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2. Kapitel
ОглавлениеStrasbourg
Unschlüssig stand Luc vor dem zweistöckigen Haus mit den schmückenden Andreaskreuzen und Reliefs im Fachwerk. Bereits zweimal hatte er an das grüne Portal geklopft, doch niemand öffnete ihm. Ob er sich irrte und Hermann in einem der Nebengebäude wohnte?
Luc trat einige Schritte zurück und blickte über die Fassade. Dabei rieb er seine Hände aneinander, weil ihm eiskalt war. Bereits jetzt am frühen Nachmittag klirrte die Luft vor Kälte und hinter ihm lag eine regelrechte Tortur, seitdem er Paris verlassen hatte. Nicht nur mental.
Für den Weg hatte er aufgrund der frostigen Temperaturen fast doppelt so lange gebraucht, da er die meisten Nächte in Gaststätten verbracht hatte. Es war nicht immer einfach gewesen, eine zu finden, noch dazu mit einem Stall für seinen Araber. Aber sonst wären sie vermutlich erfroren.
Sein Hengst scharrte mit den Vorderhufen und zog an den Zügeln, die er um einen Pfosten gebunden hatte. Hinter ihnen plätscherte die zum Teil zugefrorene Ill. Ein durchdringender Verwesungsgeruch verpestete die Luft. Sie befanden sich im Gerbereiviertel der Stadt, die ansonsten mit der malerischen Häuserkulisse, den engen Gassen und Weiden ganz passabel aussah.
„Luc?“ Er blickte hoch. Hermann streckte seinen Kopf aus dem Dachfenster. „Mit dir habe ich ja gar nicht mehr gerechnet.“
„Wieso? Hast du mich irgendwo erfroren liegen gesehen?“
„Eher dachte ich, dass du auf dem Weg nach Amerika bist“, kam es sarkastisch von oben. „Du hast dir ziemlich Zeit gelassen. Oder hat es dir in meinem Pariser Stadthaus so gut gefallen?“
„Auch, aber meine Verspätung liegt am Wetter“, griff Luc zur halben Wahrheit. „Könnten wir uns drinnen unterhalten, bevor ich zum Eiszapfen werde?“
„Sicher, ich bin gleich unten.“
Luc stellte sich vor die Pforte, an der es keinen Türklopfer gab. Beim Nebengebäude zeigte sich jedoch das typisch aufgerissene Löwenmaul mit dem Ring im Rachen.
Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen. „Wie schön, dass du da bist. Ehrlich gesagt habe ich mir ziemliche Sorgen gemacht.“ Stolz hielt er Luc vor sich.
„Die sind auch berechtigt, wenn du mich länger hier draußen stehen lässt.“
„Ach so, natürlich.“ Hermann zog ihn ins Haus und warf die Tür ins Schloss.
Anheimelnde Wärme herrschte im Inneren. Luc folgte seinem Freund in einen Salon. Im flackernden Kamin brannten einige Holzscheite. Davor standen ausrangierte Armsessel und ein kniehoher Tisch, dessen Holz an einigen Stellen gesplittert war. Der löchrige Teppich wies Flecken auf und viele lose Fäden hingen heraus. Ein paar Bücher, einige Bilder an den Wänden, Pelze auf einem Sessel sowie bestickte Kissen werteten den kargen Raum kaum auf, der dem Vergleich mit Schloss Chambord nicht im Geringsten standhielt.
„Setz dich und tau in Ruhe auf. Ich bringe deinen Araber in den Stall, hole dein Gepäck und braue uns danach einen Gewürzwein.“
„Du machst das alles selbst? Ist dein Personal wieder krank?“, scherzte Luc.
„Hier gibt es kein Dienstpersonal.“ Hermanns Lächeln verschwand. „Auch keine Reichtümer, wie du unschwer erkennen kannst. Meine Mündel sind stur wie du.“
„Wie? Was heißt Mündel?“
„Das erkläre ich dir später.“ Sein Freund eilte hinaus.
Luc befreite sich von seinem roten Umhang mit dem Pelzfutter, legte ihn über die Lehne des Stuhles neben dem Kamin und setzte sich. Gedankenverloren nahm er das Feuereisen und stocherte in der Glut herum. Funken stoben in die Höhe. Unweigerlich musste er an Henriette denken. Was tat sie gerade? Waren ihre Gedanken ebenfalls bei ihm?
Es hatte gedauert, bis er Paris verlassen konnte. Fast jede Nacht hatte er im Schutz der Dunkelheit vor dem Elternhaus gestanden. Mit der bohrenden Frage in sich, ob er hineingehen und Henriette holen sollte. Wie oft er kurz davor gewesen war, konnte er nicht mehr sagen. Doch schließlich hatte die Vernunft gesiegt. Ihre Liebeserklärung würde er für immer im Herzen bewahren, doch da waren ihre Narben gewesen. Die Verzweiflung. Wie hätte er so egoistisch sein und sie aus dem Leben reißen können, hinein in eine ungewisse Zukunft? Dafür liebte er sie zu sehr und es hatte ihn unmenschliche Kraft gekostet, sie nicht sofort mitzunehmen, denn die Nacht mit ihr war wie ein Traum gewesen. Umso mehr kamen ihm seit seiner Abreise aus Paris immer wieder Bedenken, ob er tatsächlich richtig entschieden hatte. Vielleicht wäre Henriette besser damit umgegangen als angenommen und er hatte womöglich den größten Fehler seines Lebens begangen. Es fühlte sich ohnehin so an.
Hinter ihm öffnete sich die Tür.
„Das ging ja schnell“, sagte Luc und lehnte den Schürhaken an die Wand neben dem Kamin. Da es still blieb, drehte er sich um und sprang im selben Moment auf. Eine junge Frau stand vor ihm und blickte ihn argwöhnisch an. Wie ein scheues Reh, das bei der geringsten Bewegung davonlaufen würde. Ihren Kopf schmückte eine weiße Pelzkappe, ihren Hals ein Cape. Der Barchentmantel glich dem Stoff des Armsessels und im linken klobigen Lederschuh klaffte ein Loch. Das zarte Weiß ihrer großen Zehe schimmerte heraus.
„Wo ist Hermann?“, erkundigte sie sich. „Holt Ihr uns jetzt?“ Sie zitterte plötzlich am ganzen Körper. Luc wollte einen Schritt auf sie zugehen, doch sie wich entsetzt zurück. Dabei blickte sie um sich, als würde sie nach einer Waffe suchen, um sich im Notfall zu verteidigen. Ob die Frau eine von Hermanns Mündel war?
„Hermann hat mir angeboten, die Wintermonate in seinem Haus zu verbringen“, setzte Luc zu einer Erklärung an.
Ein erleichtertes Lächeln erhellte ihr Gesicht. Die rehbraunen Augen blieben trotzdem fluchtbereit. „Ihr seid Luc Daniele I. de Bourbon, Prinz von Conti?“
„Wenn Ihr es so förmlich haben wollt, dann bin ich der wohl.“ Er verbeugte sich, was sie mit einem verlegenen Augenaufschlag quittierte.
„Ah, wie ich sehe, hast du unser Nesthäkchen bereits kennengelernt.“ Hinter Hermann kamen ein Mann mittleren Alters und eine Frau mit einem Tablett herein, auf dem sich fünf dampfende Tassen befanden. „Darf ich vorstellen?“, fragte Hermann mit stolzgeschwellter Brust. „Das sind André und mein Mündel Angelina. Die beiden sind seit drei Jahren verheiratet.“ Offen lächelten sie Luc an. Er fand sie auf Anhieb sympathisch. „Diese Kleine da ist mein zweites Mündel, Cassandra.“ Hermann schob sie vor sich. Die Röte in ihrem Gesicht verstärkte sich. Ein hübscher Name. „Setzen wir uns“, schlug er dann vor. Im Nu kamen alle seiner Aufforderung nach. Auch Angelina, die zuvor die Tassen auf dem Tisch verteilt hatte. Mit dem Tablett in der Hand nahm sie Platz. Luc spürte Cassandras Blick, die ihm gegenüber saß.
