Читать книгу Entscheiden (E-Book) - Bettina Zurstrassen - Страница 8
ОглавлениеLeben in einer Entscheidungsgesellschaft
Menschen, die in freiheitlich-demokratischen, zugleich individualistischen Gesellschaften leben, sind oft mit der Situation konfrontiert, sich entscheiden zu müssen. Im Gegensatz zur feudalistisch-ständischen Gesellschaft oder zu Kasten-Gesellschaften wie in Indien können wir in weiten Teilen unsere eigene Biografie «basteln» (z. B. bei der Berufswahl, der Lebensform, beim Wohnort, vgl. Hitzler/Honer 1994), uns für einen Lebensstil ent- und umentscheiden und im Rahmen von Wahlen oder anderen Formen politischer Partizipation wie Plebisziten politisch mitentscheiden.
Sich entscheiden zu können ist ein Privileg, zugleich aber auch eine emotionale und intellektuelle Herausforderung. In einer Vielzahl von Situationen muss sich der Mensch in modernen Gesellschaften auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, indem er sich zum Beispiel informiert, die eigenen Interessen abwägt, eine Position entwickelt und sich entscheidet oder eine Entscheidung vermeidet.
Sich entscheiden zu müssen ist historisch-gesellschaftlich kein neues Phänomen, die Entscheidungssituationen werden aber immer komplexer und gesellschaftlich wird verstärkt erwartet, Entscheidungen rational zu treffen (Schimank 2005, S. 33). Der Soziologe Uwe Schimank spricht daher von «Entscheidungsgesellschaften» und beschreibt damit ein weiteres Merkmal, das moderne Gesellschaften kennzeichnet (Schimank 2005, S. 12, S. 20 ff.). Wir, besonders die Politik und Organisationen, versuchen durch das Heranziehen von statistischen Daten unsere Entscheidungen zu rationalisieren und so abzusichern (Mayntz 2012), auch wenn die Qualität der Daten oft nicht einmal gesichert ist.
Immer mehr Bereiche des Lebens werden zudem politisch und ethisch aufgeladen. Ein Beispiel hierfür sind Flugreisen, die im Kontext der Klimadebatte legitimationsbedürftig sind. Der Begriff «Flugscham» ist kennzeichnend für den Konflikt, den viele Menschen mit sich selbst oder in ihrem sozialen Umfeld bei der Reiseplanung aushandeln müssen. Bei der Entscheidung für oder gegen eine Flugreise versuchen wir, rationale Argumente zu finden. Wir wägen Aspekte wie die mögliche Zeitersparnis, die Kosten, den zollfreien Einkauf am Flughafen oder den Energieverbrauch anderer Reiseformen mit den klimaschädlichen Emissionen des Fliegens ab.
Politische, organisatorische und individuelle Entscheidungen erfolgen immer vor dem Hintergrund der für das Individuum relevanten Gesellschaft und ihrer Normen und sozialen Werte. In den 1960er-Jahren zum Beispiel hat der Klimaschutz bei der Entscheidung für oder gegen eine Flugreise kaum eine Rolle gespielt. Das hat sich geändert, wenn wir auch den Entscheidungskonflikt in Abhängigkeit zur sozialen Bezugsgruppe und -normen unterschiedlich stark empfinden.
Entscheidungen weisen, so Schimank, eine prinzipielle Kontingenz auf, wonach etwas zwar der Fall sein kann, aber nicht der Fall sein muss (2005, S. 42–43). Es gibt niemals nur eine einzige Art und Weise, wie wir eine Situation erleben oder deuten können. Es sind immer mehrere Situationsdeutungen möglich, auf die wir reagieren können. Entsprechend breit ist oft das Spektrum der Entscheidungen.
SICH ENTSCHEIDEN: GRUNDBEGRIFFE UND ARTEN VON ENTSCHEIDUNGEN
Entscheidungen treffen ist ein mentaler Prozess, bei dem die zur Entscheidung stehenden Optionen bewertet, beurteilt und ausgewählt werden. Der Entscheidungsprozess beginnt, wenn eine Person eine Entscheidungssituation wahrnimmt. Die Psychologie spricht dann von Entscheidungsbewusstsein.
