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1. Teil: Rothwald - Der Traum

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Der Schnee knirschte unter den Stiefeln der Männer und den Hufen der Pferde. Der Atem schien in der eisig kalten Luft gefrieren zu wollen. Die Äste der dicht stehenden Bäume hingen tief herab, hinunter gedrückt von der Schwere des Schnees, die auf ihnen lastete. Sie mussten sich mühsam einen Weg durch die dunkle Winternacht bahnen. Das unwirkliche Leuchten des weißen Schnees war das einzige Licht, das sie hatten. Dunkelheit, Kälte und dazu ein Pfad, der kaum zu erkennen war, machten die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass diese überschaubare Gruppe im Schutz einer Ansiedlung ankommen würde, bevor sie den grausamen Tod in der Kälte finden würde. Doch keiner der Mitglieder wirkte verzweifelt, nervös, noch nicht einmal unruhig. Ihr Anführer, in einen dicken Mantel aus Fellen gehüllt, den Kopf unter einer großen Kapuze verborgen, leitete sie ohne Zögern durch den tief verschneiten Wald. Kein einziges Mal hielt er an, um sich nach dem richtigen Weg zu vergewissern, auch drehte er sich nie nach seinen Gefährten um. Ab und zu blähte sein Pferd die Nüstern und begann unruhig zu tänzeln, doch jedes Mal beruhigte er es, indem er ihm sanft seine Hand auf den Hals legte.

In dieser trostlosen Winterwelt spielte Zeit keinerlei Rolle. Niemand hätte sagen können, wie lange sich die Gruppe bereits durch den Wald kämpfte, noch wie lange sie sich noch weiter würden kämpfen müssen oder können. Doch endlich standen die Bäume weniger dicht und das Ende des Waldes war zu erkennen. Es wurde immer heller. In der Ferne waren bereits Lichter zu sehen. Es dauerte nun nicht mehr lange und sie hatten ihr Ziel endlich erreicht. Als sie schließlich die Unwirtlichkeit des Waldes hinter sich gelassen hatten, lagen sanfte, weiße Hügel vor ihnen. Der Schnee glitzerte wie tausende Diamanten. Hoch am Himmel schien ein Mond halbförmig vom sternenklaren Himmel. Auf dem höchsten Hügel stand ein bewehrtes Schloss. Sechs riesige Türme ragten in die tintenblaue Nacht hinauf.

Ohne Eile bahnten sich die Reiter ihren Weg über einen steilen Pfad hinab, der sie darauf über eine Brücke aus dicken, schweren Holzbalken führte. Unter ihnen war das tiefe Rauschen eines Flusses zu hören, der aus den weit entlegenen Bergen kam. Links und rechts am Ufer türmten sich große Schneemassen, so dass der Fluss eher zu hören, als zu sehen war. Nach der Brücke führte der Weg in kleinen Serpentinen nach oben. Dort war ein großes von dicken Mauern eingefasstes Tor zu erkennen. Das Pferd des Anführers strebte eiligst dorthin, doch wenige Meter davor, zog sein Reiter die Zügel an und ließ seine Gefährten vor ihm in den Schutz der Festung reiten. Ein Heulen wurde in der Ferne laut und zum ersten Mal in dieser Nacht drehte sich der Anführer um und blickte zurück zum Wald, aus dem sie gekommen waren. Zwischen den Bäumen tauchte ein Rudel Wölfe auf.

Kurz funkelten die Augen des Anführers rot, als er sich wieder umwandte und in den hell erleuchteten Hof der Burg ritt. Das Tor schloss sich ächzend hinter ihm. Seine Gefährten waren bereits abgestiegen. Sie klopften sich den Schnee von den Mänteln und übergaben ihre Tiere in die Obhut der Stallknechte. Für den anstrengenden Ritt hatten sie sich einen warmen Stall und eine Extraportion Hafer verdient. Die Männer grüßten den Anführer, als dieser durch den Hof zum nächsten Tor ritt, durch das er in einen zweiten größeren Hof gelangte. Dort warteten bereits Knechte und Pagen. Die Knechte ergriffen sofort die Zügel und brachten den Hengst zum Stehen. Doch als sie ihm beim Absteigen helfen wollten, winkte er ab. Behände sprang er aus dem Sattel. Bevor er sich die dunkelbraunen Lederhandschuhe von den langen Fingern streifte, klopfte er seinen Mantel aus. Als er dann die große Kapuze herunter streifte, enthüllte sie eine Pracht dunkelbrauner Locken.

Das Wasser spritzte links und rechts in alle Richtungen, als der weiße Hengst durch die heran tosenden Wellen galoppierte. Das weiße Schloss, das auf einer der hellen Klippen stand, die weit ins türkisblaue Meer hineinragten, schien ihnen bei diesem Tempo entgegen zu fliegen. Der Reiter lenkte nun sein Pferd in Richtung dieser Klippen, wo sich versteckt, vom Strand kaum sichtbar, ein schmaler Pfad hinauf schlängelte. Er führte zu dem wunderschönen Palast aus hellem Stein mit den hinein geschnitzten Ornamenten und gedrehten Türmen. In wahnsinnigem Tempo trieb er den Hengst den Weg hinauf, der nur aus Sand und Steinen bestand. Bei dieser Geschwindigkeit hätte dies über kurz oder lang den Sturz in den sicheren Tod bedeutet. Doch der Reiter kannte den Pfad sehr genau, schließlich ritt er seit Jahren diesen Weg mindestens einmal am Tag. So gelangte er unversehrt an die Spitze der Klippe und zu den Ausläufern eines üppigen, tropischen Parks. Um sandige Wege reihten sich große uralte Bäume, die vor der hoch am Himmel stehenden Sonne Schatten boten. Bunte Blumen und Pflanzen wuchsen überall dazwischen und bildeten dadurch ein scheinbar undurchdringliches Dickicht. Selbst auf den Stämmen der Bäume wuchsen blühende Pflanzen.

Der Reiter zügelte plötzlich sein Pferd und schaute erwartungsvoll in eine Richtung. Dort, wo er hinblickte, begannen langsam die Blüten zu tanzen und die Blätter raschelten. Es dauerte nur kurz, dann tänzelten ein paar Mädchen aus den Büschen und umringten ihn leise singend.

„Dass wir dich nie überraschen können“, schimpfte eines von ihnen und die anderen blieben lachend stehen. „Selbst wenn wir noch so still sind, hörst du uns schon auf eine Meile kommen.“

„Er ist eben anders als Ihr, Euer Majestät“, stichelte ein anderes Mädchen und die anderen stimmten in ihr glockenhelles Lachen ein.

„Aber er ist doch mein Bruder“, protestierte sie gespielt böse.

„Ach, Aleta“, er ritt neben sie, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie hoch zu sich auf sein Pferd.

„Jeder hat doch seine speziellen Fähigkeiten, meine ist eben mein perfektes Gehör.“

Sie strahlte ihn aus jadegrünen Augen an und ihre zarte Hand berührte sanft eines seiner leicht spitz zulaufenden Ohren.

„An der Form deiner Ohren kann es nicht liegen“, sie lachte hell auf, „denn meine sind wesentlich spitzer als deine.“

Er betrachtete seine Schwester nachdenklich, dann legte er seine Stirn missbilligend in Falten. Aleta trug genau wie ihre Kameradinnen bloß ein knappes Oberteil und einen kurzen Rock. Beide bedeckten gerade so viel, dass der Fantasie noch genüge getan wurde. Sie bestanden aus vielen unterschiedlich großen, wunderschönen, bunten Schmetterlingen, die scheinbar mit jeder Bewegung der Mädchen mit flogen, um einerseits zu necken und andererseits den Mädchen keine Blöße zu geben.

