Читать книгу Das Herz des Zauberers - Betty Kay - Страница 6
2. Kapitel
ОглавлениеNeben mir schleicht Manekas in geduckter Haltung vorwärts. Vor uns befindet sich seine Leibwache. Ich habe vorgeschlagen, unseren Fürsten im Basislager zu lassen, um nicht in Gefahr zu geraten, doch er hat sich geweigert. Wir haben einen perfekt koordinierten Plan. Jeder weiß, was er zu tun hat. Manekas will dennoch nicht in Sicherheit auf das Ergebnis dieser Schlacht warten. Ich wünschte, ich könnte ihn vom Gegenteil überzeugen.
Jetzt bei meiner Rückkehr herrscht unter unseren Feinden nicht mehr die seltsame Stille. Die Spione haben mir bereits vor einigen Minuten verraten, dass sich die Krieger wieder verhalten wie zuvor. Das Lachen und das ungewöhnliche Brummen sind zu hören, mit dem sie kommunizieren. Das sollte die leisen Geräusche dämpfen, die rund um uns die Ankunft unserer Bündnispartner verkünden. Zur Sicherheit murmle ich einen Spruch, der das Knacken der Äste und das Rascheln des Laubes dämpfen soll. Noch habe ich genug Energie, um solche Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Der Rest liegt ohnehin in den Händen der Götter.
Unsere Armee weiß, was auf sie zukommt. Sie sind darauf eingestellt, den mächtigsten Gegnern gegenüberzustehen, auf die unsere Welt jemals gestoßen ist. Für die Truppen unserer Verbündeten gilt das jedoch nicht. Sie haben noch nicht erlebt, wozu diese gnadenlosen Kämpfer fähig sind. Ich hoffe, sie werden dieser Aufgabe gewachsen sein.
Ein Kommandant hebt seinen Arm mit einer geschlossenen Hand. Das Zeichen, anzuhalten. Er ist wohl in Sichtweite des Lagers gelangt. Jetzt folgt der schwierige Teil. Unsere Soldaten und die Truppen der anderen Länder sollten inzwischen die Lichtung umzingelt haben. Kein Gegner soll durch unser dichtes Netz entkommen können. Wir dürfen nicht zulassen, dass die anderen Lager unserer Feinde gewarnt werden. Wir müssen alle Männer gleichzeitig überwältigen.
Der Boden im Lager ist uneben. Durch die Sitzgelegenheiten und die Gegenstände, die überall verteilt sind, wird es schwierig für unsere Männer werden, sich problemlos fortzubewegen. Doch unsere Überzahl sollte dennoch von Vorteil sein. Daran klammere ich mich aus ganzem Herzen. Hinter uns kann ich die Ankunft weiterer Soldaten hören. Langsam wird der Platz zu eng. Wir müssen mit unserem Überfall beginnen, bevor wir uns gegenseitig zerquetschen.
Manekas nickt einem seiner Männer zu. Der stößt einen schrillen Pfiff aus. Das Zeichen zum Angriff.
Alle Soldaten in der ersten Reihe erheben sich und brechen durch das Dickicht, in dem sie sich versteckt gehalten haben. Immer noch sind sie unsichtbar. Ich kann es erkennen, weil sie für meine Augen nicht ganz scharf wirken. Jetzt müssen sie die letzten Fuß bis zu den ersten Feinden zurücklegen.
Unsere Gegner sind überrascht und wissen nicht, was der Lärm bedeutet. Dennoch springen alle auf und ziehen ihre Waffen, als ein Summton ertönt. Es handelt sich wohl um eine Warnung. Auf dem Schlachtfeld haben die Geräusche, die die Kommandanten ausgestoßen haben, ganz anders geklungen.
An mehreren Stellen erreichen unsere Soldaten die feindlichen Krieger. Ihre Schwerter bohren sich weit genug in die schwarzen Rüstungen, damit sie Schaden anrichten können. Leider gehen doch nur wenige Gegner zu Boden. Blut fließt, stoppt die Überrumpelten allerdings nicht an einem Gegenschlag. Obwohl unsere Soldaten noch unsichtbar sind, gibt das hell leuchtende Blut auf den ebenfalls nicht erkennbaren Schwertern ein gutes Ziel ab.
Ich schiebe mich ein Stück weiter durch das Unterholz und richte mich auf. Mit ein paar gemurmelten Worten wirke ich einen Zauber, der das Blut auf unseren Schwertern und unseren Kämpfern unsichtbar macht. Bis die Wirkung einsetzt, wurden bereits einige unserer Männer getroffen. Manch einer wurde tödlich verletzt. Neue Krieger nehmen ihre Plätze ein und drängen vorwärts. Aufgrund des Platzmangels wird es zu einem Kampf Mann gegen Mann. Die Hiebe unserer Gegner sind kraftvoll wie nie zuvor. Dagegen können wir nicht ankommen.
Noch einmal benutze ich meine Magie und schicke Wellen aus, die die feindlichen Soldaten von den Füßen werfen. Ich springe an eine andere Stelle und verursache auch dort eine Energiewelle, die einige Gegner ausschaltet. Unsere Soldaten können an dieser Stelle weiter vordringen.
Überall herrscht Chaos. Nach und nach werden unsere Männer sichtbar. Das Summen unserer Feinde vibriert in meinen Ohren. Das Geräusch schmerzt so sehr, dass ich mich kaum konzentrieren kann. Von allen Seiten sind Schreie zu hören und verstärken dadurch mein Unwohlsein nur noch. Verletzte gehen zu Boden. Leider handelt es sich vermehrt um unsere Leute. Mein Entsetzen steigt weiter an, während ich dabei zusehe, wie unsere Männer nicht gegen die kräftigen und gut ausgerüsteten Eindringlinge in unserem Land ankommen.
Mit bangem Herzen murmle ich den Zauber, der unsere Männer wieder unsichtbar macht. Zumindest unsere Soldaten an erster Front sollen eine Chance haben, sich unseren Feinden unbemerkt zu nähern. Wieder springe ich an einen anderen Ort und löse eine Energiewelle aus, um meinen Beitrag zu leisten. Meine erste Schlacht war ein abschreckendes Beispiel für mich. Ich werde mich nicht selbst mit der Verwendung eines Schwertes in Gefahr bringen. Ich bin ungeübt, habe nicht genug Kraft, um die Klinge zu führen. Deshalb nutze ich ausschließlich meine magischen Fähigkeiten, um unserer Sache zu dienen. Ich hoffe, es reicht dieses Mal.
Immer mehr unserer Soldaten drängen auf die kleine Lichtung. Mit der Unterstützung unserer Verbündeten sollte es uns eigentlich gelingen, unsere Feinde zu überwältigen. Allerdings haben unsere Gegner nicht vor, sich freiwillig zu ergeben. Diejenigen, die von einem Schwert getroffen wurden, kämpfen weiter, bis sie ihre Verletzungen zum Aufhören zwingen. Mitten im Getümmel sehe ich einen Feind, der sich in seine eigene Klinge stürzt, als zwei unserer Männer vergeblich versuchen, ihn zur Seite zu ziehen. Wenige Fuß weiter entdecke ich eine ähnliche Szene.
Sterben diese Krieger lieber, als sich von uns gefangen nehmen zu lassen?
In meinem Kopf suche ich nach einem Spruch, mit dem ich sie davon abhalten kann. Ich gehe all die Zauber durch, die ich in meinem Leben bereits gelesen habe. Mein Großvater hat von meiner Gabe, die einzelnen Seiten eines Buches vor meinem inneren Auge abrufen zu können, nie etwas geahnt. Ich sehe manche Stellen verschwommen und die Übung in der Anwendung fehlt mir, weshalb meine Zauber nicht immer funktioniert haben. Doch jetzt bin ich mir sicher, dass kein geeigneter Spruch in Oremazz’ Büchern steht.
Unsere Soldaten ergießen sich in einer Flutwelle über die Lichtung. Viele von ihnen sind sichtbar, doch ich muss mir nicht mehr die Mühe machen, sie vor den Blicken unserer Feinde zu verstecken. Die Krieger haben wohl eingesehen, sich nicht gegen unsere Übermacht zur Wehr setzen zu können. Die Intensität und die Höhe des Summens, das die Anführer von sich geben, verändert sich. Inzwischen bin ich mir sicher, dass sie auf diese Art kommunizieren. Ich würde nur gerne wissen, was sie miteinander besprechen. Einen Augenblick später erhalte ich eine unerwartete Antwort.
Alle unsere Gegner hören gleichzeitig damit auf, sich gegen uns zur Wehr zu setzen. Sie lassen von unseren Männern ab und richten ihre Waffen gegen sich selbst. Fassungslos muss ich mit ansehen, wie sie sich die Klinge in den Bauch rammen. Kein Schmerzenslaut ist zu hören, als sie einer nach dem anderen zu Boden sinken.
Mit einem Mal herrscht gespenstische Stille auf dem Schlachtfeld. Unsere Männer starren wie ich mit Entsetzen auf das Bild, das sich uns bietet. Tausend Tote liegen auf der Lichtung verteilt. Nur wenige davon gehören zu unserer Seite. Sie haben sich selbst geopfert, um nichts über ihre wahren Absichten zu verraten. Ich bin mir sicher, sie haben verhindern wollen, von uns zu ihren Plänen befragt zu werden. Sie haben etwas vor, von dem wir nicht erfahren dürfen. Um dieses Ansinnen vor uns zu bewahren, sind sie bereit gewesen, selbst in den Tod zu gehen.
Meine Neugier ist stärker als meine Abwehr. Vorsichtig nähere ich mich einem unserer reglos auf dem Boden liegenden Gegner und schiebe eine Hand unter seinen Helm. Mit den Fingerspitzen taste ich nach seinem Puls, um sicherzugehen, dass er tatsächlich tot ist.
Ich muss wissen, ob es sich bei ihnen überhaupt um Menschen handelt. Möglicherweise sind es nur von Magie erschaffene Wesen, die uns äußerlich ähneln, die bluten und sterben können wie wir, die aber keinen eigenen Willen besitzen. Nicht mehr als Kampfmaschinen, die sich dem Zauber unterwerfen müssen, der sie zum Leben erweckt hat. Wenn meine Untersuchungen meine Fragen vielleicht auch nicht beantworten, so können sie mir vielleicht eine Möglichkeit zeigen, um die anderen Truppen unserer Gegner kampfunfähig machen zu können, bevor sie sich selbst töten.
Mit klopfendem Herzen nestle ich an den Schnüren am Hinterkopf des Soldaten, um ihm dann die Maske vom Gesicht zu ziehen.
Auf den ersten Blick wirkt das Gesicht nicht unmenschlich. Es könnte sich um einen Fremden handeln, wie sie unser Dorf daheim in Maëlle hin und wieder besuchen. Wäre ich ihm vor dem Krieg begegnet, hätte ich mir bei seinem Anblick nichts gedacht und hätte ihn sofort wieder vergessen. Jetzt allerdings fällt mir der breitere Nasenrücken auf und der überraschend kleine Mund. Die ungewöhnliche Form der Augen, die mich an Reiskörner erinnern, ist davor durch den Schnitt der Sehschlitze nicht erkennbar gewesen. Ganz offensichtlich erinnern diese Gesichtszüge nicht an die Bewohner unseres Kontinents.