„Da du ziemlich erfroren bist, haben wir den Gewürzwein heißer als sonst gemacht.“ Hermann reichte ihm eine Tasse und teilte auch die restlichen aus. „Gut, dass Angelina rechtzeitig kam. Leider konnte sie nicht allzu viel retten, aber meine Zutaten haben es in sich.“ Er lehnte sich zufrieden zurück. So entspannt hatte er Hermann selten gesehen, auch nie so glücklich. Seine Augen leuchteten richtiggehend.
„Nennst du mir die Mischung vorher, falls ich daran sterbe?“, machte Luc einen Witz, allerdings lächelte nur Cassandra
Hermann stellte seine Tasse zurück. „Gewürznelken, Majoran, Muskatnuss, Ingwer, Zimt, ein wenig Pfeffer, Rosenwasser, Orangenblüten und was war da noch gleich?“ Er kratzte sich im Haar. „Ah ja, Kardamon.“
Angelina lachte aus vollem Herzen und warf ihr brünettes Haar zurück. Die fast schwarzen Augen erstrahlten, die vollen Lippen zeigten eine Reihe perfekt sitzender Zähne. „Rosenwasser statt Orangenblüten“, rügte sie ihn, nachdem sie sich beruhigt hatte, „und auch sonst sind die Gewürze variabel. Man muss sie nicht allesamt in einen Topf werfen, wie du es tust. Dafür sind sie viel zu teuer.“
„Da muss ich Angelina recht geben.“ André blies in seine blaue Tasse mit dem zerbrochenen Henkel. Sein blondes Haar war auf der linken Seite länger als auf der rechten. Blaue Äderchen schimmerten an den Wangen und er hatte eine Hasenscharte.
Luc roch an seiner Tasse. Zimtaroma stieg ihm in die Nase. Unweigerlich dachte er an vergangene Weihnachtsfeste. Es war lange her, dass er im Kreis seiner Familie etwas gefeiert hatte und das würde wohl für immer so bleiben. Betrübt kostete er vom Gewürzwein. „Das schmeckt gut“, stellte er dann fest. „Allerdings ist er tatsächlich stark gewürzt.“
„Siehst du“, triumphierte Angelina. „Weniger ist manchmal mehr.“
„Komisch“, meinte Luc, „sonst lebst du ja auch nach dieser Devise.“ Er blickte zu André. „Ihr solltet mal sein Schlösschen sehen.“
André grinste. „Gut, dass Ihr gekommen seid. Nun bin ich wenigstens nicht mehr der Einzige, der Hermann in die Schranken weist. Meine Mädchen reißen sich ja förmlich ein Bein aus, um ihm alles recht zu machen. Noch dazu sehen sie ihm alles nach.“
„So schlimm bin ich auch wieder nicht“, verteidigte sich Hermann lachend.
Luc entspannte sich allmählich und blickte abwesend zu Cassandra. Himmel, sie trug ja noch immer ihre Wintermontur! Die Frau würde bald Feuer fangen, da der Kamin geballte Hitze abgab. Doch auf ihrer glatten Stirn zeigte sich kein Glanz.
„Sie mag Wärme“, erklärte Angelina, die scheinbar seinem Blick gefolgt war. Cassandra senkte den Kopf und Luc fragte sich, was sich unter der Haube und dem Mantel befand.
„Wie war deine Reise, mein Junge?“ Hermann stützte sich mit den Ellenbogen auf die Stuhllehnen auf. Dabei hielt er die Tasse in beiden Händen.
„Anstrengend.“
„Konntest du in Paris alles erledigen?“ Sofort durchschaute er Hermanns Doppeldeutigkeit.
„Ich denke ja.“ Von Anfang an hatte er geahnt, dass Hermann ihn nicht wegen des Auftrages dorthin schickte, den jeder hätte ausführen können. Vielmehr wollte er ihm vermutlich die Chance geben, mit sich selbst ins Reine zu kommen. „Strasbourg ist übrigens eine faszinierende Stadt“, schlug Luc einen weiten Bogen und streckte die Füße aus, um sich irgendwie zu betätigen. „Nur dieses Viertel ist gewöhnungsbedürftig.“ Kaum ausgesprochen, hätte er die Worte am liebsten wieder zurückgenommen. Das war gedankenlos gewesen!
„Wir würden sofort umziehen, wenn wir könnten. Aber hier arbeiten und leben wir.“ André machte nicht den Anschein, als dass er beleidigt wäre. „Ich bin übrigens Löher in einer Gerberei, zwei Gassen weiter.“ Stolz schwang in seinen Worten mit, obwohl diese Arbeit einen ziemlich schlechten Ruf hatte, da sie als anrüchig galt. Aber jede Arbeit musste von irgendjemand gemacht werden. „Voriges Jahr litt ich an Milzbrand und habe überlebt. Seitdem übertrug man mir eine anspruchsvollere Arbeit. Ich bekomme sogar mehr Lohn.“ Luc nickte anerkennend.
„Diese Krankheit überstehen die wenigsten.“ Angelina warf ihrem Mann einen bewundernden Blick zu. „Aber diejenigen, die es tun, werden besser behandelt und sogar wie Helden bewundert.“ André lächelte. Er schien ein ambitionierter Mann zu sein.
„Seid Ihr hier in Strasbourg geboren und aufgewachsen?“ Luc spürte die Wärme des Feuers an seiner rechten Wange und lehnte sich zurück. Dabei fragte er sich, wieso ihm Hermann bisher die Existenz der drei verschwiegen hatte.
„Ja“, kam es zögernd von Angelina.
„Und? Wie lebt es sich hier?“
„Es gibt einflussreiche Familien, die viele hohe Ämter bekleiden“, gab Hermann Auskunft. „Die Müllenheims und Zorns. Sie geben den Ton an und setzten sogar durch, dass es im Rathaus zwei eigene Eingänge für jede Familie gibt. Auch am Ufer der Ill findet sich ein Quai Müllenheim und ein Quai Zorn. Klingt alles ziemlich erlesen, doch im Grunde sind die Familien grober als jeder Bauer. Nicht selten prügeln sie sich auf offener Straße.“
Was das mit seiner Frage zu tun hatte, war Luc schleierhaft. „Strasbourg scheint ein gefährliches Pflaster zu sein“, äußerte er sich, um irgendetwas zu sagen. Als er seine Tasse auf den Tisch stellte, fing er Cassandras Blick auf. Ihre Augen funkelten angriffslustig.
„Ihr wollt wissen, wie es sich hier lebt? Die Juden werden verfolgt“, stieß sie unvermittelt aus, „während sich andere hier breitmachen und glauben, sie könnten über alles und jeden bestimmen.“ Ihre Stimme war energischer als sie aussah. Aber das Thema schien sie aufzuwühlen. „Wie Verbrecher werden Juden zur Schau gestellt, verbrannt oder aus der Stadt gejagt.“
„Warum trifft Euch das so?“
Sie schaute Luc an, als würde sie ihm gleich ins Gesicht springen. „Weil ich diese Ungerechtigkeit nicht verstehen kann, die wir hier Tag für Tag erleben. Den Juden droht sogar die Todesstrafe, wenn sie sich nach zehn Uhr abends noch innerhalb der Stadtmauern aufhalten. Ist das zu fassen?“ Der Gewürzwein schwappte über ihre Finger.
