Читать книгу Sophienlust 312 – Familienroman - Bettina Clausen - Страница 3
ОглавлениеSie mögen mich nicht!, dachte Chris. Sie mögen mich alle nicht, und ich mag sie auch nicht!
Mit der Fußspitze schleuderte er einen Kieselstein von sich. Dabei schielte er hinüber zum Spielplatz, auf dem sich die Kinder von Sophienlust jetzt im Kreis aufstellten. Sie begannen ein neues Spiel.
Als ein Mädchen nach ihm rief, schaute Chris in die andere Richtung.
»Er hört uns doch«, sagte Henrik. »Warum antwortet er nicht?«
Pünktchen schaute zu dem Jungen auf der Parkbank. »Soll ich einmal hinlaufen?
»Wozu?«
»Um zu fragen, ob er mitspielen will.« Pünktchen trat aus dem Kreis. Irgendwie tat ihr der Neue leid.
»Aber mach nicht so viele Faxen mit ihm«, rief Henrik ihr nach. »Entweder will er mitspielen – oder er will nicht.«
Pünktchen lief über den Rasen.
Ihre Nase ist voller Sommersprossen, dachte Chris.
Pünktchen blieb atemlos vor ihm stehen.
»Willst du mitspielen, Christian?«
»Warum sagst du nicht Chris, wie alle anderen?«
»Also gut, Chris, spielst du mit?«
»Nein!«
»Warum nicht?« Pünktchen setzte sich neben ihn.
»Keine Lust.«
Der Junge bohrte seine Schuhspitze in den Kies.
»Die Lust kommt beim Spielen. Versuche es doch einmal.« Pünktchen sprang wieder auf. »Komm, spiele mit!«
»Nein!«
Pünktchen seufzte. »Na schön, wenn du nicht willst.« Sie drehte sich langsam um. »Wenn du dir es anders überlegst, dann kommst du herüber, ja?«
Chris antwortete nicht. Er schaute dem Mädchen nach, als es zurücklief zu den anderen. Er beobachtete auch, dass die Kinder miteinander sprachen und zu ihm herüberschauten. Am liebsten hätte er ihnen die Zunge herausgestreckt.
Es war heiß, am Himmel war keine Wolke. Es war richtiges Juniwetter. Die Kastanienbäume im Park des Kinderheims Sophienlust waren gerade erst verblüht.
Christian dachte an die Bäume im Garten seines Vaters. Er dachte daran, wie gern er immer beim Rasenmähen geholfen hatte und beim Gießen abends im Sommer. Danach hatten sie sich zu zweit an den Gartentisch gesetzt und gegessen. So schön war das gewesen. Und jetzt? Alles war vorbei. Der Vater wollte wieder heiraten. Nur deshalb war er nach Amerika geflogen. Um diese Frau zu holen, die schuld daran war, dass ihn der Vater in dieses Heim gebracht hatte.
Nur sie.
Ich kann sie nicht leiden, dachte Chris. Niemals werde ich Mutti zu ihr sagen. Niemals. Wieder flog ein Kieselstein durch die Luft.
Chris stand auf und ging tiefer in den Park hinein. Hier war er endlich allein. Er legte sich bäuchlings ins Gras, riss Halme aus und zerkaute sie. Dann drehte er sich auf den Rücken. Der Himmel war so blau wie auf der Postkarte, die der Vater ihm aus Kalifornien geschickt hatte. Noch ein paar Monate wollte er dort bleiben.
Nur wegen dieser alten Ziege, dachte Chris aufgebracht. Er hatte Sandra Kranz ein paarmal gesehen. »Hässlich ist sie. Alt und hässlich.« Der Junge merkte gar nicht, dass er laut sprach.
»Wer ist alt und hässlich?«, fragte eine Stimme hinter ihm.
Chris fuhr herum.
»Was willst du hier?«, fuhr er die Kleine an.
Heidi, das jüngste Kind im Heim, zuckte zusammen. »Nichts. Ich bin mit Rosenrot spazieren gegangen und habe dich gesehen.« Sie setzte sich neben Chris ins Gras. Ihrem Kaninchen, das Rosenrot hieß, hatte sie ein Halsband umgelegt, an dem eine Schnur hing.
»Warum hältst du es fest?«
»Damit es nicht weghoppelt. Schon einmal ist es ausgerissen. Da haben wir drei Tage nach ihm gesucht. Wenn du willst, kannst du mit ihm spielen.« Heidi wollte nett zu dem Neuen sein.
Chris schüttelte den Kopf. »Ich mag Kaninchen nicht.«
Heidis Hand fuhr über das weiche weiße Fell, als müsste sie Rosenrot trösten. »Wie lange bleibst du in Sophienlust?«
Chris zuckte mit den Schultern.
»Weiß ich nicht. Warum heißt das Heim Sophienlust?«
»Weil …« Heidi überlegte. »Ich hab’s vergessen.«
»Kein Wunder bei so einem dummen Namen.«
»Der ist nicht dumm«, rief Heidi entrüstet.
»Euer ganzes Heim ist dumm.«
»Warum bist du dann überhaupt hier?«
Christians Lippen zuckten. »Weil mein Vater mich hergebracht hat.«
»Und warum hat er dich hergebracht?«
»Das geht dich nichts an!«
»Ich weiß es aber!«, triumphierte Heidi. Die anderen Kinder hatten darüber gesprochen.