Es kam nicht selten vor, dass der Reiter sie wegen ihrer naiven Unbedarftheit schimpfte und dafür nur ihr ansteckendes Lachen erntete. Somit waren Finnroth und Aleta sich in vielerlei Hinsicht nicht so ähnlich, wie es für Zwillinge normal gewesen wäre.

Das Klirren und Krachen eiserner Schwerter hallte laut durch die ansonsten stillen Gänge. Keuchend warfen sich die beiden Ritter immer wieder gegeneinander. Schweiß tropfte ihnen von der Stirn. Die ledernen Schutzpanzer und die Kettenhemden, die sie darunter trugen, verhinderten, dass sie sich keine schwerwiegenden Verletzungen zufügten. Schließlich drängte der Größere von ihnen, dessen schwarze Haare schon von grauen Strähnen durchzogen waren, den anderen durch eine Reihe schneller, raubtierhafter Bewegungen in die Defensive. Funken flogen von den Schwertern, die immer wieder kraftvoll gegeneinander krachten. Der andere konnte kaum noch seine Deckung halten.

„Halt“, die Stimme durchschnitt unerbittlich das donnernde Geräusch der Waffen und ließ die Männer abrupt inne halten. „Du bringst ihn noch um.“

Der Angesprochene ließ sein langes Schwert sinken und wandte seinen Körper in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Mit seiner behandschuhten Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

„Eure Hoheit.“ Der andere ließ sich in eine tiefe Verbeugung nieder und senkte den Kopf.

„Du kannst gehen.“

Sogleich zog er sich aus der Waffenkammer zurück. Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln, als er an ihr vorbei die Treppe hinaufstieg.

Der Ritter legte sein Schwert auf ein Holzgestell, in dem eine ganze Reihe unterschiedlicher Waffen steckten, und begann seine Ausrüstung abzulegen.

„Sie sind dir auf Dauer nicht gewachsen und das weißt du eigentlich auch.“

Als hätte er sie nicht gehört, fuhr er fort seinen mittlerweile entblößten Oberkörper mit einem Tuch trocken zu reiben.

„Du musst deine Kräfte kontrollieren“, tadelte sie ihn, während sie die letzten Stufen hinunterging. Ihre dunkelbraunen Locken schimmerten silberweiß im Licht der Fackeln, ein hellgoldener Reif glitzerte dazwischen.

„Ich wusste gar nicht, dass du wieder zurück bist“, er überging ihren Tadel einfach. Wieder einmal. Als er fertig war, wandte er sie schließlich zu ihr um.

Sie trug ein grüngoldenes Kleid mit dreiviertel langen Ärmeln aus glattem Samt, das eng an ihrem schlanken, sehnigen Körper hinunterfloss und erst ab den Knien weiter wurde und in einer kurzen Schleppe endete. Ihre tiefgrünen Augen funkelten ihn herausfordernd an, als sie zu ihm trat.

„Kein Wunder, hier unten vergisst man Raum und Zeit.“ Sie griff sich mühelos eines der schweren Schwerter aus dem Holzregal und wiegte es prüfend in der Hand. Er grinste breit, wusste er doch ganz genau, was sie vorhatte. Schnell griff er nach seinem Schwert und parierte ihren plötzlich vorschnellenden Angriff.

„Du willst mir wohl eine Lektion erteilen“, spottete er lachend, als er sich blitzschnell wegdrehte und ihre nächste Attacke so ins Leere laufen ließ. Sie drehte sich geschmeidig um und stieß ihre Waffe in einer fließenden Bewegung erst nach vorne und dann zur Seite. Scheppernd fiel sein Schwert zu Boden.

„Überlegenheit bedeutet nicht ungebremste Gewalt, sondern kontrollierter Einsatz der Kräfte.“

Ruhig hob der Ritter seine Waffe auf und legte sie an ihren Platz zurück. Er war geschlagen, das würde er allerdings niemals zu geben. Denn Eron stand in ständiger Konkurrenz mit seiner Schwester.

Der Wind pfiff eisig um die spitzen Türme der Festung und blies hart gefrorene Eiskristalle durch die Luft. In dieser unwirtlichen Gegend mit extremer Kälte und Frost und den steilen kantigen Bergen konnte nicht viel Leben existieren. Doch hoch oben auf einem einzeln in den Himmel ragenden Felsen stand eine Burg, die mit dem Gestein zu verschmelzen schien und den Eindruck erweckte, als wäre sie nicht von Menschenhand gefertigt, sondern aus dem tiefschwarzen Stein herausgewachsen. Die glatten, spitzen Felsen boten keinerlei Möglichkeit, die Feste zu erreichen. Doch das schien auch nicht nötig, denn es gab sowieso kein Tor, das einen Eingang innerhalb der Mauern geboten hätte. Rund um die Felsen stürzten Wassermassen aus viele Meter hohen Fällen im Norden der Festung ins Tal hinab. Gesäumt von hohen Bergen schien es kein Hinein- oder Hinauskommen zu geben. Doch oben auf dem höchsten der vielen Türme stand ein Mann, sein dunkler Mantel wehte heftig im starken Wind. Er zerrte an seiner Kleidung und blies seine Haare wild durcheinander. Aufrecht und ohne jegliche Regung stand der Mann starr wie eine Statue und blickte hinunter ins Tal. Obwohl es für ein menschliches Auge nichts zu sehen gab, schien es, als betrachte er etwas weit entferntes eindringlich. Plötzlich, so blitzartig, dass es kaum wahrnehmbar war, sprang er hinab. Im Bruchteil einer Sekunde landete er im weit unter ihm liegenden Innenhof.

Ein Augenpaar richtete sich aus der dunkelsten Ecke des Hofes auf ihn und eine große, schlanke Frau trat aus dem Schatten der Mauer. Sie trug einen dunklen eng anliegenden Anzug aus Leder, der jede ihrer katzenhaften Bewegungen deutlich zeigte. Das fest geschnürte Mieder entblößte ihre prallen, weißen Brüste. Die hohen Stiefel ließen ihre Beine noch länger wirken.

„Du solltest nicht so trübsinnig sein“, sprach sie ihn mit einer Stimme an, die so verführerisch war, dass sie jeden in ihren Bann zu ziehen vermochte.

„Ich werde erst Ruhe finden, wenn sie mein ist“, entgegnete er mit einem tiefen Grollen. Besänftigend legte sie ihre Hand an seine Brust, ein wohliges Seufzen entfuhr ihr, als sie seine starken Muskeln unter dem fast durchsichtigen weißen Hemd spürte.

„Sie warten bereits auf dich“, teilte sie ihm mit, während sie ihn verführerisch umrundete und ihm den Weg zu einer sich geräuschlos öffnenden Tür wies. Gemeinsam traten sie hindurch auf eine Galerie, an deren Brüstung in kurzen Abständen mit Totenköpfen und Rosen verzierte Leuchten angebracht worden waren. In diesen steckten Kerzen, die den mehrere Meter hohen Saal und seine Kuppel erhellten. Sie umrundeten auf der Galerie den Raum zur Hälfte und als sie auf die Treppe nach unten traten, erhoben sich begeisterte Rufe von mehreren Dutzend Männern und Frauen, die einen Kreis um einen Altar gebildet hatten. Sie waren alle dunkel gekleidet, manche von ihnen trugen schwarze Umhänge und alle hatten sie bleiche, fast weiße Haut. Auf dem Altar lag mit dicken Stricken gebunden ein nacktes Mädchen, dessen blondes Haar sich in sanften Wellen üppig links und rechts über den steinernen Tisch ergoss.