„Menschen können grausam sein.“ Natürlich waren ihm Judenverfolgungen nicht fremd, doch bislang hatte er sich nicht ernsthaft damit auseinandergesetzt, obwohl er jegliche Form von Diskriminierung verurteilte. Sich so leidenschaftlich für dieses Volk einzusetzen wie Hermanns Schützling es tat, wäre ihm jedoch nie in den Sinn gekommen.
„Wie ist Eure Meinung zu Juden?“ Cassandras Hände umspannten die Tasse. Ihre Fingerknöchel traten weiß hervor. Gleich würde die Tasse in tausend Teile springen.
„Luc ist einer von den Guten“, stellte sich Hermann schützend vor ihn und trank die Tasse aus. Mit Nachdruck stellte er sie anschließend auf den Tisch. „Ich hätte ihn nie eingeladen, wenn er intolerant wäre wie viele andere. Außerdem vertraue ich ihm blind.“
„Hermann“, Luc hatte auf einmal ein eigentümliches Gefühl. „Weshalb bin ich wirklich hier?“ Vier Augenpaare fixierten ihn, bis Hermann etwas aus seiner Hosentasche zog und auf den Tisch warf. Einen Davidstern …
„Du erwägst eine Engelmacherin, aber unseren Plan findest du haarsträubend?“ Jeanne plumpste in den Stuhl hinter dem Sekretär. In aller Herrgottsfrühe war sie in Henriettes Appartement gerauscht.
„Ich glaube kaum, dass es auch Pierres Plan ist und es widerstrebt mir, ihn in die Sache hineinzuziehen“, wehrte sich Henriette dagegen. „Von Philippe ganz abgesehen.“
Jeanne zog einen Schmollmund. „Dein Einwand wegen Pierre ist nachvollziehbar, aber er will uns helfen. Das ist die Hauptsache. Dass du wegen Philippe Bedenken hast, kann ich jedoch nicht verstehen. Ich dachte, dir liegt nichts an ihm?“
„So ist es auch, trotzdem. Das tut man niemandem an. Selbst ihm nicht.“ Henriette zog den Gürtel ihres blauen Seidenmorgenmantels enger. Schon wieder war ihr flau im Magen.
„Ich sage es ungern, doch wenn du das Kind behalten willst, gibt es keine andere Möglichkeit. Zumindest fällt mir keine ein.“
„Aber es wäre ein ewiges Versteckspiel.“
„Du tust es ja für dein Kind. Das sollte den Aufwand wert sein.“
„Das ist nicht fair, Jeanne, und damit drängst du mich in eine Ecke.“ Nachdem sie den Entschluss gefasst hatte, das Kind in jedem Fall zu behalten, musste sie sich nun mit Jeannes verrücktem Plan auseinandersetzen. Aber war er tatsächlich so verrückt? Oder Philippe es wert, Rücksicht auf ihn zu nehmen? Immerhin hatte sie ihre Begegnung auf Schloss Ussé noch deutlich vor Augen. Seine kalten Worte nach Dianas Tod. Nicht zu vergessen, wie er sich beim Abendessen seinem Vater gegenüber verhalten hatte. Wenn sie schon diese Ehe eingehen musste, dann durfte sie auch einiges vom Schicksal einfordern. Oder etwa nicht? „Na gut. Wie sieht dein Plan konkret aus?“
„Endlich nimmst du Vernunft an. Also, wenn Philippe …“ Über Henriette ergoss sich ein Redeschwall, dem sie kaum folgen konnte. Danach saß sie den ganzen Vormittag über wie auf Nadeln. Beim Mittagessen suchte sie öfter Pierres Blick, der einsilbig neben Jeanne saß und kein einziges Mal in ihre Richtung schaute. So viel dazu, dass er helfen wollte. Wer wusste, womit Jeanne ihn dazu genötigt hatte!
Bei der gemeinsamen Besichtigung der Galerie am Nachmittag verhielt sich Pierre keinen Deut besser. Erst als Maria beinahe einige Tassen vom Sims fegte, kam Leben in ihn. Er wollte der Kleinen behilflich sein, allerdings kam Philippe ihm zuvor. Freundlich wies er Maria darauf hin, etwas vorsichtiger zu sein. Dann nahm er sie an der Hand und zeigte ihr alles. Manchmal kicherte Maria und sogar bei Philippe deutete sich etwas Ähnliches wie ein Lachen an. Die beiden schienen sich königlich zu amüsieren, was man vom Rest nicht behaupten konnte. Die Großtante versprühte ihr übliches Gift, was heute besonders Charlotte abbekam. Der Duc trottete den Streithähnen hinterher. Kein Wunder, dass auch er ein verdrossenes Gesicht machte. Louis war schon am frühen Morgen abgereist. Angeblich wegen dringender Geschäfte. Ob gelogen oder nicht, es war Henriette egal.
Nun genossen sie ein vorzügliches Abendessen, bei dem sogar sie zulangte und das zarte Wachtelfleisch sowie den Reis förmlich verschlang. Allerdings mied sie die süße Buttersauce. Seltsam, dass sie plötzlich Dinge nicht mehr mochte, von denen sie vorher nie genug bekommen konnte. Sogar die Vanillecreme lehnte sie ab, die zum Dessert gereicht wurde.
„Wie wäre es mit einem Kartenspiel?“, fragte Jeanne in die Runde, nachdem fast alle ihr Besteck abgelegt hatten.
„Gern“, hielt sich Henriette möglichst kurz, während sie versuchte, ihrer Aufregung Herr zu werden. Was, wenn etwas schief ging? Oder wenn sich jemand verplapperte?
„Leistet Ihr uns Gesellschaft, Pierre und Philippe?“, lud Jeanne die Männer ein, bevor sich jemand Unerwünschtes anbot. Charles machte ein enttäuschtes Gesicht.
Philippe schaute verwirrt von seinem Teller hoch. „Ich?“
„Natürlich Ihr, oder nennt sich sonst noch jemand Philippe?“ Jeanne lächelte ihn freundlich an.
„Seid Ihr etwa auch damit einverstanden, dass ich mitspiele?“ Seine blaufunkelnden Augen richteten sich spöttisch auf Henriette. Vanillesauce tropfte von seinem Löffel, den er über den Teller hielt.
„Ich würde mich freuen“, bekräftigte sie.
„Seltsam“, erwiderte er von oben herab. „Bisher hatte ich eher den Eindruck, als würdet Ihr es mit mir gemeinsam in keinem Raum aushalten.“
„Wir sitzen doch gerade an einem Tisch. Wie kommt Ihr darauf?“ Dass sie ziemlich angriffslustig klang, ärgerte sie selbst. Sie war drauf und dran den Plan zu gefährden. Aber dieser Mann forderte sie regelrecht heraus.
„Na dann“, er verengte die Augen, „steht einem Kartenabend wohl nichts im Wege.“
„Wir ziehen uns ins Musikzimmer zurück, mein Sohn“, bestimmte Françoise, als wäre sie die Gastgeberin. Seitdem sie hier war, tat sie ohnehin ständig dergleichen. Der arme Duc.
„Ich muss in mein Arbeitszimmer und Liegengebliebenes aufarbeiten“, lehnte dieser prompt ab. Schweiß stand auf seiner Stirn.
„Jetzt? Du lieber Himmel, Junge, ich bin nicht ständig zu Besuch.“ Gott sei Dank! „Deswegen erwarte ich, dass du dir Zeit für mich nimmst.“ Die Großtante nahm einen Zahnstocher aus der kleinen Silberdose, hielt sich die Hand vor den Mund und stocherte darin herum.
„Ich kann nicht mein ganzes Leben umkrempeln, bloß weil du da bist.“ Der Duc zog an seinem Bartflaum.