»Was weißt du?«
»Dass dein Vati eine …« Heidi konzentrierte sich. »Eine geschäftliche Fahrt nach Amerika macht.« Nun strahlte sie. Sie war stolz darauf, dass sie sich das gemerkt hatte. Dann fragte sie kleinlaut: »Was ist das, eine geschäftliche Fahrt?«
»Mein Vater macht keine Geschäftsreise«, sagte Chris. »Das sagt er nur, weil er diese Frau sehen will.«
Jetzt verstand Heidi überhaupt nichts mehr. »Was für eine Frau?«
»Die, die er heiraten will.«
»Dann kriegst du ja eine Mutti«, rief Heidi.
Chris funkelte die Kleine an. »Ich will keine Mutti. Und so eine schon gar nicht.«
»Kennst du sie denn?«
»Ja.«
»Ich denke, sie ist in Amerika?«, bohrte Heidi weiter.
»Sie war einmal hier zu Besuch.«
»Kommt sie wieder her, wenn sie deinen Vati heiratet?«
»Ich hoffe, sie stirbt vorher.«
Heidi zuckte zusammen. »So etwas darf man nicht sagen.«
»Warum nicht? Ich will ja, dass sie stirbt.« Dass er Heidi erschreckt hatte, gefiel ihm. »Meine Mutti ist auch gestorben.« Seine Unterlippe schob sich nach vorn.
»Wann ist sie gestorben?«
»Schon lange. Und dann war ich mit Vati allein, und das war schön …« Er begann wieder zu träumen. Von der Zeit, die er mit seinem Vater allein verbracht hatte.
Heidi beobachtete ihr Kaninchen, das jetzt dicht neben Christians Kopf saß. Er merkte es gar nicht. Erst als Rosenrots Löffel sein Ohr streifte, öffnete Chris die Augen. Er sah das Kaninchen und stieß es von sich.
»Was fällt dir ein?«, rief Heidi aufgebracht. »Du tust ihm doch weh!« Sie bückte sich und nahm Rosenrot auf den Arm.
»Verschwinde mit deinem blöden Karnickel.«
Heidi schluckte. »Du bist gemein!« Sie drehte sich um und lief davon.
»Chris hat mein Rosenrot ein blödes Karnickel genannt«, erzählte sie den beiden Mädchen, die sie bei der Schaukel antraf.
»Warum?«, fragte Vicky. »Habt ihr gestritten?«
»Überhaupt nicht. Ich wollte nett sein und ihn mit Rosenrot spielen lassen. Rosenrot hat ihm nichts getan.«
Am Rande des Spielplatzes, auf einer Bank, saß die Kinderschwester.
Zufällig hatte sie das Gespräch der Mädchen gehört und mischte sich jetzt ein: »Du darfst es Chris nicht verübeln, Heidi. Ich glaube, er ist sehr unglücklich und benimmt sich deshalb so bockig.« Sie legte ihre Häkelarbeit beiseite.
»Schwester Regine.« Pünktchen sprang so plötzlich von der Wippe, dass Vicky auf der anderen Seite zuerst einen Satz in die Luft machte und dann hart auf dem Boden landete.
»Spinnst du?« Vicky rieb sich ihr Hinterteil. »Du kannst doch vorher etwas sagen, wenn du schon abspringen musst.«
Pünktchen entschuldigte sich. »Das wollte ich nicht.«
»Das kann man hinterher leicht sagen«, nuschelte Vicky und kam ebenfalls zu der Bank, auf der die Kinderschwester saß, Schwester Regine versuchte den Mädchen Christians Situation zu erklären: »Jahrelang war Chris mit seinem Vater allein. Seine Mutter ist schon lange tot. Jetzt hat der Vater eine Frau kennen gelernt und will wieder heiraten. Das fängt schon damit an, dass er Chris allein lässt und nach Amerika fliegt.«
»Das würde mich auch ärgern«, meinte Vicky.
»Chris ist eifersüchtig auf die Frau«, vermutete Pünktchen.
Schwester Regine gab ihr recht. »Er befürchtet, dass sich die ganze Zuneigung seines Vaters nun auf diese Frau konzentrieren werde, dass er seinen Sohn nicht mehr lieben werde, was natürlich nicht stimmt.«
»Aber dafür können wir doch nichts.« Heidi schob einen Finger in den Mund. »Wir sind alle nett zu ihm. Da braucht er nicht so patzig zu sein und Rosenrot ein ›blödes Karnickel‹ schimpfen. Rosenrot kann doch nichts dafür, dass Chris’ Vati wieder heiraten will.«
Schwester Regine unterdrückte ein Schmunzeln.
»Nein, Rosenrot kann wirklich nichts dafür. Ich habe euch das auch nur erzählt, weil ich euch bitten wollte, ein bisschen nachsichtig mit Chris zu sein.«
»Will Chris’ Vati eine Amerikanerin heiraten?«, fragte Pünktchen.
»Soviel ich weiß, ist sie Deutsche und lebt nur in den Vereinigten Staaten.« Schwester Regine griff wieder nach ihrer Häkelarbeit. »Sie hat vor einiger Zeit Deutschland besucht und dabei Christians Vater kennen gelernt.«
»Ob er sich in sie verliebt hat?«, überlegte Vicky laut.