Schritte nähern sich mir. Als ich hochsehe, bemerke ich Manekas auf mich zukommen. »Was denkt Ihr?«, fragt er. Der Schock über das Geschehene schwingt in seiner Stimme mit.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, gebe ich zu. »Diese Soldaten scheinen Menschen zu sein. Trotzdem handeln sie nicht menschlich. Oder kennt ihr jemanden, der den Tod der Gefangenschaft vorzieht?«
»Fremde Länder. Fremde Sitten.« Der Fürst betrachtet ratlos das Gesicht, das sich zuvor unter der Maske verborgen hat. »Wer kann schon sagen, was anderswo üblich ist? Möglicherweise gilt es bei diesem Volk als Schande, von seinem Gegner überwältigt zu werden. Aufgeben kommt einem Frevel gleich. Möglicherweise werden wir diese Kämpfer nie verstehen.«
Langsam nicke ich. Zu gerne hätte ich ein paar Antworten. »Ich kann die Energie fühlen, die von ihnen ausgeht. Sie müssen von einem Zauber geleitet worden sein. Möglicherweise kennen diese Wesen keine Sprache und kommunizieren lediglich über den Austausch von Summgeräuschen. Auf jeden Fall spüre ich hier eine Dunkelheit, wie ich sie noch niemals erlebt habe. Die Seelen dieser Wesen lösen sich wohl bereits von ihren Körpern. Welchem Glauben sie wohl anhängen? Sind sie davon überzeugt, in den Himmel aufsteigen zu können? Gibt es für sie Götter, die sie für ihre Taten belohnen werden? Irgendwann erhalten wir vielleicht Hinweise darauf, was sie bewegt.« Ich richte mich auf. »Bevor wir aufbrechen, werden wir ihre persönlichen Sachen untersuchen. In den Taschen befinden sich hoffentlich Aufzeichnungen oder Beweise für das, was sie planen.«
»Es ist zu befürchten, dass ihre Schrift ähnlich wie ihre Sprache für uns nicht zu verstehen ist. Dennoch habt Ihr recht. Wir müssen so viel wie möglich über unsere Feinde erfahren. Nichts in diesem Lager wird unbeachtet bleiben. Alles wird begutachtet werden.«
Besonders die Maschine in der Mitte des Lagers wird meine Aufmerksamkeit lange in Beschlag nehmen. Ich werfe einen kurzen Blick zu dem Ungetüm, das nun, da ich näher an dem Gerät stehe, noch beeindruckender wirkt als zuvor. Die Steine an den Ecken des seltsamen Dings glühen nun nicht mehr. Trotzdem werde ich versuchen, sie von der Apparatur zu entfernen. Eine Stimme in meinem Inneren flüstert mir zu, dass das wichtig sein könnte. Wenn die Soldaten davon ihre Energie erhalten, werden die restlichen Truppen an Stärke einbüßen. Wenn diese Maschine die Verwirrung unserer Flugechsen und Soldaten verursacht hat, werden die Menschen nur ungestört weiterleben können, wenn wir die Störung beseitigt haben.
Erst möchte ich allerdings noch etwas ausprobieren. In den Zauberbüchern aus der Bibliothek meines Großvaters habe ich vor langer Zeit einen Spruch gelesen, der es ermöglicht, einen Gegenstand auf die Energie zu untersuchen, mit der er in Berührung gekommen ist. Sie verrät, wer ihn sein Eigen genannt und welche magischen Fähigkeiten er besessen hat. Ich hoffe, dadurch Informationen über die Soldaten zu erhalten. Sie mögen kein Gegenstand sein. Der Zauber könnte mir dennoch mehr erzählen.
Ich schließe meinen Augen, um mir die Seite in Erinnerung zu rufen.
»Ding, das du jetzt mir gehörst, verrate mir, woher du stammst.
Zeig mir deine Vergangenheit, und von wo du davor kamst.
Offenbare mir die Magie, die zuletzt über dich bestimmen konnte.
Erzähle mir die Geschichte deiner Zauber, denen man dich aussetzen wollte.«
Keine Reaktion. Irgendetwas scheint an meinem Spruch nicht zu stimmen. Also kneife ich die Augen ein wenig mehr zusammen und stelle mir den Moment vor, in dem ich die Worte damals gelesen habe. Mein Großvater hatte damals noch nicht begonnen, mich zum Zauberer auszubilden. Ich hatte mich heimlich in sein Studierzimmer geschlichen, eines der Bücher hervorgeholt und unter seinem Schreibtisch gelesen. Die ganze Zeit hatte ich Angst, von ihm erwischt zu werden. Möglicherweise habe ich dadurch keine genaue Abbildung der Seiten vor meinem inneren Auge. Mit jedem langsamen Atemzug wird das Bild deutlicher. Endlich kann ich einen neuen Versuch wagen.
»Ding, das du jetzt mir gehörst, verrate mir, woher du stammst.
Zeig mir deine Vergangenheit in Bildern, und von wo du davor kamst.
Offenbare mir die Magie, die zuletzt über dich bestimmen konnte.
Erzähle mir die Geschichte deiner Zauber, denen man dich aussetzen wollte.«
Mehr als eine kleine Anpassung ist nicht notwendig gewesen, damit der Spruch Wirkung zeigt. Obwohl auf dem Boden vor mir ein Mensch liegt oder zumindest eine menschliche Hülle, kann ich fühlen, wie die Magie in mir zu kribbeln beginnt.
Hinter meinen geschlossenen Augen sehe ich Schiffe. Tausende und Abertausende davon. Auf jedem befinden sich unzählige Krieger. Blicklos starren sie auf die Küste, der sie sich nähern und die mich zu meinem Entsetzen an die von Nialling erinnert. Am Bug jedes Schiffes stehen die Anführer der Truppen, doch auch sie regen sich nicht. Es scheint, als würden die Soldaten mit offenen Augen schlafen. Ob sie mit dem Zauber geladen werden, der sie zum Leben erwecken wird? Ein Schiff erregt meine Aufmerksamkeit. Es segelt in der Mitte dieser erschreckend großen Armee. Auf dem Deck steht die Maschine, die sich jetzt in diesem Lager befindet. Die riesigen Steine sind am gleichen Platz. Sie leuchten, ähnliche wie der Lichtstein, den ich verwendet habe. Allerdings fehlt die Dunkelheit in der Mitte, die ich beim letzten Mal beobachtet habe.
Das Bild verändert sich. Ganz plötzlich stehe ich in einem fremden Land, das so ganz anders aussieht als unser Kontinent. Während meiner Nachforschungen nach dem Verbleib unserer Verbündeten habe ich den ganzen Kontinent bereist. Auch wenn ich wenig Blick für die Schönheit der Landschaft hatte und nicht auf die Details der Natur geachtet habe, weiß ich sofort, mich an einem völlig anderen Ort zu befinden. Der Boden hier ist steinig und uneben. Soweit das Auge reicht, kann ich keine Pflanzen entdecken. Das hier ist viel kälter und unwirtlicher. Der Wind streicht über meinen kurz rasierten Schädel und lässt meine Ohren kribbeln. Ein paar Fuß entfernt ragen seltsame Formen aus dem Boden. Baumstämme scheinen an vier Stellen schräg in den Boden gerammt worden zu sein, während sie oben aufeinandertreffen und zusammengebunden sind. Miteinander vernähte Felle überziehen das Gerüst. Werden die Felle hier getrocknet?
Die ungewöhnliche Bespannung bewegt sich, ein Spalt klafft dazwischen auf, bevor das Fell an dieser Seite zur Seite geschoben wird. Ein Mann tritt heraus. Seine Augen sind groß und rund, seine Nase unnatürlich schmal, sein Mund klein. Als er einen Schritt zur Seite macht, kann ich einen Blick in das seltsame Gebilde werfen. Decken und Felle liegen auf dem Boden. Töpfe und Teller stehen in der Mitte des Raumes um einen Stein herum, von dem ein warmes Glühen ausgeht. Soll dieses seltsame Ding die Behausung des Mannes darstellen? Bevor ich mehr vom Inneren erkennen kann, klappt die Öffnung in den Fellen wieder zu.
Der Fremde geht weiter, direkt an mir vorbei, bleibt dann stehen, nestelt an seiner Kleidung und erleichtert sich dann in Sichtweite seines Zuhauses. Durch den starken Wind verteilt sich die Feuchtigkeit weit über den steinigen Boden.
Die Öffnung zwischen den Fellen klafft wieder auf. Ein kleiner Junge tritt heraus. Durch die für sein Gesicht riesig wirkenden Augen besitzt er eine Niedlichkeit, die ich gar nicht an ihm entdecken will. Er läuft auf den Mann zu und schmiegt sich an seine Beine. Die beiden unterhalten sich, während der Fremde über das Haar des Kindes streicht. Dann kehren sie wieder in das Zelt zurück.
Seltsam bewegt wende ich mich ab. Ich habe genug gesehen. Vielleicht gelingt es mir, ein wenig in das Land vorzudringen und mehr über die Menschen zu erfahren, die hier leben. Als ich versuche, meine Magie anzuwenden, um mich zu transportieren, scheitere ich. In dieser Vision habe ich keinen Körper, dessen Beine ich benutzen kann, um mich fortzubewegen. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als geduldig zu sein. Nach all den Tagen bin ich, ehrlich gesagt, am Ende meiner Geduld angelangt.
Zum Glück verschwimmt die Umgebung vor meinen Augen. Ich kann ein neues Bild sehen, das sich vor meine Augen schiebt und langsam klarer wird.
Ein Gebäude. Kahle Steinwände. Fenster ohne Scheiben.
Auch hier ist es kalt und unwirtlich. Es gelingt mir, den Blickwinkel etwas anzupassen, sodass ich aus einem der Fenster sehen kann. Anscheinend befinde ich mich irgendwo hochgelegen, denn das Land breitet sich weit unter mir aus. Unzählige dieser seltsamen Hütten, vor denen ich gerade noch gestanden bin, stehen dichtgedrängt auf der Ebene unter mir. Es handelt sich wohl um eine größere Siedlung. Gibt es in diesem Land viele Dörfer wie dieses? Oder leben die Menschen in anderen Teilen dieses Kontinents anders?
Schritte nähern sich in meinem Rücken. Ich habe keine Zeit, mich umzudrehen, was vermutlich ohnehin nicht geklappt hätte. Ein seltsames Gefühl bringt mein Innerstes zum Kribbeln. Und dann geht ein Bewohner dieses Ortes einfach durch mich hindurch.
Ich schüttle mich, um die Beklemmung loszuwerden. Etwas zieht mich weiter hinter dem Fremden her. Er öffnet eine riesige Holztür und tritt dann in den Raum dahinter. An der Schwelle werde ich angehalten und kann den Thronsaal in all seiner Pracht bewundern, der mich an Manekas’ große Halle erinnert. Allerdings herrscht hier drinnen viel weniger Prunk. Die Einrichtung ist kahl und einfach, der Stuhl an der gegenüberliegenden Wand besteht aus einem einfachen Holzgerüst, auf dem mit Lederbändern eine Sitzfläche gebildet wird. Dekoration ist in dem Raum nicht zu entdecken.
Auf dem Stuhl sitzt ein Riese, der mich vermutlich um zwei Köpfe überragt. Die Breite seiner Schultern wirkt auch aus der Ferne furchteinflößend. Die eindrucksvolle Gestalt des Hünen, der vermutlich der Herrscher des Landes ist, wird von prachtvollen Fellen und feinen Stoffen umhüllt. Der Fremde, mit dem ich gekommen bin, und der Riese beginnen sich in der Sprache zu unterhalten, die ich nicht verstehe. Zwischen Summen und den harten Lauten kann ich kein Muster erkennen. Doch auch so lese ich aus den Gesichtern der beiden, dass es wohl schlechte Neuigkeiten gibt.
