Doris in ein Heim zu geben, erschreckt mich. Vielleicht finde ich noch eine andere Lösung. Ich habe ja jetzt drei Wochen Zeit, mich darum zu kümmern.«

Für Frau Dr. Schöne war das Gespräch beendet. Sie stand auf.

»Dann bringe ich Sie jetzt zu Ihrer Tochter.«

Die beiden betraten die Kinderabteilung des Krankenhauses. Vor Zimmer sieben verabschiedete sich die Ärztin von Eric Peters.

Der Besucher betrat ein Zimmer mit vier Betten. Neben dem Fenster lag Doris. Auf ihrem Bettrand saß ein Mädchen, das ungefähr im gleichen Alter sein mochte. Es hielt eine Puppe in den Händen, der Doris gerade ein Kleid anzog. Beide Mädchen schauten nur flüchtig auf, als Eric eintrat.

Plötzlich flog Doris’ Kopf nach oben. Sie ließ die Puppe los und sprang aus dem Bett. »Vati!« Barfuß rannte sie ihm entgegen und warf sich in seine Arme. »Vati!«

Neugierig schauten die drei anderen Mädchen zu.

»Meine Doris!« Eric hielt die Kleine fest in seinen Armen. Er strich ihr übers Haar, küsste sie und presste seine Wange an ihr Gesicht. Dann trug er sie zum Bett und setzte sie hinein.

Das zweite Mädchen räumte schnell die Puppe weg, damit Eric sich auf den Bettrand setzen konnte.

»Das ist mein Vati«, sagte Doris zu den anderen Mädchen. Und zum Vater: »Das sind Ingrid und Bärbel, und das hier ist Heidi. Sie ist meine Freundin geworden. Stimmt’s, Heidi?«

Die Kleine, die vorher mit Doris gespielt hatte, nickte eifrig.

Doris hatte noch immer ein geschwollenes Gesicht. Besonders auffällig waren die Hamsterbäckchen an den Wangen. Zärtlich strich Eric darüber.

»Das geht wieder weg, hat die Tante Doktor gesagt.«

»Natürlich.« Erich räusperte sich. »Sag mal, Schätzchen, hat dich die Mami eigentlich einmal besucht?«

»Nein.«

Eric war auf Tränen gefasst gewesen, hatte sich schon Worte zurechtgelegt, mit denen er sein Töchterchen trösten wollte, aber Doris schüttelte nur den Kopf und sagte trocken: »Sie kommt auch nicht mehr.«

Eric wusste nicht, was er sagen sollte.

»Sie ist für immer weggegangen«, fuhr Doris fort.

»Hat sie das zu dir gesagt?«

»Ja.« Doris nickte.

»Und du bist gar nicht traurig darüber?«

»Nein, Vati. Ich habe ja dich.« Treuherzig schaute die Kleine zu ihm empor.

Eric schluckte und nahm seine Tochter in die Arme. »Du hast recht, Kleines. Solange wir beisammenbleiben, ist alles gut.« Er wusste, dass Doris nicht sonderlich an der Mutter gehangen hatte. Trotzdem hatte er einen Schock befürchtet und war nun froh, dass Doris es so leicht aufnahm.

»In acht Tagen darfst du nach Hause. Dann spielen wir den ganzen Tag zusammen oder machen Ausflüge.«

»Gehen wir auch einmal in den Zoo, Vati?«

»Natürlich. Sooft du willst.«

»Dann könnt ihr mich ja auch einmal besuchen«, warf Heidi ein.

»O ja, Vati!« Doris klatschte in die Hände. »Heidi wohnt in einem Heim mit vielen Tieren und einem großen Garten.«

»In einem Heim?«, fragte Eric.

Die Fünfjährige im Nebenbett nickte. »Kommt ihr wirklich?«

Eric versprach es. Das Heim interessierte ihn. Aber er kam nicht mehr dazu, Heidi auszufragen.

Eine Schwester brachte das Abendessen. Für Eric war das das Signal zu gehen. »Ich komme morgen wieder«, versprach er.

»Bestimmt, Vati?«

»Ganz bestimmt.« Er küsste Doris und verabschiedete sich auch von den anderen Mädchen. Neben Heidis Bett zögerte er einen Augenblick. »Gefällt es dir in dem Heim?«

»Natürlich«, sagte Heidi. Ihr Ton verriet, dass sie seine Frage gar nicht verstand. Natürlich gefiel es ihr. »Allen gefällt es bei uns.«

»Aha.« Eric nickte, obwohl er diesmal derjenige war, der nicht verstand. Wie konnte es Kindern in einem Heim gefallen?

»Sie müssen jetzt leider gehen, Herr Peters«, sagte die Schwester.