„Bloß?“, regte sie sich auf. „Das Leben kann schneller vorbei sein als einem lieb ist. Schau dir deine Tante Lotti an. Wer weiß, wie lange sie noch hat?“ Ehrliche Anteilnahme klang anders und Henriette ahnte, dass die Großtante sie anschaute, doch sie blickte demonstrativ aus dem Fenster. Nach wie vor konnte sie nicht ohne Zorn an ihre Großmutter denken.
„Ist die italienische Luft tatsächlich gut für unsere Lungen, Monsieur Langlois?“, erkundigte sich der Duc.
„Wie meinen?“ Zerstreut blickte Pierre von einem zum anderen, als wüsste er nicht, wer die Frage gestellt hatte. Henriette sank tiefer in die weiche Goldbrokatunterlage des Stuhles.
Der Duc lächelte nachsichtig. „Vergesst es.“
„Auf eine dumme Frage gibt es eben keine Antwort“, mokierte sich Françoise.
„In dem Fall dürfte ich gar nicht mehr mit dir sprechen, Mutter.“ Lachend erhob sich der Duc und zwinkerte Henriette zu. „Oder wie Vater zu sagen pflegte: Madame Lucifer.“
„Wage es nicht noch einmal!“ Die Großtante schickte ihm einen bösen Blick hinterher, während er hinausging. „Außerdem sitzen andere hier am Tisch, die eher in die Hölle gehören würden.“ Als sie Henriette in Augenschein nahm, lief es ihr eiskalt über den Rücken. Wenn diese Frau wüsste, dass sie nunmehr sogar ein Kind von Luc erwartete! Philippe eingeschlossen, in dessen Kopf sie jetzt gerne geschaut hätte. Über wie viel war auch er im Bilde?
„Na, dann wollen wir mal.“ Jeanne legte die Serviette neben den Teller und erhob sich.
„Ich schlage vor, dass wir im Blauen Salon spielen.“ Philippe lächelte Maria an. „Und morgen machen wir zwei etwas Schönes. Vielleicht ein Versteckspiel oder ähnliches. Platz genug haben wir ja.“
Was war denn mit dem passiert?
Erfreut applaudierte die Kleine. „Au fein“, rief sie aus.
Charlottes buttriger Mund glänzte. „Reiß dich zusammen, du Gör.“ Das Haar hing stumpf an ihr herunter, die Hochfrisur löste sich langsam, aber sicher auf. Sie schwitzte erheblich und nach einigen Schritten keuchte sie sich stets die Lungen aus dem Leib. Italien wäre auch für sie eine gute Option gewesen.
Philippe schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Pierre ebenso.
„Ich werde zu Bett gehen“, ließ Henriettes Mutter verlauten. „Macht euch einen schönen Abend.“ Wie zuversichtlich sie aussah, bevor sie das Esszimmer verließ. Vermutlich hoffte sie, dass dies der Auftakt einer wunderbaren Romanze war. Ahnungslos darüber, dass sie bald Großmutter werden würde.
„Kommst du?“ Jeanne winkte Henriette zu sich und war bereits halb aus der Tür. Charles, die Großtante, Charlotte und Maria blieben zurück, als Henriette ihr folgte.
„Spielen wir Poque?“, erkundigte sich Philippe, während er ihnen die Tür zum Blauen Salon aufhielt. Das Dienstmädchen entfachte die Kerzen auf dem Kronleuchter, stellte einige Laternen auf und kümmerte sich um den Kamin.
„Ein schöner Raum.“ Jeanne blickte sich bewundernd um. Der Blaue Salon hatte es auch Henriette angetan. Vielleicht, weil er sie an Versailles erinnerte. An unbeschwerte Zeiten aus Kindertagen, sofern sie die vielen Regeln beiseiteließ.
Jeanne, Henriette und Philippe setzten sich auf die blaubemalten Stühle mit Goldeinsätzen. Der ovale Tisch war aus Walnuss. Eine Tischdecke mit Rosenborten und Silberfäden lag darauf. Eine Chaiselongue stand neben dem monströsen Kamin, der mit einer aufwendigen Malerei verziert war und vor den Fenstern hingen nachtblaue Brokatvorhänge.
Philippe öffnete die Schublade des Edelholzschrankes, der zwischen den zwei hohen Rundbogenfenstern stand, hinter denen die dunkle Nacht lag. „Wo habe ich sie denn?“ Nach kurzem Suchen zog er ein Bündel Spielkarten heraus. Dann setzte er sich zu ihnen. Im Kamin loderte ein gemütliches Feuer.
„Was für schöne Karten“, entzückte sich Jeanne, zog den Stapel zu sich und fuhr ehrfürchtig darüber. „Sie sind aus Elfenbein. Das habe ich noch nie gesehen.“
„Früher gab es nur welche aus Elfenbein.“ Philippe nahm die Karten an sich und mischte sie. „Heutzutage sind sie eine Rarität.“
„Diese sehen aber ziemlich neu aus.“ Auch Pierre schien sich dafür zu interessieren.
„Weil ich sie eigens in Auftrag gab. Im Schrank habe ich jedoch einige uralte Kostbarkeiten. Meine Mutter spielte leidenschaftlich gern und sammelte die Karten. Sie gehören zu den wenigen Dingen, die mir von ihr geblieben sind.“ Der traurige Zug um seinen Mund hatte etwas Rührendes.
Rührend? Du lieber Gott, vernebelte eine Schwangerschaft auch die Sinne? Philippe verstellte sich doch nur. Wehe, sobald ihm wieder etwas gegen den Strich ging!
Hektisch blickte Henriette auf die Wanduhr. Es war erst acht. Bis alle im Bett waren, mussten sie durchhalten. Sie hatte schon jetzt Mühe wach zu bleiben. Doch während des Spiels schien die Trägheit wie weggeblasen. Eigentlich hatten sie vereinbart, Philippe gewinnen zu lassen, um ihn einige Stunden bei Laune zu halten. Aber das war unnötig. Er spielte gekonnt und strategisch, was den Kampfgeist aller anderen weckte. Leider verloren sie ein Spiel nach dem anderen und Münze um Münze wanderte in seine Hände. Sie nahmen sich kaum Zeit, den Chablis zu trinken, den Philippe zwischendurch beim Dienstmädchen geordert hatte.
„Ihr beobachtet ständig unsere Augen und Hände“, stellte Jeanne um Viertel vor elf fest.
„Das ist wichtig.“ Neben Philippe lag ein ansehnlicher Haufen Goldmünzen. „Man lernt jede Menge, wenn man Menschen genau beobachtet.“ Er warf Henriette einen kurzen Seitenblick zu. enHHh<YSDDD „Bei einem Spiel verrät der Körper, wie gut oder schlecht die Karten der Gegner sind. Selbst ein Wortwechsel informiert mich darüber und ich unterstelle Euch hiermit, dass Ihr mich von Eurem schlechten Blatt ablenken wollt.“
Lachend warf Jeanne die Karten auf den Tisch. „Erraten.“
„Mir ist plötzlich etwas kalt.“ Henriette betastete ihren Hals. Sie musste etwas tun, um die Sache voranzutreiben, weil die Spannung inzwischen unerträglich war. „Oh, ich habe mein Chiffontuch im Esszimmer vergessen. Könntet Ihr es mir holen, Philippe?“ Sie war eine miserable Schauspielerin.
„Das ist nicht Euer Ernst.“ Er deutete zum Kamin. Das Dienstmädchen hatte das Feuer ständig geschürt. Auch jetzt brannte es lichterloh. Geballte Hitze stand förmlich im Raum. „Ich wollte gerade vorschlagen, ob wir ein Fenster öffnen. Mir ist fürchterlich heiß.“
„Eure Zukünftige ist eben anders“, sagte Jeanne und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. „Seid ein Gentleman und tut ihr den Gefallen.“
„Na gut, weil Ihr es seid.“ Wie schmeichelhaft!