Einer Person, Akteur*innen in einer Organisation oder auch politischen Entscheidungsträger*innen wird bewusst, dass sie zwischen mindestens zwei Optionen wählen müssen, oder sie erkennen eine Diskrepanz zwischen einem gegebenen und einem gewünschten Zustand. Um den gewünschten Zustand zu verwirklichen, können sie verschiedene Optionen suchen, deren Vor- und Nachteile abwägen und ausgehend von der Entscheidung Maßnahmen ergreifen.
Entscheidungssituationen sind vielfältig. Sie können sich unter anderem in folgenden Merkmalen unterscheiden (Pfister/Jungermann/Fischer 2017, S. 23 ff.; Schimank 2005, S. 18–21).
•Gegebene versus offene Optionsmenge
Bei Entscheidungen kann die Auswahl der Optionen, zwischen denen entschieden werden muss, vorher bereits feststehen, oder sie ist offen, das heißt, man kann weitere Optionen entwickeln.
•Einstufige versus mehrstufige Entscheidungen
Entscheidungen können Folgeentscheidungen erforderlich machen, oder sie sind mit der Entscheidung abgeschlossen. In den meisten Fällen gibt es jedoch Entscheidungsketten, also der ersten Entscheidung folgen weitere. Menschen, die zum Beispiel Schach spielen, überlegen sich nicht nur den nächsten Zug, sondern auch die weiteren Züge und Optionen, mit denen sie auf den Mitspieler oder die Mitspielerin reagieren können.
•Einmalige versus wiederholte Entscheidungen
Entscheidungssituationen können neu und einmalig sein oder sich wiederholen. Die Entscheidung für ein Lehramtsstudium zum Beispiel ist eine, die ein Individuum nur einmal trifft. Wenn die Lehrkraft im Berufsleben aber über Zeugnisnoten entscheidet, ist das keine einmalige Entscheidung, sondern eine, die sich regelmäßig wiederholt. Es bilden sich Routinen heraus.
•Individuelle versus soziale Entscheidung
Entscheidungen können individuell getroffen werden oder in Absprache mit einer anderen Person, in einer Gruppe und in einer Organisation, zum Beispiel in der Arbeitswelt. Es sind dann Absprachen notwendig, das heißt, die Akteur*innen müssen in soziale Interaktion miteinander treten.
•Entscheiden unter Unsicherheit
Entscheidungen bergen fast immer ein gewisses Maß an Unsicherheit. Das Ausmaß der Unsicherheit kann aber stark variieren. Bei recht sicheren Entscheidungen ist weitgehend voraussagbar, welche Konsequenzen eine Entscheidung hat. Bei vielen Entscheidungen kann aber vorher nicht abgesehen werden, welche Auswirkungen sie haben und ob die gewünschten Konsequenzen tatsächlich eintreten.
•Reichweite von Entscheidungen
Manche Entscheidungen haben zeitlich weitreichende Folgen für die Zukunft, andere sind nur kurzfristig von Bedeutung. Entscheidungen können nur für das Individuum selbst oder auch für andere Menschen von Bedeutung sein, wie zum Beispiel die Entscheidung für einen berufsbedingten Umzug einer Familie in eine andere Stadt.
Wir müssen täglich viele Entscheidungen treffen. Der Umfang des kognitiven Aufwands und der Anstrengung bei der Entscheidungsfindung variiert allerdings erheblich. Da kognitive Prozesse mit Aufwand verbunden sind, kognitive Ressourcen aber nur begrenzt zur Verfügung stehen, müssen diese bewusst eingeteilt werden.
KOGNITIVER AUFWAND UND ENTSCHEIDUNGEN
Pfister, Jungermann und Fischer (2017, S. 26–31) differenzieren hinsichtlich des kognitiven Aufwands zwischen vier Arten des Entscheidens.