Weinen ertönt. Eine Frau drängt in den Raum. Männer versuchen, sie aufzuhalten, doch sie eilt weiter, bis sie vor dem Herrscher anlangt. Sie lässt sich zu seinen Füßen nieder und streckt ihm ein Bündel entgegen. Dann legt sie es vor ihm ab. Ein Stück Stoff rutscht zur Seite, und plötzlich kann ich das leblose Gesicht eines Babys erkennen. Die Laute der Frau werden anklagend, bis zwei Männer sie an den Armen packen und nach draußen ziehen. Der Gesichtsausdruck des Herrschers zeigt seinen Schmerz.
Er verlässt mit seinen Ratgebern den Saal durch einen anderen Eingang. Sie treten an einen Abgrund und sehen in die Tiefe. Dort unten scheint Magie zu vibrieren. Truppen von Soldaten warten auf ihren Einsatz. In der Mitte einer freien Fläche steht eine Statue, so groß und breit wie einer der Soldaten, die uns heimgesucht haben. Rund um sie herum befinden sich Erdklumpen, deren Sinn ich nicht verstehe. Angst erfüllt mich, als sich die Statue verändert. In ihrem Inneren entsteht ein Glühen, das immer mehr zunimmt. Rauch steigt aus ihren Füßen auf, vermehrt sich, bis er zu einer riesigen Wolke auf der Fläche geworden ist. Der undurchdringliche Rauch verhüllt mir kurz die Sicht. Als der sich wieder lichtet, sind die Erdklumpen verschwunden. Soldaten samt Rüstung und Waffen stehen an ihrer Stelle. Eine Person formt wieder Erdklumpen, indem sie mehr Wasser auf den bereits feuchten Boden schüttet und dadurch Matsch entsteht. Die gerade erschienenen Soldaten marschieren währenddessen los, bis sie zu weiteren Kopien stoßen, die bereits in Reihen am Rand der Fläche stehen.
Eine weitere Person erscheint neben dem Herrscher. Sie bewegt sich so geschmeidig vorwärts, dass ich keine Schritte erkennen kann. Als würde der Neuankömmling schweben. Sein langes, fließendes Gewand reicht bis zum Boden. Eine Kapuze an der hellblauen Kleidung verdeckt sein Gesicht. Wellen von Energie gehen von ihm aus. Kraftvoll und intensiv, wie ich sie noch niemals in der Gegenwart eines anderen Menschen gespürt habe.
Er tritt zu den anderen beiden und beginnt, sich leise mit ihnen zu unterhalten. »Wir sind bald so weit«, sagt er laut genug, damit ich ihn verstehen kann.
Aber warum ergeben die Laute für mich plötzlich Sinn? Verbindet mich die erdumspannende Magie mit dem Zauberer, sodass ich die Sprache mit einem Mal enträtseln kann?
»Nur noch ein paar Tage, bis die Männer aufbrechen können. Unsere Armee wird unbesiegbar sein.«
»Und die Wesen, die du erschaffst und die unsere Truppen vergrößern werden, verhalten sich wie Menschen?«, fragt der Herrscher.
»Es handelt sich um Menschen. Sie sind Euch treu ergeben.« Ganz plötzlich hält er allerdings inne und wendet den Kopf. Der stechende Blick aus seinen länglichen Augen richtet sich direkt auf mich.
Erschrocken will ich einen Schritt zurück machen, doch da es sich bei diesen Bildern um reine Fantasie handelt, kann ich auch nicht verschwinden. Ich reiße die Augen auf.
Im nächsten Augenblick stehe ich wieder mit schnell klopfendem Herzen auf der Lichtung.
»Was ist mit Euch geschehen?«, fragt Manekas beunruhigt. »Ich habe Euch mehrmals angesprochen, aber Ihr habt nicht auf mich reagiert.«
»Ein Spruch hat mich in das Land reisen lassen, aus dem unsere unerwünschten Besucher stammen. Leider habe ich dadurch nicht viel mehr erfahren. Ich weiß nur, sie haben einen mächtigen Zauberer auf ihrer Seite. Er besitzt möglicherweise mehr Macht als alle Großen Zaubermeister unseres Kontinents zusammen.«
Die Stirn unseres Fürsten runzelt sich. »Wie kommt Ihr darauf?«
Für mich selbst ist es schwer zu verstehen, woher ich die Gewissheit habe. Wie soll ich Manekas erklären, wieso ich davon überzeugt bin? Von den Soldaten, die er mit Zauber erschaffen hat, will ich ihm nichts erzählen. Das würde ihn und alle anderen nur ängstigen. Die Größe ihrer Armee ist von Wichtigkeit, nicht woher die Männer stammen. Sie kämpfen. Sie bluten. Sie sterben. Wir müssen sie auch weiterhin bekämpfen. Unsere Truppen dürfen dabei nicht durch übertriebene Angst geschwächt werden. »Die Energie, die von ihm ausgeht«, sage ich. »Ich weiß, es handelt sich lediglich um einen Eindruck aus einer Vision. Die Magie, die ich in seiner Nähe gespürt habe, war nicht real. Dennoch konnte ich es fühlen.«
»Welche anderen Erkenntnisse aus Eurem Erlebnis können für uns von Vorteil sein?«
»Diese Menschen leben nicht in Häusern. Ihr Herrscher ist ein angsteinflößender Riese. Doch diese Informationen können wir nicht für uns nutzen. Interessanter ist da, dass die Maschine zusammen mit ihnen auf unseren Kontinenten gekommen ist. Die Leuchtsteine, die an den Ecken der Apparatur angebracht sind, hatten zu dem Zeitpunkt keinen Kern aus Dunkelheit. Sie sahen aus wie jetzt, nur dass sie gestrahlt haben.«
Manekas sieht zu dem Gerät und brummt leise.
Ich folge seinem Blick. Sehr viel länger kann ich den Moment nicht hinauszögern. Obwohl ich eine diffuse Unruhe empfinde, werde ich mich diesem Ding widmen müssen. Hoffentlich gelingt es mir, es unschädlich zu machen. Ob es reicht, die Steine zu entfernen? Zur Sicherheit werde ich sie mit einem Zauber belegen. Danach werde ich diese Maschine auseinandernehmen. Was wohl passiert, wenn wir es einfach in Brand stecken?
Unsere Männer haben in der Zwischenzeit begonnen, die persönlichen Gegenstände der Toten zu durchsuchen. Die leblosen Körper unserer Feinde rollen sie dabei einfach nur zur Seite. Ich erschaure. Der Anblick der Leichenberge verursacht bei mir Übelkeit. Dennoch kann ich meine Augen nicht abwenden. So viele Leben ausgelöscht, nur weil jemand unser Land überfallen wollte. Ja, vielleicht sind einige dieser Wesen aus Magie erschaffen worden. Dennoch haben sie geatmet und gelebt. Diese Soldaten waren menschlich.
Was haben sich unsere Feinde erhofft, als sie hierhergekommen sind? Diese Frage hat mich von Anfang an beschäftigt. Jetzt, da ich ihre Lebensumstände kenne, nehme ich an, sie wollen unseren Kontinent für sich beanspruchen. Ihre Heimat scheint kein angenehmer Lebensort zu sein. Vermutlich erhoffen sie sich von hier fruchtbaren Boden, milderes Wetter, bessere Umweltbedingungen. Wären sie tatsächlich bereit, uns alle dafür auszulöschen?
Einer unserer Soldaten hebt einen gegnerischen Krieger hoch, um ihn aus dem Weg zu schaffen. Der Mann auf dem Boden gibt einen Schmerzenslaut von sich. Wut verzerrt das Gesicht meines Landsmannes. Er greift nach seinem Schwert, um dem Feind den Todesstoß zu versetzen.
»Stopp!«, schreie ich aufgeregt. »Haltet ein! Lasst ihn am Leben.« Ich laufe los, um das Schlimmste zu verhindern.
Der Soldat mustert mich mit abschätzigem Blick und lässt sein Schwert nicht sinken. »Habt Ihr etwa Mitleid mit ihm? Wollt Ihr ihn vor dem Tod bewahren, obwohl er zu unseren Gegnern gehört? Er hat sich selbst für das Schwert entschieden. Soll er es bis zum Ende genießen.«
»Es ist mir herzlich egal, ob er leidet oder nicht«, lüge ich. »Dennoch werde ich ihn erst einmal heilen und dann versuchen, Informationen von ihm zu erhalten. Was nach meiner Befragung mit ihm passiert, werden wir später entscheiden.«
Als ich bei dem Soldaten anlange, lege ich eine Hand auf seinen Arm, damit ich seine Schwerthand zur Seite schieben kann. Der Mann wirkt nicht, als würde er sich gerne davon abhalten lassen, unseren Feind endgültig aus diesem Leben zu reißen. Er öffnet den Mund, schließt ihn aber wieder, nachdem er einen Blick über meine Schulter geworfen hat.
Ich kann Manekas’ Aura fühlen. Ohne dass unser Fürst etwas sagen muss, weiß ich, er steht auf meiner Seite.
Widerwillig tritt der Soldat zur Seite und wendet sich dem nächsten Toten zu.
»Wenn Ihr weitere Verwundete findet, denen noch geholfen werden kann, um sie nach ihren Absichten zu befragen, haltet Euch bitte zurück«, mahne ich ihn. Jemand reicht mir ein Seil, mit dem ich den Gefangenen fessle. Ich bücke mich zu unserem Feind am Boden und strecke die Hände über seine Wunde. Mit geschlossenen Augen murmle ich erst einen Sicherheits- und anschließend einen Heilungsspruch.
Hoffentlich ist es noch nicht zu spät. Es schmerzt, dass ich diesen Mann möglicherweise retten kann, während ich an Elevander gescheitert bin. Ich verstärke meine Bemühungen, als der Spruch keine Wirkung zeigt. Der Zauber wird anscheinend nicht reichen, um die Verletzung unseres Feindes verschwinden zu lassen. Dennoch darf der Fremde nicht sterben, bevor ich ihm meine Fragen gestellt habe.
Der Körper des Kriegers erstarrt. Er regt sich zwei Sekunden nicht, bevor er unter seiner Maske hungrig nach Luft ringt und die Augen aufreißt.
»Willkommen zurück«, sage ich trocken. »Könnt Ihr verstehen, was ich sage?«
Mit wütend funkelnden Augen starrt der Mann zu mir hoch.
Um ihn besser beobachten zu können, nehme ich ihm die Maske ab. Ich kann die Frustration in seinem Blick erkennen, als ihm klar wird, gefesselt zu sein. Er hebt ruckartig den Kopf und spuckt mich an.
Zum Glück trifft er mich nicht im Gesicht, sondern verteilt seinen Geifer lediglich auf meiner Toga. Mein Zauber hindert ihn daran, mich verletzen zu können. Ich wünschte, dieser Zauber könnte auch dafür angewendet werden, jeden Soldaten unserer Armee zu beschützen. Doch die Magie will verhindern, dass ihr Botschafter getötet wird. Durch mich fließt die Energie. Nichtzauberer existieren in ihren Wertevorstellungen nicht.
»Haltet lieber ein wenig Abstand«, schlägt unser Fürst vor. »Sie sind um vieles stärker als wir. Er könnte Euch leicht überwältigen, und anschließend vernichtet er den Rest von uns.«
Denkt Manekas, ich hätte nicht vorgesorgt? Hält er die Fesseln für wirkungslos? Hat er nicht bemerkt, dass ich dem fremden Krieger der Möglichkeit beraubt habe, mich zu verletzen?