Pünktchen schüttelte den Kopf. »Das ist doch wohl klar. Sonst würde er sie doch nicht heiraten wollen.«
Vicky verteidigte sich: »So klar ist das nun auch wieder nicht. Es gibt schließlich auch Leute, die einander heiraten, obwohl sie einander nicht mögen.«
»Das gibt es nicht.«
»Das gibt es doch.« Vicky stampfte mit dem Fuß auf. »Stimmt es, Schwester Regine?«
»So etwas mag schon vorkommen. Nur glaube ich nicht, dass Herr Schubert aus Berechnung heiraten will.«
»Wer ist Herr Schubert?«, fragte Heidi.
»Chris’ Vater«, antwortete Vicky ungeduldig.
Heidi nahm ihr Kaninchen auf den Arm. »Ich gehe mit Rosenrot zum Haus.«
»Das sollten wir alle tun«, schlug die Kinderschwester vor. »In einer halben Stunde gibt es Abendessen.«
Sie packte ihre Handarbeit zusammen. Pünktchen und Vicky gingen nebeneinander.
»Eigentlich müsste sich Chris doch freuen, dass er wieder eine Mutti kriegt«, meinte Vicky. »Ich würde mich freuen.«
»Du weißt ja nicht, wie sie ist. Vielleicht mag sie keine Kinder.«
»Hm, das kann sein.« Vicky seufzte. »Am schlimmsten ist, dass wir morgen wieder in die Schule gehen müssen. Warum vergehen die Sonntage bloß immer so schnell?«
»Weil es Sonntage sind.«
Vicky blieb stehen. »Das ist vielleicht ’ne Antwort.«
»Es stimmt doch. Außerdem brauchst du nicht zu jammern. In drei Wochen fangen doch die großen Ferien an.«
»Gott sei Dank!« Vicky legte den Kopf in den Nacken und breitete die Arme aus. »Jeden Tag baden gehen …«
»Wenn schönes Wetter ist.«
»Du kannst einem aber auch die ganze Freude verderben, Pünktchen.«
»Wieso? Ich habe nur das gesagt, was stimmt. Es könnte doch sein, dass es den ganzen Sommer verregnet.«
»Hör bloß auf!« Vickys Arme fielen herab. »Daran mag ich nicht einmal denken. Das wäre hundsgemein.«
»Wäre es auch.« Pünktchen musterte Vickys Arme. »Du bist schon wieder viel brauner als ich.«
»Wirklich?« Vicky streckte beide Arme von sich, um sie zu betrachten. »Ich werde immer schneller braun als du.«
»Warum werde ich bloß immer rot?«
»Weil du blond bist und Sommersprossen hast.«
Pünktchen blieb stehen. »Was haben denn die Sommersprossen mit dem Braunwerden zu tun?«
»Ganz einfach: Rothaarige werden schwer braun und haben außerdem Sommersprossen. Und du hast auch Sommersprossen.«
»Ich bin aber nicht rothaarig«, widersprach Pünktchen ihr entrüstet.
»Nun rege dich nicht gleich auf. Ich habe ja nicht gesagt, dass du rothaarig bist. Nur, dass du Sommersprossen hast. Und ein bisschen rötlich sind deine blonden Haare doch.«
»Das finde ich nicht«, widersprach Pünktchen ihr erneut. Sie wollte nicht rothaarig sein, und ihre Sommersprossen mochte sie auch nicht. »Ich möchte einmal so braun werden wie Nick.« Sie verdrehte die Augen.
»Das wirst du nie. Nick ist mit seinen schwarzen Haaren ein ganz anderer Typ.«
»Das weiß ich.« Sie hatten das Herrenhaus erreicht. Pünktchen sprang als Erste die Stufen empor. Die etwas rundliche Vicky kam langsam nach.
Die meisten Kinder waren schon im Haus. Sie wuschen sich die Hände oder saßen in der Halle oder im Aufenthaltsraum.
Dominik von Wellentin-Schoenecker, den alle nur Nick nannten, suchte seinen Halbbruder Henrik. Er fand ihn schließlich im Eisenbahnzimmer und trieb ihn zur Eile an.
»Wir haben Mutti versprochen, zum Abendessen zu Hause zu sein. Also, komm schon!«
Henrik – viel jünger als Nick – hatte keine Lust, nach Gut Schoeneich zurückzuradeln. »Können wir nicht hier übernachten?«
»Dann hätten wir Mutti und Vati vorher Bescheid sagen müssen.«
»Wir könnten doch zu Hause anrufen?«
Nick schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Erstens haben wir unsere Schulsachen nicht dabei, und die brauchen wir morgen früh. Zweitens sind wir nicht für die Schule angezogen. Oder willst du morgen in Turnhose und T-Shirt zur Schule fahren?«
»Mir wäre das egal.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Nick gab seinem Halbbruder einen gut gemeinten Rippenstoß. »Also, komm schon, bevor’s Ärger gibt.«
Chris Schubert saß auf den Treppenstufen vor dem Herrenhaus. »Bis morgen, Chris«, rief Henrik, bevor er auf sein Fahrrad stieg. Henrik und Chris besuchten als einzige die Volksschule in Wildmoos. Alle anderen Kinder gingen schon auf das Maibacher Gymnasium.
Während Chris den beiden Brüdern nachschaute, dachte er daran, dass dieses ganze Kinderheim mit seinem großen Park, mit den Pferden und Weiden Nick gehörte. Das hatte Henrik erzählt.