Eric nickte. »Ich bin schon unterwegs.« Er warf Doris eine Kusshand zu. »Bis morgen.«

Als die Schwester wieder gegangen war, fragte die kleine Heidi: »Sag mal, Doris, kommt deine Mutti wirklich nicht wieder?«

»Nein. Sie ist nach Amerika gegangen.« Doris biss in ein Schinkenbrötchen.

»Aber deswegen kann sie doch wiederkommen?«

Kopfschütteln. Doris aß den Rest des Brötchens und sagte dann kauend: »Sie hat ja gesagt, dass sie nicht wiederkommt.«

»Warum ist sie überhaupt weggegangen?«

»Weil sie Vati nicht mehr lieb hat«, antwortete Doris gleichgültig.

Da mischte sich Ingrid, das älteste Mädchen im Zimmer, ins Gespräch ein. »Macht es dir gar nichts aus, dass deine Mutti fort ist?«

Doris überlegte. »Ich weiß nicht … Eigentlich nicht. Sie hat sowieso bloß immer geschimpft.«

»Aber sie ist doch deine Mutti«, rief Ingrid.

»Vati hat gesagt, sie war eine Rabenmutti.«

»Dann hast du deinen Vati wohl lieber?«, fragte Heidi.

»Viel lieber. Er würde nie fortgehen und mich allein lassen. Er schimpft auch nicht, und er hat mich noch nie geschlagen.«

»Hat deine Mutti dich geschlagen?«, wollte Heidi wissen.

»Ja, oft.« Doris’ Gesicht bekam einen bockigen Ausdruck. Sie erinnerte sich an Schläge und böse Worte. Lieb und zärtlich war die Mutti nie gewesen. »Sie hat auch nie mit mir gespielt.«

»Warum nicht?«

Doris zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Sie hat immer gesagt, sie hat keine Zeit.«

»Ist sie arbeiten gegangen?«, fragte Ingrid.

»Nein. Mit einem fremden Mann ist sie oft weggegangen, und dann musste ich immer allein bleiben. Einmal habe ich geheult, weil ich Angst hatte. Es war schon dunkel.«

»Und dann?«, fragte Heidi.

»Dann ist Mutti mit dem Mann zurückgekommen, und er hat gesagt, dass ich böse und unartig bin und dass ich eine Tracht Prügel verdient hätte …« Sie begann zu weinen.

»Warum weinst du, Doris?«

»Ich wollte gar nicht unartig sein«, schluchzte Doris. »Ich hatte doch bloß Angst. Es war ganz dunkel und hat geblitzt.«

»Ein Gewitter?«

Doris nickte.

»Dann ist Mutti mit dem Mann ins Wohnzimmer gegangen, und ich musste allein in meinem Zimmer bleiben. Aber ich hatte Angst vor dem Donner. Er hat so laut gekracht und …«

»Und was?«

»Da bin ich doch ins Wohnzimmer gegangen.« Wieder sah Doris dieses grässliche Bild vor sich: Die Mutti in den Armen des fremden Mannes.

»Und was ist dann passiert?«, wollte Ingrid wissen.

»Mutti hat mich geschlagen, weil ich hereingekommen bin.« Doris begann zu weinen.

Heidi kam zu ihr. »Weine doch nicht, Doris.«

Doris schnüffelte und fuhr sich über die Augen.

»Reden wir lieber von etwas anderem«, schlug Ingrid vor. »Erzähle uns von deinem Vati, Doris. Was macht er? Warum ist er nie zu Hause?«

»Weil er auf einem Schiff fährt«, erzählte Doris stolz.

»Wirklich?« Heidis Augen glänzten vor Aufregung. »Ist er ein Kapitän?«

»Wenn er auf einem Schiff fährt, dann ist er ein Matrose«, sagte Ingrid.

Doris widersprach ihr. »Er ist – jetzt hab ich’s vergessen. Aber ihr könnt ihn ja morgen fragen, wenn er kommt.«

Heidi setzte sich auf Doris’ Bett. »Warst du auch schon einmal auf einem Schiff?«

»Noch nicht. Aber irgendwann nimmt mich Vati einmal mit. Das hat er mir versprochen.«

*

Eric verbrachte den Rest des Tages in seinem Stammlokal. Die leere Wohnung ertrug er nicht. Er bestellte sich ein Bier, einen Klaren und ein Wiener Schnitzel.

Der Wirt selbst bediente ihn. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren.