Der Soldat knurrt bösartig, doch seine Mundwinkel zucken. Triumph blitzt in seinen Augen auf.
»Jetzt wissen wir zumindest, dass er uns verstehen kann«, sagt Manekas.
»Ein kluger Schachzug von Euch«, gebe ich zu und schäme mich dafür, an unserem Fürsten gezweifelt zu haben. Ich packe unseren Feind am Kragen und ziehe ihn in eine aufrechte Position. Die Tatsache, dabei an den leblosen Körpern seiner Freunde zu lehnen, schiebe ich hastig zur Seite. »Wollt Ihr uns nicht ein wenig über Euch erzählen? Bestimmt liegen Euch unzählige Beschimpfungen auf der Zunge. Tobt Euch aus, und berichtet mir dann, was ich wissen will.«
Ekel huscht über das fremdartige Gesicht des Kriegers. Dann schüttelt er den Kopf.
Ob er unsere Sprache überhaupt sprechen kann? Ich wünschte, ich wäre dazu in der Lage. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie schnell zu lernen. Dieses Mal lasse ich keinen Platz für Zweifel. Dieses Mal glaube ich an mich und daran, eine Chance zu haben. In Gedanken gehe ich die Zauberbücher meines Großvaters durch und bleibe dann an einer Seite hängen. Ein Spruch ist dort angeführt, um jede Sprache und jeden Dialekt zu erlernen. Möglicherweise erlaubt es mir, alle Sprachen unserer Welt zu verstehen.
Lautlos spreche ich den Zauber. Danach fühle ich mich wie zuvor. Nichts hat sich verändert. Anscheinend ist meine Magie gescheitert.
»Berichtet mir ein wenig aus Eurer Heimat«, locke ich trotzdem. »Wie wäre es, wenn Ihr mir den Namen Eures Zauberers nennt?«
Hinter mir keucht Manekas auf. Die Augen des Fremden weiten sich überrascht. Scheint, als würde der Zauber doch Wirkung zeigen.
»Ich habe ihn in seiner blauen Robe gesehen«, fahre ich fort. »Faszinierend, wie er förmlich über allem schwebt. Berühren seine Füße überhaupt den Boden?«
»Ihr könnt ihm unmöglich begegnet sein. Er hat uns nicht hierhin begleitet. Wie könnt Ihr wissen, wer er ist?«
»Habt Ihr noch nicht bemerkt, dass ich die gleichen Fähigkeiten wie Euer Zauberer besitze?«
Wut flackert in seinem Blick. »Lüge. Niemand ist so mächtig wie er.«
Grübelnd lege ich den Kopf schief. Mit welchem Spruch soll ich ihn von seinem Fehler überzeugen? Schließlich entscheide ich mich dafür, eine Energiewelle auszusenden, die ihm den Atem rauben soll. Üblicherweise fächere ich diese Kraft möglichst breit, um viele unserer Gegner von den Füßen zu fegen. Jetzt konzentriere ich sie auf seinen Hals, drücke zu, ohne ihn zu berühren.
Ungläubig reißt der Mann den Mund auf und ringt nach Luft.
Ich entlasse ihn aus meinem Griff. »Genügt diese Demonstration, damit Ihr mir glaubt?«
»Du bist nur ein kleiner Wicht, der Tricks anwendet, um mich zu täuschen. Darauf falle ich nicht herein.«
»Schön, dann muss mein Beweis wohl ein wenig größer ausfallen.« Ich murmle die Worte, mit denen ich unsere Soldaten unsichtbar gemacht haben. Untereinander können sie sich immer noch erkennen. Für den Krieger vor mir muss es allerdings wirken, als wären sie von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
»Teufelswerk«, behauptet er.
»Wenn du denkst, ich würde mit dem Teufel zusammenarbeiten, dann will ich nicht widersprechen. Tatsächlich bin ich ihm nähergekommen, als ich erwartet habe.« Ich habe sogar mit ihm im Bett gelegen, habe ihm erlaubt, himmlische Dinge mit mir anzustellen. So detailliert muss ich das wohl nicht ausführen.
»Trotzdem sage ich dir kein Wort. Du wirst von mir nichts erfahren, was dir ermöglicht, einen Vorteil über uns zu erringen.«
Mein Versuch, ihm zu zeigen, genauso mächtig zu sein wie sein Zauberer, hat nichts genutzt. Er will an seinem Glauben festhalten, der Seite anzugehören, die am meisten Magie besitzt. Seinen Widerwillen, seinen Fehler einzusehen, kann ich nachvollziehen. Er wehrt sich dagegen, seinen Glauben aufzugeben. Das kann ich ihm nicht verübeln.
Dennoch brodelt die Wut in mir. Wie viel muss ich noch leisten, wie viele Opfer muss ich noch bringen, damit ich vom Rest der Welt endlich für gut genug gehalten werde? Wie viel Mut muss ich noch beweisen, wie viel Klugheit, wie viel Finesse, bis man nicht mehr an mir zweifelt?
Die Frustration dieses Morgen kehrt mit voller Wucht zurück und lässt mein Herz brennen. Nicht wieder jemand, der mich unterschätzt und denkt, er kann respektlos mit mir umspringen. Ich habe es statt, nett und höflich zu sein. Jetzt bin ich an der Reihe! Jetzt werde ich beweisen, wozu ich fähig bin! Alle Muskeln in meinem Gesicht spannen sich vor Wut an. Ich packe den Mann und schüttle ihn durch. »Du denkst, du hast eine Wahl? Du weißt nicht, mit wem du dich einlässt.«
Eine Hand legt sich auf meine Schulter. »Lesithder«, mahnt Manekas. »So haltet ein.«
»Er hat es nicht besser verdient«, sage ich über meine Schulter. »Ihr wisst doch, er würde keine Gnade zeigen, wenn er an meiner Stelle wäre.«
»Jetzt habt Ihr die Kontrolle über ihn. Ihr könntet mit ihm machen, was Ihr wollt. Ich bezweifle allerdings, Ihr könntet Eure Tat nicht bereuen. So gut habe ich Euch bereits kennengelernt.«
Gut, er kann meine Worte verstehen. Obwohl ich mich nicht bemüht habe, die Sprache zu wechseln, beherrsche ich beide Zungen gleichzeitig.
Aber schlecht, dass er mich durchschaut hat. Nach seinen Worten bin ich nicht mehr in der Lage, in meiner Wut zu verharren.
Ich stoße den Soldaten von mir. »Glaub nicht, das würde irgendetwas ändern. Es wird euch nicht gelingen, uns zu besiegen. Ihr seid vielleicht in unser Land gekommen, um uns zu unterwerfen. Daran müsst ihr jedoch scheitern. Wir lassen uns aus unserem Zuhause nicht vertreiben.«
Der Fremde lacht auf. »Wir werden euch weder unterwerfen noch vertreiben. Wir werden euch vernichten. Keiner von euch wird übrigbleiben. Uns wird gehören, was ihr jetzt besitzt. Und wenn unser Zauberer erst einmal den Rest der Energie eures Kontinents aufgesaugt hat …« Mit erschrockenem Gesichtsausdruck unterbricht er sich.
Mein Blick wandert zu der seltsamen Maschine. »Tut das Ding das? Sammelt sie unsere Magie ein? Schickt ihr sie zu eurem Zauberer?«
Die fest zusammengepressten Lippen des Kriegers machen klar, dass er nichts mehr sagen wird. Möglicherweise hat er bereits genug verraten, damit ich die Bedrohung für uns verringern kann. Unter Umständen ist der Plan unserer Feinde bereits gescheitert, wenn ich diese Maschine außer Gefecht setze.
»Danke dir für deine Hilfe«, sage ich spöttisch und richte mich auf. Dann wende ich mich an Manekas und berichte ihm, was der Soldat ungewollt preisgegeben hat. »Wir müssen uns um diese Gerätschaft kümmern. Ich werde die Hilfe von einigen Männern brauchen. Keine Sorge, ich werde vorsichtig sein. Sie werden von mir mit einem Schutzzauber belegt, damit sie keine Gefahr von dem Ding fürchten müssen. Zur Sicherheit sollten wir diesen Krieger dennoch am Leben lassen. Wenn es uns gelingt, noch weitere Verletzte zu befragen, erhalten wir möglicherweise ein deutlicheres Bild.«
»Wir werden das im Hinterkopf behalten, auch wenn ich bezweifle, dass meine Männer über die Anweisung sonderlich erfreut sein werden«, stimmt Manekas zu. »Ich werde fragen, ob es Freiwillige gibt, die Euch mit der Zerlegung der Maschine helfen werden.«
Mit einem Nicken verabschiede ich mich und mache mich auf den Weg zu dem Ungetüm. Je näher ich komme, umso größer wirkt es. Bestimmt spielt mir meine Fantasie einen Streich, weil ich Angst vor dem Versagen habe. Zu viel steht auf dem Spiel. Wenn es mir nicht gelingt, das Gerät unserer Gegner auszuschalten, nutzt es uns auch nichts, die Eindringlinge zu überwältigen.
Der Zauberer unserer Feinde versucht, unsere Magie zu stehlen. Möglicherweise ist dem Fürsten gar nicht klar, welche Folgen das haben würde. Die Energie, die sich in der Luft befindet, speist uns mit göttlicher Magie. Wir Zauberer können darauf zugreifen und unsere Zauber wirken. Sollten wir dazu nicht mehr in der Lage sein, würde das keine großen Auswirkungen auf den Verlauf der Welt haben. Unser Volk würde nicht zugrunde gehen, nur weil die Zauberer an kleinen Tricks und größeren Schauspielen scheitern. Die Sonne würde weiterhin jeden Tag auf- und untergehen. Das Leben der Menschen würde keinen großen Änderungen unterworfen sein.
Doch wenn auch sie nicht mehr in der Lage sind, von der Energie zu profitieren, würde das die Fruchtbarkeit der Erde beeinflussen. Wir würden es am Ertrag der Ernte spüren, an der Qualität der Früchte. Langsam, aber sicher würden unsere Vorräte zu Ende gehen. Wir würden verhungern, wenn es uns nicht gelingt, neue Ressourcen zu erschließen. Selbst wenn unsere Generation überleben würde, hätten unsere Nachkommen an der fehlenden Energie zu leiden. Den Kindern, die auf die Welt kommen, würde es an Gesundheit fehlen. Sie würden nicht so lange leben, wie es jetzt der Fall ist. Unsere Welt wäre nicht mehr die Gleiche.
Für Manekas sind diese Dinge vermutlich abstrakt. Er hat als unser Fürst noch keinen einzigen Tag in seinem Leben hart arbeiten müssen. Mit Sicherheit hat er sich noch niemals die Finger beim Bestellen der Felder schmutzig gemacht. Wenn er krank wird, scharren sich unzählige Heiler um ihn und weichen nicht von seiner Seite, bis es ihm besser geht. Als unser Herrscher quälen ihn keine Sorgen um seine Zukunft. Er sitzt in seinem gläsernen Turm und weiß nichts von den Kümmernissen der einfachen Menschen. Ich kann ihn nicht dafür tadeln. Er hat nichts außer seinem privilegierten Leben kennengelernt.
In meinem Rücken diskutiert Manekas noch immer mit einigen Soldaten, die sich weigern, mir zu helfen. Das Ungetüm jagt ihnen wohl Angst ein.