Jeanne schnippte mit den Fingern vor Pierres Gesicht, als Philippe den Raum verlassen hatte. Doch ihr Leibarzt reagierte erst, als ihn ihre Faust am Oberarm traf.
„Was soll das?“ Vorwurfsvoll schaute er zu Jeanne, die auf Philippes Weinglas deutete.
„Es ist soweit. Tu, was du tun musst.“
„Ehrlich gesagt tut er mir leid“, murmelte Pierre, nestelte in der Innentasche seiner Weste und holte ein zusammengefaltetes Papierstück heraus. Hastig zog er es auseinander und kippte das weiße Pulver in Philippes Weinglas. Dann rührte er mit dem Finger um, zerknüllte das Papier und steckte es in seine Hosentasche. Henriette hatte die ganze Zeit über ängstlich zur Tür geschaut.
„Hoffentlich hat er sich nicht auf ein Sofa gelegt und schläft.“ Jeanne nippte an ihrem Wein.
„Ob die anderen schon zu Bett gegangen sind?“ Henriette spielte mit einer ihrer Haarsträhnen.
„Der Stille nach zu urteilen, ja“, bemerkte Jeanne und stellte das Glas zurück.
„Hätten wir es doch endlich hinter uns!“
„Was hinter uns, Henriette?“, forschte Philippe nach, der mit ihrem Chiffontuch und einer neuen Flasche Rotwein in der Hand hereinkam.
„Den Besuch Eurer Großmutter“, reagierte Jeanne geistesgegenwärtig. „Verzeiht meine offenen Worte, aber Françoise ist kein einfacher Mensch.“
„Ich bin auch froh, wenn sie wieder fort ist. Allerdings hängt mein Vater sehr an ihr.“ Philippes Gesicht verdunkelte sich. Hastig reichte er Henriette das Tuch und stellte die Flasche auf den Tisch. „Eigentlich habe ich genug für heute.“
Jeanne warf Henriette einen auffordernden Blick zu, in der sich alles sträubte, doch nun musste sie in den sauren Apfel beißen. Zögernd zog sie ein Taschentuch aus ihrem Dekolleté und hielt es sich an die Wange. Dabei versuchte sie Philippe verführerisch anzulächeln, wie es ihr Jeanne am Morgen beigebracht hatte. Vermutlich sah sie aus, als würde sie auf dem Leibstuhl sitzen. Zumindest wirkte Philippes erstarrter Blick danach. Doch die Geste zählte und laut Jeanne diente sie dazu, dass sich Philippe am nächsten Tag daran erinnern würde, dass sie ihm Avancen gemacht hatte.
Mit misstrauischem Blick sank ihr Zukünftiger auf seinen Sessel.
„Ich würde mich freuen, wenn wir ein weiteres Spiel wagen“, sagte Henriette. „Und da die Nacht jung ist, kann noch viel geschehen.“ Himmel, das war doch nicht sie! Aber zum Teufel, er war es auch nicht. Da konnte Philippe noch so gut ein Schaf spielen. Ein Wolf blieb ein Wolf.
Jeanne nickte ihr zuversichtlich zu. Philippe trank sein Glas in einem Zug leer. Dann spielten sie weiter, doch es dauerte keine fünf Minuten, bis er zu gähnen anfing. Ehe sie sich’s versahen, kippte er nach vorne. Jeanne stemmte die Hand gegen seine Brust, womit sie gerade noch verhindern konnte, dass er mit dem Kopf auf den Tisch prallte.
Sofort war Pierre bei Philippe, zog ihn vom Stuhl hoch und schulterte ihn. Eilends haschte Henriette nach der Laterne. Jeanne lief hinaus und kam kurz danach zurück.
„Die Luft ist rein“, wisperte sie.
Schnell hasteten sie in den oberen Stock. Henriette atmete auf, als sie Philippes Appartement betraten und die Flügeltüren hinter sich schlossen. Jeanne hatte sich im Vorfeld beim Personal erkundigt, wo seine Gemächer waren.
In Philippes Vorzimmer herrschte ein fürchterliches Chaos. Kreuz und quer lagen Schuhe herum. Mit einigen musste er regelrecht im Morast gewandert sein, so verschmutzt waren sie. Auch das Kabinett sah nicht viel besser aus. Zwar war seine Uniform fein säuberlich über ein Gestell gezogen, doch der Schreibtisch war übersät mit Papieren. Daneben standen einige leere Flaschen Wein auf dem Boden. Sie eilten zum Schlafzimmer weiter. Das Bett war zerwühlt, als hätte er es gerade verlassen. Ächzend ließ Pierre Philippe auf die braune Decke mit dem eingenähten Familienwappen plumpsen. Er schmatzte, dann drehte er sich zur Seite und begann zu schnarchen. Henriette stellte die Laterne auf den Nachttisch. Danach entkleideten sie ihn, doch als sie zu seiner Leibwäsche kamen, wandten sich Jeanne und Henriette ab.
„Ihn nackt zu sehen ist das geringere Übel als das, was ihr sonst noch mit ihm vorhabt“, beschwerte sich Pierre halblaut. In Henriette regte sich das schlechte Gewissen, doch sie verdrängte es sofort. Jetzt war es ohnehin zu spät.
„Eigentlich ist Philippe gar nicht übel.“ Jeanne ordnete die Falten ihres blauweiß-gestreiften Kleides. „Ich fand den Abend sehr amüsant. Sicher, er ist kein Schönling, doch ich finde, er hat etwas. Charisma? Ausstrahlung?“ Sie fuhr sich mit einer müden Geste über die Augen. „Außerdem war er zuvorkommend und nett, sogar etwas humorvoll.“
„Möchtest du ihn heiraten?“, fauchte Henriette. „Nur zu.“
„Ich sage ja nur …“
„Ich bin fertig“, vernahmen sie Pierre, „lass uns gehen, Jeanne.“
Sie drehten sich zu Pierre um, der Philippe bis zum Kinn zugedeckt hatte. Henriette bekam plötzlich kalte Füße so nahe vor dem Ziel. Noch dazu musste sie ab jetzt alleine durch. Jeanne und Pierre hatten genug getan.
„Nur noch eine winzige Kleinigkeit.“ Jeanne schlug die Decke etwas zurück und zog plötzlich ein Messer aus ihrer Kleidertasche, mit dem sie sich in den kleinen Finger ritzte. Einige Blutstropfen landeten auf dem weißen Laken. „Du bist ja noch Jungfrau“, merkte sie an. „Also, schlaf schön.“ Jeanne küsste sie flüchtig auf die Wange und verließ mit Pierre das Zimmer, der nur ein kurzes Nicken für Henriette übrig hatte. Immerhin etwas, obwohl sie sich nicht beschweren durfte. Pierre hatte Größe bewiesen.
Unsicher blickte sich Henriette um. Schwere Goldbrokat-Vorhänge waren an den massiven Bettpfosten festgebunden. Das Portrait einer unbekannten Frau hing an der Wand hinter dem Sekretär. Das war alles an Dekoration. Der Raum wirkte einsam.
Es war seltsam, sich vor einem fremden Mann auszuziehen, auch wenn Philippe tief und fest schlief. Trotzdem beeilte sie sich, um nicht länger als nötig nackt vor ihm herumlaufen zu müssen und verteilte seine wie ihre Kleidung auf dem Boden. So, als wären sie übereinander hergefallen. Dann legte sie sich neben ihn ins Bett, wickelte sich in die Decke ein und starrte nach oben.
