Читать книгу Sophienlust Classic 46 – Familienroman - Bettina Clausen - Страница 3

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Bezaubernde Cindy

Das Haus, in dem die Geschwister Haller wohnten, war von außen eigenartig anzusehen. Die linke Hälfte, die in den Garten hineinragte, war zerstört. Trotzdem sah man auch jetzt noch, dass es einmal ein sehr schönes Haus gewesen sein musste. Der große, nun etwas ungepflegte Garten, bestätigte diesen Eindruck.

An diesem Freitagnachmittag drang aus den bewohnten Räumen plötzlich das Klirren von Porzellan und gleich darauf der erschrockene Schrei eines kleinen Jungen.

Alice Haller, selbst erst neun Jahre alt, tadelte ihren siebenjährigen Bruder mit strafenden Blicken. »Kannst du nicht aufpassen, Peter! Jetzt hast du unsere schönste Suppenschüssel zerschlagen!«

Der kleine Junge mit den lebhaften schwarzen Augen und den schwarzen Locken stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Was nützt uns schon eine Suppenschüssel, wenn überhaupt keine Suppe drin ist!«

»Wie soll denn jetzt, mitten am Nachmittag, Suppe in die Schüssel kommen?« Alice schüttelte den Kopf, dass ihr das hellblonde Haar in die Stirn fiel. »Und überhaupt, was hast du hier in der Küche zu suchen?«

»Ich habe Hunger«, beklagte sich Peter. Er schaute dabei recht unglücklich drein. »Deswegen bin auch so nervös und habe die Schüssel fallen gelassen.«

Nun glomm in Alices verträumten blassen Augen doch ein Lächeln auf. »Lange dauert es ja nicht mehr, bis du etwas zu essen bekommst.«

»Kannst du nicht schon mit dem Kochen anfangen?«, drängte Peter, denn Alice hatte bereits gelernt, einfache Speisen zuzubereiten.

»Wir haben überhaupt nichts mehr da«, entgegnete Alice. »Wenn ich kochen soll, muss Chris erst einkaufen gehen. Das ist seine Aufgabe.«

Also streckte Peter seinen Kopf durch die Wohnzimmertür, wo der zwölfjährige Bruder über seinen Schulaufgaben saß. »Chris, hast du gehört?«

»Ich höre schon die ganze Zeit«, knurrte Chris gereizt. »Bei dem Spektakel kann sich ja kein Mensch konzentrieren.«

»Es ist deine Aufgabe, einkaufen zu gehen, hat Alice gesagt«, wiederholte Peter fordernd. »Wir haben nichts mehr im Haus.«

Chris schaute zum zweiten Mal auf. Er hatte die gleichen Augen wie Alice, die jetzt zornig unter seinem wirren blonden Haarschopf hervorblitzten. »Wir haben auch kein Geld mehr, um einzukaufen«, erklärte er laut und deutlich. Doch als sich Peters Gesicht daraufhin kläglich verzog, fühlte er sofort Mitleid mit dem kleinen Bruder. »Nun wein doch nicht gleich los«, versuchte er zu beschwichtigen. »Ein bisschen Hunger ist doch noch lange kein Grund zum Heulen.«

»Doch«, jammerte Peter. »Wenn wir kein Geld haben und nichts einkaufen können, dann bekomme ich heute überhaupt nichts mehr zu essen.«

»Wie kann man bloß so verfressen sein«, stöhnte Alice, die nun auch ins Wohnzimmer trat.

»Ach du«, begehrte Peter unter Tränen auf.

»Du hast ja nie Hunger! Du kannst gar nicht verstehen, wie das ist, wenn der Magen knurrt.«

»Und du denkst die ganze Zeit nur ans Essen und sonst an gar nichts«, rief Alice aufgebracht.

»Nun hört doch auf, euch zu streiten«, versuchte Chris zu schlichten. »Was soll denn Cindy von uns denken, wenn sie nach Hause kommt und so etwas hört!«

Alice nickte sofort zustimmend mit dem Kopf. Dann fiel ihr etwas ein. »Bekommt Cindy nicht heute Geld?«

»Ja«, seufzte Chris. »Sie kriegt heute Gehalt und muss alles, was sie verdient, hergeben, um ihre Geschwister zu ernähren. Und was machen wir? Wir streiten hier herum, weil wir nicht schnell genug etwas zu essen bekommen.«

Beschämt senkte Peter den Kopf. »Aber Cindy hat doch gesagt, sie tut es gern für uns.«

»Noch lieber würde sie weiter zur Schule gehen und das Abitur machen«, belehrte Chris seine Geschwister. »Schließlich ist sie schon siebzehn und hätte nur noch ein Jahr gebraucht. Sie war eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse. Aber jetzt muss sie als Hilfskraft in einem Büro den Lebensunterhalt für uns verdienen.«

Chris’ Worten folgte minutenlanges Schweigen. Alle drei Kinder empfanden deutlich, wie viel sie der älteren Schwester verdankten.

»Was sollen wir denn tun?«, fragte Alice leise in das Schweigen hinein. »Du hast doch selbst oft genug gesagt, dass es keinen anderen Ausweg gibt, Chris.«

»Das ist es ja«, seufzte Chris. »Das wenige Geld, das uns die Eltern hinterlassen haben, ist längst aufgebraucht.«

Fast gleichzeitig wanderten die Gedanken der drei Kinder zurück zu jenem Unglückstag vor einem Dreivierteljahr. In der Nacht war der Gasofen explodiert und hatte den Teil des Hauses, in dem sich die Arbeitsräume des Vaters und das Schlafzimmer der Eltern befunden hatten, völlig zerstört. Wie durch ein Wunder war die eine Hälfte des Hauses mit den Kinderzimmern unversehrt geblieben.

Um zu verhindern, dass die Geschwister auseinandergerissen und in ein Waisenhaus gebracht wurden, hatte Cindy sich spontan entschlossen, die Schule zu verlassen und für ihre Geschwister zu arbeiten. Seither schlugen sich die Geschwister, die mit zärtlicher Liebe aneinander hingen, recht und schlecht durchs Leben.

Am härtesten hatte der Verlust der Eltern den knapp siebenjährigen Peter getroffen. Deshalb fanden die Geschwister auch immer wieder Verständnis für seine kleinen und größeren Streiche und Missgeschicke. Er war so lebhaft und ungeduldig, dass ihm aber auch dauernd etwas passierte.

»Ich gehe in den Garten und warte auf Cindy«, erklärte er jetzt, um der drückenden Atmosphäre im Wohnzimmer zu entfliehen.

Kurz nach fünf Uhr kam ein großes, sehr schlankes Mädchen die ruhige Straße heruntergeradelt und hielt vor dem halb zerstörten Haus

»Cindy! Cindy!«, rief Peter und rannte der Schwester entgegen.

Cindy lehnte das Fahrrad an den Gartenzaun und fing den kleinen Bruder in den ausgebreiteten Armen auf. Es war erstaunlich, wie sehr die Geschwister einander ähnelten. Sie hatten die gleichen schwarzen Augen und das gleiche dunkle Haar.