Seufzend murmle ich einen Spruch, der mich beschützen soll, dann strecke ich den Arm aus und berühre mit den Fingerspitzen die Oberfläche des geheimnisvollen Geräts. Nichts passiert. Etwas ruhiger lege ich meine Handfläche auf das glattpolierte Holz.
Wellen von Energie springen auf mich über. Dunkle Kräfte, die in meinem Körper Chaos verursachen. Es handelt sich um nichts, was mich verletzen könnte. Die Magie ist zu schwach, um Auswirkungen auf mich zu haben. Hätte es einer unserer Soldaten berührt, würde die Sache möglicherweise anders aussehen. Ich hänge meine Finger an einem Vorsprung in Augenhöhe ein. Dann setze ich meinen Fuß auf das Gerät und ziehe mich hoch. Angespannt warte ich ab, ob die Angriffe der gegnerischen Magie jetzt schwerer werden. Doch wieder komme ich mit den Wirbeln, die sich in meinem Körper ausbreiten, gut zurecht.
»Seid vorsichtig«, bittet eine mir unbekannte Stimme.
Ich werfe einen Blick über meine Schulter und entdecke einen grauhaarigen Soldaten, der mit besorgtem Ausdruck in den Augen zu mir aufsieht. Er ist vermutlich älter als Oremazz. Wenn er nicht mit unserer Armee hierhergekommen wäre, hätte ich bezweifelt, dass er ein Schwert auch nur hochheben kann. »Seid Ihr meine Hilfe bei diesem Projekt?«
Er nickt. »Ich werde tun, was Ihr von mir verlangt.« Meine Miene verrät ihm anscheinend, dass ich seinen Kräften misstraue, denn er drückt den Rücken durch und strafft die Schultern. »Ich bin harte Arbeit gewohnt. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«
»Mit Sicherheit habt Ihr Euch in Eurem Leben vor keiner Aufgabe gedrückt. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob Ihr der Richtige für diese seid.«
»Die jungen Männer haben ihr Leben noch vor sich. Ich stelle mich gerne für diese gefährliche Mission zur Verfügung. Mein Glück habe ich an der Seite meiner wundervollen Frau bereits verbraucht.«
Stolz schwingt in seiner rauen Stimme mit. Ich möchte ihn nicht weiter vor den Kopf stoßen und nicke ihm einfach zu. »Bleibt in Sichtweite. Wenn es mir gelingt, das Ungetüm zu erklimmen und von oben zu untersuchen, finde ich hoffentlich heraus, wie es funktioniert. Ich werde Euch mitteilen, wenn ich Eure Hilfe benötige.«
Mein Blick wandert wieder das seltsame Bauwerk hinauf. Als ich die feindlichen Soldaten dabei beobachtet habe, wie sie das Ding bestiegen haben, hat es viel einfacher gewirkt. Bestimmt haben sie genau gewusst, welchen Weg sie wählen müssen. Diesen Luxus besitze ich leider nicht.
Angespannt strecke ich meinen Arm aus und taste nach einem weiteren Vorsprung, den ich benutzen kann, um mich hochzuziehen. Tatsächlich finden meine Finger eine Einkerbung, die groß genug ist, damit ich mich vorwärtsbewegen kann. Mein Fuß rutscht in eine Aussparung, sodass ich mich strecken kann, um einen weiteren Schritt zu wagen. Es geht nur langsam vorwärts, aber schließlich kann ich den oberen Teil der Maschine erkennen.
Die Fläche zwischen den vier Steinen ist gerade und bietet keinen Blick ins Innere. Enttäuscht klettere ich das letzte Stück, bis ich oben stehe. Ich habe gehofft, hier oben würde es einen Zugang zu den Gerätschaften geben, die sich im Innenteil der Maschine befinden. Habe ich den Aufstieg umsonst angetreten? Hätte es einen Zugang von unten gegeben?
Ich setze meinen Fuß auf das Dach und beuge mich dann nach unten, um die Holzbohlen zu untersuchen. Nicht aufgerichtet auf dieser Plattform zu stehen, stellt eine gewisse Erleichterung für mich dar. Hier oben fühle ich mich unwohl, bloßgestellt und wie eine leichte Beute. Bei jedem Windstoß, der an mir zieht, grummelt es in meinem Magen. Viel zu sehr verstört mich der Gedanke, von diesem Ding zu fallen. Leide ich etwa unter Höhenangst?
Um meine Gedanken davon abzulenken, ein Unglück heraufzubeschwören, widme ich mich ganz der Aufgabe, einen Zugang zu dem Gerät zu finden. Keine Nägel sind zu erkennen, keine Zähne, die ineinandergreifen. Auf den ersten Blick wirkt es, als wäre die Oberfläche aus einem einzigen Stück Holz geschaffen.
Das ist nicht möglich. Selbst wenn es in dieser Welt, die sich mir kahl und pflanzenlos gezeigt hat, doch Wälder geben sollte, würde kein Baum dick genug sein, um diese Form aus ihm herauszuschneiden. Mit der Handinnenfläche streiche ich über das Holz und teste, ob ich etwas erfühlen kann, was meinen Augen verborgen bleibt.
Die Energie, die die Maschine ausstrahlt, erhöht sich inzwischen. Von meiner Untersuchung ist sie anscheinend nicht sonderlich erfreut. Solange sie mir keinen Energiestoß versetzt und mich abwirft, werde ich meine Bemühungen nicht unterbrechen. Ich benutze meine Fingerspitzen und Nägel, um die Oberfläche zu erkunden, doch ich finde keinen Griff und keine Einkerbung, die eine Öffnung verbergen könnte.
Vielleicht handelt es sich um einen Zauber, der das Offensichtliche versteckt. Möglicherweise werden meine Sinne getäuscht, damit ich das Gerät nicht abschalten kann. Ich richte mich auf und gehe zu einer Ecke des seltsamen Würfels. Dann werde ich also dafür sorgen, dass die Energie dieser Maschine an Kraft verliert. Ich richte mich auf und gehe langsam auf die erste Säule zu.
Vorsichtig lege ich meine Hände um den ersten Leuchtstein, der jetzt durchscheinend und farblos ist. Die Oberfläche fühlt sich rau an. Mit Sicherheit wurde der Stein so belassen, wie er war, um seine Wirkungsweise nicht zu beeinträchtigen. Er scheint nur auf dem Sockel zu liegen, vor dem ich stehe. Allerdings gelingt es mir nicht, ihn zu entfernen. Ich beuge mich vor und untersuche die Stelle, wo der Stein das Holz berührt. Zuerst wirkt es, als fehlten Befestigungen. Als ich allerdings den Kopf bewege, bemerke ich eine Brechung des Lichts. Ich betaste die Stelle und fühle unter meinen Fingerspitzen durchsichtige Klammern, die den Stein festhalten. Vorsichtig fahre ich die Klammer nach unten und gelange an einen Hebel. Als ich den nach unten drücke, löst sich die erste Befestigung.
Mein Herz klopft sofort schneller. Ich bin so erleichtert, dass ich nicht sofort bemerke, wie die Klammer ohne meinen Finger wieder zurückschnappt. Noch einmal taste ich rund um den Stein. An vier Stellen ist er durch die unsichtbare Vorrichtung mit dem Sockel verbunden. Ich lege jeweils Daumen und Zeigefinger meiner linken und rechten Hand auf den Hebel und drücke ihn nach unten. Die Klammern lösen sich und geben den Stein frei.
Der beginnt zu kippen, weshalb ich ihn hastig festhalte. Überraschend schwer zieht er meine Hände nach unten. Während ich ihn noch betrachte, trübt er sich ein und wird schließlich stumpf und undurchsichtig. Ich sehe zu den anderen Steinen. An ihnen macht sich der seltsame Effekt nicht bemerkbar. Allerdings scheint es, als hätten sie einen Teil ihrer Klarheit verloren. Es wird mir also nichts anderes übrigbleiben, als auch sie zu entfernen. Und wie bekomme ich den Stein jetzt nach unten zu meinem Helfer?
Ich werfe einen Blick über den Rand. Mir wird bei dem Anblick der Höhe, in der ich mich befinde, ganz schummrig. Das Besteigen eines Berges macht mir nichts aus. Doch diese Erhebung ist gefährlicher. Der alte Mann steht immer noch direkt neben der Maschine und sieht mit besorgtem Gesichtsausdruck zu mir auf.
»Besorgt bitte ein festes Tuch«, rufe ich nach unten. »Und ersucht drei andere Soldaten um Hilfe. Ich werde Euch die Steine einzeln zuwerfen. Mit dem Tuch könnt ihr sie hoffentlich auffangen, ohne dass sie Schaden erleiden.«
»Sollten wir die einzelnen Teile der Maschine nicht ohnehin zerstören?«, fragt der Greis.
Eine berechtigte Frage, auf die ich keine Antwort habe. »Das entscheide ich zu einem späteren Zeitpunkt. Erst will ich überprüfen, ob sie Magie in ihrem Inneren festhalten. Wenn sie in tausend Stücke zerspringen, während wir alle danebenstehen, sind die Folgen nicht vorhersehbar.«
Der Mann nickt und verschwindet dann. Ich hoffe, er braucht nicht zu lange. Wir haben noch viel Arbeit vor uns. Erst wenn wir dieses Gerät vernichtet haben, können wir auch die anderen Truppen unserer Gegner überrumpeln. Wie lange es wohl dauern wird, bis sie bemerken, dass etwas nicht stimmt?
»Tuch und Helfer vor Ort, edler Zauberer«, tönt es von unten.
Ich unterdrücke ein grimmiges Lächeln und zögere ein letztes Mal. Ob ich den Stein mit einem Zauber schützen soll? Ich weiß nicht, ob er sich meine Magie einverleiben wird, wenn ich das tue. Der Stein soll nicht noch mehr Energie absorbieren als ohnehin schon. Ich muss das Risiko für uns alle so gering wie möglich halten. Zu viele Menschenleben könnten durch einen Fehler von meiner Seite gefährdet werden.
Vorsichtig schiebe ich mich weiter nach vorne, obwohl mein Magen dagegen rebelliert. Die Männer scheinen mir plötzlich noch weiter entfernt. Das Tuch wird winziger, je länger ich es betrachte. Ob es mir überhaupt gelingt, darauf zu zielen? Jetzt ist nicht die Zeit, um wegen der Höhe Bedenken zu haben. Ich halte den Stein in meinen ausgestreckten Armen, merke wieder, wie schwer das Ding wirklich ist. Wenn ich es nicht gleich loslasse, wird es mir ohnehin aus den Händen gleiten. Also los.
Im letzten Moment zögere ich doch. Hastig murmle ich einen Spruch, der verhindern wird, dass das Tuch durchreißt. Dann lasse ich den Stein los.
Angespannt beobachte ich, wie er auf die Erde zurast. Die Männer halten das Tuch gespannt. Ich hoffe, sie ziehen es nicht zu weit auseinander. Wenn der Stein nach dem Aufprall zu hoch hüpft, könnte er zur Seite springen, sodass sie ihn nicht erwischen. Zum Glück gehen die Männer einen Schritt nach vorne, als der Stein auf das Tuch auftrifft. So verhindern sie, dass der Stein wegrollen kann.