Die vielen tausend Kerzen an den Wänden und auf dem Boden flackerten fast unmerklich auf, als er sich von der Treppe blitzschnell zu dem Mädchen bewegte.

Seine erhobene Hand hielt kurz inne, bevor er sie über ihre Wange bis hinunter zu ihren Brüsten wandern ließ. War es zügellose Gier, die in diesem Moment in seinen Augen aufblitzte? Das Mädchen schien keine Angst zu haben. Wie in Trance blickte sie ihn regungslos an, ihre Brust hob und senkte sich regelmäßig im Rhythmus ihres Atems. Als er sich schließlich in einer plötzlichen Bewegung über sie beugte und ihr Körper wie elektrisiert hoch zuckte, brachen die Versammelten erneut in begeisterten Jubel aus.

Der große Thronsaal, der komplett aus weißem Marmor bestand und mit goldenen Ornamenten geschmückt war, war nach allen Seiten hin offen. Große Flügeltüren ließen den Wind hereinströmen, der den von der Sonne erhitzten Saal, angenehm kühlte.

Aleta tänzelte leichtfüßig über den mit bunten Bildern verzierten Boden. Dieses Mal trug sie ein hauchdünnes zart rosa Kleid, das leicht ihren Körper umspielte. Schmetterlinge hatten sich dazu, wie als Schmuckelement, auf dem linken Träger ihres Gewandes versammelt und zeigten durch langsames Schlagen ihrer Flügel, dass es sich um Lebewesen handelte. Versonnen hielt sie schließlich in ihrem Tanz inne und betrachtete nachdenklich ein Gemälde, das eine Karte der anderen Länder darstellte. Im Süden lag Thaliyand, ihre Heimat, daran angrenzend im nördlicheren Westen das Land der Wolfsherzen, in der Mitte das unabhängige Kapitall, im nördlicheren Osten das Land der Freibeuter mit dem großen Schwarzsee, der fast die Fläche eines Meeres einnahm und schließlich ganz im Norden jenseits der nördlichen nordischen Wälder, welche die natürliche Grenze zum Land der Wolfsherzen darstellte, das Felsengebirge.

„Ich möchte das alles einmal sehen und die Menschen, die dort leben kennen lernen“, sagte sie und wandte sich ihrer Mutter und deren Gefährten zu, die gemeinsam auf den großen pinken und grünen Kissen aus Seide lagen, die anstelle eines Throns auf einer Erhöhung im südlichen Teil des Saales angeordnet waren.

Erschreckt setzte sich Königin Lilijana auf.

„Nein“, ihr bestimmender Ton ließ keinen Widerspruch zu, „es gibt keinen Grund, dass du das alles erfahren sollst. Hier ist der Ort, an dem du hingehörst, der dir alles bietet, was du brauchst und der dir Glück und Zufriedenheit beschert.“

Leichtfüßig eilte sie zu ihrer Mutter und ließ sich zu deren Füßen auf eine Treppenstufe sinken. Die Schmetterlinge waren durch ihre Eile in Bewegung geraten, so dass sie sich jetzt erst einmal wieder auf ihrem Kleid ordnen mussten.

„Aber findet Ihr es denn nicht traurig, dass wir so wenig Kontakt zu den anderen haben? Wir könnten sicher viel voneinander lernen.“

Lilijana wechselte einen viel sagenden Blick mit Fayn, ihrem Gefährten.

„Es hat gute Gründe, dass wir uns von den anderen absondern. Es reicht vollkommen aus, dass König Karlus beim Sommersonnwendfest zum jährlichen Austausch zu uns kommt. Außerdem ...“

Sie wurde unterbrochen von Finnroth, der in voller Rüstung, seinen Helm unterm Arm, den Thronsaal betrat.

„Ich werde mit Faramin und Sandro die Grenzen abreiten. Wir sind zum Abendrot wieder zurück.“

Er verneigte sich kurz und verschwand so schnell, wie er gekommen war.

„Wieso darf er zumindest einen Blick in die mir so fremden und interessanten Länder werfen und ich muss hier im Palast bleiben?“ Trotz ihrer siebzehn Jahre wirkte die Prinzessin in diesem Moment wie ein trotziges Kind.

Lilijana strich ihrer Tochter versöhnlich über die hellbraunen Locken, die in der Sonne golden schimmerten.

„Weil dein Bruder durch seine besonderen Fähigkeiten Eindringlinge entdecken kann, bevor er selbst entdeckt werden würde. Dazu ist er einer der besten Ritter, die wir haben und wir können froh sein, dass er immer für unsere Sicherheit sorgen wird.“

Die Königin küsste Aleta die Stirn. „Wir haben hier doch alles, was wir uns nur wünschen könnten. Ein schönes Zuhause, den Strand, das Meer. Wir haben das ganze Jahr Sonnenschein und Früchte im Überfluss. Glaube mir, mein Kind, der Rest der Welt ist nicht erstrebenswert erkundet zu werden.“

Tausende von Kerzen in den Kronleuchtern an der Decke und in den kunstvoll geschmiedeten Lüstern an den Wänden tauchten den großen Saal in warmes goldenes Licht. Die schweren Damastvorhänge vor den bis zum Boden reichenden großen Sprossen-Fenstern sperrten die eiskalte Winternacht hinaus und machten die Menschen drinnen vergessen, dass die Kälte draußen alles totengleich erstarren ließ.

Die besten Musikanten aus dem ganzen Land waren gekommen und hatten ihre wertvollen Instrumente an einem der kurzen Seiten des rechteckigen Saales aufgebaut. Ihre Klänge brachten die Gäste, die bereits eingetroffen waren, in eine heitere Stimmung.

Weine, weiß und rosé, aus den besten Anbaugebieten rund um Kapitall sollten ihr Übriges tun, ein rauschendes Fest zu veranstalten. Die ganze Woche waren Vorkehrungen getroffen worden. Sämtliche Gänge, Flure und Winkel im gesamten Schloss waren auf Hochglanz gebracht worden, auch jene Ecken, in die sich sicherlich keiner der Gäste jemals verirren würde. Feinste Stoffe, edle Gefäße und teure Teppiche waren angeliefert und an den rechten Platz gerückt worden. Doch der Höhepunkt war die mehrere Meter hohe tiefgrüne Benedictus-Fichte, die in der Mitte des Saales stand und mit Sternen, Kristallen und Figuren aus Glas und Zinn sowie mit Kerzen geschmückt war. Diese Tradition ging auf König Benedictus zurück, einem der ersten Könige Rothwalds. Eines harten Winters, als die Welt herum erstarrt zu sein schien und viele Menschen und Tiere starben, weil sie erfroren oder verhungerten, sollte es für die Wolfsherzen noch schlimmer kommen. Plünderer suchten Rothwald heim. Keiner wusste woher sie kamen, doch sie verwüsteten die Dörfer und nahmen den Menschen das Wenige, was sie zum Überleben noch hatten. Der harte Winter hatte auch vielen Soldaten das Leben gekostet und so war das militärische Aufgebot des Königs den Plünderern zahlenmäßig unterlegen. Da geschah es, dass die Wölfe aus den Wäldern den Wolfsherzen zu Hilfe kamen. Mensch und Tier gemeinsam vertrieben die Plünderer aus Rothwald. Und seitdem waren nie mehr Fremde ins Land eingefallen. Zum Dank für die Hilfe erließ Benedictus ein Gesetz, das die Wölfe schützte. Nicht vor den eigenen Leuten. Das war nicht notwendig, denn die Menschen und die Tiere von Rothwald verband jeher eine unergründliche Verbundenheit. Das Gesetz, das in der unabhängigen Stadt Kapitall für jeden als geltend festgeschrieben wurde, besagte, dass ein Wolf in Rothwald weder gejagt, noch gefangen, noch getötet werden dürfte. Zur Ehre der Wölfe und des Waldes und zur Erinnerung an die Rettung wurde jedes Jahr im Winter ein Fest gefeiert, an dem diese Fichte aufgestellt und geschmückt wurde. Doch auch die Tiere demonstrierten ihre Verbundenheit mit den Wolfsherzen, indem die Leitwölfin eines ihrer Jungen dem König zur Aufzucht und Obhut überbrachte. Dies taten auch sie einmal im Jahr. Mit der Zeit jedoch war diese Geschichte immer mehr zu einem Mythos geworden. Niemand konnte mehr sagen, ob es sich tatsächlich so zugetragen hatte, wie man sich erzählte. Das Gesetz gab es, das war aber auch der einzige richtige Beweis für die Wahrheit des Mythos. Schon länger war kein Wolfswelpe mehr im Schloss aufgezogen worden. Trotzdem wurde das Fest auch nach Generationen immer noch gern gefeiert und auch das Gesetz wurde beachtet, auch wenn es deswegen wie zuletzt zu schwerwiegenden Konsequenzen kommen konnte.