»Na, mein kleines Schachtelteufelchen«, lachte Cindy und schwenkte den Bruder durch die Luft.

Peter schrie vor Vergnügen auf und bestätigte sich selbst wieder einmal, dass ihn niemand so gut verstand wie Cindy. »Musstest du viel arbeiten?«, fragte er.

»Heute war es nicht so schlimm«, lachte Cindy. Dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand und ging mit ihm ins Haus. »Hallo, ihr beiden«, begrüßte Cindy Alice und Chris beim Betreten des Wohnzimmers. Ihre Fröhlichkeit wirkte so ansteckend, dass Alice und Chris augenblicklich ihre trüben Gedanken vergaßen.

»Ich habe die Küche in Ordnung gebracht und auch das Wohnzimmer aufgeräumt«, sagte Alice und strahlte, als Cindy ihr dankbar übers Haar strich.

Chris räumte seine Schulbücher beiseite und erbot sich, einkaufen zu gehen. »Wenn es notwendig ist«, fügte er hinzu, um Cindy nicht so deutlich spüren zu lassen, wie sehr sie auf das Geld warteten, das sie nach Hause brachte.

»Es ist ganz bestimmt notwendig«, meinte Cindy. »So weit ich mich erinnere, haben wir absolut nichts mehr im Haus.«

»Das stimmt allerdings«, bestätigte Chris lakonisch.

»Macht ja nichts«, sagte Cindy tröstend. »Wir teilen jetzt das Geld für den kommenden Monat ein, und heute Abend lade ich euch zur Feier des Tages in die Pizzeria zum Essen ein.«

Cindys Worten folgte ein allgemeiner Tumult, der damit endete, dass alle gleichzeitig der großen Schwester um den Hals flelen. Besonders Peter konnte seine Freude kaum zügeln. »In die schöne, große Pizzeria an der Ecke vorn? Gehen wir in die?«, erkundigte er sich immer wieder.

Cindy bestätigte es ihm.

»Ist das auch nicht zu teuer?«, wandte Chris nun doch ein.

»Eine Pizza und eine Coca-Cola für jeden werden wir uns wohl leisten können«, beruhigte Cindy ihn. Dann holte sie ihre Gehaltstüte hervor und eine Liste mit verschiedenen Posten. »So, jetzt kommt die große Geldeinteilung für den nächsten Monat, und ihr werdet mir dabei alle helfen.«

»Au ja!«, rief Peter und setzte sich neben Cindy. »Ich werde dich erinnern, wenn du etwas vergisst.«

»Das kann ja lustig werden«, sagte Chris trocken.

Cindy hakte die wichtigsten Zahlungen, die auf der Liste vermerkt waren, ab und legte das Geld dafür beiseite. »Von dem Rest müssen wir leben«, sagte sie und zählte schnell ab.

»Vierzig Euro weniger als im letzten Monat«, sagte Chris leise.

Cindy nickte. »Dabei hat es da auch schon nicht gereicht. Na, macht euch keine Gedanken. Ich werde ein Paar Überstunden einschieben. Dann geht alles in Ordnung.«

»Und ich bekomme das kleine Spielzeugauto, das du mir im letzten Monat versprochen hast«, strahlte Peter seine große Schwester entwaffnend an.

»Du bist wohl verrückt geworden«, explodierte Chris. »Wir überlegen, wie wir mit Mühe und Not über die Runden kommen, und du denkst an Spielgzeugautos!«

Peters Gesicht legte sich in weinerliche Falten. »Es kostet ja nur einen Euro fünfzig«, verteidigte er sich schwach.

Da legte Cindy beschützend ihren Arm um ihn. »Keine Angst, du bekommst dein Auto, Peter. Der eine Euro macht uns auch nicht ärmer.«

»Cindy hat recht«, mischte sich nun Alice ein. Sie fühlte sich mit ihren zwei Jahren Altersunterschied dem kleinen Bruder schon sehr überlegen.

»Gut«, freute sich Cindy. »Dann wären wir uns ja wieder einmal einig. Und jetzt machen wir uns fein und gehen essen.«

»Darf ich meinen Anzug mit der Krawatte anziehen, Cindy?«, fragte Peter aufgeregt.

»Aber natürlich«, lachte Cindy. »Wenn wir schon ausgehen, dann richtig. Und wenn du die Krawatte nicht binden kannst, dann bitte Alice oder Chris darum. Ich gehe nur schnell duschen, damit das Bad für euch wieder frei wird.«

Peter, der mit Chris in einem Zimmer schlief, trottete ein wenig schmollend hinter dem großen Bruder her. Er dachte immer noch an Chris’ Einwand, was das Spielzeugauto betraf.

Chris, der nicht gewohnt war, dass Peter sich so still verhielt, drehte sich neugierig um. »Was ist mir dir? Freust du dich nicht auf die Pizza? Ach so …« Er schlug sich vor den Kopf. »Du bist mir noch böse wegen dem Auto! Na ja, wenn ich gewusst hätte, dass es nur einen Euro kostet, hätte ich ja nichts gesagt.«

»Einen Euro fünfzig«, stellte Peter richtig.

»Also schön, meinetwegen auch einen Euro fünfzig. Ist ja nicht die Welt«, räumte Chris ein. Im Grunde genommen hatte er seinen kleinen Bruder doch sehr gern.

Für dieses Zugeständnis warf Peter ihm einen dankbaren Blick zu. »Sag mal, Chris, hast du nicht manchmal auch furchtbaren Appetit auf süße Sachen, Bonbons oder so?«

Doch Chris hob augenblicklich abwehrend die Hände. »Stopp, kleiner Bruder! Ich weiß doch, worauf eine solche Frage von dir wieder hinausläuft.«

»Ich sag ja schon nichts mehr«, murmelte Peter und beschloss, sich das nächste Mal an Alice zu wenden. Die hatte mehr Verständnis dafür.

»Das Bad ist frei!«, ertönte in diesem Moment Alices Stimme durch die offene Tür.

Während Chris im Bad verschwand beobachtete Alice Cindy beim Anziehen und Frisieren. Sehnsüchtig hing ihr Blick am Gesicht der großen Schwester. »Ich möchte später einmal genauso schön werden, wie du, Cindy. Aber wahrscheinlich geht das nicht, weil meine Haare ja blond sind und deine fast schwarz.« Sie betrachtete Cindys apart gezeichnetes Gesicht mit den großen schwarzen Augen.