•Routiniertes Entscheiden
Aufgrund häufiger Wiederholungen der Entscheidungssituation bilden sich Routinen beziehungsweise Gewohnheiten heraus. Die stets gleichen oder ähnlich lautenden Optionen müssen nicht mehr abgewogen werden, sondern werden mit den bereits erlebten, im Gedächtnis abgespeicherten Situationen abgeglichen. Wer täglich auf der Fahrt zur Arbeit dieselbe Wegstrecke fährt, überlegt nicht mehr vor jeder Straßenkreuzung, in welche Straße er*sie als Nächstes abbiegen muss. Das geschieht bei den ersten Anreisen zum Arbeitsort später nicht mehr. Anpassungen erfolgen, wenn die Gewohnheit durchbrochen wird, zum Beispiel durch einen Unfall auf der Wegstrecke. Der kognitive Aufwand bei routiniert ablaufenden Entscheidungen ist am geringsten. Es sind Handlungswege, die mehr oder weniger unhinterfragt erfolgen. Erst wenn man merkt, dass eine Routine nicht mehr funktioniert, wird sie wieder infrage gestellt. Man muss also gegebenenfalls die Entscheidungskriterien neu gewichten.
•Stereotype Entscheidungen
Diese Art des Entscheidens greift oft bei Konsumentscheidungen des täglichen Bedarfs, zum Beispiel beim Essen in einem Restaurant. Obwohl die Situation verschieden sein kann – es werden unterschiedliche Restaurants besucht –, sind die Optionen durch die Menükarte klar definiert. Es greifen erlernte, oft stereotype Bewertungsschemata, zum Beispiel die Auswahl des Essens nach Kriterien wie Preis, vegetarisch/nicht-vegetarisch, Kalorienanzahl. Bei der Entscheidung fließen Erfahrungen und Gefühle ein. Der kognitive Aufwand ist relativ gering.
•Reflektierte Entscheidungen
Sie sind erforderlich in Situationen, die neu sind und für die ein Individuum keine abrufbaren Präferenzen hat. Die Präferenzen müssen erst durch Informationsgewinnung und durch Abwägungsprozesse konstruiert werden. Ebenso spielen Unsicherheiten und Wahrscheinlichkeiten bei der Entscheidungsfindung eine Rolle. Reflektierte Entscheidungen beziehen sich zumeist auf Probleme, die für die Person bedeutsam sind. Nicht nur der kognitive Aufwand ist hoch, sondern oft ist die Person auch emotional involviert. Reflektiertes Entscheiden ist kein Indikator für die Qualität der Entscheidung. Es bedeutet lediglich, dass dem Individuum die Entscheidungssituation bewusst ist und es sich mit dieser auseinandersetzt.
•Konstruktive Entscheidungen
Charakteristisch für konstruktive Entscheidungen sind zwei Aspekte: Erstens sind die Optionen nicht vorgegeben beziehungsweise nicht eindeutig definiert und zweitens sind die für die Entscheidung relevanten persönlichen Werte unklar oder müssen noch generiert und definiert werden (Pfister/ Jungermann/Fischer 2017, S. 29). Der kognitive Aufwand ist bei dieser Art von Entscheidungen hoch. Eine Person zum Beispiel, die sich an ihrer Arbeitsstelle unwohl fühlt, überlegt, innerhalb des Unternehmens die Stelle zu wechseln oder sich bei einem anderen Unternehmen zu bewerben. Sie setzt sich daraufhin intensiv mit ihrer beruflichen Zukunft auseinander. Auf einmal denkt sie daran, sich selbstständig zu machen oder ein Sabbatjahr zu nehmen. Mit all den Optionen kann aber auch ein Umzug oder eine Gehaltseinbuße verbunden sein, beziehungsweise könnte die Person berufliche Unsicherheit in Kauf nehmen müssen. Sie muss Werte generieren, die für sie persönlich bedeutsam sind. Diese fließen in die Entscheidung mit ein. Die Entscheidung kann aber auch verdrängt oder aufgeschoben werden.
In jüngster Zeit wird zudem verstärkt der Bereich des intuitiven Entscheidens erforscht. Basierend auf Erfahrungswerten werden spontan Entscheidungen gefällt, denen kein umfassendes Abwägen der Vor- und Nachteile (diskursiver Gebrauch des Verstandes) vorausgeht. Informationen werden unbewusst verarbeitet. Im Volksmund wird auch von «Bauchentscheidungen» gesprochen. Dieser Entscheidungsprozess wird zwar zuweilen kritisch bewertet, man kommt aber dennoch oft zu guten Ergebnissen. Das bedeutet jedoch nicht, dass «Bauchentscheidungen» immer besser sind, weil manchmal beispielsweise neue oder wichtige Informationen nicht bekannt sind, die für die Entscheidungssituation hoch relevant sein könnten.