Gierig sauge ich die Luft in meine Lungen und nehme mir eine Sekunde, bis sich mein Puls wieder normalisiert hat. Dann trete ich zur nächsten Säule und setze dort meine Arbeit fort. Jetzt, da ich den Mechanismus verstanden habe, der den Stein festhält, kann ich die Klammern ganz schnell lösen. Wenige Augenblicke später stehe ich wieder am Rand der Maschine und blicke nach unten.
Die Soldaten haben den Stein inzwischen von der Decke gerollt. Er liegt ein paar Schritte entfernt am Boden und sieht so unscheinbar aus, man könnte fast denken, es würde sich um ein harmloses Gestein handeln.
Ich stoße einen Warnruf aus und schicke dann den zweiten Stein nach unten. Als der sicher unten angekommen ist, löse ich den dritten und vierten Stein. Kurz darauf sind die aus meiner Sicht wichtigsten Dinge vom Gerät entfernt. Ich warte, bis alles verstaut ist, und trete dann in die Mitte der Plattform. Es ist ein gewisses Risiko, Magie einzusetzen, um die Öffnung für den Abstieg in die Maschine zu suchen. Die Steine haben nicht reagiert, als sie mit dem Tuch in Berührung gekommen sind, das ich mit einem Zauber belegt hatte. Möglicherweise mache ich mir zu viele Sorgen. Dennoch werde ich zuerst die Oberfläche des Holzes noch einmal untersuchen.
Nachdem ich mich flach auf den Boden gelegt habe, taste ich das, was wie ein einziges Brett aussieht, mit den Augen ab. Die Klammern haben sich auch erst gezeigt, als ich meinen Blickwinkel gewechselt habe. Also bewege ich meinen Kopf hin und her und überprüfe, ob sich dabei irgendwelche Auffälligkeiten ergeben. Leider bleibt meine Suche erfolglos.
Obwohl mein Nacken kribbelt, gehe ich zu Plan B über. In Gedanken spreche ich einen Spruch, der Verborgenes sichtbar machen soll. Ich versuche, so wenig Magie wie möglich zu benutzen. Dann drehe ich mich auf dem Bauch liegend noch einmal im Kreis.
Ich habe erwartet, in der Mitte der Platte etwas beobachten zu können, doch da habe ich mich geirrt, stattdessen erscheint ein Metallring in meinem Blickfeld, als ich mich einer der Ecken zuwende. Während ich vorsichtig näherrobbe, verändert sich der Ring. Je nach Lichteinfall scheint er zu verschwinden und wieder zu erscheinen. Großartige Magie von jemandem, der jahrelange Übung hatte. Dass sein Zauber meinen Fähigkeiten nichts entgegenzusetzen hat, erfüllt mich mit Stolz.
Für diese Empfindung tadle ich mich. Noch habe ich nichts geleistet. Ich habe nicht mehr getan, als die Sprüche anzuwenden, die mich mein Großvater gelehrt hat. Dass ich mir Buchseiten bildhaft vorstellen kann, obwohl ich sie nur ein einziges Mal gesehen habe, ist mir in die Wiege gelegt worden. Dafür habe ich nicht arbeiten müssen. Also sollte ich mich in Zurückhaltung üben und mich nicht mit etwas brüsten, das ich nicht beeinflussen kann.
Inzwischen bin ich in Griffnähe gekommen. Ich strecke meinen Arm aus, um zu überprüfen, ob ich danach greifen kann. Es könnte sich immer noch um eine Täuschung handeln, damit ich mich in Sicherheit wiege, das Rätsel gelöst zu haben, während ich geradewegs in eine Falle tappe.
Meine Finger schließen sich um den kühlen Metallring. Langsam hebe ich ihn an und ziehe an ihm.
Etwas zischt über meinen Kopf hinweg. Was auch immer es gewesen ist, scheint aus vier Richtungen auf mich zugekommen zu sein. Das dazugehörige Surren war nicht nur vor mir zu hören. Als ich den Kopf drehe, fällt mein Blick auf einen Pfeil, der in Brusthöhe in der Säule vor mir steckt und immer noch vibriert. Vorsichtig drehe ich mich zur Seite und entdecke auch an den anderen Konstruktionen für die Steine Pfeile, die sich tief in das Holz gebohrt haben. Meine Höhenangst hat mir anscheinend das Leben gerettet.
»Alles in Ordnung?«, fragt jemand von unten.
Zittrig bejahe ich, während ich überlege, ob ich nicht auf dem schnellsten Weg wieder von dieser Plattform klettern sollte. Leider wird der Abstieg bestimmt viel schwieriger als der Aufstieg. Außerdem würde ich mir wie ein Feigling vorkommen, wenn ich nicht einmal versuchen würde, die in mich gesetzten Hoffnungen zu erfüllen.
Ich mache mich noch kleiner, liege so flach wie möglich auf dem Bauch und greife noch einmal nach dem Metallring.
Nichts passiert.
Vorsichtig ziehe ich ihn in meine Richtung.
Nichts passiert.
Ich versuche, ihn anzuheben.
Nichts passiert.
Möglicherweise waren die Pfeile die erste Stufe der Abwehrmaßnahmen und ich bin hier draußen erst mal sicher. Was mich im Inneren der Maschine erwartet, weiß ich allerdings nicht. Ich werde jeden meiner Schritte ab jetzt vorsichtig setzen müssen.
Der Ring bewegt sich in die Höhe. Mit ihm hebt sich eine Platte, die ein dunkles Loch freilegt. Seufzend ringe ich mit mir. Alles in mir schreit, dass ich mich nicht dort hinunterwagen soll. Die Gefahren sind nicht abschätzbar. Doch es gibt keine Alternative.
Ob ich mich mit einem Zauber schützen kann? Der Spruch, den ich vorhin angewendet habe, mag mich beeinflusst und meine Angst gefördert haben, aufgrund derer ich so ungern aufrecht hier oben stehen will. Verlassen möchte ich mich allerdings nicht darauf. Ich erneuere den Zauber zwar, doch ich werde einen Spruch finden müssen, mit dessen Hilfe ich die Maschine übertölpeln kann. Mit geschlossenen Augen gehe ich die Bücher meines Großvaters durch. Doch mir ist bewusst, nichts zu entdecken, das exakt auf meine Situation zutrifft. Wie hätte sich schon jemals jemand in einer ähnlich gefährlichen Lage befinden sollen? Ich werde mich unsichtbar machen, einen Spruch verwenden, der meine Körpertemperatur an die Luft anpasst, und einen, der mein Gewicht aufhebt. Es ist eine wilde Kombination, die in ihrer Vielfalt auch gefährlich sein könnte. Anders weiß ich mir allerdings nicht zu helfen.
»Ich werde in dieses Ding steigen«, rufe ich laut genug, damit man mich unten hört. »Wenn irgendetwas passieren sollte und ich nicht mehr in der Lage bin, die Maschine zu verlassen, müsst ihr sie zerstören. Haltet zu Eurer Sicherheit etwas Abstand. Versucht nicht, mich zu retten. Vermutlich bin ich ohnehin bereits verloren.« Den letzten Satz sage ich leiser zu mir selbst.
»Wartet. Ich erklimme das Ungetüm und gehe statt Euch ins Innere.« Die Stimme gehört dem Soldaten, der als Erster seine Hilfe angeboten hat.
»Das Angebot ist sehr nett von Euch gemeint. Allerdings kann ich es nicht annehmen. Ihr seid kein Zauberer. Ihr wisst nicht, wie Ihr mit der Magie in diesem Gerät umgehen sollt.«
Die Maschine schwankt leicht. »Dann begleite ich Euch.«
Steigt der gute Mann bereits auf die Maschine? Wenn ihm etwas passiert, würde ich mir das niemals verzeihen. Wenn er etwas tut, das uns beide in Gefahr bringt, weil er mir helfen will, ist das genauso schlimm.
»Bleibt unten!«, befehle ich. »Mir ist wohler dabei, wenn ich nur auf mich selbst aufpassen muss. Wartet einfach, was passiert.«
»Wir brauchen Euch«, gibt der Mann zurück. »Ihr seid wichtiger als ich es bin. Also seid nicht so uneinsichtig.«
Verblüfft lache ich auf. Wagt er es tatsächlich, mich zu tadeln? »Es ist zu gefährlich. Ich habe gerade versehentlich einen Abwehrmechanismus ausgelöst. Wenn ich nicht auf dem Bauch gelegen hätte, wäre ich von vier Pfeilen getroffen worden. Ich übernehme die Aufgabe also allein.«
Zur Sicherheit spreche ich noch einen Zauber, der ihn daran hindert, die Plattform zu erreichen und ihn sicher auf den Boden zurückbringt. Ich kann nicht sehen, ob mein Spruch funktioniert hat. Nach dem Gemurmel der anderen Männer unten zu schließen, das zu mir dringt, habe ich mich allerdings nicht ganz ungeschickt angestellt. Mit einer Sekunde Verspätung beginnt auch der grauhaarige Soldat, sich zu beschweren. Ich ignoriere seine Einwürfe.
Das Loch wartet immer noch wenig einladend auf meine Entscheidung. Ich entschließe mich, den Abstieg zu wagen. Noch niemals habe ich so viele Zauber gleichzeitig an einer Person angewendet. Das ist einer der Gründe, weshalb ich meinen fleißigen Helfer nicht mitnehmen möchte. Wenn ich die Sprüche verwende, könnte das bereits dafür sorgen, dass ich diese Maschine nicht mehr lebend verlasse.
Der Unsichtbarkeitszauber ist der erste Schritt. Mein Körper zeigt keine Reaktion. Also fahre ich mit dem Zauber fort, der meine Temperatur absenkt, bis meine Körperwärme keine Veränderungen in der Atmosphäre im Inneren verursacht. Zum Glück ist es nicht so kalt, dass ich Erfrierungen befürchten müsste. Dennoch fühlt es sich unangenehm an. Ich kann spüren, wie die Energie in ihr brodelt und nach einer Möglichkeit sucht, meinen Körper zu verlassen. Bleibt noch ein letzter Spruch. Mit dem sorge ich dafür, durch das Gewicht meines Körpers auf dem Boden keine Druckplatten auszulösen. Jeder meiner Schritte wird nun leichter als eine Feder sein, während sich für mich nichts ändert. Ich hoffe, diese Vorkehrungen reichen aus, um mich zu schützen.
Sobald die letzten Silben über meine Lippen gekommen sind, erzittert mein Körper. Die Magie in mir vibriert, wird zu einem Sturm, der sich gegen die übermäßige Anwendung der Sprüche wehrt. In den ersten Sekunden befürchte ich, das sei das Ende. Der Wirbel in mir wird schmerzhaft intensiv. Meine Eingeweide drehen sich um, werden zusammengepresst und gleichzeitig auseinandergezogen. Eine übermenschliche Kraft will sie aus meinem Körper reißen.
Die Angst lähmt mich. Habe ich mich jetzt endgültig übernommen? Habe ich meine Fähigkeiten überschätzt? Möglicherweise hat mein Großvater recht mit seiner Einschätzung, ich sei nicht zu einem guten Zauberer geeignet. Das Selbstvertrauen, das ich mir eingeredet habe, zeigt mir jetzt ganz deutlich, dass es nicht echt ist. Wer bin ich denn schon? Was kann ich denn schon? Wie kann ich denn glauben, die Magie beherrschen zu können?