Ob er gelogen hatte? Kaum, denn die anderen, die zugehört hatten, hatten zu allem genickt. Chris überlegte, ob man sich wie ein König fühlte, wenn einem das alles gehörte? Aber Nick benahm sich ganz normal. Er gab auch nicht an.
»He, träumst du?«
Chris drehte sich um. Vor ihm stand ein Junge, der zwei oder drei Jahre älter war als er – Fabian. Er sagte: »Es gibt Abendessen.«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Du musst trotzdem in den Speisesaal kommen.«
»Warum?«
»Weil das nun einmal bei uns so üblich ist. Wenn du nicht kommst, gibt’s bloß Ärger.«
Trotzig schob Chris sein Kinn nach vorn. »Dann soll’s eben Ärger geben.«
Das verstand Fabian nicht. »Du kannst dich doch wenigstens in den Speisesaal setzen. Wenn du dann wirklich nichts isst, ist es halb so schlimm.«
»Nein.«
»Nun komm schon«, drängte Fabian. »Ich will dir doch bloß helfen.«
»Ich will nicht, dass mir jemand hilft.«
»Du bist wirklich komisch.« Fabian war ratlos. Einen Moment blieb er noch neben Chris stehen, dann zuckte er mit den Schultern und ging ins Haus.
Beim Austeilen des Essens durfte jeden Tag ein anderes Kind helfen. An diesem Sonntag war Irmela, das älteste Mädchen unter den Kindern, an der Reihe.
»Der Neue fehlt«, sagte sie zu Schwester Regine. »Soll ich ihn suchen?«
»Ich mache das selbst.« Schwester Regine gab Irmela die Suppenschüssel und verließ den Speisesaal.
Sie fand Chris vor dem Haus. »Hast du keinen Hunger?«
Der Junge schüttelte den Kopf.
»Ins Haus kommen musst du trotzdem.« Schwester Regine nahm Chris einfach bei der Hand.
»Ich will aber nichts essen.«
»Du brauchst nichts zu essen, wenn du keinen Hunger hast. Niemand zwingt dich dazu.« Die Kinderschwester brachte Chris in den Speisesaal. Dann beachtete sie ihn nicht weiter. Sie wusste, jeder Zwang war hier fehl am Platze, würde den Jungen nur noch störrischer machen. Wenn er Hunger hat, dann isst er auch, dachte Schwester Regine, und sie behielt recht.
Chris sah die anderen Kinder essen. Noch dazu Sachen, die so gut aussahen. Er schluckte, überlegte: Wem hatte er gesagt, dass er nichts essen wolle? Eigentlich doch nur Fabian und der Kinderschwester. Er schielte zu Fabian hinüber. Der sah ihn nicht. Und die Kinderschwester war jetzt gar nicht da. So griff er nach seinem Löffel. Mit gesenktem Blick begann er zu essen. Hastig und hungrig.
*
»Noch einen Kaffee?«, fragte Robert Schubert.
»Nein, danke, Robert.« Sandra Kranz schaute auf die große Uhr an der Wand des Steakhauses. »Ich muss zurück ins Büro. Meine Mittagszeit habe ich ohnehin schon überzogen. Aber es war schön, dich zu sehen, Robert.« Sie berührte seine Hand, die auf dem Tisch lag.
Robert hielt ihre Finger fest. »Wann sehen wir uns wieder?«
Sandra überlegte. Dabei schaute sie zum Fenster hinaus, ohne zu sehen, was dort geschah.
Ihre kurze Bubikopffrisur ließ sie jünger als fünfunddreißig erscheinen. »Wie sehen deine Pläne fürs Wochenende aus?«
Robert lachte kurz. »Ich habe keine. Meine amerikanischen Kollegen hören freitags am frühen Nachmittag auf zu arbeiten. Ab drei Uhr sind sämtliche Büros verwaist, die Computer stehen still.«
Robert Schubert war Maschinenbau-Ingenieur und von seinem deutschen Arbeitgeber für vier Monate zu einer amerikanischen Schwesterfirma versetzt worden. Genauer gesagt, er hatte um die Versetzung gebeten, um Sandra Kranz wiedersehen zu können. Vor einem Jahr hatte er sie in Deutschland kennen gelernt. Zufällig.
Sandra sagte: »Dann schlage ich vor, wir treffen uns am Freitagabend. Ich höre um vier auf zu arbeiten.« Sie sprach Deutsch mit einem leichten amerikanischen Akzent. Das war kein Wunder nach einem Aufenthalt von fast zwanzig Jahren in Amerika. Sie hatte vor fünfzehn Jahren in Deutschland geheiratet und war ein Jahr später mit ihrem Mann in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes hatte sie zum ersten Mal wieder Deutschland besucht und dabei Robert Schubert kennen gelernt. Jetzt war Robert in Kalifornien, und sie sprachen über eine gemeinsame Zukunft. Sandra konnte das noch immer nicht ganz glauben.
Robert nahm die Rechnung. Sandra und er standen auf. Die Kasse war neben dem Ausgang. Dort bezahlte er.
Sonnenschein empfing die beiden, als sie aus dem luftgekühlten Lokal traten. Sandras Büro war ganz in der Nähe.
»Ich gehe zu Fuß«, sagte sie und reichte Robert die Hand. »Bis morgen Abend, Robert.«
»Bis morgen! Ich freue mich schon.« Er küsste sie auf die Wange. Dann ging er zu dem Parkhaus, in dem sein Wagen stand. Der Wagen, den die amerikanische Firma ihm zur Verfügung gestellt hatte.