»Das ist doch noch viel schöner,

Alice. Blondes Haar und blaue Augen«, lächelte Cindy. »Komm, ich bürste dein Haar, dass es wie Gold glänzt. Dann bist du die Goldprinzessin aus dem Märchen, das ich euch gestern erzählt habe.«

Schnell setzte Alice sich vor den Spiegeltisch und ließ sich von Cindy das Haar bürsten. »Meine Schulfreundinnen haben gesagt, dass du das schönste Mädchen in der Stadt bist, Cindy.«

»Aber das ist doch Unsinn, es gibt viele hübsche Mädchen«, wehrte Cindy ab. Sie war kein bisschen eitel. Derlei Komplimente, die sie sehr oft hörte, berührten sie nicht. Dabei zeigte ihr Gesicht in der Tat eine so eigenwillige Schönheit, dass sich die Leute oft auf der Straße nach ihr umdrehten. Das einzige Kompliment, das sie jemals stolz gemacht hatte, war ein Ausspruch ihres Vaters gewesen: »Wenn Cindy lacht, dann ist es, als ob die Sonne aufgeht«, hatte er gesagt. Seither lachte sie gern und oft. Das war jedes Mal so, als sei der Geist des Vaters dann in ihrer Nähe.

Ein Geschrei, das einem Indianerhäuptling alle Ehre gemacht hätte, riss Cindy aus ihren Betrachtungen. Mit drei Schritten war sie in Peters Zimmer. Auch Chris kam aus dem Bad gestürzt.

»Au, au, das tut weh«, jammerte Peter und hielt seinen blutenden Finger.

»Wie hast du denn das wieder fertiggebracht?«, fragte Alice und zog den Bruder neben sich aufs Bett, damit Cindy seinen Finger verbinden konnte.

»Ich habe die Schublade zugemacht, aber der Finger war drin«, wimmerte Peter.

»So was wie dich gibt’s auch bloß alle fünfzig Jahre einmal«, stöhnte Chris. »Pass das nächste Mal auf, dass du nicht deinen Kopf irgendwo drin hast, wenn du zumachst!« Damit verschwand Chris wieder im Bad. Mit seiner rauen Art versuchte er jedes Mal seine Sorgen um den kleinen Bruder zu verbergen. Man konnte ihn wirklich keine Minute aus den Augen lassen, ohne dass ihm etwas passierte.

Schnell und sicher verband Cindy den blutenden Finger und redete dem kleinen Bruder dabei tröstend zu. Tapfer schluckte er die Tränen hinunter und versuchte ein Lächeln. »Tut schon fast nicht mehr weh!«

»Du bist wirklich mutig«, lobte

Cindy ihn und trocknete ihm die Tränen.

Da sprang er plötzlich erregt vom Bett und zerrte an Alices Hemd. »Das ist meins!«, beschwerte er sich aufgebracht.

»Spinnst du, lass mich los!«, rief Alice und versuchte den Bruder abzuschütteln.

»Wollt ihr wohl nicht solche Ausdrücke gebrauchen«, versuchte Cindy zu schlichten.

Sie stellte sich zwischen Bruder und Schwester, die wie zwei Kampfhähne aufeinander losgingen.

Doch Peter ließ nicht locker. »Sie hat mein Hemd an, Cindy! Sie kann doch nicht einfach mein Hemd anziehen! Ich kenne es genau!«

Cindy betrachtete Alice, die in Hemd und Höschen vor ihr stand. »Es ist tatsächlich Peters Hemd«, stellte sie fest.

»Ich weiß, aber ich habe keins mehr«, beklagte sich Alice. »Eins ist schmutzig, zwei sind kaputtgegangen und die anderen sind viel zu klein. Das hast du selbst gesagt, Cindy.«

Cindy nickte. Alice und Peter waren fast gleich groß. Sie wuchsen viel zu schnell aus allen Kleidungsstücken heraus. Für neue Wäsche aber reichte das Geld nicht. »Weißt du was, Peter, du schenkst Alice dein Hemd. Dafür bekommst du von Chris die dunkle Hose, die ihm nicht mehr passt«, schlug sie vor.

»Aber die ist mir noch zu groß!«

»Dann mache ich sie dir kleiner. Einverstanden?«

Der Kleine nickte versöhnt, und Alice verschwand eiligst in dem Zimmer, das sie mit Cindy teilte, um sich voll­ends anzuziehen.

Bevor alle ausgehbereit waren, stritten sich Alice und Chris noch einmal um den Spiegel im Badezimmer, aber auch hier griff Cindy schlichtend ein. All das wurde ihr nie zu viel, und sie verlor auch nie ihre gute Laune. Ich muss dem Schicksal dankbar sein, dass meine Geschwister wenigstens noch mich haben, sagte sie sich immer wieder. Denn was aus den drei Kindern ohne sie geworden wäre, daran mochte sie gar nicht denken.

Endlich, nach einer weiteren halben Stunde, standen alle fix und fertig im Wohnzimmer. Cindy nahm ihre Handtasche, und nun verließen sie das Haus.

Peter sprang auf dem Weg singend und trällernd vor den anderen her, sodass die ruhige und vorsichtige Alice dauernd befürchtete, er könnte sich wieder wehtun oder fallen.

Aber sie erreichten die Pizzeria ohne Zwischenfälle. Der Geschäftsführer, der Cindy und ihre Geschwister kannte, geleitete sie höflich zu einem schönen großen Nischentisch. Wie überall, wo Cindy auftauchte, folgten ihr bewundernde Blicke. Es war auch gleichgültig, was sie trug. Sogar die billigsten Kleidungsstücke wirkten an ihrer großen, überschlanken Gestalt elegant und schick.

Cindy wählte eine Pizza mit Schinken, Käse und Oliven aus und bestellte davon vier. Dazu leisteten sie sich noch eine große Salatschüssel und tranken Coca-Cola.

»Bekomme ich hinterher ein Eis?«, fragte Peter und schaute stur nach links, da er den tadelnden Blick seines größeren Bruders auf der rechten Seite spürte.

»Wenn du nach der Pizza noch Appetit darauf hast, darfst du dir ein Eis bestellen. Ihr natürlich auch«, wandte Cindy sich an Alice und Chris. Eigentlich konnten sie sich das nicht leisten, aber Cindy brachte es einfach nicht fertig, Peter die sehnsüchtige Bitte abzuschlagen. Insgeheim rechnete sie auch damit, dass ihre Geschwister nach der umfangreichen Pizza viel zu satt sein würden, um noch ein Eis zu vertragen.

So war es dann auch. Schon nach der halben Pizza stöhnte Peter, er sei satt, und schob Chris den Rest zu.

Zwei Tische entfernt saß ein älterer Herr, der Cindy und ihre Geschwister während des Essens schmunzelnd beobachtete. Natürlich war ihm Cindy anfangs nur aufgrund ihres ungewöhnlich aparten Gesichtes aufgefallen. Dann hatte er sie und ihre Geschwister aufmerksamer beobachtet und Gefallen an ihrer unkomplizierten Art gefunden. Da das Lokal zu dieser frühen Stunde nur spärlich besetzt war, konnte er sogar den größten Teil ihrer Unterhaltung verfolgen.

Er erkundigte sich bei dem Ober nach der fröhlichen Runde und erfuhr, dass Cindy mit ihren Geschwistern ganz in der Nähe wohne. Für ein fürstliches Trinkgeld verriet der Ober ihm sogar die genaue Adresse. Doch als der ältere Herr Cindy und ihre Geschwister einladen wollte, riet ihm der Ober, der Cindy kannte, davon ab. »Die junge Dame würde mit Bestimmtheit ablehnen«, sagte er leise.