Panik flutet all meine Sinne. Ich drohe ohnmächtig zu werden, weil ich einfach nicht genug Luft bekomme. Der Schmerz in meinem Inneren überwältigt mich. Obwohl ich weiß, dass ich mich davon nicht beeinflussen lassen darf und alles nur noch schlimmer mache, atme ich hastig ein und aus. Ich befinde mich mitten in einer Spirale, aus der ich mich scheinbar nicht allein befreien kann. Wenn doch nur Elevander bei mir wäre. Er würde die richtigen Worte finden. Wenn Umock bloß nicht verschwunden wäre. Er wüsste, was zu tun ist. Wenn die Verbindung zu Oremazz nur nicht abgerissen wäre. Sein Tadel würde mir die Kraft geben, gegen die Angst anzukämpfen.
Ich schließe die Augen, drücke meine Wange an die glatte Oberfläche des Holzes unter mir. Einatmen. Ausatmen. Konzentrieren. Entspannungsübungen haben bei solchen Anfängen in meiner Jugend geholfen. Nachdem meine Eltern gestorben sind, habe ich oft Panik empfunden. Ich habe sie vermisst, die Wärme, die Geborgenheit, die sie mir geschenkt haben. An der Seite meines Großvaters habe ich mich nicht sicher gefühlt. Als ich zu Elevanders Eltern gekommen bin, habe ich endlich einen sicheren Hafen gefunden. Elevanders Mutter hat mir geholfen, mich zu fokussieren, wenn die Traurigkeit mich verschluckt hat. Allein an sie zu denken, lindert den Schmerz in mir.
Die Magie kommt langsam zur Ruhe. Meine Eingeweide werden nicht mehr durch die Mangel gedreht. Ich kann wieder frei atmen. Die Angst lähmt mich nicht mehr. Dennoch warte ich ein paar Augenblicke, bis ich bereit bin, meine Mission zu beginnen.
Langsam schiebe ich mich näher zu der Öffnung heran und werfe einen Blick in den schwarzen Schacht. Keine Stufen sind zu sehen. Als ich mich aber weiter vorbeuge, entdecke ich an einer Wand eine Leiter, die nach unten führt.
Vorsichtig bringe ich mich in die richtige Position, um hinunterklettern zu können. Ich setze einen Fuß auf die erste Sprosse und halte inne.
Nichts passiert.
Ich belaste das Metall mit meinem Gewicht, das nicht mehr existieren sollte und warte.
Nichts passiert.
Den zweiten Fuß ziehe ich langsam nach, befinde mich jetzt bis zur Hüfte in dem Durchgang.
Nichts passiert.
Um die Anspannung, die meinen Brustkorb in enger Umklammerung hält, loszuwerden, atme ich ein paar Mal tief durch. Dann erst beginne ich mit dem Abstieg.
Nach jeder Sprosse halte ich kurz inne und lausche. Mit jedem weiteren Schritt wird mein Herzschlag ruhiger. Ich sehe nach oben. Die Leiter muss bald enden. Die Höhe kann ich nur schätzen, aber ich sollte den Boden des Geräts demnächst erreichen. Aus Angst, mich durch ein Geräusch zu verraten, gehe ich ein anderes Risiko ein und spreche einen Zauber, der mich lautlos macht. Selbst wenn ich jetzt einen überraschten Schrei von mir geben würde, könnte ihn niemand hören.
Es ist so unglaublich still hier drinnen. Die Dunkelheit streckt ihre Finger nach mir aus. Ich bereue, keinen Lichtstein mitgenommen zu haben. Unter mir gähnt eine unheimliche Leere. Nicht einmal der Rand des Tunnels nach unten ist noch zu erkennen. Ich befinde mich mitten im Nichts.
Mein Fuß tastet nach der nächsten Sprosse. Je länger ich mich in diesem Abstieg befinde, desto mehr habe ich den Eindruck, die Wände rücken näher an mich heran. Möglicherweise wird es auch nur in meiner Brust eng. Ich steige noch einmal tiefer, merke, immer langsamer zu werden.
›Du bist kein Feigling‹, flüstere ich mir selbst zu. ›Benimm dich nicht wie einer.‹
Noch eine Sprosse, dann strecke ich den Fuß nach unten. Plötzlich spüre ich eine glatte Fläche unter meinen Schuhen. Ich bin am Boden der Maschine angelangt.
Ratlos bleibe ich stehen, nachdem ich mich umgedreht habe. Meine Augen gewöhnen sich nach und nach an die Dunkelheit. Dennoch kann ich nicht mehr als Schatten ausmachen. Befinde ich mich in einem großen Raum? Ist er leer oder befindet sich ganz in der Nähe die Mechanik, die die Magie absorbiert? Bin ich allein?
Ich strecke meine Arme aus und mache einen Schritt nach vorne, streife dabei mit den Füßen über den Boden, um nicht versehentlich über etwas zu stolpern. Währenddessen bewege ich meine Arme langsam von links nach rechts, um auch in dieser Höhe nichts zu verpassen. Schließlich muss ich den anderen Fuß nachziehen. Ich weiß nicht, ob ich froh sein soll, dass sich nichts in meinem Weg befindet.
Die Stille schmerzt in meinen Ohren. Ich kann keinen Laut mehr von draußen hören. Meine Schuhe streifen nur leicht über den Boden, erzeugen durch den Lautlosigkeitszauber kein wahrnehmbares Geräusch. Dennoch erwarte ich, jemand könnte aufschrecken, der sich hier drinnen befindet.
Hätte jemand, der sich hier drinnen versteckt, nicht ohnehin den Kampf bemerkt? Wäre er nicht nach draußen gekommen, um zu sehen, was vor sich geht? Hätte jemand im Inneren der Maschine gewartet, bis wir wieder verschwinden? Wäre ihm das Schicksal seiner Truppe egal? Wieso sollte überhaupt jemand hier drinnen sein? Um das Gerät zu warten? Um zu überprüfen, ob es funktioniert? Braucht es einen Menschen, um die Maschine zu überwachen, oder würde so eine Tätigkeit von etwas übernommen werden? Selbst wenn es sich um ein Ding statt einer Person handeln sollte, ergibt es keinen Sinn, hier drinnen jemanden zu erwarten.
Auch wenn die Gefahr besteht, dass dieser Raum überwacht wird, beschließe ich, einen Lichtzauber anzuwenden. Das Risiko, dadurch in Schwierigkeiten zu geraten, ist meiner Einschätzung nach gering. Man kann mich nicht sehen, selbst wenn ein Beobachter auf das Licht aufmerksam werden sollte. Ich habe jedoch bessere Chancen mit guter Beleuchtung, also kann ich nur gewinnen.
Ich sage den Spruch lautlos. In der nächsten Sekunde flammt Helligkeit vor mir auf. Geblendet kneife ich die Augen zusammen und drehe den Kopf zur Seite. Ich nehme mir ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt haben. Dann sehe ich mich um.
Der Raum ist ungefähr fünfzehn Fuß lang und fünf Fuß breit. Ich befinde mich keine zwei Fuß von der Leiter entfernt. Weit habe ich es also nicht geschafft. Der Raum ist bis auf eine Säule in seiner Mitte leer. Die Wände sind glatt und in der seltsam braunen Holzoberfläche gestaltet, die ich von der Plattform oben kenne. Nur der Boden scheint aus Stein zu bestehen.
Langsam bewege ich mich näher auf die Säule zu. Ich nehme an, darin befindet sich das Geheimnis, wie diese Maschine funktioniert. Je näher ich komme, umso aufgeregter werde ich. Hoffentlich gelingt es mir, das Rätsel rasch zu lösen. Ich muss diese Gefahr bannen, damit wir die anderen Truppen unserer Feinde ausschalten können.
Die Säule wirkt massiv, aus derselben Holzplatte ohne Risse gefertigt, ohne Nägel, ohne Zusammenstöße. Ob sie lediglich dazu dient, das Gewicht der Maschinenteile über mir zu stützen?
Es muss sich um eine optische Täuschung handeln, erzeugt durch einen Zauber wie die Oberfläche der Plattform an der Oberseite des Gerätes. Ich bleibe in der Entfernung von drei Schritten vor der Säule stehen. Mein Blick tastet die Wände noch einmal ab. Als ich oben den Abstieg geöffnet habe, wurde ich beinahe getötet. Hier unten könnte es den gleichen Schutzmechanismus geben. Selbst wenn ich ihn nicht sehe, könnte ich mich in Gefahr bringen.
Auch beim näheren Hinsehen wirken die Wände rund um mich glatt und ohne Fallen. Dennoch vertraue ich nicht darauf, dass tatsächlich keine Sicherheitsvorkehrungen eingesetzt worden sind. Ich gehe auf die Knie und sehe mich noch einmal um. Der geänderte Blickwinkel lässt mich auch nichts erkennen. Schließlich lege ich mich flach auf den Boden und sage den Zauberspruch auf. Die Säule wirkt unverändert.
Als ich den Kopf hin und her bewege, kann ich erkennen, dass in eineinhalb Fuß Höhe über dem Boden ein Teil der Säule durchsichtig ist. Es scheint, als würde in der Holzkonstruktion ein quadratischer Schaukasten existieren. Ich überlege, ob ich das Risiko eingehen kann, das Innere näher zu begutachten. Langsam richte ich mich wieder auf, fühle mich, als würde ich auf Eiern stehen – eine falsche Bewegung und etwas geht zu Bruch. In meinem Fall handelt es sich dabei um mein Leben.
Immer wieder halte ich inne und versuche, mein schnell klopfendes Herz zu beruhigen. Wenn das Blut in meinen Ohren rauscht, bin ich nicht in der Lage, eine Bedrohung rechtzeitig zu hören.
Dann habe ich mich endlich in eine Position geschoben, von der aus ich durch das Glas blicken kann. Der Schaukasten beinhaltet einen weiteren Stein. Der sieht allerdings ganz anders aus als die Brocken, die an der Oberseite der Maschine befestigt gewesen waren. Das Ding hinter dem Glas ist ungefähr faustgroß und völlig schwarz. Silbrige Sprenkel brechen das Licht, mit dem ich mich hier drinnen orientiere. Sollte es sich bei diesem Stein um das Herz des Gerätes handeln? Zieht das hier die Magie an? Kann ich mit der Entfernung dieses Steins die Maschine funktionsunfähig machen?
Ich werde es testen müssen. Etwas anderes bleibt mir nicht übrig. Ich muss riskieren, den Stein zu berühren, auch wenn ich mich bei dem Gedanken nicht wohlfühle. Irgendwie muss ich dieses Ding transportieren. Damit es keinen Schaden anrichten kann, brauche ich einen magiesicheren Zauberkasten. In den Büchern meines Großvaters bin ich auf etwas Ähnliches gestoßen. Da wird beschrieben, wie man einen bereits vorhandenen Behälter mit einem Zauber versieht, damit darin Gefahrengut sicher verschlossen werden kann. Durch den Spruch kann ein Außenstehender das Behältnis nicht mehr öffnen, selbst wenn er Energie einsetzen sollte. Der Gegenstand, der darin aufbewahrt wird, verliert seine Magie. Es ist das, was ich brauche.
Allerdings habe ich kein Kästchen bei mir. Nicht einmal einen Rucksack. Alles, was sich in meinem Besitz befindet, trage ich an meinem Körper. Meine Kleidung kann ich nicht verwenden. Und sonst habe ich nichts … Mein Blick fällt auf den Wasserbeutel an meinem Gürtel. Der wird seine Aufgabe hoffentlich erfüllen.
Ich sage den Spruch, um den Beutel mit der notwendigen Magie auszustatten. Dann richte ich mich ein wenig weiter auf. Der Schaukasten besitzt auf einer Seite einen kleinen Griff. Vorsichtig strecke ich meine Finger danach aus. Bevor ich ihn berühre, halte ich allerdings inne.