»Auch wieder einmal im Lande, Herr Peters?«

»Ja, drei Wochen Urlaub. Trinken Sie einen Klaren mit mir?«

»Danke, gern.« Der Wirt schenkte ein. »Wie geht’s der Familie?«

Eric musste lachen. »Meine Tochter liegt mit Mumps im Krankenhaus, meine Frau ist mir davongelaufen. Prost!«

»Prost«, sagte der Wirt erschrocken und kippte den Schnaps hinunter. »Das tut mir leid, Herr Peters.«

»Das mit der Frau oder das mit der Tochter?«, fragte Eric in einem Anflug von Zynismus.

»Beides, Herr Peters.«

Eric winkte ab. »Meiner Frau traure ich nicht nach, und Doris wird wieder gesund.«

»Und wo werden Sie das Kind lassen?«, fragte der Wirt und traf damit den Kern des Problems.

Eric seufzte.

»Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Ich möchte Doris nicht in ein Heim geben, aber«, er zuckte mit den Schultern, »eine andere Lösung fällt mir nicht ein.«

Der Wirt wusste, dass Eric keine Verwandten hatte. »Wenn Sie wollen, höre ich mich einmal um. Es gibt doch oft alleinstehende Frauen, die gern ein Pflegekind annehmen würden.«

Eric nickte. »Das wäre eine Möglichkeit. Auf jeden Fall besser als ein Heim. Wenn Sie etwas hören …«

»Sage ich Ihnen Bescheid.« Der Wirt stand auf und ging in die Küche. Zehn Minuten später bekam Eric sein Schnitzel.

Während er aß, dachte Eric an Doris. Er war froh, dass sie es so leicht aufgenommen hatte. Dass sie der Mutter nicht nachtrauerte. Denn er wollte nicht, dass das Kind einen seelischen Knacks bekam. Das war Senta nicht wert. Sie war nicht einmal wert, dass er noch einen einzigen Gedanken an sie verschwendete. Deshalb beschloss er, sofort die Scheidung einzureichen. Grund genug hatte er.

Später, beim Betreten des Hauses, fasste Eric einen Entschluss. Er würde die viel zu große Wohnung aufgeben und eine kleinere mieten, würde die neue Wohnung selbst einrichten und alle Erinnerungen an Senta auslöschen.

Damit begann er noch am gleichen Abend. Alles, was Senta gehört hatte, packte er in einen Koffer. Außer ihren Schmuck und ein paar Kleidern hatte sie nichts mitgenommen. Da lagen noch Kosmetikartikel von ihr. Pullover, Röcke, Bücher. Eric räumte alles weg. Gleichzeitig räumte er seine eigenen Sachen auf. Dabei fand er ein altes Fotoalbum. Auf dem Teppich sitzend blätterte er es durch. Er lachte über Bilder aus seiner Schulzeit und wurde plötzlich ernst. Da war ein Porträt, das eine ganze Seite einnahm. Es zeigte ein wunderschönes Mädchengesicht. Claudine Stoll, seine große Liebe. Wie lange war das schon her?

Eric rechnete nach. Claudine war damals achtzehn gewesen, er vierundzwanzig. In all den Jahren später war er nie wieder so verliebt gewesen.

Eric blätterte weiter: Claudine im Badeanzug, im Abendkleid, auf einer Schaukel im Garten und in seinen Armen. Die Aufnahme hatte eine Freundin von ihr gemacht. Eric erinnerte sich noch genau daran.

Warum haben wir bloß nicht geheiratet, dachte er. Wir wären bestimmt glücklich geworden. Natürlich waren wir beide damals noch jung und unerfahren, aber voller Hoffnungen.

Ob sie verheiratet ist und Kinder hat? Eric erinnerte sich, dass sie schon damals von Kindern geschwärmt hatte, ihm war das zu früh gewesen. Er hatte sich erst einmal die Welt ansehen und Erfahrungen sammeln wollen. Doch jetzt wusste er, dass es ein Fehler gewesen war, Claudine nicht sofort zu heiraten.

Seufzend klappte Eric das Album zu. Das Porträt von Claudine hatte er herausgenommen. Er schob es in den Rahmen, in dem vorher Sentas Foto gewesen war. Während er Claudines Bild betrachtete, erinnerte er sich an tausend Kleinigkeiten. An ihre Art zu lachen und dabei den Kopf zurückzuwerfen.

An einen gemeinsamen Sommerurlaub in den österreichischen Bergen. Damals hatte er ihr ewige Treue geschworen, und Clau­dine hatte ihn ausgelacht.

Honigblond und lang war ihr Haar gewesen, ihre Augen grün.

Eric überlegte: Ich bin jetzt fünfunddreißig. Also muss Claudine jetzt neunundzwanzig sein. Wie viele Kinder mag sie haben? »Ich will mindestens drei haben«, hatte sie immer gesagt. Und jedes Mal hatte er einen Schreck bekommen. Heute wäre ich froh, wenn ich drei Kinder von ihr hätte, dachte Eric. So ändert man sich.