Aber sogar diese Auskunft gefiel dem stillen Beobachter. Er hielt sich weiterhin unbeobachtet im Hintergrund.

»Meinst du, dass wir uns zu zweit einen Espresso leisten können?«, fragte Chris beinahe schüchtern nach dem Essen. Aber sein Blick verriet, dass er auch sofort bereit war, darauf zu verzichten.

Doch Cindy, die wusste, wie gern Chris Kaffee trank, stimmte sofort zu. »Wir können uns sogar zwei leisten.« Und um niemand vorzuziehen, wandte sie sich auch an Peter und Alice. »Was möchtet ihr noch?«

»Nichts mehr. Ich bin so satt, dass mein Bauch direkt heraussteht«, stöhnte Peter.

»Peter und ich könnten gemeinsam noch eine Coca-Cola trinken«, schlug Alice vor. Damit war der Bruder einverstanden.

»Mit Mutti und Vati waren wir auch immer hier!« Diese Worte waren Alice herausgerutscht, noch bevor sie an deren Wirkung gedacht hatte. Eigentlich war es ihr nur eingefallen, weil der Vater nach dem Essen auch immer Kaffee getrunken hatte. Doch nun hüllte melancholische Stimmung die vier Kinder ein. Ihre Fröhlichkeit schien verlorengegangen.

Cindy, die ihre Gefühle noch am ehesten meistern konnte, weil sie es ganz einfach musste, versuchte dem Gespräch sofort eine andere Richtung zu geben. »Das stimmt. Mama und Papa wären bestimmt stolz, wenn sie sehen könnten, wie gesittet und erwachsen wir uns bereits benehmen. Weniger stolz aber wären sie auf eure Zeugnisse, Alice und Peter. Das muss ich euch schon sagen.«

»Aber du weißt doch noch gar nicht, wie die Zeugnisse aussehen! Wir bekommen sie ja erst in zwei oder drei Wochen«, wandte Peter ein.

»Trotzdem kann ich mir vorstellen, wie sie aussehen werden, wenn ich an eure letzten Zwischenzeugnisse denke.«

Cindy wollte die Geschwister nicht tadeln. Sie wusste, dass ihre Leistungen nach dem Tod der Eltern in der Schule nachgelassen hatten. Das würde auch wieder besser werden. Aber mit ihrem Einwand war es ihr gelungen, die Gedanken der Geschwister der aufkommenden Melancholie zu entreißen. Ein Blick von Chris bewies ihr, dass er sie verstanden hatte.

Als Peter zu gähnen begann, winkte Cindy dem Ober und bat um die Rechnung.

Sie musste zwar etwas mehr bezahlen, als sie einkalkuliert hatte, aber Cindy fand, dass es sich gelohnt hatte. In der einstimmigen Meinung einen schönen Abend verbracht zu haben, verließen sie das Lokal. Keiner von ihnen bemerkte den hingebungsvoll, bewundernden Blick des stillen, älteren Beobachters, der ausschließlich Cindy galt.

Hand in Hand und leise vor sich hin summend legten die vier den kurzen Weg bis zum Haus zurück.

»Wir haben Vollmond, Cindy.« Chris wies auf die runde Scheibe des vollen Mondes, der den etwas verwilderten Garten in ein unwirkliches Licht tauchte, weiß, kalt und geheimnisvoll.

Cindy nickte nachdenklich. Der große Garten hatte einen gewissen Wert. Aber der wurde durch das halb zerstörte Haus beträchtlich geschmälert. Wer kaufte schon ein Grundstück mit einem Haus, dessen zweite Hälfte in die Luft geflogen war?

Also würden sie weiterhin in dem halben Haus wohnen. Aber das störte Cindy am wenigsten. Schließlich war es ihr Elternhaus. Wovor sie sich fürchtete, war die Tatsache, dass sie noch minderjährig waren und praktisch ohne Vormund aufwuchsen. Die Fürsorge hatte deshalb auch schon bei den Geschwistern vorgesprochen. Aber Cindy hatte im Brustton der Überzeugung erklärt, dass sie genug verdiene, um die Geschwister zu ernähren. Trotzdem war die Furcht, dass sie auseinandergerissen werden könnten, geblieben.

Aus ihren Gedanken heraus seufzte Cindy auf, sodass Chris sofort mitfühlend ihre Hand ergriff. »Hast du Sorgen, Cindy?«

»Keine echten, Chris. Ich habe nur Angst vor dem Tag, an dem sich irgendetwas an unserem jetzigen Leben ändert. Wir sind doch glücklich, solange wir beisammenbleiben können, oder?«

»Absolut«, bestätigte Chris sofort. Auch Alice und Peter vergaßen ihre Müdigkeit und pflichteten Chris bei. »Es wäre ganz furchtbar, wenn wir von dir weg müssten, Cindy«, sagte Peter.

»Ja«, bestätigte Cindy. »Aber das lassen wir einfach nicht zu.« Ihre alte, nicht unterzukriegende Fröhlichkeit hatte wieder die Oberhand gewonnen.

Cindy brachte Alice und Peter zu Bett und sagte ihnen gute Nacht. Dann setzte sie sich mit einem Buch zu Chris ins Wohnzimmer.

»Ich helfe morgen Vormittag wieder in dem Schreibwarenladen aus. Sie zahlen einen guten Stundenlohn«, sagte Chris.

Cindy schaute besorgt auf. »Wird dir das auch nicht zu viel? Ich meine, du hilfst doch auch schon hier im Haus eine Menge mit.«

»Das bisschen Einkaufen und ab und zu beim Putzen oder Wäschewaschen helfen?«, wehrte Chris ab. »Das meiste bleibt ja doch immer an dir hängen. Und wir können eine kleine Aufbesserung unserer Finanzen ganz gut gebrauchen.«

»Das ist lieb von dir«, sagte Cindy schlicht. Manchmal kam ihr Chris weit über seine zwölf Jahre hinaus erwachsen vor.

Bevor sie selbst zu Bett ging, schaute Cindy noch einmal nach Peter. Er hatte sich aufgedeckt und den rechten Daumen in den Mund geschoben. Ganz vorsichtig zog sie ihm den Daumen aus dem Mund und deckte ihn zu. Ein zärtliches Lächeln umspielte dabei ihren schönen Mund. »Schlaf, mein Liebling«, flüsterte sie, als der Junge halb im Traum die Augen aufschlug. Sie küsste ihn zärtlich auf die Wange und verließ leise das Zimmer.

Cindy zog sich vorsichtig aus, um Alice ja nicht zu wecken, die mit ihr im Zimmer schlief. Seit dem Tod der Eltern hatte das Mädchen manchmal Albträume. Dann schlüpfte sie des Nachts zu Cindy ins Bett und klammerte sich an ihr fest.

*

Der nächste Tag war ein Samstag. Cindy stand frühzeitig auf und bereitete das Frühstück. Dann ging sie einkaufen. Chris verließ mit ihr das Haus, um seiner Nebenbeschäftigung nachzugehen.