Robert fuhr zurück zum Bürohaus der Company. Eigentlich hatte er um den Aufenthalt in Kalifornien gebeten, um Sandra wiedersehen zu können. Doch jetzt machte ihm die Arbeit selbst Spaß. Er frischte sein Englisch auf und lernte in seinem Fach eine Menge dazu. Außerdem verfolgte er seinen Plan. Er wollte Sandra bitten, ihn zu heiraten und mit ihm nach Deutschland zurückzukehren. Darüber gesprochen hatten sie schon. Sandra war auch nicht abgeneigt, aber sie war der Meinung, sie würden einander noch zu wenig kennen. Also lernten sie sich jetzt besser kennen.
Als Robert am Freitagabend zu Sandra kam, um sie zum Essen abzuholen, hatte sie selbst gekocht.
»Du musst doch endlich einmal erfahren, dass ich auch kochen kann«, empfing sie ihn lächelnd.
Der Esstisch in ihrer Wohnung war festlich gedeckt, sogar frische Blumen standen darauf. »Das ist eine Überraschung.«
Sandra lächelte. »Ich wollte dich überraschen.« Sie ging zurück in die Küche, ließ aber die Tür offen. »Es dauert höchstens noch zehn Minuten«, rief sie. »Nimm dir inzwischen einen Aperitif.«
»Möchtest du auch einen?«, fragte Robert.
»Ja, einen trockenen Sherry, bitte.«
Robert überflog die wenigen Flaschen in ihrem Barschrank. »Tio Pepe« war ein trockener Sherry. Er goss zwei Gläser voll und ging damit in die Küche. »Kann ich dir helfen?«
»Danke! Es ist lieb von dir, aber ich bin schon fertig. Es gibt Sirloin-Steak mit Salat. Danach frische Erdbeeren mit Sahne. Ist das in Ordnung?«
»Das ist wunderbar.« Das war keine Höflichkeitsfloskel. Ihre Idee, selbst zu kochen, begeisterte ihn wirklich. Auch dass es ein typisch amerikanisches Essen war, fand er gut. Deutsche Gerichte konnte er schließlich in Deutschland essen.
Das Steak war gerade richtig. So, wie es sein sollte, halb durch. Es schmeckte großartig, genauso der Salat. Dazu tranken sie kaltes Bier.
Nach dem Essen fragte Sandra nach Chris. Sie wusste, dass der Junge in einem Heim war. »Wird er dort nicht unglücklich sein? Ich meine, er ist doch an dich gewöhnt.«
»Sophienlust ist kein Heim im üblichen Sinne.« Robert begann von dem alten Herrensitz zu erzählen. Er schilderte den Park, die Gebäude und die dort lebenden Tiere ausführlich.
»Das klingt hübsch«, meinte Sandra. »Hoffentlich empfindet Chris es auch so.«
»Du machst dir Sorgen um ihn?«
Sie nickte. »Natürlich. Schließlich gehört er zu dir. Und außerdem mag ich Kinder wahnsinnig gern.«
»Warum hast du dann keine?«
Er hatte die Frage gestellt, ohne zu überlegen. Als er ihr Gesicht sah, bedauerte er es. »Entschuldige, Sandra. Eigentlich geht mich das gar nichts an.«
Sie widersprach ihm. »Natürlich geht es dich etwas an. Ich wollte immer Kinder haben. Hans – mein Mann – genauso. Als wir keine bekamen, ließen wir uns untersuchen. Es lag an mir.« Sie schluckte und schwieg.
Robert griff über den Tisch nach ihrer Hand.
»Deshalb habe ich dich nach Chris gefragt.« Sie versuchte zu lächeln. Es gelang ihr sogar.
»Dieses Kinderheim, in das ich Chris gebracht habe, ist sehr schön, aber er wollte nicht hin. Todunglücklich war er, als ich ihn dort ablieferte.«
Sandra sah betroffen aus. »Sicher gibt er mir die Schuld daran, dass er dich so lange entbehren muss.«
»Unsinn«, widersprach Robert ihr.
»Doch, Robert. So denken Kinder.«
»Vielleicht hast du sogar recht.« Robert dachte an sein letztes Gespräch mit Chris. Einen Moment lang war er versucht, Sandra davon zu erzählen. Dann ließ er es sein. Vielleicht würde es Sandra entmutigen, dass Chris sich so entschieden gegen eine Stiefmutter wehrte.
»Woran denkst du?« Sie drückte seine Hand.
»Ich habe an Chris gedacht«, antwortete er ehrlich. Und noch ehrlicher: »An Chris und an dich.«
Sandra sagte dazu nichts. Sie glaubte zu wissen, was er dachte. »Wenn mich dein Sohn erst richtig kennt, wird er mich sicher auch mögen«, sagte sie. »Davon bin ich überzeugt. Anfangs gibt es immer Schwierigkeiten. Man muss nur wollen, dann überwindet man sie auch.«
»Ich hoffe wirklich, dass du mich heiratest«, sagte Robert spontan.