Er stand auf, um zu Bett zu gehen.

*

Doris biss in ein Brötchen mit Butter und Marmelade. Während sie kaute, hörte sie sich an, was Heidi erzählte.

»Und einen Bernhardiner haben wir auch. Er heißt Barri. So groß ist er.« Heidis Hand zeigte waagrecht aus dem Bett.

»So groß?« Doris hörte auf zu kauen. »So große Hunde gibt es ja gar nicht.« Fragend schaute sie zu der älteren Ingrid hin.

Die nickte. »Natürlich gibt es so große Hunde. Bernhardiner sind so groß.«

Doris vergaß ihr Brötchen, bis ihr der Honig an den Fingern herunterlief. »Huch.« Sie begann zu lecken. Dabei fragte sie: »Habt ihr noch mehr Hunde?«

»Noch zwei, und außerdem zwei Kaninchen. Sie gehören mir. Weißt du, wie sie heißen? Schneeweißchen und Rosenrot. Wenn du mich einmal besuchst, darfst du mit ihnen spielen«, erlaubte Heidi großzügig. Dann aß sie die Marmelade ohne Brot und fuhr sich schnell über den Mund, als die Schwester hereinkam.

»Seid ihr alle satt?«

Drei der Mädchen nickten. Nur Heidi überlegte, ob sie noch einen Becher Marmelade verlangen sollte. Aber dann würde die Schwester ihr wahrscheinlich auch noch ein Brötchen bringen.

»Na, Heidi? Du siehst genauso aus, als wärst du noch nicht satt.«

»Kann ich noch einen Becher Marmelade kriegen?«, platzte Heidi heraus.

Die Schwester unterdrückte ein Schmunzeln. »Selbstverständlich!« Sie ging hinaus und kam mit einem Portionsbecher Himbeermarmelade zurück. »Möchtest du auch noch ein Brötchen?«

»Nein, nein.« Rasch schüttelte Heidi den Kopf. Dann löffelte sie selig den Marmeladenbecher leer.

»Dass du die so gerne isst.« Verwundert schüttelte Ingrid den Kopf. »Ich mag viel lieber Honig.«

Doris nickte. »Ich auch.« Sie beobachtete Heidi, die den Becher ausleckte. Dann stellte sie die Frage, die ihr schon seit dem Aufwachen im Kopf herumgeisterte: »Haben dich deine Eltern in das Heim gebracht, Heidi?«

»Nein.« Der Becher war endlich leer. Heidi stellte ihn weg. »Ich habe ja keine mehr.«

»Gar niemanden mehr?«

»Nein«, sagte Heidi. Es klang weder traurig noch unglücklich.

»Macht dir das nichts aus?«, wollte Ingrid wissen. Dabei hatte sie schon fast ein schlechtes Gewissen wegen der Frage.

Doch Heidi schaute sie nur mit großen Augen an. »Wieso, ich habe doch Tante Ma und Schwester Regine. Und außerdem noch Tante Isi und die Kinder.«

»Habt ihr auch Spielsachen?«, fragte Doris.

»Ein ganzes Zimmer voll.«

»Wirklich?«, staunte Doris. »Und ihr dürft alle damit spielen?«

»Freilich.« Heidi geriet ins Schwärmen. Sie erzählte von der elektrischen Eisenbahn, die ein ganzes Zimmer ausfüllte. Von den Tieren. »Ich reite immer auf einem Pony, die Älteren, wie Nick, reiten auf den Pferden.«

»Und wem gehören die Tiere?«, wollte Doris wissen. Sie hatte Pferde nur im Fernsehen oder im Zoo gesehen.

»Also, eigentlich gehören sie Nick«, sagte Heidi. »Aber Nick sagt immer, dass sie uns allen gehören.«

Doris behielt vor Staunen den Mund offen. »Euch allen?«

»Klar. Genau wie die Spielsachen. Nur Schneeweißchen und Rosenrot, die Kaninchen, gehören mir. Aber ich lasse alle damit spielen.«

»Und die anderen Kinder?«, fragte Doris, »haben sie auch alle keine Eltern mehr?«

»Nein. Deswegen sind sie ja bei uns in Sophienlust.«

»Und keiner ist traurig?«

»Nein, in Sophienlust ist niemand traurig. Dazu ist es doch dort viel zu schön.« Heidi erzählte weiter, und die drei Mädchen hörten ihr andächtig zu.