Alice und Peter hatten an diesem Vormittag nur zwei Stunden Schule und waren dann sich selbst überlassen. Während Alice in der Küche das Geschirr abspülte, kramte Peter auf dem Boden in einer alten Truhe mit abgetragenen Kleidungsstücken. Nach einer Weile tauchte er mit glühenden Wangen bei Alice in der Küche auf.

»Alice, sieh nur, was ich gefunden habe!« Begeistert schwenkte er eine Cordsamthose durch die Luft, die einst Cindy gehört hatte.

»Das ist Cindys Hose. Sie hat sie mir versprochen«, stellte Alice fest.

»Aber ich habe sie gefunden.« Peter hielt die Hose hinter seinem Rücken zum Zeichen dafür, dass er nicht bereit war, seinen Fund herzugeben.

»Das ist gemein«, schmollte Alice.

Peter war schon mit einem Bein in der Hose. Da schellte die Türglocke.

Die beiden fuhren herum. »Nanu?«, machte Alice.

»Cindy und Chris haben doch Schlüssel.«

»Vielleicht ist es der Postbote«, vermutete Peter.

»Aber der war doch schon da.« Alice deutete auf eine Reklamesendung.

»Dann schau doch nach!«, drängte Peter neugierig und hopste auf einem Bein zur Tür, wobei er sich in dem leeren Hosenbein verhedderte.

»Willst du in diesem Aufzug zur Tür?«, tadelte Alice. Dann ging sie selbst, um zu öffnen, sah aber vorerst nur einen riesigen Blumenstrauß.

»Oh«, staunte Peter überwältigt.

»Das soll ich hier abgeben«, sagte der Bote des Blumengeschäftes und reichte Alice den Strauß, in dem ein geschlossenes Kuvert steckt.

»Gehören die wirklich uns?«, fragte Peter, als der Bote wieder gegangen war. »Vielleicht hat er sich geirrt. Uns schickt doch niemand Blumen.«

Alice hatte inzwischen das Kuvert herausgeangelt, auf dem in schwungvoller Schrift An Frau Cindy Haller stand. »Es ist für Cindy«, sagte sie.

Peter kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Irgendjemand hat Cindy Blumen geschickt!«, rief er aufgeregt.

»Wer kann das bloß sein? Können wir das Kuvert nicht aufmachen?«

»Das tut man nicht«, wies Alice ihn zurecht. Sie war selbst sehr neugierig, legte aber den Umschlag auf die Kommode. »Wir warten, bis Cindy kommt«, erklärte sie. »Sie verrät uns ja sowieso, von wem die Blumen sind.« Dann nahm Alice den großen, schönen Strauß und stellte ihn ins Wasser.

Als Cindy, beide Hände voller Tragtüten die Wohnung betrat, flitzte Peter ihr sofort entgegen. »Du hast Blumen bekommen, Cindy. Einen riesengroßen Strauß und ein Kuvert. Aber Alice hat es mich nicht aufmachen lassen.«

Cindy schaute Peter und Alice überrascht an. »Blumen sagt ihr?« Dann entdeckte sie den geschmackvoll arrangierten Strauß. »Der ist ja wunderschön!«

Weißt du, von wem die Blumen sind?«, drängte Peter.

»Nein, keine Ahnung.« Cindy stellte die Tragtaschen ab und griff nach dem Kuvert, das Alice ihr entgegenhielt. Als sie den Inhalt gelesen hatte, nahm ihr Gesicht einen noch verdutzteren Ausdruck an.

»Von wem ist es? Von wem denn?«, drängte Peter.

»Also, Peter, du kannst einen direkt verrückt machen mit deiner Neugier«, rief Alice aus.

»Ach, du«, schnaufte der Junge verächtlich und schob Alice beiseite, um nach dem Kuvert in Cindys Hand zu angeln.

Cindy musste lachen. »Du kannst es ja doch nicht lesen, Peter. Es ist mit der Hand und nicht sehr deutlich geschrieben. Die Blumen sind von einem Herrn, der uns gestern Abend in der

Pizzeria gesehen hat.«

»Kennst du ihn?«, wollte Alice wissen.

Cindy schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn nicht.«

»Aber darf er das denn dann machen? Dir einfach Blumen schicken?«, fragte Peter entrüstet.

»Na ja, verbieten kann es ihm niemand. Trotzdem finde auch ich es nicht ganz richtig«, erwiderte Cindy. Die Aufdringlichkeit des Fremden entrüstete sie. »Wisst ihr was, wir besprechen das Ganze beim Mittagessen, wenn Chris zurück ist. Alice, hilfst du mir beim Kartoffelschälen?«

Alice folgte Cindy sofort in die Küche. Gemeinsam bereiteten sie ein einfaches Mittagsmahl, wobei Cindy der kleineren Schwester immer wieder Ratschläge und Tipps erteilte. Es konnte Alice nur helfen, wenn sie später einmal in der Küche perfekt war. Cindy war jetzt auch dankbar, dass ihr die Mutter schon frühzeitig das Kochen beigebracht hatte. Jetzt konnte sie es gut gebrauchen.

Eine knappe Stunde später waren sie fertig.

Zur gleichen Zeit kam auch Chris nach Hause.

»Nanu, ist bei uns der Wohlstand ausgebrochen oder hat Cindy unverhofft einen Verehrer bekommen?«, staunte er.

»Das Letztere«, lachte Cindy. »Noch dazu unbekannterweise.«

»Im Ernst?«, fragte Chris.

»Ja, von einem Herrn, der Cindy gestern Abend in der Pizzeria gesehen hat«, erläuterte Peter dem großen Bruder eifrig. »Aber Cindy findet es auch nicht richtig, dass er ihr einfach Blumen schickt. Stimmt’s, Cindy?«

»Nun setzt euch erst einmal, damit wir essen können«, bat Cindy.

Sie setzten sich, aber Chris konnte seine Blicke nicht von dem großen Blumenstrauß losreißen. »Also, billig war der nicht«, stellte er fest.

»Der Herr, der ihn geschickt hat, heißt Walter Bromann und hat uns gestern Abend in der Pizzeria gesehen«, berichtete Cindy.

»Du musst aber einen ziemlich tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben, wenn er dir heute gleich Blumen schickt«, meinte Chris. »Um ehrlich zu sein, so schlimm finde ich das nun auch wieder nicht.«

»Die Blumen nicht, aber das ist noch nicht alles. Er schreibt gleichzeitig, dass er mir heute Nachmittag seine Aufwartung machen und mich zu einer Tasse Kaffee einladen will.«

Sie zog das Kuvert aus ihrer Schürzentasche und reichte es Chris über den Tisch.

»Uii«, schnaufte Peter. »Er will unsere Cindy einladen. So eine Frechheit!« Auch Alice machte ein entrüstetes Gesicht. Womöglich kümmerte sich Cindy dann um diesen fremden Herrn mehr als um sie.