Sie schaute ihn verliebt an. »Und ich hoffe, dass du mich in vier Monaten immer noch heiraten willst.«
»Dann lass uns gleich nächste Woche heiraten«, schlug er vor. »Wir brauchen nur nach Las Vegas oder Reno zu fahren.«
Sandra musste lachen. »Wir haben uns doch vorgenommen, nichts zu überstürzen. Vielleicht findest du Eigenschaften an mir, die du nicht ausstehen kannst.«
»Bestimmt nicht.«
»Behaupte das nicht so leichtsinnig. Du kennst mich doch noch gar nicht richtig.«
»Gut genug.« Er küsste ihre Fingerspitzen. »Aber ich halte mich an unsere Abmachung. In den nächsten drei Monaten wird nicht mehr vom Heiraten gesprochen.«
Die einzige Bedingung, die Robert an diese Hochzeit knüpfte, war die Rückkehr nach Deutschland. Sandra war einverstanden, mit Robert in Deutschland zu leben. Trotz ihres langen Aufenthaltes in Amerika fühlte sie sich immer noch als Deutsche. Sie freute sich auf die Rückkehr in die Heimat.
Und sie freute sich auf Roberts Sohn. Vor den anfänglichen Schwierigkeiten fürchtete sie sich nicht. Chris musste sich erst an sie gewöhnen, das war klar. Sandra rechnete darüber hinaus damit, dass der Junge sie ablehnte, aber auch davor hatte sie keine Angst. Das gehörte mit zu den Anfangsschwierigkeiten und ließ sich überwinden.
*
Der Bernhardiner jaulte auf.
»Das war Barri.« Henrik ließ den Ball fallen. Er rannte über den Spielplatz und die Wiese zum Herrenhaus, bog um die Ecke und sah, was er erwartet hatte. Barri, winselnd, auf drei Beinen hinkend. Daneben Chris.
»Was hast du mit ihm gemacht?«, fuhr Henrik den Jungen an.
»Nichts.«
»Quatsch nicht. Wegen nichts jault Barri nicht.« Drohend baute sich Henrik vor dem nur ein Jahr Jüngeren auf. »Also?«
»Ich habe ihn getreten. Aber nicht mit Absicht.«
»Freilich mit Absicht«, rief Heidi, die bis dahin keiner gesehen hatte. Jetzt kam sie näher. »Ich hab’s gesehen.«
»Sie schwindelt«, sagte Chris.
»Du schwindelst.« Heidi zeigte keine Angst vor dem älteren und größeren Chris. Sie wandte sich an Henrik: »Zuerst hat er mit Barri gespielt, und dann hat er ihn plötzlich ohne Grund getreten. Mitten auf die Vorderpfote. Ich hab’s ganz deutlich gesehen.« Sie funkelte Chris an.
Der nuschelte: »Ich habe die Pfote nicht gesehen.«
»Nicht gesehen«, rief Henrik entrüstet. »So eine große Hundepfote! Barri ist doch kein Zwergpinscher.«
Da mischte sich Nick ein, der bis dahin nur zugehört hatte: »Hört jetzt auf! Wenn Chris sagt, dass er es nicht absichtlich getan hat, dann müssen wir ihm das glauben.«
»Warum?«, fragte Henrik angriffslustig.
»Weil wir ihm nicht beweisen können, dass er Barri absichtlich weh getan hat.«
»Aber Heidi hat es doch gesehen.« So schnell gab Henrik nicht auf. Barri war schließlich sein Liebling.
Nick sagte: »Heidi hat nur gesehen, dass Chris Barri getreten hat. Vielleicht war es wirklich ein Versehen, und das kann schließlich jedem von uns passieren.«
Fast hatte Nick die Kinder überzeugt. Da rief Pünktchen: »Also gut, dann soll Chris sich bei Barri entschuldigen.«
»Was?« Chris fuhr herum. »Ich soll den Hund …?«
»Um Entschuldigung bitten!«, bestätigte Nick. »Schließlich hast du ihm ja weh getan. Hätte dich jemand getreten, würdest du auch erwarten, dass er sich entschuldigt.«
»Natürlich, aber ich bin auch kein Hund!« Böse schaute Chris den Bernhardiner an.
»Was hat das denn damit zu tun?«, fragte Irmela, das älteste Mädchen, aufgebracht. »Du sollst doch nur zeigen, dass es dir leid tut.«
»Ich entschuldige mich nicht bei einem Köter.«
»Barri ist kein Köter.« Auf einmal redeten alle durcheinander.
Henrik wollte sich auf Chris stürzen. Im letzten Moment konnte Nick ihn zurückreißen. »Achtung! Tante Ma kommt!«
Die Heimleiterin hatte den Tumult vom Küchenfenster aus gehört. »Was ist los?«, fragte sie sachlich.
»Nichts Besonderes«, antwortete Nick.
»Dafür, dass nichts Besonderes los ist, macht ihr ganz schön viel Krach«, sagte Else Rennert. Und das war alles. Keine weiteren Fragen, kein Tadel. Die Heimleiterin hatte ihre besondere Art im Umgang mit den Kindern. Eine sehr erfolgreiche Art, wie jeder wusste.
Als sie wieder gegangen war und sich die Kinder nach Chris umdrehten, war der ebenfalls verschwunden.
»Lasst ihn«, meinte Nick.
Doch Henrik drohte: »Wenn er das noch einmal macht, verprügle ich ihn.«
»Ich weiß nicht, ob das viel helfen würde.« Nachdenklich nagte Nick an seiner Unterlippe. »Außerdem ist es nicht fair, einen Jüngeren zu verprügeln.«
»Das eine Jahr, das er jünger ist!« Henrik winkte ab.