Als Heidi von dem Tierheim erzählte, rief Ingrid: »Jetzt flunkerst du aber! So etwas gibt es doch gar nicht.«

»Ich flunkere nicht.« Heidi zog ihren Fuß unter die Bettdecke. »Frag doch Nick und die anderen, wenn sie kommen. Tante Andrea ist Nicks Stiefschwester, und ihr gehört das Tierheim.«

»Und sie hat so viele Tiere?«, fragte Doris. »Was machen die alle?«

Heidi überlegte: »Herumlaufen und fressen und spielen, in der Nacht schlafen sie.«

Doris versuchte sich das vorzustellen. »Und ihr könnt die Tiere besuchen, sooft ihr wollt?«

Heidi nickte.

»Und sie füttern? Genau wie im Zoo?«

»Sie lassen sich sogar streicheln, weil sie nämlich ganz zahm sind und lieb.«

»Alle?«

»Alle«, bestätigte Heidi.

Doris schob ihren Daumen in den Mund. Das tat sie immer, wenn sie angestrengt nachdachte. Sie wollte den Vater bitten, mit ihr nach Sophienlust zu fahren. Vielleicht durfte sie sogar dort bleiben, wenn der Vati wieder wegfuhr.

*

»Vati«, fragte Doris vier Stunden später, »musst du wieder auf dein Schiff?«

»Ja, aber das ist doch erst in drei Wochen. Bis dahin haben wir noch viel Zeit.«

Doris begann am Daumen zu lutschen.

»Worüber denkst du nach, Kleines?« Eric strich seinem Töchterchen über das kurz geschnittene rötlich braune Haar.

Doris nahm den Daumen aus dem Mund. »Überlegt habe ich, wo ich dann bleiben soll.«

Eric wurde ernst. »Das überlege ich schon die ganze Zeit.«

Da außer Eric kein Besuch im Zimmer war, hatten die anderen drei Mädchen das Gespräch mit angehört. »Warum bringen Sie Doris nicht zu uns?«, fragte Heidi.

»In das Heim?«, fragte Eric.

Heidi nickte. »Doris würde gern nach Sophienlust kommen. Nicht wahr, Doris?«

»Ja«, rief Doris spontan.

Ihr Vater konnte sich nicht genug wundern. »Du willst freiwillig in ein Heim gehen, Doris?«

»Sie brauchen gar nicht so zu tun«, nuschelte Heidi beleidigt. »In Sophienlust ist es schön. Dorthin kommen alle gern.«

»Sophienlust«, überlegte Eric laut. »Ein seltsamer Name. Hat es eine bestimmte Bewandtnis damit?«

»Was?« Verständnislos schaute Heidi ihn an.

Eric drückte sich verständlicher aus. »Woher kommt der Name?«

»Das weiß ich doch nicht«, sagte Heidi. »Da müssen Sie Nick fragen.«

»Aha. Lebt Nick auch in dem Heim?«

Heidi nickte. »Es gehört ihm sogar.«

»Ach so, Nick ist ein Erwachsener.«

»Nein doch«, widersprach Heidi ihm. Dass Väter aber auch gar nichts verstanden! »Nick ist mein Freund.«

Damit konnte Eric allerdings genauso wenig anfangen. »Er ist also noch nicht erwachsen?«

»Nein«, mischte sich Ingrid in das Gespräch ein, da sie Nick schon ein paarmal gesehen hatte. »Er ist so ungefähr fünfzehn oder sechzehn. Die anderen Kinder sind alle jünger. Aber nett und lustig sind sie alle.«

»Da kommen sie«, schrie Heidi. Sie sprang auf und stellte sich im Bett auf.

»Wirst du dich wohl sofort hinsetzen«, befahl Schwester Regine, die das Zimmer als Erste betrat.

»Man sieht, dass sie schon wieder gesund ist«, sagte Nick. Ihm folgten Pünktchen, Henrik und Angelika.

Sie begrüßten zuerst Heidi und die anderen Mädchen, dann auch Eric.

»Das ist Doris’ Vati«, sagte Heidi. »Und das hier ist Nick«, fuhr sie fort und setzte ihren Zeigefinger auf Nicks Brust.

Nick kam um das Bett herum und reichte Eric die Hand. »Wir haben uns mit Doris angefreundet«, sagte er.

Eric begrüßte auch die Kinderschwester und stellte sich vor. Währenddessen flüsterte Heidi mit Nick.

Der schaute von Doris zu deren Vater.

Die Tür ging auf, und eine Krankenschwester steckte den Kopf herein. »Herr Peters?«

»Ja?« Eric schaute auf.

»Haben Sie einen Moment Zeit? Frau Dr. Schöne möchte Sie gern einen Augenblick sprechen.«

»Ich komme.«

Kaum war Eric draußen, da hörte Heidi auf zu flüstern.