»Na, nun macht mal einen Punkt«, tadelte Chris. »Cindy ist schließlich nicht euer persönliches Eigentum. Und warum soll sie nicht mal ein bisschen Spaß haben und mit einem jungen Herrn ausgehen?«

Cindy zog ihre schön geformten Augenbrauen in die Höhe. »Sagtest du jungen Herrn? In der ganzen Pizzeria war gestern Abend nur ein einziger Herr, und der war mindestens fünfzig.«

»Da seht ihr es«, fuhr Peter dazwischen.

»Also, Peter, du bringst mich noch auf die Palme mit deinem dauernden Dazwischengequatsche«, explodierte Chris. »Man kann sich nicht einmal vernünftig unterhalten.«

»Vernünftig unterhalten!«, echote der Kleine.

»Wenn irgend so ein altes Ekel unsere Cindy wegholen will …«

»Jetzt wirst du aber ungezogen, Peter«, tadelte Cindy. »Solche Ausdrücke gebraucht man einfach nicht.«

»Chris hat ja auch gesagt, ich quatsche«, verteidigte sich Peter.

»Aber er hat keine Schimpfnamen verwendet. Du darfst gern deine Meinung sagen, wenn du dabei nicht ausfallend wirst.« Cindy hatte ruhig gesprochen, sodass Peter beschämt den Kopf senkte. Alles konnte er vertragen, nur nicht von Cindy getadelt zu werden.

Sie hatten inzwischen ihr Mittagessen beendet. Cindy räumte zusammen mit Alice den Tisch ab. Dann setzte sie sich wieder, um das Thema zu beenden. »Wisst ihr, was? Jetzt sagt mir jeder von euch seine Meinung«, schlug sie vor. »Was denkst du, Peterle?«

»Ich finde, dass du ihn wieder fortschicken sollst, wenn er kommt!«

»Das finde ich auch«, pflichtete Alice­ dem Bruder leise bei.

Cindy nickte. »Gut. Und du, Chris?«

»Du bist doch kleines Kind mehr, Cindy. Warum sollst du dich nicht mal zu einer Tasse Kaffee einladen lassen? Das ist doch schließlich nichts Schlimmes. Vielleicht ist dieser Herr Bromann sogar recht nett.«

»Bestimmt nicht«, schnappte Peter.

Chris wandte den Kopf. »Weißt du, wie man so etwas nennt, Peter? Vorurteile!« Chris war ganz stolz auf sein Wissen. Das Wort hatte ihm der Lehrer erst zwei Tage zuvor in der Schule erklärt.

»Vorur… Was ist das?« Peter verzog den Mund, als habe er in einen sauren Apfel gebissen.

»Man spricht von einem Vorurteil, wenn man urteilt, bevor man eine Sache oder einen Menschen kennt.«

Peter schaute den großen Bruder

mit blanken Augen an. »Versteh ich nicht.«

»Also, pass auf«, begann Chris noch einmal. Cindy verfolgte die Debatte schmunzelnd. Es gefiel ihr, wenn sich die Geschwister gegenseitig belehrten.

»Wenn Alice jetzt zum Beispiel behaupten würde, das Spielzeugauto, das du dir wünschst, ist nicht schön oder taugt nichts, obwohl sie es noch nicht gesehen hat, das wäre ein Vorurteil.«

»Aha!«, strahlte Peter. »Jetzt verstehe ich es.«

»Siehst du, und genauso ist es mit diesem Herrn Bromann. Wir kennen ihn doch noch gar nicht. Also wäre es falsch, jetzt schon zu urteilen. Das können wir höchstens, wenn wir ihn kennengelernt haben.«

Die Geschwister schauten Chris sprachlos an. »Wenn du das so treffend erklärst, Chris, dann muss sogar ich kapitulieren«, gab Cindy zu. »Was meint ihr, Alice und Peter, wollen wir uns diesen Herrn Bromann einmal anschauen?«

»Okay«, gestattete Peter großzügig.

»Und du, Alice, bist du noch immer dagegen?«

»Nein, eigentlich nicht mehr. Ich habe nur Angst, dass er dich dann öfter einladen wird und dass du uns oft allein lässt.«

»Und wenn ich verspreche, dass ich das bestimmt nicht tun werde?«

»Dann bin ich auch einverstanden, dass er kommt«, strahlte Alice.

Peter hatte sich bei Cindy erkundigt, wann der Besucher kommen wolle, und hielt sich schon eine Stunde vorher im Garten auf, um die Ankunft des Besuchers ja nicht zu verpassen. Neugier war nun mal seine schwächste Seite.

Pünktlich um vier Uhr sah Peter einen sehr großen und sehr eleganten Wagen vorfahren. Wie er mit Alice vereinbart hatte, stieß er einen hohen Pfiff aus und raste zur Gartentür. Als er genug gesehen hatte, flitzte er zurück und kam atemlos ins Wohnzimmer gestürzt. »Er kommt, er hat einen riesengroßen Wagen und einen Mann in Uniform am Steuer!«

»Also einen Chauffeur«, stellte Chris fest.

»Außerdem ist er uralt und ganz klein und dünn«, sprudelte Peter weiter hervor.

»Aber Peter!«, tadelte Cindy.

Doch sie konnte sich das Lachen nicht verbeißen. Peters naive Schilderung hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

Einen Moment später läutete es. Chris sprang auf. »Ich gehe öffnen.«

Langsam schritt Chris zur Gartentür. Noch bevor er Walter Bromann sah, entdeckte er den Straßenkreuzer. Es war ein funkelnagelneuer Wagen, der glänzte, als sei er soeben aus dem Schaufenster gefahren worden. Erst mit dem zweiten Blick erfasste Chris den unscheinbaren Mann am Gartentor. Er öffnete und sagte höflich: »Guten Tag!« Dabei konnte er die Abwehr nicht ganz aus seiner Stimme verbannen.

»Guten Tag. Mein Name ist Walter Bromann …« Der Besucher sagte noch mehr, doch das nahm Chris schon nicht mehr wahr. Denn Walter Bromann begann zu lächeln, und dieses Lächeln war so herzlich und entgegenkommend, dass Chris augenblicklich alle Voreingenommenheit, die doch ganz tief in seinem Innern geschlummert hatte, vergaß und zurücklächelte. Er stellte sich als Chris Haller vor und streckte dem Besucher kameradschaftlich die Hand entgegen. Dann führte er ihn ins Haus und erklärte Walter Bromann unterwegs, warum nur noch die eine Hälfte davon existierte.

Als Chris mit dem Besucher das Wohnzimmer betrat, machte er Walter Bromann zuerst mit Cindy bekannt. Die Vorstellung der kleineren Geschwister übernahm Cindy dann selbst.

Dabei erging es Peter und Alice genauso wie vorher Chris. Walter Bromanns entwaffnendes Lächeln ließ die Kleinen sofort mit fliegenden Fahnen zu ihm überwechseln. Als er dann gar noch Süßigkeiten verteilte, war die Freundschaft besiegelt.