Die Wolfsherzen liebten das Fest und die Krönung war für sie jedes Mal, wenn die Königin an die Spitze der Fichte den aus Rauchquarz geschliffenen Faustgroßen Wolfskopf hängte. König Karlus hatte in den vergangen Jahren eingeführt, dass nicht mehr nur das eigene Volk am Fest teilnehmen sollte, sondern auch hochrangige Vertreter der benachbarten Länder. Und auch für sie war das Fest der Benedictusfichte ein besonderes Ereignis.

Die Küche hatte in den letzten Tagen keine ruhige Minute gehabt und Unmengen an Pasteten, Terrinen, Braten, Suppen, Salaten und süßen Köstlichkeiten gezaubert. Die Vorfreude hatte alle Bewohner des Schlosses erfasst und ein jeder war in Hochstimmung.

Alessandra stand an der Brüstung der großen Treppe, die nach unten in die Empfangshalle führte, von der aus die riesigen mit zahllosen Schnitzereien verzierten Flügeltüren den Weg in den Festsaal öffneten. Ruhig ohne jegliche Gefühlsregung beobachtete sie, wie Gast um Gast vom Zeremonienmeister förmlich begrüßt wurde. Lakaien nahmen dicke Fellmäntel entgegen und brachten sie in einen separaten Raum, der heute nur zur Aufbewahren dieser wärmenden Bekleidung vorgesehen war. Wie am Ende des Festes jeder Gast den richtigen Mantel bekam, war allein das Geheimnis der Lakaien.

Der Prinzessin fielen sie sofort auf, als sie die Empfangshalle betraten. Sie hatte sie schon öfter gesehen, dennoch war es jedes Mal ein bezauberndes Erlebnis, das sie in seinen Bann zog. Man merkte ihnen gleich an, dass sie es als ungewohnt und vor allem lästig empfanden, in dicke Mäntel und Mützen gehüllt sein zu müssen. Sie kamen ja auch aus einem Land, in dem es das ganze Jahr warm war und die Sonne schien. Sogar der Regen war warm, hatte man ihr erzählt. Besonders die augenscheinlich Jüngste von ihnen schien es anzustrengen, die Schwere dieser Garderobe aushalten zu müssen. Sie strahlte eine Aura von wärmendem Licht aus und ihr sonniges Gemüt verbreitete einen Charme, der jeden in ihrer Umgebung sogleich in gute Laune versetzen musste.

Alessandra erkannte natürlich auch die Königin der Spitzohren, Lilijana, und ihren Gefährten Fayn. Die Königin hatte lange, glatte, dunkelblonde Haare, die wie flüssiges Gold ihren nackten Rücken hinabflossen. Sie trug ein fließendes Kleid aus pinken und türkisen Stoffen.

Über die beiden wurde nicht nur geredet, wenn sie zu einem der wenigen Feste im Reich erschienen, sondern auch einfach, wenn wieder einmal irgendjemand eine neue Theorie aufgeschnappt hatte. Lilijana und Fayn waren nämlich nicht nur Gesprächsstoff aufgrund ihrer unkonventionellen Partnerschaft, sondern vor allem wegen der immer noch unbekannten Herkunft Fayns. Er war offensichtlich keiner aus dem Volk der Königin, denn seine Ohren wiesen nicht die typische nach oben spitz zulaufende Form auf. Auch ansonsten unterschied er sich in seinem Verhalten und seinem Charakter deutlich von den anderen Spitzohren. Lilijana und er lebten schon unzählige Jahre zusammen, ohne dass sie öffentlich den Bund fürs Leben geschlossen hatten. Darüber hinaus wiesen sie die Gerüchte, die Kinder der Königin, Aleta und Finnroth, seien von ihm, rigoros von sich. Das machte die ganze Sache umso skandalöser, da es eine Sache war, unvermählt zu sein, eine ganz anderer war es allerdings, als Königin Nachfolger zu haben, deren Vater als unbekannt galt. Lilijana war eine mysteriöse Frau und sie liebte die Spekulationen, die sich um ihre Person rankten. Es gefiel ihr, dass keiner genau über sie Bescheid wusste. Daher hielten sich die Behauptungen. Ein weiterer Grund war, dass der Prinz der Spitzohren von seinem ganzen Wesen, der Sohn seines angeblichen Vaters durchaus zu sein schien. Seine Statur und sein Gesicht ähnelten weit mehr dem Fayns als dem seiner Mutter. So war Finnroth seiner Zwillingsschwester auch auffällig unähnlich.

Alessandra betrachtete in solche Gedanken versunken weiter die ankommenden Gäste, als ihr Blick schließlich auf diesen Prinzen fiel. Erschrocken bemerkte sie, dass auch er sie unverwandt ansah. In diesem Moment trat ihre Zofe zu ihr und die Prinzessin drehte sich hastig beim Klang ihrer Stimme um.

„Eure Majestät“, Katharine verneigte sich ehrerbietig, „man erwartet Euch unten zur Begrüßung der Gäste. Sie sind nun vollzählig.“

„Ja, ich werde sofort kommen.“

Mit einer weiteren Verbeugung entfernte sie sich und Alessandra wandte sich wieder ihrer Beobachtung zu. Doch der Prinz war im Getümmel des Saales verschwunden. Erneut wurde sie von weiteren eintreffenden Gästen in deren Bann gezogen. Allerdings versetzte ihr Anblick sie nicht in neugierige Bewunderung, sondern ließ sie trotz der Wärme im Schloss erschauern. Sie kamen aus dem Norden, aus dem Felsengebirge, von einer Burg, die angeblich auf keinerlei Wegen zu erreichen war. Viele Geschichten, Märchen und Wahrheiten, wobei keiner vermochte dies zu unterscheiden, rankten sich um ihre Existenz. Die Ankömmlinge, zwei Männer und fünf Frauen, waren fast komplett in Schwarz gekleidet. Schwarze lederne Hosen, schwarze oder weiße Hemden und Blusen. Alles sehr eng und figurbetont. Sie wollten auffallen, obwohl sie das nicht nötig hatten. Vor ihren kreideweißen Gesichtern trugen sie Masken aus Federn, die ihr Antlitz zur Hälfte verbargen. Trotzdem konnte man erkennen, dass ihre Gesichter beinahe makellos und wunderschön waren. Einer der Männer wandte seinen Kopf plötzlich nach oben und begegnete ihrem Blick. Seine dunklen Augen leuchteten im gleichen Moment mit einem Ausdruck auf, der begehrliches Verlangen ausdrückte. Ihr Herz schien augenblicklich das Schlagen aufzuhören und die Prinzessin überkam ein heftiger Schwindel. Schnell drehte sie sich weg. Ihre Hand an der Brust und mit dem Rücken an der Brüstung ließ sie sich zu Boden sinken. Mühsam versuchte sie ruhig zu atmen. Doch so schnell wie der Schwindel gekommen war, verschwand er auch wieder.