»Noch mal von vorn«, verlangte Nick. »Ich habe kein Wort verstanden.«

»Doris möchte gern nach Sophienlust«, platzte Heidi heraus.

Alle schauten Doris an, die verlegen wurde.

»Nun starrt sie doch nicht alle an«, sagte Nick.

Die Kinderschwester setzte sich auf Doris’ Bett. »Wohnst du denn nicht bei deinen Eltern, Doris?«

»Doch«, sagte Doris schüchtern.

»Und trotzdem willst du nach Sophienlust?«

»Doris’ Mutti ist doch nicht mehr zu Hause«, mischte sich Heidi in das Gespräch ein. Nicks warnenden Blick übersah sie.

»Wo ist deine Mutti?«, fragte Schwester Regine freundlich.

»Weggegangen.«

»Komm sie nicht wieder?«

Ein stummes Kopfschütteln. Dann sagte Doris leise: »Sie ist doch in Amerika.«

»Mit einem anderen Mann«, platzte Heidi heraus.

»Und dein Vati?«, fragte Schwester Regine. »Will er dich nicht behalten?«

»Doch. Aber er muss doch wieder auf sein Schiff.« Unsicher wanderte Doris’ Blick von Schwester Regine zu den Kindern. »Nehmt ihr mich mit?«

Gerührt zog die Kinderschwester die Kleine an sich. »Ich werde einmal mit deinem Vati sprechen.«

Doris nickte, und Schwester Regine ging hinaus, um Eric Peters auf dem Flur abzufangen.

Pünktchen, die auf Heidis Bett saß, fragte leise:

»Ist ihre Mutti wirklich weggelaufen?«

Heidi nickte. »Glaubst du, Doris darf zu uns kommen?«

Pünktchen zuckte mit den Schultern. »Platz hätten wir ja noch, nicht wahr, Nick?«

»Ja, ich werde mit Mutti reden.«

»Wer ist denn das nun wieder?«, mischte sich Ingrid in das Gespräch ein. »Ich denke, bei euch hat niemand mehr Eltern?«

»Nick schon«, sagte Pünktchen. »Aber er wohnt ja eigentlich auch nicht in Sophienlust.«

Nick sah Ingrids verständnislosen Blick und erklärte: »Ich wohne mit meinen Eltern und meinem Halbbruder, dem da«, sein Blick deutete auf Henrik, »ein paar Kilometer von Sophienlust entfernt auf Gut Schoeneich.«

»Aber meistens sind wir in Sophienlust«, rief Henrik dazwischen. Er wollte auch etwas sagen.

»Gehört das Heim wirklich dir?«, fragte Ingrid.

»Ich habe es geerbt«, erzählte Nick. »Von meiner Urgroßmutter. Weil sie Sophie hieß, heißt das Heim Sophienlust.«

Henrik konnte nicht widerstehen, er musste sich nun wieder einmischen: »Aber zu sagen hat Nick natürlich nichts. Was gemacht wird, bestimmt unsere Mutti.«

Nick drehte sich zu ihm um. »Musst du dich dauernd einmischen?«

*

Auf dem Korridor unterhielt sich Schwester Regine währenddessen mit Eric Peters.

Er schilderte ihr seine Situation. »Drei Wochen habe ich jetzt Urlaub und kann mich um Doris kümmern. Aber danach muss ich wieder zurück auf mein Schiff, ich bin dann monatelang auf See …« Er brach ab und zuckte hilflos mit den Schultern. »Leider habe ich weder Verwandte noch Bekannte, bei denen ich das Kind lassen könnte.«

Also ein echter Notfall, dachte Schwester Regine und versprach: »Ich werde mit Frau von Schoenecker sprechen. Das ist Dominiks Mutter.«

»Dominik?«, fragte Eric.

»Dominik von Wellentin Schoenecker ist sein voller Name. Es ist der große Junge mit den dunklen Locken, von den Kindern Nick genannt.«

»Ach ja!«

»Seine Mutter verwaltet das Heim«, fuhr Schwester Regine fort. »Sie entscheidet, wer aufgenommen wird und wer nicht. Am besten wäre es natürlich, Sie würden selbst nach Sophienlust kommen und mit Frau von Schoenecker sprechen. Wenn Sie­ wollen, vereinbare ich für Sie ­einen Termin mit Frau von Schoenecker.«

Eric bat darum. Dann gab er der Kinderschwester seine Telefonnummer.

*

Noch am gleichen Abend rief Schwester Regine ihn zu Hause an und bat ihn, am nächsten Vormittag nach Sophienlust zu kommen.

Eric hatte sich den Weg so genau beschreiben lassen, dass er ihn auf Anhieb fand.

Er war neugierig auf das Kinderheim.