»Ich weiß, dass es nicht ganz korrekt war, hier einfach so bei Ihnen einzudringen«, entschuldigte sich Walter Bromann, sobald er saß. »Aber Sie waren gestern Abend eine so fröhliche Runde, dass mich der Gedanke, Sie kennenzulernen, einfach nicht mehr losließ,«

Cindy lächelte entgegenkommend. Auch ihr war der freundliche, unaufdringliche kleine Mann sympathisch. »Jetzt kann ich Ihnen ja verraten, dass wir heute beim Mittagessen einen Kriegsrat einberufen und darüber abgestimmt haben, ob ich mich von Ihnen zu einer Tasse Kaffee einladen lassen soll oder nicht«, verriet sie.

Diese Idee schien ihm zu gefallen. »Das finde ich großartig. Und was hat der Familienrat beschlossen?«

»Er hat beschlossen, dass Cindy mitgehen darf«, antwortete Peter spontan.

»Das halte ich für sehr großzügig«, bedankte sich Walter Bromann. »Ich verspreche euch, eure Schwester in spätestens einer Stunde wieder zu Hause abzuliefern.«

»Ach«, machte Peter mit einer großzügigen Handbewegung. »Wir sind da nicht so kleinlich.« Worauf ein allgemeines Gelächter entstand.

»Wenn du mir schon so großzügig entgegenkommst, dann will ich auch gleich noch einen Vorschlag anbringen«, wandte sich Walter Bromann völlig ernst an Peter, als sei dieser der Familienvorstand.

Er weiß genau, wie man mit Kindern umgehen muss, dachte Cindy.

»Was denn für einen?«, wollte Peter natürlich sofort wissen.

»Ich möchte euch alle heute zum Abendessen zu mir einladen«, sagte Walter Bromann. Es klang fast ein wenig schüchtern, besonders, als er Cindy dabei anschaute.

»Och, das finde ich aber toll von Ihnen«, rief Peter überwältigt aus. »Chris, was sagst du jetzt?«

»Dass ich für meinen Teil die Einladung gern annehme.«

»Und unsere kleine Dame?«, wandte sich Walter Bromann liebevoll an ­Alice.

Sie hatte von ihm einen Papierblumenstrauß bekommen, dessen Blüten aus Pralinen bestanden. Dieses hübsche Geschenk und Walter Bromanns rücksichtsvolle Art machten ihn ihr sympathisch. Mit einer Praline im Mund bestätigte sie nickend, dass auch sie sich über die Einladung freue.

Cindy hatte die Unterhaltung aufmerksam verfolgt. »Da bleibt mir ja nichts anderes übrig, als ebenfalls zuzustimmen«, sagte sie nun. »Ich bin überstimmt.« Aber das Lächeln, das ihre Worte begleitete, zeigte, dass sie genauso dachte wie ihre Geschwister.

Nach einer Viertelstunde holte Cindy ihre Handtasche und ein leichtes Jäckchen und verließ mit Walter Bromann das Haus. Er erkundigte sich höflich, ob sie einen besonderen Wunsch habe. Da sie verneinte und ihm die Führung überließ, führte er sie in ein Café, das in der ganzen Stadt für seine exquisiten Torten und Backwaren bekannt war.

Fast hatte Cindy ein schlechtes Gewissen, als die Bedienung ihr auf Walter Bromanns Anordnung hin einen Teller mit drei verschiedenen, lecker anzusehenden Obsttörtchen hinstellte. Sie dachte sofort an die Geschwister. Nur der Gedanke, dass sie ja am Abend dabei sein würden, tröstete sie und ließ sie die Süßigkeiten mit Genuss verzehren.

»Gefällt es Ihnen hier«, erkundigte sich Walter Bromann.

»Es ist sehr hübsch. Ich selbst könnte es mir nicht leisten, hierherzukommen.«

»Dann lassen Sie sich doch einfach öfter von mir einladen«, schlug er vor.

Cindy lächelte zwar, aber sehr reserviert. Das erkannte er sofort.

»Sie brauchen sich deswegen zu nichts verpflichtet zu fühlen«, versicherte er sofort. »Sehen Sie, Frau Haller, ich bin sehr kinderlieb. Leider habe ich jedoch keine eigene Familie und auch keine Kinder. Deswegen hat mich Ihre fröhliche Runde gestern Abend sofort angezogen. Lassen Sie mich Ihnen und Ihren Geschwistern ein väterlicher Freund sein. Das ist alles, worum ich bitte.«

Dagegen war an und für sich nichts einzuwenden. Trotzdem hatte Cindy das Gefühl, dass er mehr von ihr erwartete oder eines Tages erwarten würde. Doch als sie ihn dann in die Augen schaute und darin ein warmes, fast väterliches Lächeln erkannte, revidierte sie dieses innerliche Misstrauen wieder.

»Gegen einen väterlichen Freund habe ich bestimmt nichts einzuwenden«, sagte sie.

»Und das ist alles, was ich erwarte«, antwortete er darauf schnell. Als Cindy an seiner Seite das Café verließ, rollte die große Limousine fast unhörbar heran. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die Tür.

Auf dem Rückweg berührte Walter Bromann ganz sacht Cindys Arm. »Ich möchte Sie um etwas bitten, Frau Haller. Sollten Sie irgendwann einmal in Schwierigkeiten kommen und Hilfe benötigen, ganz gleich, ob es Sie oder Ihre Geschwister betrifft, dann wenden Sie sich bitte an mich. Ich bin ganz sicher in der Lage, Ihnen zu helfen. Wollen Sie mir das versprechen?«

Cindy zögerte. »Ich werde es zumindest versuchen, Herr Bromann.«

Als der Wagen vor ihrem Haus hielt, sprang Walter Bromann heraus und öffnete Cindy selbst die Tür. »Darf ich Sie in zwei Stunden zusammen mit Ihren Geschwistern abholen?«

»Gern.« Damit verabschiedete Cindy sich. Sie ging durch den Garten und betrat das Haus. Im Wohnzimmer wurde sie sofort von ihren Geschwistern umringt und musste erzählen, was sie erlebt hatte. Als sie die feinen Törtchen beschrieb, stellte Peter erschrocken fest, dass er entsetzlichen Hunger verspürte. Er erkundigte sich ängstlich bei Cindy, ob es am Abend bei Herrn Bromann auch wirklich etwas zu essen gäbe.

»Ganz bestimmt«, versicherte Cindy ihm. Dann überwachte sie persönlich Peters und Alices Ankleiden und prüfte schließlich noch einmal, ob sie auch wirklich saubere Hände und Fingernägel hatten.

Sie selbst bürstete sich nur das Haar, wusch die Hände und trug einen Hauch Puder auf die glänzende Nasenspitze auf.

»Hoffentlich holt er uns auch mit seinem großen Wagen ab«, wünschte sich Peter und presste die Nase an die Fensterscheibe.