Runde um Runde drehten sich die Tanzenden in der Mitte des Saales zu den heiteren Klängen der Musik. Keiner wollte an diesem fröhlichen Abend nur als Beobachter am Rand stehen. Selbst die Älteren, zu denen auch König Karlus und Königin Nicoletta, Alessandras Eltern, gehörten, reihten sich wieder und wieder unter die Tanzenden.

„Keine Lust zu tanzen? Würdest jetzt wohl lieber unten in der Waffenkammer dein Schwert schwingen“, neckte ihr Bruder Eron.

Die Prinzessin stand als eine von wenigen am Rand und nippte nur selten an ihrem Glas mit Weißwein, das sie wie eine lästige Bürde in der Hand hielt. Sie trug ein petrolfarbenes Kleid mit einem herzförmigen Ausschnitt, das ausladend ihre Beine umspielte. Es war an Taille und Hüften in kleine Falten gelegt und ließ so den Stoff an diesen Stellen besonders schön glänzen. Das Kleid hatte eine lange Schleppe, auf der das Wappen der Wolfsherzen, der Wolfskopf, gestickt war. Es war so groß und so dezent mit einem Faden gestickt, der nur eine Nuance dunkler war als die Farbe des Stoffes, dass man ganz genau hinschauen musste, um ihn zu erkennen. Im ersten Moment wirkte es eher wie ein beliebiges, ornamentales Muster. Um die Verwirrung perfekt zu machen, zog sich ein eben solches über den gesamten restlichen Stoff. Ihre dunklen Haare fielen in kleinen Locken um ihr Gesicht und waren am Hinterkopf mit kleinen Spangen in Form von Blättern festgesteckt. Über ihrer Stirn lag ein schmales Diadem aus funkelnden, rauchfarbenen Quarzen. Um ihren linken Arm schlang sich bis zum Ellenbogen ein filigraner Reif aus geschwärztem Stahl. Auch er bildete ein beliebiges ornamentales Muster. Es stand zu vermuten, dass sich auch darin das Wappentier verbarg.

„Du scheinst dich nicht gerade zu amüsieren“, bemerkte Eron ein wenig besorgt.

„Du weißt doch, dass ich mir wenig aus solchem Trubel mache“, entgegnete sie im Versuch ihn zu beruhigen mit einem müden Lächeln. Eron stellte sich neben sie und nahm einen großen Schluck aus seinem Bierkrug. Er musterte seine Schwester von der Seite. Früher war das nicht so gewesen. Da hatte sich Alessandra das ganze Jahr auf dieses Fest gefreut, hatte es kaum erwarten können. Sie hatte getanzt, sich amüsiert und mit den Gästen geplaudert. Als sie noch jünger waren, war sie es immer gewesen, die die Eltern angebettelt hatte, länger aufbleiben zu dürfen. Doch in diesem Jahr war es anders. Sie war still, introvertiert und wirkte irgendwie unglücklich.

„Sie sind alle gekommen, um Spaß zu haben“, sinnierte er, während sein Blick über die Menge wanderte. „Mal sehen mit welcher jungen, hübschen Lady ich als nächstes tanzen werde.“ Vergeblich versuchte Eron sie aus ihrer trüben Stimmung zu lösen.

Wahrscheinlich im gleichen Moment verweilten die Geschwister mit ihren Musterungen auf dem gleichen Paar, das sich schräg gegenüber von ihnen auf einem kleinen Sofa vom Tanzen ausruhte. Ohne den störenden Mantel strahlte Aleta noch mehr als zuvor. Ihre hellbraunen Haare, die in weichen Wellen über Schulter und Rücken flossen und die lediglich mit diamantenen Spangen am Hinterkopf leicht zusammen gehalten wurden, schimmerten im hellen Kerzenlicht fast wie flüssiges Gold. Sie trug ein weißes Kleid, dessen apricotfarbene Träger so dünn waren, dass sie den Anschein machten, als würden sie jeden Moment reißen. Unter der Brust war der zarte Stoff mit einer goldenen Kordel gerafft und floss von dort in mehreren Lagen nach unten bis zum Boden. Am Rücken war eine Art Schleier befestigt, der in einer kurzen Schleppe endete und der ihrem ganzen Aussehen noch mehr eine luftige Leichtigkeit verlieh. Beim Tanzen, wenn sich das Kleid bewegte, konnte man ab und zu einen kurzen Blick auf ihre zierlichen Sandalen werfen, die aus sehr feinen Schnüren bestanden, die bis zu ihren Knöcheln hoch reichten. Um ihr linkes Handgelenk und ihren Schwanenhals wanden sich kunstvoll gefertigte Reifen aus roséfarbenem Gold mit Ornamenten aus flachen, weißen Perlen. Der Prinz der Spitzohren saß ein wenig steif neben seiner Schwester. Zwar hatte er locker sein Bein angewinkelt und den Fuß auf das andere gelegt. Doch seine Miene und seine Haltung wirkten sehr unentspannt. Er war beinahe das männliche Pendant zu Alessandra. Während Aleta grazil ihr Glas zwischen den Fingern hielt und ihm strahlend zuprostete, quälte sich Finnroth ein Lächeln ab.

Alessandra wusste sofort, wer die nächste Tanzpartnerin von Eron werden würde. So bedurfte es auch keinerlei Erklärungen seinerseits, als er zu seiner Erwählten hinüber ging. Da war sie wieder allein und ihr war es auch ganz recht so. Ihr Kopf fühlte sich an, als wiege er eine Tonne und als wäre er auch ebenso groß. Ihr Nacken war steif und der Rücken schmerzte. Es war nicht nur der entbehrungsreiche Ritt aus den nördlichen nordischen Wäldern zurück nach Rothwald, der ihrem Körper so zu gesetzt hatte. Sie schlief in letzter Zeit kaum und wenn plagten sie unruhige Träume. Ihre Augen schmerzten, betrachtete sie die Gäste beim Tanzen. Ihre Ohren dröhnten, sie konnte die Musik kaum ertragen. Das Fest, das sie einst so gern gefeiert hatte, wurde diesmal zu einer Tortur für sie. Gedankenverloren stand sie am Rand und bemerkte es erst zu spät. Langsam mit geschmeidigen Bewegungen kam er auf sie zu und nahm ihre Hand. Galant verbeugte er sich vor Alessandra.

„Wollt Ihr tanzen?“

Seine Ausstrahlung zog sie dermaßen in ihren Bann, so dass sie seine Frage unbeantwortet und sich von ihm mit sanfter Bestimmtheit auf die Tanzfläche ziehen ließ. Sie hörte die Klänge der Musik kaum. Die Art, wie er sie in seine Arme nahm und mit ihr zu tanzen begann, fesselte sie viel zu sehr. Sein Körper schmiegte sich an ihren. Die Welt um sie herum schien zu verschwinden. Wie betrunken atmete sie seinen Duft ein, sie hatte das Gefühl mit ihm zu verschmelzen. Seine Bewegungen, seine Mimik und der Klang seiner Stimme schienen ihr so vertraut. Sie verstand nicht so recht, was mit ihr geschah. Die Vertrautheit zwischen ihnen verwirrte die Prinzessin. Sie meinte, ihn schon ewig zu kennen und schon ewig mit ihm diese Bewegungen zu vollführen. Alles um sie herum wurde unwichtig. Sie nahm die anderen Gäste bloß verschwommen wahr und die Musik drang nur noch wie durch Watte in ihr Bewusstsein. Es war ihr, als schwebten sie über die Tanzfläche an einen anderen Ort, weit weg von den Feierlichkeiten im Schloss.