Was, wenn der ganze Aufwand umsonst war und sie doch nicht schwanger war? Hatte sie zu übereilt reagiert? Wäre es nicht besser gewesen, abzuwarten? Andererseits war Vorsicht besser als Nachsicht und im Grunde hatte sie nach wie vor keine Zweifel. Doch in der Stille dieses Raumes mit einem völlig Fremden neben sich kamen allerhand Bedenken.
Ein lauter Donner ließ Henriette hochfahren.
Überrascht stellte sie fest, dass es bereits dämmerte. War sie tatsächlich eingeschlafen?
Auf einmal spürte sie eine abrupte Bewegung neben sich und wandte sich Philippe zu. Obwohl sie auf seinen Anblick vorbereitet war, fühlte sie sich wie erstarrt. Philippes ungläubiger Blick sprach ihr aus der Seele. Fest presste sie die Decke an ihren nackten Körper.
Er runzelte die Stirn. „Was tut Ihr in meinem Bett?“
Beschämt schlug sie die Augen nieder und das war nicht einmal gespielt. „Ihr erinnert Euch an nichts?“
„Woran soll ich mich erinnern?“ Er klang nahe einem Nervenzusammenbruch.
„Wir haben miteinander geschlafen.“
Ungläubig deutete Philippe zuerst auf sie, dann auf sich. „Wir haben die Nacht miteinander verbracht?“ Sein Blick fiel auf die verstreute Kleidung.
„Ich sandte Euch ein Zeichen beim Kartenspiel.“
Er setzte sich auf. Die Decke glitt herunter und bauschte sich über seine Hüften. Geistesabwesend fuhr er sich über den behaarten Oberkörper, der muskulöser war als es angezogen den Anschein machte. „Ich entsinne mich dunkel. Doch was danach geschehen sein soll …“ Sein forscher Blick fixierte sie. Er ahnt etwas! „Ich will Euch nichts vormachen, aber ich erinnere mich an rein gar nichts.“
„Ihr habt ziemlich viel getrunken. Vielleicht deshalb.“ Grundgütiger! Jede Frau wäre zutiefst verletzt, wenn sich der Mann nicht einen Funken an sie erinnern könnte! Sie hingegen reagierte verständnisvoll wie eine beste Freundin.
„Helft Ihr mir gerade dabei, eine plausible Ausrede zu finden?“ Da hatte sie es! „Eigentlich müsstet Ihr wütend sein. Welche Frau hört schon gerne, dass sich eine Nacht mit ihr nicht in das Gedächtnis eines Mannes gebrannt hat?“ Er schob das Kissen hoch, lehnte sich dagegen und schaute grüblerisch zum Portrait. Plötzlich erhellte sich der Raum.
„Ein Wintergewitter“, stellte Henriette fest, weil das Schweigen an ihren Nerven zerrte. Kurz darauf grollte es. „Wer ist die Frau auf dem Gemälde?“
„Meine Mutter, die ich vermisse, seit ich denken kann. Obwohl ich sie nicht gekannt habe. Weder sie noch meine Schwester, und mein Vater hat sich nur um sich selbst gekümmert. Trost im Glauben gesucht und mich ständig ignoriert.“ Er klang gekränkt wie es Luc stets tat, sobald es um den Vater ging. Immerhin schien das Herz dieses Mannes nicht ganz und gar versteinert, was auch seine Freundlichkeit zu Maria zeigte. Trotzdem, das konnte reine Taktik sein. „Dabei war ich erst ein Jahr alt, als Mutter gestorben ist. Meine Erzieherinnen wechselten ständig, obwohl ich mich an jede förmlich geklammert habe. Egal, wie streng sie war. Es gibt einige in diesem Haus, die mir nichts gönnen und mich brechen wollten. Zum Teil haben sie es geschafft.“ Ein reuiges Lächeln umspielte seine trockenen Lippen. „Ich habe mich auf Schloss Ussé wie ein Vollidiot aufgeführt. Es tut mir leid. Auch die Sache mit dem Familiengeheimnis. Ich wollte Euch provozieren und habe es einfach so daher gesagt.“
„Das habe ich längst vergessen“, behauptete Henriette und atmete innerlich auf. Wenigstens schien der Kreis der Eingeweihten überschaubar zu sein. „Wie vieles andere auch. Wir hatten einen denkbar schlechten Beginn.“
„Ihr überrascht mich seit gestern Abend immer wieder.“ Erneut wurden seine Augen zu schmalen Schlitzen. „Nun, wie auch immer. Wir sollten das Beste aus dieser Situation machen, die für mich im Übrigen auch nicht einfach ist.“
„Wegen Anne?“ Es war ausgesprochen, bevor sie darüber nachdenken konnte.
„Woher wisst Ihr von ihr? Von meinem Vater?“ Seine Züge verhärteten sich.
„Sie selbst sagte es mir“, antwortete Henriette zögernd. „Habt Ihr sie geliebt?“ Sollte sie nicht besser den Mund halten? Er wirkte ohnehin nicht, als würde er gerne darüber reden.
In seine Augen stahl sich Melancholie. „Ja, ich liebte sie und tue es noch immer. Warum soll ich Euch etwas vormachen? Wir beide heiraten ohnehin aus keinem anderen Grund, als dass es der Wunsch unserer Familien ist. Und bevor Ihr es von jemand anderen hört: Ich habe beim König um Annes Hand angehalten, aber unsere Pläne wurden vereitelt.“
„Von wem?“
„Ist das nicht egal?“ Er schaute ihr prüfend ins Gesicht. „Und Ihr? Gibt es einen Mann in Eurem Leben, der Euch nahesteht?“
„Nein.“ Sie unterdrückte das Bedürfnis, sich die Hand auf den Bauch zu legen.
Eine Weile schwiegen sie.
„Ist Eure Meinung über mich noch immer schlecht?“, fragte er und spielte mit den Falten der Decke. „Vor allem jetzt, da wir miteinander …“ Er ließ das Ende offen.
„Ich kann Euch nicht einschätzen.“ Würde er sein wahres Gesicht zeigen, wenn sie ihn beleidigte? „Wisst Ihr eigentlich, dass ich Euch für den Oger hielt, bevor wir uns kennenlernten?“ Eine blöde Idee. Vermutlich konnte er mit der Märchenfigur ohnehin nichts anfangen.
Philippe verzog amüsiert die Lippen, statt dass er empört war. Wie viele Gesichter hatte er denn noch? „Den Oger?“, hakte er nach. „Der Unhold aus dem kleinen Däumling?“
„Ihr kennt die Erzählung?“ Jetzt war sie wirklich verblüfft.
„Ich habe viele Märchenbücher verschlungen. Besonders die von Perrault.“
„Tatsächlich? Ich auch … ich meine, ich hatte einige Bücher von ihm. Leider wurden sie Opfer eines Brandes.“
„Dann bedient Euch in meiner Bibliothek.“
„Danke, aber ich glaube nicht mehr an Märchen.“
„Und ich nicht an Wunder“, offenbarte er und wirkte wieder distanziert. „Ich kenne meinen Ruf und habe einen Spiegel. Euer Vergleich mit dem Oger ist nicht aus der Luft gegriffen. Insofern ist es etwas sonderbar, dass Ihr mich begehrt.“
„Anne hat es auch getan“, flüchtete sie sich in eine nachvollziehbare Erklärung.