Eric hatte keinen eigenen Wagen. Das lohnte sich nicht. Er hatte sich für die Zeit seines Urlaubs einen Leihwagen gemietet. Mit dem fuhr er jetzt auch nach Sophienlust.

Eigentlich musste er das Heim nun jeden Moment sehen. Er hatte jetzt eine Hügelkuppe erreicht, und dahinter im Tal sollte das Anwesen …

Eric bremste.

Nun hatte er sich doch verfahren. Das da unten konnte nicht das Kinderheim sein.

Eric stieg aus. Das, was er sah, war kein Haus, sondern ein Herrschaftssitz in einem ausgedehnten Park.

Eric stieg wieder ein und ließ seinen Wagen langsam den Hügel hinabrollen. Sicher konnte ihm hier jemand den richtigen Weg nach Sophienlust zeigen.

Kurz darauf stellte Eric den Motor wieder ab und stieg aus dem Wagen aus. Zur Haustür des größten Gebäudes – es musste das Herrenhaus sein – führte eine Freitreppe. Eric stand auf der ersten Stufe, als oben die Tür aufging. Heraus kam eine Frau. Schwester Regine.

Eric starrte sie an.

»Guten Tag, Herr Peters.«

»Also bin ich doch richtig«, murmelte Eric.

»Aber, natürlich! Kommen Sie doch herein.«

Eric schluckte seine Verwirrung hinunter und betrat das Haus. Er kam in eine große Halle mit einem Kamin, vor dem ein Bärenfell lag.

Eric stand einfach nur da und staunte. Das sieht nach allem anderen aus, bloß nicht nach einem Kinderheim, dachte er.

»Frau von Schoenecker erwartet Sie schon«, sagte die Kinderschwester und führte Eric in ein stilecht eingerichtetes Biedermeierzimmer.

Eric stand Denise von Schoenecker gegenüber, einer schönen Frau mit dunkel gelocktem Haar, genau wie ihr Sohn Nick.

»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Herr Peters.« Denise setzte sich ihm gegenüber. »Schwester Regine hat mir von Ihrem Problem erzählt.«

Eric beschrieb seine Lage von dem Tag an, in dem er nach Hause gekommen war. Dass er einen Abschiedsbrief seiner Frau vorgefunden und seine Tochter im Krankenhaus wiedergesehen hatte. »Um es gleich vorwegzunehmen, Frau von Schoenecker, ich möchte Doris nicht für immer bei Ihnen lassen. Denn sicher gibt es Kinder, die Ihre Hilfe dringender brauchen als meine Tochter. Ich denke daran, so eine Art Erzieherin oder Kindermädchen zu suchen. Jemand, der sich um Doris kümmert, während ich auf See bin.«

Denise von Schoenecker nickte. »Vielleicht kann ich Ihnen dabei helfen, ich werde mich einmal umhören. Und bis Sie die richtige Aufsichtsperson gefunden haben, lassen Sie Doris bei uns.«

»Vielen Dank, Frau von Schoenecker.« Eric atmete erleichtert auf. Vor Freude hätte er Denise am liebsten einen Handkuss gegeben.

Aber da war Denise schon aufgestanden und schlug vor, ihm das Heim zu zeigen.

»Ist es so ruhig, weil die Kinder in der Schule sind?«, fragte Eric.

»Ja«, bestätigte Denise lachend. »Nachmittags ist hier manchmal der Teufel los.« Sie zeigte ihm zuerst die Räume im Parterre, dann die Schlafzimmer der Kinder im ersten Stock. Dann wurde sie am Telefon verlangt und musste den Rest der Führung Schwester Regine überlassen.

Diese machte es umso ausführlicher. Sogar ein Stück vom Park zeigte sie Eric.

»Wollten wir den ganzen Park abgehen, bräuchten wir mindestens eine Stunde«, erklärte sie, Eric blieb stehen. »Ich muss sagen, ich bin stark beeindruckt. Nach Heidis Schilderung habe ich mir unter Sophienlust schon etwas Besonderes vorgestellt, aber dass es so schön ist, hätte ich nicht gedacht.« Er musste über sich selbst lachen. »Dabei hatte ich Angst, Doris in ein Heim zu geben. Aber woher hätte ich auch wissen sollen, dass es so etwas hier gibt?«

Schwester Regine schmunzelte. Seine ehrliche Begeisterung gefiel ihr, obwohl es noch keinen gegeben hatte, der von Sophienlust nicht begeistert gewesen war. »Wann wird Doris aus dem Krankenhaus entlassen?«

»Übermorgen.« Eric blieb stehen. »Aber ich möchte sie bei mir behalten, solange ich Urlaub habe.«

»Ja, natürlich.« Schwester Regine deutete über die Wiesen. »Dort hinten sind die Pferdekoppeln. Ein paar von den Kindern – natürlich gehört Nick dazu – sind schon ausgezeichnete Reiter.«

Zurückgekommen zum Haus, lernte Eric Else Rennert, die Heimleiterin, kennen.