Sie konnte es kaum ertragen ihm in seine leuchtenden Augen zu blicken und so senkte sie ihren Kopf. Er schien darüber belustigt zu sein, ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, als er seinen Kopf ein wenig zur Seite neigte, um den Größenunterschied zwischen ihnen zu überbrücken.

„Ihr habt so wunderschöne Augen“, sprach er sie mit seiner warmen Stimme an, die ihr Gänsehaut verursachte und ihr Herz schneller schlagen ließ. „Warum seht Ihr mich nicht an?“

Ihr war schwindelig, alles herum begann sich zu drehen. Und die Hände des Fremden, die sie fest hielten, hinterließen ein Brennen auf ihrer Haut. Sie hatte das Gefühl, jegliche Kontrolle zu verlieren. Doch plötzlich wurde sie in die Wirklichkeit zurück geholt. Eine tiefe Stimme drang bös und ungebeten in ihr Bewusstsein. Langsam kam sie wieder zu einigermaßen klarem Verstand.

Ihr Vater stand neben ihnen. Sein Gesicht zeigte deutlich, dass er wütend war. Wortlos packte er ihr Handgelenk und zog sie weg von dem Fremden. Als sie einen Blick zurück warf, konnte sie sehen, dass seine Augen hinter der Maske böse funkelten.

„Vater, was ist denn“, Alessandra riss sich los.

Sie konnte spüren, dass er mit seiner Fassung rang. Viele der umstehenden Gäste hatten aufgehört zu tanzen und wollten mitbekommen, was vor sich ging.

„Das ist kein Umgang für dich“, zischte ihr Vater. „Du solltest nicht mit solchen… mit so jemandem tanzen.“

Noch nie hatte sie den König so erlebt. Karlus war immer ein liebevoller, fürsorglicher Vater gewesen, der nur in Bezug auf ihre Erziehung und ihren Unterrichtung die nötige Strenge zeigte. Wie benommen folgte sie ihm und setzte sich neben ihre Eltern auf den Thron. Der heiteren Stimmung hatte der kurze Zwischenfall keinen Abbruch getan und auch die interessierten Gäste hatten sich schon wieder dem Tanzen hingegeben.

Natürlich war der Anblick dieser Fremden für die Prinzessin in unangenehmer Erinnerung geblieben, jedoch hatte der Fremde beim Tanzen diesen ersten Eindruck nicht bestätigt. Aber was wusste sie schon von ihm. Er trug eine Maske, ebenso seine Begleiter und sie vermutete jetzt, dass sie nicht offiziell eingeladen worden waren. Wer waren sie? Woher kamen sie? Und weshalb machten sie Karlus bloß so zornig?

Doch vielleicht würde sie gleich Antworten auf ihre Fragen bekommen. Denn die Menge teilte sich plötzlich und ließ die dunklen Gestalten hindurch. Es war unmöglich, sie nicht anzustarren. Dafür war ihr Auftreten viel zu extravagant. Die weißen oder schwarzen Hemden, welche die Männer trugen, schienen aus einem überirdisch feinem Stoff zu sein, der sich wie eine zweite Haut an den Oberkörper schmiegte. Durch seine Durchsichtigkeit zeigte er jeden Muskel. Bis auf die goldenen, funkelnden Manschettenknöpfe an den Hemdsärmeln fehlten ihnen jegliche Knöpfe und so waren die Hemden bis über die Brust offen. Auch die ledernen Hosen waren so eng, dass sich jeder Muskel abzeichnen konnte. Die Frauen trugen ebenfalls enge schwarze Lederhosen und feine, weiße oder schwarze Blusen. Darüber trugen sie fest geschnürte rote Mieder, die ihren Busen auf fast anzügliche Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellten. Die Beine steckten in hohen Stiefeln mit noch höheren Absätzen, in denen andere Frauen ihre Mühe haben würden zu laufen. Alle besaßen ungewöhnlich helle Haut und ausdrucksstarke Augen. Sie verneigten sich huldvoll vor Alessandra und dem Königspaar. Und ihr Anführer trat vor.

„Ich nehme an, dass es ein Versehen gewesen ist, dass man uns nicht vorgestellt hat“, sprach er mit tiefer, aber schmeichelnder, charismatischer Stimme. Seine Augen sprachen jedoch eine andere Sprache. Die Prinzessin zuckte zusammen, als sie seinem Blick begegnete. Sie spürte die gleiche Kälte wie zu Beginn des Festes, als sie ihn das erste Mal erblickt hatte.

„Nein, DAS war es NICHT. Ich denke, wir wissen alle, wer ihr seid … was ihr seid. Und ihr seid hier NICHT erwünscht.“

„Aber manche beginnen schon … wie soll ich das ausdrücken … Freundschaften zu schließen“, entgegnete er mit einem Blick auf Alessandra.

Karlus erhob sich drohend. Zwei Wächter, die Hände am Schwertknauf, traten hinter dem Thron hervor, um die Geste des Königs zu unterstreichen.

„Es ist besser, Ihr geht jetzt.“ Mit einer kraftvollen Bewegung deutete er zum Ausgang.

Die Prinzessin sah, wie der Fremde, mit dem sie getanzt hatte, beschwichtigend die Hand auf den Arm des Wortführers legte.

„Das war nicht unsere letzte Begegnung mit deinesgleichen, Karlus. Und das weißt du auch“, seine Stimme donnerte durch den Saal. Er wandte sich um und schritt hoch erhobenen Hauptes hinaus, gefolgt von seinen Begleitern. Die anderen Gäste wichen zur Seite, als sie an ihnen vorbeigingen und formten so eine Gasse für die nicht erwünschten Gäste. Sie schloss sich hinter ihnen. Viele hatten sich in Gruppen zusammen gefunden und begannen miteinander zu tuscheln. Es war eine böse Kränkung und die Prinzessin hielt das Verhalten ihres Vaters für nicht angemessen. Sie war anscheinend die Einzige, die nicht wusste, wer die unbekannten Gäste gewesen waren, doch hatten sie sich bislang auf dem Fest nichts zu Schulden kommen lassen. Außer, dass einer von ihnen mit ihr getanzt hatte. Aber das war auf einem Fest wie diesem nichts Ungewöhnliches und doch hatte es ihren Vater derart aufgebracht, dass er so heftig reagiert hatte. Sie musste wissen warum. Und sie wollte wissen, wer der Fremde war, der mit ihr getanzt hatte. Ihre Neugier war aufs Extremste geweckt.

Nach dem Zwischenfall war die Stimmung gedrückt. Die Menschen waren nicht mehr so ausgelassen. Bewaffnete Soldaten eilten durchs gesamte Schloss, um sicher zu stellen, dass die Unruhestifter Rothwald tatsächlich verlassen hatten. Offensichtlich ging von ihnen eine so große Gefahr aus, dass vermutet wurde, einer oder sie alle würden versuchen unbemerkt im Schloss zu bleiben. Die bewaffneten Soldaten blieben auch noch an sämtlichen Eingängen und Türen ins Schloss und zum Festsaal stehen, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass sich nur noch willkommene Gäste hier aufhielten.