„Das stimmt. Allerdings bin ich Anne nie so nahe gekommen.“
„Nun, ich bin ja auch nicht nach Eurem Geschmack und könnte mich ebenso wundern, dass Ihr auf meine Avancen eingegangen seid.“
Wieder donnerte es. „Auch Ihr habt einen Spiegel und ich Augen im Kopf. In Wahrheit seid Ihr eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen habe. Aber wie dem auch sei, ich bin ein Ehrenmann und werde Euch jetzt erst recht in einigen Tagen heiraten.“
„Ihr klingt, als hättet Ihr es ansonsten nicht vorgehabt.“ Langsam dämmerte es ihr. „Habt Ihr gehofft, dass sich die Sache mit Anne doch zu Euren Gunsten ändert?“
Er machte Anstalten aus dem Bett zu steigen und schlug die Decke ein wenig zurück. Als sein Blick auf die Blutstropfen fiel, suchte er Henriettes Blick. „Wie ich vorhin sagte: Ich glaube nicht an Wunder.“
Luc erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Die halbe Nacht hatte er sich in seinem Bett hin und her gewälzt. Viele Gedanken waren durch seinen Kopf gewirbelt, jeder einzelne hatte Henriette gegolten. Da war eine Sehnsucht in ihm, die ihm manchmal die Luft zum Atmen raubte. Das würde Hermann nicht gefallen, der sicher glaubte, dass er seine Liebe zu Henriette überwunden hatte. Umso weniger verspürte Luc deswegen den Wunsch, mit ihm darüber zu reden. Es war besser, seinen Freund im guten Glauben zu lassen. Wer wusste, was ihm als Nächstes einfallen würde?
Verstimmt stieg Luc aus dem Bett. Im Zimmer herrschte Eiseskälte. Die Fenster waren innen mit Eis überzogen, auf dem Sims befanden sich Schimmelflecke. Hastig griff er zum steifen blauen Morgenmantel mit dem Pelzeinsatz am Revers, den Hermann ihm geliehen hatte, zog ihn über und zündete die Laterne auf der Fensterbank an. Während er sich mit dem beißend kalten Wasser wusch, dachte er an die vergangenen Tage. Nachdem Hermann ihm den Stern gezeigt hatte, war André zornig geworden und hatte seinen Freund um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten. Danach ignorierten sie Lucs bohrende Fragen, was es mit dem Davidstern auf sich hatte und versteckten sich hinter Geschäftigkeit. Misstrauten sie ihm etwa? Sogar Hermann, der zuvor etwas anderes behauptet hatte?
Cassandra tat es bestimmt, die ihm bisher nur dick eingemummt begegnet war. Kaum zuhause, machte sie sich eine Kleinigkeit zu essen und ging sofort ins Bett. André und Angelina kamen meistens, wenn auch Luc bereits im Bett lag. Hermann war nicht viel besser und wollte in seinem Arbeitszimmer nicht gestört werden. Mittlerweile kam er sich wie ein Möbelstück vor, das in der Gegend herumstand. Zu offensichtlich, um es zu übersehen, aber zu unwichtig, um sich damit zu befassen. Wofür zum Teufel hatte Hermann ihm den Davidstern gezeigt, wenn er ihn dann so abkanzelte? Obwohl die Erklärung ja eigentlich auf der Hand lag, doch die wollte Luc ganz und gar nicht gefallen.
Seufzend trocknete er sich das Gesicht mit dem Tuch – das er anschließend neben die Waschschüssel legte – und blickte aus dem Fenster. Am Horizont zeigte sich ein zarter heller Streifen, es schneite ohne Unterlass. Im Haus war es still. Vermutlich hatten es Hermanns Mündel wie immer zeitig verlassen und sein Freund schlief ohnehin jeden Tag beinahe bis Mittag, da er bis in die frühen Morgenstunden arbeitete.
Luc beschloss nach unten zu gehen und zog sich in Windeseile an. Bevor er das Zimmer verließ, blies er die Kerze aus. Die Treppe knarrte bei jedem Schritt. Die Tür zum Salon stand einen Spalt offen. Licht drang heraus. Leise schlich er sich hinein. Cassandra saß in eine graue Decke gehüllt vor dem Kamin und schlief. Ihr Kopf neigte sich zur Seite. Zum ersten Mal sah er sie ohne ihre dicke Maskerade. Zart und zerbrechlich wirkte sie. Das kastanienbraune glatte Haar fiel seidig über die Schultern und berührte die schmalen Hände auf ihrem Schoß. Ihr Mund war leicht geöffnet.
Luc hatte keine Ahnung, wie lange er dagestanden hatte, als sie plötzlich die Augen aufschlug. Klar und blank funkelten sie ihn an. Hohe Wangenknochen, eine schöne Haut und dieser Unschuldsblick verliehen ihr etwas Madonnenhaftes.
„Habt Ihr mich etwa im Schlaf beobachtet, Luc?“ Sie wirkte verlegen.
„Nein, ich bin gerade erst hereingekommen“, griff er zu einer Notlüge, weil er sich selbst nicht erklären konnte, warum er sie angestarrt hatte. „Vermutlich habe ich Euch geweckt. Entschuldigt bitte.“
„Schon gut. Wollt Ihr Euch zu mir setzen?“
„Wenn ich nicht störe.“
„Das tut Ihr nicht“, versicherte sie. Luc setzte sich ihr gegenüber. Eine Weile herrschte peinliches Schweigen. Verstohlen musterten sie sich gegenseitig.
„Habt Ihr gut geschlafen?“ Cassandra drapierte ihr Haar auf die rechte Seite und begann damit, es zu einem Zopf zu flechten.
„Nicht unbedingt.“ Luc schaute auf die brennenden Julscheite. Wie vergänglich alles war.
„Was beschäftigt Euch?“ Das Feuer flackerte in ihren Augen. Sie hatte schöne lange Wimpern und vollendet geschwungene Brauen.
„Dies und das. Nichts Konkretes. Wieso seid Ihr eigentlich da? Sonst verlasst Ihr das Haus immer im Dunkeln.“
„Es ist Sonntag. Angelina und ich haben nichts auf dem Markt zu tun.“
„Ihr arbeitet auf dem Markt? Was verkauft Ihr denn?“
„Dies und das. Nichts Konkretes“, kam es postwendend zurück.
„Geht es etwas genauer?“ Luc lächelte über diese kleine Retourkutsche.
„Leider nein. Ihr seid ja auch ziemlich einsilbig, wenn es um Euch geht“, diagnostizierte sie wie ein Arzt, der einem Patienten den baldigen Tod mitteilte.
„Was man von Euch keinesfalls behaupten kann. Jede Frage beantwortet Ihr bereitwillig, was übrigens für alle in diesem Haus gilt.“
„Habt Ihr Hunger?“, zeigte sie sich von seiner Anspielung unbeeindruckt, nahm das dunkelgrüne Haarband vom Tisch und wickelte es um das Ende des Zopfes.
„Nein. Aber einige Fragen.“
„Ihr lasst wohl gar nicht locker, was?“ Sieh an, sie wurde wieder kratzbürstig. „Nun gut. Was wollt Ihr wissen?“
Am besten war es, die Sache harmlos anzufangen. „Womit beschäftigt Ihr Euch gern?“
„Ich bin eine einundzwanzigjährige Frau. Was glaubt Ihr wohl?“
„Ihr wascht und kocht?“
„Hermann hat mit keinem Wort erwähnt, dass Ihr so altmodisch seid.“
Luc musste lachen, wodurch die Anspannung verschwand. „Ihr habt Witz, wie es aussieht.“ Er entledigte sich seiner grauen Weste, da ihm heiß wurde. Der Kamin gab enorme Hitze ab.
„Eine Frau hat mehr Rechte, als ihr im Allgemeinen eingeräumt wird“, sie blickte ihm tief in die Augen. Er hatte das Gefühl, dass sie bis in sein Innerstes vordrang. „Ich für meinen Teil lese sehr gerne.“ Ihr zauberhaftes Lächeln wärmte sein Herz.