Pünktchen kniete neben dem Bernhardiner nieder und legte ihre Arme um dessen Hals. »Tut’s noch weh, Barri?«
Der Hund schaute sie treuherzig an mit seinen hellen Augen.
Nicht umsonst war der gutmütige Bernhardiner-Rüde der Liebling aller Kinder.
»Wenn er das wieder macht, dann beißt du ihn«, flüsterte Heidi ihm ins Ohr.
»Also los, spielen wir weiter«, rief Nick.
Chris beobachtete die Kinder von seinem Zimmerfenster aus. Was für ein Getue wegen eines Hundes, dachte er. Mit mir machen sie nicht so viel Faxen.
Er beobachtete, wie sich die Kinder über den Spielplatz verteilten. Er konnte nicht verstehen, was sie einander zuriefen und worüber sie lachten, aber dass sie Spaß hatten, ärgerte ihn. Jetzt müsste es anfangen zu regnen, dachte er. Richtig schütten müsste es, damit sie patschnass werden. Dann würde ihnen das Lachen schon vergehen.
Chris knallte das Fenster zu, obwohl er sich selbst ausgeschlossen und abgesondert hatte, verübelte er den Kindern, dass er ein Außenseiter war. Dafür wollte er die Kinder bestrafen. Und dafür, dass sie so fröhlich waren und gar nicht mehr an ihn dachten.
Natürlich hatte er Barri absichtlich getreten. Und er würde es wieder tun. Sollten sie sich doch aufregen und ärgern. Er ärgerte sich ja schließlich auch. Darüber, dass sein Vater ihn in dieses Heim gebracht hatte. Darüber, dass sein Vater wieder heiraten wollte und …
Eine Idee unterbrach den Gedankengang des Jungen. Im Gras hatte er Heidis Kaninchen entdeckt.
Schneeweißchen und Rosenrot. Dumme Namen, fand er. Genauso dumm wie das Getue der Kinder mit den Viechern. Die Kaninchen saßen in einem Laufstall aus Draht. Dieses Maschengeflecht brauchte er nur anzuheben, dann konnten die Kaninchen davonlaufen.
Chris rannte in den Park hinein. Zuerst umrundete er den Kaninchenstall ein paarmal und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war. Dann hob er mit einem Ruck das Maschengitter hoch. Sofort hoppelten die Kaninchen davon. Das Gitter wieder abzusetzen und davonzulaufen, war das nächste. So einfach war das.
Hoffentlich rennen die Karnickel in den Wald, wo man sie nicht so schnell findet, dachte Chris. Er zuckte zusammen, als ein Schatten auf ihn fiel. Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Denise von Schoenecker, die Mutter von Nick und Henrik, vor ihm.
Ihr Gesicht war ernst. »Ich habe dich beobachtet, Chris.«
Es wurde ihm zuerst heiß, dann kalt. Keine Ausrede wollte ihm einfallen.
Doch Denise wartete gar nicht erst auf eine Erklärung. »Komm!«, sagte sie und ging voraus.
Chris trottete hinter ihr her. Dabei fragte er sich ängstlich, was sie vorhatte. Wollte sie die Kinder zusammenrufen?
»Du wirst jetzt mit mir zusammen die Kaninchen wieder einfangen«, sagte Denise.
Schneeweißchen und Rosenrot waren nicht ausgerissen. Sie saßen friedlich in der Nähe ihres Gitters. Als Denise und Chris kamen, hob Rosenrot schnuppernd die Nase. Denise hob es auf und befahl:
»Nimm das andere.«
Chris gehorchte.
Die beiden trugen die Kaninchen zurück und setzten sie wieder in ihre luftige Behausung. Mit gesenktem Kopf blieb Chris neben dem Gitter stehen. Jetzt musste die Bestrafung kommen.
»Ich werde vergessen, was ich gesehen habe«, sagte Denise.
Sprachlos schaute Chris zu ihr empor. Sie wollte es wirklich nicht den anderen erzählen?
»Natürlich nur, wenn du mir versprichst, so etwas nie wieder zu machen«, fuhr Denise fort.
»Ich verspreche es.«
»Gut, damit ist die Sache erledigt.« Denise klopfte ihm leicht auf die Schulter und ging zurück zum Haus.
Über den Zwischenfall sprach Denise mit keinem. Sie kannte Christians Beweggründe. Der Junge wollte seiner Umwelt wehtun, weil ihm weh getan worden war. Dagegen richtete man auch mit Strenge und Strafe nichts aus. Nur die Zeit konnte ihm darüber hinweghelfen.
Chris ging zum Spielplatz.
Heidi saß im Sandkasten und baute Burgen. Pünktchen, Angelika und Vicky flochten Kränze aus Wiesenblumen. Hauptsächlich aus Gänseblümchen. Henrik schlug Purzelbäume auf dem Rasen und forderte Fabian auf, es ihm nachzumachen.
Chris setzte sich auf den Rand des Sandkastens.
»Willst du mitmachen?«, fragte Heidi.
»Nein.«
»Dann eben nicht.« Heidi klatschte eine Handvoll feuchten Sand an einen Turm, der daraufhin zusammenfiel.
»Das musst du anders machen«, sagte Chris. Er stellte fest, dass er eigentlich doch gern mitspielen wollte.
Unbewusst erstickte Heidi seinen Versuch mitzuspielen. »Wenn du nicht mitspielst, brauchst du auch nichts zu sagen. Ich mache das allein.« Sie baute einen neuen Turm.