So wie vorher hauptsächlich getanzt wurde, standen die meisten bloß noch in Gruppen beieinander und unterhielten sich. Auch Eron war anschließend sehr bekümmert, denn die elfengleiche Prinzessin aus Thaliyand war mit ihrer Familie gleich nach dem Zwischenfall aus Rothwald abgereist, obwohl geplant war, dass sie im Schloss übernachten würden. Karlus hatten auf Lilijanas ausdrücklichen Wunsch einiger seiner besten Soldaten abbeordert, um die Königin und ihr Gefolge ein Stück ihrer Heimreise zu begleiten. Zumindest soweit, wie man sicher sein könnte, dass diese „Monster“, wie Lilijana meinte, außer Reichweite wären.

Das Fest war nun bereits seit Stunden zu Ende, doch Alessandra lag immer noch wach. Ihr Körper war viel zu angespannt, um an Schlaf zu denken, ihr Atem ging unregelmäßig und ihr Herz schlug laut pochend gegen ihre Brust. Sie öffnete die Augen, blinzelte, um etwas in der Dunkelheit zu erkennen, schloss sie wieder und öffnete sie gleich abermals. Sie dehnte und streckte sich. Vielleicht hätte sie mehr Wein trinken sollen, dann könnte sie jetzt vielleicht besser einschlafen. Seufzend stand sie auf und nahm den kleinen, leuchtenden Kristall von ihrem Nachttisch, der ihr als Lichtquelle diente. Damit lief sie hinüber zu einem der großen Fenster und zog den schweren Samtvorhang zur Seite. Anschließend öffnete sie das Fenster und stieß den hölzernen Fensterladen auf, der quietschend nach rechts schwang. Eiskalte Luft wehte ihr entgegen und ließ sie in ihrem dünnen seidenen Nachthemd zittern. Doch die frische Luft tat ihr gut, entspannte sie und nahm den Druck aus ihrem Kopf. Sie atmete tief ein. Sinnend blickte sie in die nachtschwarze, erstarrte Welt hinaus. Der Mond war von großen Wolken verdeckt und tauchte nicht wie sonst die schneebedeckte Landschaft in weißliches Licht. Den Wald, der sich nicht allzu weit vom Schloss entfernt befand, konnte man diese Nacht nur erahnen. Plötzlich heulte in der Dunkelheit ein Wolf auf. Es dauerte nicht lang, dann bekam er aus unterschiedlichen Richtungen Antwort. Doch ihr machte das Heulen dieses Raubtieres keine Angst. Sie kannte es seit frühester Kindheit und es beruhigte sie. Schließlich war sie Prinzessin der Wolfsherzen. Es war kein beängstigendes Geräusch für sie, sondern ein vertrautes, beruhigendes.

Alessandra zog den Laden wieder zurück, ließ jedoch das Fenster geöffnet. Dann ging sie zurück in ihr Bett und kuschelte sich unter ihre dicken, warmen Decken. Gedankenverloren legte sie ihren Kopf auf eines der vielen Kissen, die hinter ihrem Rücken lagen und schaute zum Kamin hinüber. Das Feuer war schon lange ausgegangen und nur noch ein dunkelrotes Glimmen der Asche war deutlich in der Dunkelheit zu erkennen. Allmählich überkam sie doch die Müdigkeit. Es war schon sehr spät, wahrscheinlich fast drei Uhr. Ihre Augenlider wurden immer schwerer und fielen schließlich ganz zu.

Es kam ihr vor, als hätte sie bereits Stunden geschlafen, als sie plötzlich aufschreckte. Sie meinte in dem halbdunklen Zimmer eine Bewegung ausgemacht zu haben. So unscheinbar wie wenn eine Kerze durch einen Luftzug gelöscht worden wäre, aber trotzdem bemerkbar. Doch als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. Trotzdem klopfte ihr Herz heftig und ihre Haare stellten sich, als ihr ein Schauer über den Rücken lief. Aber wer sollte sich auch in ihrem Schlafgemach aufhalten?! Die Soldaten hatten alles zweimal kontrolliert. Und noch einmal, nachdem alle Gäste gegangen waren. Und wie zur Bestätigung blieb alles ruhig. Sie wollte sich schon wieder zurück in ihre Kissen kuscheln, als ihr ein Gedanke kam. Es war doch nicht etwa Eron, der ihr einen Streich spielen wollte? Als sie noch klein waren, hatte er sich öfter nachts in ihr Zimmer geschlichen und sie erschreckt. Aber das war Jahre her. Trotzdem amüsierte sie der Gedanke und lächelnd legte sie sich in die Kissen zurück.

Plötzlich presste sich eine eiskalte Hand auf ihren Mund. Ihr erschreckter Schrei wurde im Keim erstickt. In Panik versteifte sich ihr ganzer Körper und sie riss die Augen weit auf.

„Schch, ganz ruhig. Dir wird nichts geschehen.“

Alessandra erkannte die Stimme sofort.

Langsam nahm er seine Hand von ihrem Mund und streichelte damit ganz sanft ihre Wange und dann ihren Hals. Seine Haut fühlte sich kalt an, hinterließ aber dennoch eine heiße Spur auf ihrem Körper.

„Unsere Begegnung heute ist viel zu schnell beendet worden.“

Alessandra war immer noch vor Schreck erstarrt, unfähig, sich zu rühren. Ihr Atem ging nur stoßweise und ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. An diese Stelle legte er nun seine Hand. Sie konnte die Kälte durch den dünnen Stoff des Seidennachthemds spüren.

Er beugte seinen Kopf zu ihrem hinunter. Sie wich zurück. Sein Gesicht lag im Schatten. Trotzdem konnte sie erkennen, dass er jetzt keine Maske mehr trug.

Seine rechte Hand stemmte er neben ihrem Gesicht in die Kissen. Er beugte sich weiter zu ihr hinunter. Zuerst zärtlich berührten seine Lippen die ihren. Dann küsste er sie leidenschaftlicher und drängender. Seine Küsse und seine Hände schienen mit einem Mal überall auf ihrem Körper zu sein. Der Raum um sie herum begann sich zu drehen, ihr Bett schien zu schweben. Sie fühlte sich, wie vormals auf dem Fest, als sie miteinander getanzt hatten. Tausende Lichter von unsichtbarem Ursprung erhellten das Zimmer. Das Feuer im Kamin brannte wieder leuchtend rot.

Ein warmes wohliges Gefühl breitete sich in der Prinzessin aus. Fest umschlangen sie seine Arme und zogen sie fordernd an sich. Als sie keuchend aufblickte war es ihr, als würden sich unter und neben ihr und dem Bett weitere nackte Körper winden und räkeln. Erschrocken fuhr sie hoch und wachte im gleichen Moment auf.

Das fahle Licht des beginnenden Morgen fiel durch die Ritzen und Spalten des Fensterladens in ihr Zimmer. Verwundert, halb noch in Trance blickte sie sich um. Sie fasste sich an die Brust, die feucht war von kaltem Schweiß. Auf ihren Lippen konnte sie immer noch die hemmungslosen Küsse spüren und schmecken.

Hatte sie alles nur geträumt? Oder... Was war Realität gewesen?

Wie war der mysteriöse Fremde in ihr Zimmer gelangt?

Vage erinnerte sie sich daran, dass sie nicht hatte einschlafen können, aufgestanden war und das Fenster geöffnet hatte. Aber sie hatte doch den Laden wieder geschlossen? Als sie jetzt dorthin blickte, war er auch geschlossen.

Ungläubig, verwirrt schüttelte sie den Kopf.

Und dann diese hemmungslosen, sexuellen Fantasien... waren die ebenfalls nur Teil eines Traums gewesen? Sie hatten sich so real angefühlt. Das fühlten sie sich immer noch.