Bald darauf fuhr Walter Bromann vor dem Haus vor. Er kam selbst zum Gartentor, um die Kinder abzuholen. Zusammen mit Cindy und Alice nahm er dann auf dem Rücksitz Platz. Peter durfte sich mit Chris vorn hinsetzen. Während der Fahrt stellte der kleine Junge dem Chauffeur so viele Fragen, dass Cindy ihn schließlich ermahnen musste, ruhig zu sein.

In Walter Bromanns Haus, das am anderen Ende der Stadt in einem ausgedehnten Park lag, wurde Cindy mit ihren Geschwistern von einer freundlichen älteren Frau empfangen, die Walter Bromann als seine Haushälterin vorstellte.

Das teuer eingerichtete Haus bestärkte Cindy in ihrer Meinung, dass Walter Bromann ein sehr vermögender Mann sein musste. Um Peter vor einem eventuellen Missgeschick zu bewahren, nahm sie ihn sicherheitshalber bei der Hand. Zu viele Vasen und zerbrechliche Gegenstände standen in der Halle herum.

Die empfindsame Alice, die einen ausgeprägten Sinn für alles Zarte besaß, ging langsam von einer Vase zur anderen und betrachtete sie eingehend. Schließlich trat Walter Bromann zu ihr und erklärte ihr geduldig und in verständlichen Worten, um was es sich jeweils handelte.

Inzwischen hatte die Haushälterin Cindy, Peter und Chris in den Speiseraum geführt. Walter Bromann hatte bei seiner Köchin ein Menü bestellt, das in erster Linie auf den Geschmack der Kinder abgestimmt war. Besonders die Nachspeise stellte ein kleines Meisterwerk aus verschiedenen Eistorten, Sahne und Früchten dar. Peter verdrehte vor Freude die Augen, als die Haushälterin den kunstvoll verzierten Becher vor ihn hinstellte. »Kann man das wirklich essen?«, vergewisserte er sich.

Walter Bromann bestätigte es ihm lächelnd und tauchte zum Beweis seinen Löffel tief in die weiche Sahnekrone. Sofort ahmte Peter es nach. Dann war er für den Rest der Mahlzeit unansprechbar – so sehr genoss er die Nachspeise.

Die glückstrahlenden Augen ihrer Geschwister entschädigten Cindy für alle Gewissensbisse, die sie sich noch am Nachmittag wegen dieser etwas ungewöhnlichen Bekanntschaft gemacht hatte. Sie fand jetzt, dass sie es ihren Geschwistern geradezu schuldig gewesen sei, sich von Herrn Bromann einladen zu lassen. Zu lange schon hatten Peter und Alice auf alle Leckerbissen verzichten müssen. Aber für derlei Dinge war in ihrem schmalen Haushaltsbudget einfach kein Platz.

Nachdem Walter Bromann die Haushälterin gebeten hatte, für Cindy und ihn selbst noch Kaffee zu servieren, wandte er sich ganz offiziell an Cindy und deren Geschwister. »Da wir uns jetzt schon kennen und gut verstehen, halte ich es nicht mehr für notwendig, dass ihr mich steif und formell mit ›Herr Bromann‹ ansprecht. Was haltet ihr von ›Onkel Walter‹?«

Peter und Alice nickten sofort begeistert.

»Natürlich gilt für dich, Chris, nur ›Walter‹. Ebenso für Sie, Cindy. So alt fühle ich mich nun doch noch nicht, dass ich mich von einer fast erwachsenen jungen Dame mit Onkel ansprechen lassen möchte.«

Cindy senkte die Lider mit den langen, dichten Wimpern. Was hätte sie darauf auch erwidern sollen? Sie war ihm für alles, was er den Geschwistern bot, so dankbar, dass sie ihm den kleinen Wunsch einfach nicht abschlagen konnte.

Nach dem Kaffee mahnte Cindy zum Aufbruch. Es war reichlich spät geworden, und Alice drohte schon am Tisch einzuschlafen. Walter Bromann verstand das sofort. Vorsichtig nahm er die schlaftrunkene Alice auf den Arm und trug sie selbst zum Wagen. »Wollen wir so einen netten Abend öfter wiederholen?«, fragte er die Kinder, als der Wagen vor dem Haller-Haus hielt.

»O ja!«, rief Peter begeistert und stieß Chris in die Seite, um ihn zur gleichen Antwort zu bewegen.

»Du brauchst mich nicht gleich umzubringen! Ich hätte auch so ›Ja‹ gesagt«, verteidigte sich Chris.

»Ich kann euch auch das nächste Mal in ein schönes Restaurant führen, zum Beispiel in das auf dem Rathausturm. Von dort aus kann man die ganze Stadt überblicken. Habt ihr Lust, morgen Mittag dort mit mir zu essen?«

Alle drei stimmten sofort begeistert zu, sodass Cindy gar keine Möglichkeit zu einer anderen Antwort blieb. »Ich gebe mein Einverständnis nur, wenn ihr jetzt ganz schnell und brav zu Bett geht«, forderte Cindy.

Schnell sprangen Peter und Chris aus dem Wagen. Die schlaftrunkene Alice­ wurde von Walter Bromann noch bis zur Haustür getragen. Dort stellte er sie sanft auf die Füße. Es war dabei leicht zu erkennen, dass ihr seine besondere Zuneigung gehörte.

Das schlaftrunkene Mädchen griff jetzt nach Cindys Hand und ließ sich ins Haus führen. »Es war ein wunderschöner Abend, nicht wahr, Cindy?«

»Ja, mein Liebling. Es freut mich, dass es euch gefallen hat.«

»Walter ist wirklich nett, Cindy, und gar nicht so verschroben wie alte Männer manchmal sind«, ereiferte sich Chris. »Man kann über alles mit ihm sprechen.«

Cindy fragte sich insgeheim, wie Walter wohl darauf reagieren würde, wenn er wüsste, dass Chris ihn einen alten Mann genannt hatte.

»Findest du ihn nicht nett?«, erkundigte sich Peter misstrauisch.

»Doch, natürlich! Wie kommst du darauf?«, fragte Cindy zurück.

»Weil du gar nichts Nettes über ihn sagst. Er hat dich immerzu angeguckt. Bestimmt findet er dich nett.«

»Er hat mich angesehen? Oft? Davon habe ich gar nichts gemerkt«, wunderte sich Cindy.

»Weil er dich immer nur dann betrachtet hat, wenn du mit irgendwas anderem beschäftigt warst«, grinste Chris. »Aber deswegen brauchst du doch jetzt nicht gleich so ernst zu werden. Ist es schlimm, wenn ein Mann eine Frau bewundert?«

Cindy musste lachen. »Also, bewundert hat er mich. Damit kommen wir der Sache schon näher.«

»Ja, richtig angehimmelt«, mischte sich nun auch Alice ein. »Mich hat er nicht so angehimmelt.«

Schmunzelnd schloss Cindy die kleine Schwester in die Arme. »Dich hat er noch viel mehr angehimmelt, nur auf eine andere Art. Schau, er hat dir alle seine Kunstgegenstände und Vasen erklärt und dich sogar bis zur Haustür getragen.«

Sophienlust Classic 46 – Familienroman

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