»Herr Peters ist der Vater von Doris, die mit Heidi im Krankenhaus liegt«, erklärte Schwester Regine. »Er bringt uns seine Tochter in vierzehn Tagen.«

*

Der Tag, an dem Doris entlassen wurde, war herangekommen. Punkt acht Uhr betrat Eric das Krankenhaus.

Doris saß fertig angezogen neben ihrem Köfferchen.

»Endlich«, rief sie und sprang vom Stuhl auf.

Eric verabschiedete sich von den anderen Mädchen.

»Bringst du Doris nach Sophienlust?«, wollte Heidi wissen.

»Ja, in zwei Wochen. Wann darfst du denn nach Hause?«

»Morgen.« Fragend schaute Heidi zu Ingrid.

Das ältere Mädchen nickte. »Es stimmt schon. Morgen darfst du nach Hause.«

»Dann sehen wir uns ja bald in Sophienlust«, sagte Eric. »Bis bald, Heidi.«

»Wiedersehen!« Heidi winkte und schluckte. Als die Tür hinter Doris ins Schloss fiel, sprang Heidi aus dem Bett und lief zum Fenster.

»Du kannst sie nicht sehen«, sagte Ingrid. »Unser Fenster geht nicht auf die Straße.«

»Schade«, maulte Heidi und kroch zurück ins Bett.

»Müssen wir mit dem Bus fahren, Vati?«, fragte währenddessen Doris.

»Nein, wir haben ein Auto.« Eric blieb stehen und suchte nach seinem Schlüssel.

»Das schöne Rote hier?«, fragte Doris. Rot war ihre Lieblingsfarbe.

Eric nickte und stellte das Köfferchen auf den Rücksitz.

»Haben wir das morgen auch noch, Vati?«

»Solange ich da bin, haben wir es.«

»Toll!« Doris kletterte auf den Rücksitz. »Damit können wir ja jeden Tag spazieren fahren.«

»Das machen wir auch.« Eric hatte sich vorgenommen, Doris in diesen vierzehn Tagen jeden Wunsch zu erfüllen. Er sah sie ohnehin viel zu selten. »Warst du in Sophienlust, Vati?«

»Ja, und es ist wunderschön dort.« Er beschrieb das Haus und den Park.

»Hast du auch Schneeröschen und …, nein … Jetzt habe ich vergessen, wie sie heißen.«

»Wie wer heißt?«

»Heidis Kaninchen.« Doris überlegte, aber die beiden Namen wollten ihr nicht einfallen.

»Also, Kaninchen habe ich keine gesehen«, sagte der Vater.

»Vielleicht sind sie krank, die Armen.«

»Das glaube ich nicht. Bestimmt waren sie im Stall.«

»Wohnen Kaninchen in einem Stall, Vati?«

»Ja, als ich noch ein Junge war, hatten wir auch Kaninchen.«

»Wirklich?«, fragte Doris begeistert. »Und was haben die gemacht?«

Eric überlegte. »Nichts. Sie waren im Stall, bis wir sie geschlachtet haben.«

Doris stieß einen Schrei aus, sodass Eric auf die Bremse trat. »Was ist?«

Mit großen, entrüsteten Augen schaute Doris ihn an. »Ihr habt die Kaninchen geschlachtet?« Ihre Augen wurden feucht. »Warum habt ihr sie geschlachtet?«

»Um sie zu …«, zu essen, hatte er sagen wollen. Doch Doris’ Entsetzen verschloss ihm den Mund. Ich habe wirklich keine Ahnung, wie man mit Kindern umgeht, dachte er. »Vergiss es«, murmelte er.

Aber so schnell konnte Doris das nicht vergessen.

»Heidi würde so etwas nicht tun!«, sagte sie anklagend.

»Natürlich nicht. So etwas tut man ja auch nicht.« Eric versuchte sich an die Kaninchen in seiner Kinderzeit zu erinnern. Dabei fiel ihm ein, dass er geheult hatte, als es zu Ostern Kaninchenbraten gegeben hatte. Wie schnell man das vergaß.

»Jetzt weiß ich wieder, wie sie heißen.«

»Wer?«

»Na, Heidis Kaninchen.« Vorwurfsvoll schaute Doris zu ihm empor. Dann sagte sie langsam und konzentriert: »Schneeweißchen und Rosenrot, genau wie im Märchen.«

Sophienlust 310 – Familienroman

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