Chris stand auf und ging fort. Neben Henrik und Fabian setzte er sich ins Gras. »Jetzt versuchen wir den Handstand«, schlug Henrik vor. Er schaute Chris an: »Kannst du auf den Händen stehen?«
»Klar.«
»Mach es vor«, verlangte Fabian.
»Keine Lust. Mach du es doch vor.«
»Ich kann es nicht«, sagte Fabian. »Ich kippe immer um dabei. Versuchen wir lieber etwas anderes.«
»Was?«, fragte Henrik. Er saß im Schneidersitz im Gras.
»Wettlaufen«, schlug Fabian vor. »Wer zuerst da vorn bei der Kastanie ist.«
Henrik blinzelte gegen die Sonne. »Eigentlich hab ich keine Lust. Vielleicht will Chris mitlaufen?«
Chris schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu dumm.«
»Dir ist alles zu dumm«, rief Fabian aufgebracht. »Dann schlag doch einmal selber etwas vor!«
Chris presste die Lippen zusammen.
»Siehst du, dir fällt auch nichts ein.«
Chris widersprach ihm: »Ich weiß schon etwas, aber ich sag’s euch nicht.«
»Dann behalt’s eben für dich.« Henrik winkte ab.
»Mache ich auch.« Chris stand auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Henrik.
»Das geht dich nichts an!« Chris schlurfte weiter. Das, was Henrik noch sagte, verstand er nicht.
Bella, die altersschwache Schäferhündin, trottete hinter ihm her. Chris blieb stehen. »Hau ab«, zischte er.
Bella blieb stehen.
Als er weiterging, trottete Bella ebenfalls weiter. Immer hinter ihm her. Chris machte einen plötzlichen sprunghaften Schritt zurück, um Bella zu erschrecken. Doch Bella reagierte nicht ängstlich. Sie wusste, dass ihr die Kinder nichts taten. Ganz Sophienlust behandelte sie, die altersschwache Bella, rücksichtsvoll.
»Was läufst du mir dauernd nach, du dummes Vieh? Ich mag dich nicht. Hau ab!« Chris gab der Hündin einen Schlag aufs Hinterteil.
Bella schaute ihn nur erstaunt an und blieb weiter hinter ihm.
Chris begann zu laufen, so schnell er konnte. Bella hielt das für ein Spiel. Sie wollte hinter Chris herspringen, aber es ging nicht.
»Sieh nur die arme Bella an!« Pünktchen beschattete ihre Augen mit der Hand. »Chris! Lauf nicht so schnell«, rief sie.
Chris tat, als höre er sie nicht. Er rannte weiter und war Bella endlich los.
Wieder saß er allein in einem Winkel des Parks und träumte. Da passierte es ihm wieder. In letzter Zeit kam es dauernd vor. Wenn er an den Vater dachte, in Gedanken ein schönes Bild von ihm malte, dann machte sie dieses Bild kaputt. Dann sah er plötzlich neben dem geliebten Gesicht des Vaters diese Frau, Vaters Freundin. Aber er wollte sie doch gar nicht sehen. Nicht einmal an sie denken wollte er. Doch plötzlich war ihr Gesicht da und lächelte den Vater an. So, wie sie es damals getan hatte.
Chris erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem der Vater sie zum ersten Mal mitgebracht hatte. Es war furchtbar gewesen. Nur noch Augen für diese Frau hatte der Vater gehabt. Und dann hatte er sogar ihre Hand gehalten. Chris wusste noch genau, dass er damals den Wunsch gehabt hatte, diese Frau zu verprügeln.
Eine Bewegung hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Es war eine sanfte Berührung. Chris drehte sich um. Da stand Bella hinter ihm und berührte mit der Nase seinen Rücken. Ganz sacht, als wollte sie sich für die Störung entschuldigen. Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten ihn treuherzig an. Chris schluckte. Dann legte er seinen Arm um Bellas Hals und grub sein Gesicht in ihr Fell. Bella hielt ganz still.
Sie rührte sich nicht.
Das war fast so beruhigend, wie vom Vater umarmt zu werden. Chris erzählte der alten Schäferhündin seinen ganzen Kummer. Dann gab er ihr das letzte Bonbon, das er in seiner Hosentasche fand. Aber Bella wollte es nicht. Vielleicht deshalb nicht, weil sie keine guten Zähne mehr hatte und auch nicht mehr genug.
»Arme Bella.« Chris streichelte sie.
Als er Stimmen hörte, ließ er Bella los und rückte von ihr ab.
»Hier bist du.« Pünktchen zwängte sich durch die Äste eines Gebüschs. »Was machst du hier?«
»Nichts.«
Misstrauisch schaute Pünktchen von Chris zu Bella. »Hast du ihr etwas getan?«
Chris nickte mit einem schadenfrohen Glitzern in den Augen. »Ich habe sie geschlagen.«
Pünktchen holte tief Luft. »Was fällt dir ein …« Da sah sie, dass Bella zu Chris kam und ihn beschnupperte. »Das würde sie nicht tun, wenn du sie geschlagen hättest.«
»Was würde sie nicht tun?« Chris rückte wieder von Bella ab.
»Zu dir kommen und dich beschnuppern«, sagte Pünktchen. Sie wurde einfach nicht schlau aus Chris. »Du bist richtig komisch.«
»Du auch. Ihr seid alle komisch.« Chris drehte sich um und zeigte Pünktchen den Rücken. Er wollte allein sein.