„Was sehr lobenswert ist. Und bevor Ihr einen falschen Eindruck bekommt: Ich bin kein Mann, der Frauen ihre Rechte abspricht. Trotzdem gibt es einige Dinge, die man uns Männern überlassen sollte. Dazu gehört, dass man eine Frau beschützen muss.“ Warum sagte er das?
„So einen Mann brauche ich nicht. Ich kann gut auf mich selbst aufpassen.“ In diesem Moment erinnerte sie ihn auf frappierende Weise an Henriette. „Übrigens reite ich für mein Leben gern“, sprudelte es auf einmal freimütig aus ihr heraus. „Bin gerne im Wald, am Wasser oder streune oft durch blühende Sommerwiesen. Meine Kleider nähe ich auch selbst.“ Sie zupfte am Ärmel ihres weidengrünen Musselinkleides in der Farbe einer tiefblauen See. „Solche wie dieses kann ich mir nicht leisten, aber derzeit propagiert man den griechischen Stil, der mir sehr gut gefällt.“ War ihr noch bewusst, dass er vor ihr saß oder hatte sie ihre Schwester vor Augen? Ohne sein Zutun musste Luc schmunzeln. Cassandras Frische brachte etwas Farbe in seinen grauen Alltag. „Obwohl ich die Kleider eher züchtig nähe. Schließlich will ich nicht an der Musselinkrankheit leiden.“
„Was über kurz oder lang passieren wird. Wir haben Winter. Dafür ist der Stoff zu dünn.“ Nun gab er schon besorgte Äußerungen von sich, als wäre er tatsächlich ihre Schwester!
„Ich habe eine robuste Natur“, plapperte sie munter weiter.
„Und ich wähnte Euch einsilbiger“, bemerkte Luc, als sie Luft holte.
„Rede ich zu viel?“ Sie hielt sich erschrocken die Hand vor dem Mund.
„Wo denkt Ihr hin? Ich freue mich darüber, dass unser Gespräch endlich mehr als nur ein zwei Worte beinhaltet.“ Luc lächelte. „Welche Bücher lest Ihr gerne?“
„Gedichtbänder.“ Sie spielte mit ihrem Zopf. „Versprecht mir nicht zu lachen.“
„Weshalb sollte ich?“
„Weil ich trotz meines Alters nach wie vor die Fabeln von Jean de La Fontaine liebe und natürlich Perrault.“ Als hätte ihm jemand eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt, verflog Lucs Lächeln sofort. „Ihr findet mich kindisch“, legte sie seine Reaktion falsch aus.
„Keineswegs“, wand er sich. „Perrault erinnert mich nur an jemanden.“
„Wie heißt sie?“, bohrte sie leise nach. Luc wich ihrem Blick aus und starrte ins Feuer. Diesmal war das Schweigen zwar nicht peinlich, aber auch nicht angenehmer.
Schwere Schritte polterten über die Stufen herunter.
„Guten Morgen, ihr zwei.“ Hermann setzte sich mit zerzaustem Haar neben Luc.
„Dir ist schon klar, dass der Tag erst angebrochen ist?“ Luc vermied es, Cassandra anzusehen.
„Normalerweise schlafe ich wie ein Murmeltier, aber du Trottel bist über die Treppe gejagt wie ein Munitionswagen. Wer soll da weiterschlafen können?“
Luc wusste, dass es eine Lüge war. Etwas hatte Hermann früher als gewöhnlich aus dem Bett geholt. Wieder dachte er an den Davidstern.
„Ich denke, wir sollten uns unterhalten. Egal, ob André damit einverstanden ist oder nicht“, sagte Hermann mit Blick auf Cassandra, die zögernd nickte. „Angelina und ihre Schwester sind die Töchter meines besten Freundes“, verlor er keine Zeit und klang angespannt. „Leider wurde Samuel schwer krank und starb ein paar Tage nach Andrés und Angelinas Hochzeit. Ich versprach ihm am Totenbett, auf die Kinder aufzupassen, die mir wie du ans Herz gewachsen sind.“
Mit Tränen in den Augen erhob sich Cassandra. „Ich bereite das Frühstück vor“, verkündete sie, faltete die Decke zusammen und legte sie auf die Sitzfläche.
„Mach das, mein Mädchen.“ Hermann blickte ihr wie ein liebender Vater hinterher. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, musterte er Luc mit derselben Güte und Liebe. „Seit langem versuche ich André zu überreden, mit Angelina und Cassandra auf mein Schloss zu ziehen. Doch an seinem verdammten Stolz beiße ich mir alle Zähne aus. Dabei ist es lebenswichtig, sie aus diesem Wespennest herauszuholen, denn sie sind Juden.“ Lucs Befürchtung hatte sich bestätigt. Angesichts dessen, was sie ihm erzählt hatten, jedoch eine brenzlige Situation für jeden in diesem Haus. „Allerdings will André nicht mehr darüber sprechen, weil er von meinen Plänen nichts hält. Deswegen mein hartnäckiges Schweigen. Es war zu befürchten, dass er mit den Mädchen sonst untertauchen würde.“
„Ist er auch Jude?“
„Nein, André ist Franzose. Angelina heißt jedoch in Wirklichkeit Alisah und Cassandra Margalit.“
„Wie passe ich in diese Geschichte, denn du hast mich sicher nicht ohne Grund eingeladen, nicht wahr?“
„Uns stehen harte Kämpfe bevor.“ Sacht fuhr Hermann über Cassandras Decke. „Deshalb muss ich Vorkehrungen treffen, falls mir etwas zustößt.“
„Dieses Gespräch können wir in fünfzig Jahren noch einmal führen. Aber mit Sicherheit nicht jetzt.“ Luc hasste den Gedanken, dass Hermann etwas geschehen könnte.
„Der Tod schreckt mich nicht“, überging er seinen Einspruch. „Was ich zurücklasse jedoch sehr. Bisher schafften wir es, die wahre Identität der Mädchen zu verheimlichen. Immerhin gehörte ihr Vater dem Adel an. Dass er sich in eine Jüdin verliebte, war Schicksal. Zwar versuchte ich ihm die Heirat auszureden, aber dann half ich ihm ihre Papiere zu fälschen. Doch ich befürchte, dass irgendwann jemand Wind davon bekommt. Die Soldaten durchforsten seit Neuestem die Häuser. Etwas ist im Busch. Zu uns traute sich bisher zwar keiner, doch das ist nur eine Frage der Zeit. Mein Einfluss zählt nichts mehr, wenn es um Juden geht. Deshalb sind meine Mündel in dieser Stadt nicht mehr sicher.“
„Was sagen Alisah und Magalit dazu? Wollen sie auch bleiben so wie André?“
„Nenn sie lieber weiterhin Cassandra und Angelina.“ Hermanns Spiel hielt inne. „Ein Versprecher hätte fatale Folgen. Und nein, sie haben große Angst und würden Strasbourg lieber verlassen. Doch Angelina geht nicht ohne ihren Mann und Cassandra nicht ohne ihre Schwester. André ist die Wurzel allen Übels und verkennt die Gefahr.“
„Dann solltet ihr als erstes den Davidstern vernichten.“
„Hab ich schon.“ Plötzlich fiel die Stärke des unbeugsamen Kämpfers von Hermann ab. Übrig blieb ein besorgter Vater, der sich seiner Schwäche vollauf bewusst war. „Du musst mir versprechen, dass du dich im Falle meines Todes um meine Mündel kümmerst.“ Hermann hielt ihm die Hand entgegen. „Kann ich mich auf dich verlassen?“
Luc zögerte keine Sekunde und besiegelte Hermanns Frage mit einem beherzten Handschlag. „Das kannst du, falls der Fall je eintreten sollte.“