Als ich an der Oberseite des Geräts am Eisenring gezogen habe, wurden die Pfeile auf mich abgeschossen. Wenn es auch hier eine Sicherheitsvorkehrung gibt, dann ist bestimmt der Moment, in dem ich den Schaukasten öffne, der gefährlichste. Meine Arme sind nicht lang genug, damit ich den Griff erreichen kann, wenn ich mich auf dem Boden befinde. Dennoch möchte ich kein Risiko eingehen. Ich lege mich flach hin und murmle einen Spruch, der den Schaukasten öffnen soll. Angespannt warte ich ab.
Die Tür des Kastens bewegt sich nicht. Anscheinend hat mein Zauber nicht ausgereicht, um sie in Bewegung zu versetzen. Ich konzentriere mich und setze mehr Energie ein, um die Glastür zu öffnen. Das Glas vibriert. Schon befürchte ich, erneut gescheitert zu sein. Da gibt es nach und schwingt auf. Im gleichen Augenblick zischen zwei Pfeile über mich hinweg und bleiben im Holz der Säule stecken. Auch aus der anderen Richtung wurden zwei Pfeile abgefeuert, von denen ich annehme, sie sind auf dem gegenüberliegenden Teil der Säule eingeschlagen.
Hoffentlich handelt es sich dabei um die einzigen Sicherheitsvorkehrungen. Vorsichtig richte ich mich auf, sehe mich nach allen Seiten um, ob von irgendwoher weitere Gefahr droht. Schließlich strecke ich die Hand aus, um sie durch den Spalt der geöffneten Tür zu schieben und nach dem Stein zu greifen, der sich im Inneren befindet. Mein Herz rast, als ich die kühle, raue Oberfläche an meinen Fingerspitzen fühle. Ich mache noch einen Schritt nach vorne und schließe meine Finger um den Stein.
Bevor ich ihn anhebe, warte ich ab, ob irgendetwas geschieht. Ich lausche, ob mir ein Klicken verrät, einen Mechanismus in Gang gesetzt zu haben. Es bleibt still, weshalb ich die angehaltene Luft ausstoße. Langsam kippe ich den Stein. Noch berührt er an einer Stelle die Konstruktion, auf der er abgelegt worden ist. Daran will ich so lange wie möglich nichts ändern, um auf jede Art von Gefahr reagieren zu können, die durch das Entfernen des Steins entsteht.
Ein Knacken ertönt über mir. Ich weiß nicht, woher genau es stammt. Noch ein seltsames Knirschen. Ob ich so lange gebraucht habe, dass der Soldat, der mir unbedingt helfen wollte, auf das Gerät geklettert ist? Verursacht er das Knarren, das in Abständen von zwei, drei Sekunden erklingt? Oder geht etwas anderes vor sich?
Angestrengt lausche ich, halte die Luft an und sehe mich um. Wieder dieses Knacken. Als würde Holz nachgeben. Nein, dabei kann es sich nicht um das Echo von Schritten handeln. Ein Rumpeln erklingt in der Konstruktion über meinem Kopf. Ein Vibrieren läuft durch das Holz und breitet sich zu der Stelle aus, auf der ich stehe. Eine Erschütterung verursacht andere, gefährlich klingende Geräusche in der gesamten Maschine. Das gefällt mir gar nicht.
Ich warte nicht ob, wie sich die Sache weiterentwickelt. Stattdessen schnappe ich mir den Stein, werfe ihn in den Beutel an meiner Seite und transportiere mich nach draußen. Die anderen sind inzwischen näher an das seltsame Gerät herangetreten, weshalb ich hinter ihnen zu stehen komme. Meine Zauber machen mich immer noch unsichtbar, sodass mich niemand bemerkt.
Bevor ich der Magie befehlen kann, mein Gewicht, meine Temperatur und meine Sichtbarkeit wieder zu normalisieren, stürzt die Maschine unserer Gegner in sich zusammen. Staub wirbelt auf. Ich spreche hastig einen Zauber, der ungeschützte Energieausbreitung verhindern soll, und der die Staubentwicklung eindämmt.
Die Männer schreien auf, ziehen sich hastig zurück. Ich kann besorgte Gesichter erkennen. Der Ausdruck in den Augen unseres Fürsten wirkt regelrecht schockiert. Trauert er, weil er denkt, ich würde mich noch immer in der Maschine befinden? Oder überlegt, was werden soll, wenn ich nicht mehr in der Lage bin, unserer Sache zu dienen?
»Es ist mir nichts passiert«, erkläre ich und beschließe, mir nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, welchen Stellenwert ich für ihn haben könnte. »Ich habe mich rechtzeitig aus dem Ding transportiert.«
Niemand reagiert. Die Männer tuscheln und senden ratlose Blicke an Manekas, der den Berg aus Holz anstarrt. Die Maschine ist unbrauchbar. Ob sie tatsächlich wirkungslos ist, kann allerdings niemand genau sagen.
»Wir sollten unsere Soldaten lieber von hier wegbringen«, wende ich mich an unseren Fürsten und trete vor ihn. »Der Einsturz der Maschine könnte unsere Gegner anlocken. Ich habe zwar den Stein an mich genommen, in dem sich die Magie konzentriert haben könnte. Sicher bin ich mir allerdings nicht, dass nicht doch Energie austreten könnte, die uns alle in Gefahr bringt.«
Er ignoriert mich und sieht durch mich hindurch.
Mir wird klar, immer noch nicht sicht- und hörbar zu sein. Rasch spreche ich einen Spruch, der alle Zauber aufhebt, die auf mich einwirken. Dann wiederhole ich meine Worte.
Manekas zuckt zusammen und stolpert beinahe über seine Füße. Schließlich zeigt sich Erleichterung auf seinen Zügen. »Ihr habt mir einen Schrecken eingejagt. Was für eine Erleichterung, dass Ihr aus diesem Ding entkommen seid. Als ich die Reste gesehen habe, dachte ich, die Konstruktion hätte Euch erschlagen.«
»Ich hatte mich zum Glück schon davor transportiert. Allerdings war ich unsichtbar. Lasst uns jetzt keine Zeit mehr mit Erklärungen vergeuden. Ich hoffe, unsere Armee hat die Sachen unserer Feinde durchsucht. Wir müssen von hier weg. Alles in mir drängt darauf, zur Basis zurückzukehren. Auf meine innere Stimme ist eigentlich Verlass.«
»Dann wollen auch wir darauf hören.« Manekas gibt ein Zeichen, damit seine Ratgeber zu ihm treten. Er teilt ihnen mit, dass wir unverzüglich aufbrechen müssen. Die hohen Herren geben die notwendigen Anweisungen weiter. Wenige Augenblicke später haben sich unsere Verbündeten bei den Portalen versammelt.
Aufgeregt laufe ich die Portale entlang und wende bei jedem einen Zauber an, der sie bei unserer Basis enden lässt. Die Menge an Soldaten, die dort eintreffen wird, ist zu groß, um alle in den Hütten unterzubringen. Dennoch will ich nicht riskieren, noch einmal die Verbindung zu den einzelnen Truppen zu verlieren. Ich weiß nicht, ob Umocks Magie uns noch vor der Entdeckung unserer Feinde beschützt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir im Basislager sicher sind, ist allerdings höher, als wenn ich die Soldaten an ihren Ausgangspunkt zurückreisen lassen würde.
Es dauert einige Minuten, in denen die Sorge wie ein schwerer Stein in meinem Magen liegt, bis wir die Lichtung verlassen haben. Ich bin die letzte Person, die einen Blick zurückwirft. Die Soldaten haben unsere Verletzten, die überlebenden Soldaten unserer Gegner und die vier Steine von der Oberfläche der Maschine bereits abtransportiert. Wir haben weitere, mit einem Zauber belegte Tücher verwendet, damit die vier großen Steine nicht zu einer Bedrohung werden können. Der letzte Stein, der das geheimnisvolle Gerät gefestigt hat, befindet sich im Beutel an meinem Gürtel. Die Maschine scheint damit ausgeschaltet zu sein.
Dennoch empfinde ich eine Unruhe, die ich mir nicht erklären kann. Ich habe Angst, etwas zu übersehen, weshalb ich die Lichtung unsichtbar noch einmal überquere und mich umsehe. Die Taschen und privaten Gegenstände unserer Feinde wurden durchsucht. Auf den ersten Blick hat sich nichts offenbart, das uns beim Kampf gegen unsere Feinde hilfreich sein kann. Sobald ich zurück im Lager bin, werde ich dennoch alles in Ruhe durchsehen, um mir ein genaues Bild der Männer machen zu können, die es sich in den Kopf gesetzt haben, unseren Kontinent für sich einzunehmen. Ich will wissen, was sie antreibt, welche Sorgen und Hoffnungen sie ausmachen. Möglicherweise kann ich dadurch einen Weg finden, sie zu besiegen.
Schließlich stehe ich vor der Maschine, die beinahe zu einer Todesfalle geworden wäre. Ich habe sie mit Hilfe von Zauber durchsucht, während die Männer sich auf den Aufbruch vorbereitet haben. Magie hat mir geholfen, die Holzbretter zu durchleuchten, die jetzt, da sie nicht mehr durch die von der Maschine ausgehenden Energie zusammengehalten werden, ihre makellose Oberfläche verloren haben. Jetzt kann ich Rillen, Astlöcher und einzelne Bretter erkennen. Feder und Nut haben die Verkleidung an manchen Stellen zusammengehalten. In anderen Teilen stecken Nägel. Die Konstruktion ist nicht so makellos, wie sie mir erscheinen sollte. Seit Magie meinen Blick geklärt hat, weiß ich genau, dass ich das Gerät problemlos hätte auseinanderbauen können. Es hat sich lediglich um eine optische Täuschung gehandelt, die Eindruck schinden sollte. Ich habe mich zu sehr auf das verlassen, was sich vor meinen Augen befunden hat.
Möglicherweise kann ich diese Erkenntnis auch bei unseren Feinden anwenden. Sie und ihre Pläne stellen ein Rätsel für uns dar. Wir können nicht erkennen, was sie so stark, furcht- und gnadenlos macht. Sie zeigen uns lediglich ein Bild, das uns in Angst versetzen soll. Doch wenn wir ihnen die Magie wegnehmen, wenn wir sie entzaubern, dann können wir einen Weg finden, wie sie zu besiegen sind.
Ein letztes Mal durchleuchte ich die Reste der Maschine, um sicherzugehen, dass nicht doch noch ein Stein im Gerümpel verborgen ist. Auch andere Gegenstände präsentieren sich nicht meinem Blick. Ich habe nichts übersehen, was noch Energie in sich tragen könnte. Also schließe ich die Augen und konzentriere mich. Noch einmal sauge ich die Macht der Götter ein, die in der Luft liegt und mich mit neuer Stärke füllt. Denn spreche ich einen Zauber, der die Toten und das seltsame Gerät in ihrer Mitte verschwinden lässt. Magie verbirgt sie nun vor den Blicken von zufällig vorbeikommenden Wanderern. Selbst wenn jemand mitten auf die Lichtung treten würde, wird sein Fuß an keinem Hindernis anstoßen. Ich bin in der Lage, die Leichen und die Trümmer der Maschine zu erkennen. Für den Rest der Welt existieren sie nicht mehr. Ich wünschte, es wäre so leicht, das Geschehene auch aus meinem Kopf zu verbannen.