Langsam ritten der Prinz und seine drei Begleiter die weiß-grauen Klippen entlang, den Blick aufmerksam auf das Meer hinaus gerichtet. Das Klima hatte sich im Laufe der letzten Tage merklich gewandelt. Die Sonnen schienen zwar immer noch hoch am Himmel, aber die Luft war deutlich kühler. Sie näherten sich jeden Tag mehr dem Land der Wölfe und ließen ihr eigenes Reich hinter sich. Finnroth liebte sein Erkundungstouren entlang ihrer Grenzen. Zusammen mit seinen Kameraden wochenlang unterwegs zu sein, ohne die strengen Verpflichtungen des Hofes machten ihn glücklich. Hier fühlte er sich frei und ungezwungen.

Das Fest war mittlerweile schon mehrere Wochen vorbei und doch dachte er immer wieder an diesen Abend im Schloss von Rothwald zurück. Aber nicht der Ball an sich, sondern die Thronfolgerin war der Grund dafür, dass seine Gedanken fortwährend dahin zurückkehrten.

Es war allerdings nicht das erste Mal, dass er Alessandra getroffen hatte. Bereits vor einem Jahr war er ihr an der Grenze zu ihrem Land bei einer seiner Erkundungstouren begegnet, als sie ebenfalls mit einer kleinen Gruppe bewaffneter Ritter die Grenzen abgeritten war.

Ihre Begegnung war nur kurz gewesen, aber eindrucksvoll für den jungen Prinzen. Am meisten hatte ihn die Tatsache beeindruckt, dass die Prinzessin den Trupp anführte und nicht ihr älterer Bruder Eron, der nach Finnroths Meinung als Mann wohl eher für so ein Unternehmen geeignet gewesen wäre. Eine Frau, die so schlank und zierlich war und auch in Bezug auf ihre Größe seiner zarten Schwester Aleta ähnelte, konnte für ihn keine Mission antreten, die den Gebrauch von Waffen erforderte.

Alessandra trug damals keine Rüstung, nur leichte Hosen aus Leder und ein weißes Hemd, das unter der Brust geschnürt war. Finnroth war zwar selbst auch nicht durch eine Rüstung geschützt, aber er war ja schließlich ein Mann und ein geübter Schwertkämpfer. Doch was ihm noch eindrucksvoller in Erinnerung geblieben war, betraf ihre äußere Erscheinung. Es waren ihre dichten, dunklen Locken, durchzogen von weißen Strähnen und ihre grünen Augen, die an dunkle Tannenwälder erinnerten und in der Sonne rotbraun glänzten.

Für ihn war Alessandra die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Ihr Gesicht entsprach zwar nicht den Maßstäben einer perfekten Form. Ihre Augen standen ein wenig zu nah, ihre Nase war vielleicht ein bisschen zu groß und ihre Lippen zu schmal, um sie als sinnlich zu bezeichnen. In allem unterschied es sich von dem seiner Schwester Aleta. Sie hatte große Augen mit dichten Wimpern, eine kleine Stupsnase und volle Lippen. Ihr engelsgleiches Gesicht wurde von blonden Locken umrahmt. Dennoch hatte sie keine minder große Ausstrahlung, bloß auf eine andere Art und Weise.

Als Finnroth sie auf dem Ball wieder sah, entsprach sie optisch nur noch mehr seinen Vorstellungen. Ihr wunderschönes Kleid setzte ihre schlanke, sehnige Figur bestens in Szene. Ja, Finnroth musste es zugeben, er wollte die Prinzessin aus dem Land der Wölfe zu seiner Frau machen. Bei seiner Rückkehr würde er sofort seiner Mutter von den Plänen erzählen.

Unruhig mit großen Schritten lief er wie ein eingesperrtes Tier in seinem Gemach hoch oben im Nordturm umher. Immer wieder blieb er vor einem der vier großen Fenster stehen, die bis auf den steinernen Boden reichten und einen atemberaubenden Blick auf Berge und Tal erlaubten. Trotz des eisigen Windes und den Schneeflocken, die dieser vor sich hertrieb, standen die Fenster weit offen und kühlten die Luft in dem Raum auf eiskalte Temperaturen ab. Nach einiger Zeit schaute ein menschliches Gesicht durch das Fenster hinein. Allerdings kopfüber. Ein kurzes Zögern, dann ließ er sich in einer blitzschnellen, kaum wahrnehmbaren Bewegung nach unten gleiten und landete geschmeidig auf seinen Füßen.

„Ich störe Euch nur ungern“, entschuldigte er sein ungebetenes Eintreten, „der Rat wartet jedoch schon länger auf Euch.“

Er hielt unmittelbar in seinen Schritten inne und funkelte den Eindringling aus blutroten Augen an.

„Dann soll er warten. Ich habe noch keine Entscheidung getroffen“, seine Stimme war tief, der Tonfall drohend. „Ich muss erst einmal zurück nach Kapitall. Es warten Pflichten und Arbeit dort auf mich.“

„Der Rat wird es nicht gut heißen, wenn Ihr schon wieder nach Kapitall...“

„Schweig!“

Demütig senkte er sein Haupt und ging vor dem Anführer auf die Knie.

„Verzeiht meine Offenheit, Sire...“

„Der Rat wird es akzeptieren müssen. Solange ich weg bin, wird Zeno für mich alle Entscheidungen treffen.“

Missbilligend blickte er auf den Secundarius hinunter und schickte ihn daraufhin mit einer barschen Handbewegung hinaus. Er konnte diese Anhänger zweiter Riege nicht leiden und noch weniger in seiner Gegenwart ertragen. Sie hatten nicht den Schneid wie seinesgleichen, nicht den Drang zum Herrschen und die unbändige Leidenschaft, die in ihm wohnte. Sie waren meist unterwürfig, unselbstständig, aber besserwisserisch. Vor allem in Situationen, in denen es um Gehorsam ging. Er war der Fürst. Er hatte nicht gehorsam zu sein. Man musste IHM Gehorsam schulden.

Aber er wusste selbst nur zu gut, dass die Zeit drängte. Je länger sie warteten, desto größer wurde die Gefahr, dass ihr Plan entdeckt wurde. Viele Jahre hindurch hatten sie es bislang geschafft, sich und ihre Pläne vor den anderen zu verbergen. Die übrigen Völker hatten nur sehr vage Vermutungen über ihr Tun. Und das war gut so. Wüssten sie Bescheid, hätte man ziemlich schnell beschlossen, dass sie eine Gefahr darstellten. Das war schon einmal geschehen. Vor vielen Jahren. Und dann wurde dieser unsinnige Vertrag geschlossen. Pech für sie. Er hatte Wege gefunden, diesen zu umgehen.

Die wenigen, die in der letzten Zeit die Wahrheit herausgefunden hatten, waren nicht mehr am Leben. Und deren Verschwinden war leicht darauf zurück zu führen, dass sie sich in diese unwirtliche Gegend verirrt hatten und zu Tode gekommen waren. Nur allzu leicht konnte man von einem der steilen, glatten Felsen hinunterstürzen. Oder sie hatten im Eisfall den Tod gefunden. Leicht wären Erklärungen für das plötzliche Verschwinden dieser Verirrten gefunden worden. Das stützte natürlich auch die Angst, die überall vor dem Felsengebirge und dem Eisfall herrschte. Freiwillig begab sich niemand jenseits der nördlichen nordischen Wälder. Somit hatte nur selten jemand ihre Ruhe hier oben im Gebirge gestört.

Doch um ihren Plan verwirklichen zu können, mussten sie sich immer öfter in der Öffentlichkeit zeigen und so würde über kurz oder lang die Neugier der anderen zu groß werden. Es würden Nachforschungen angestellt und irgendwann würde alles ans Licht kommen. Früher als gewünscht. Und das musste er verhindern.

Letztlich ging es um Macht, um was auch sonst. Darum ging es doch immer. Wer die Macht hatte, wer die Macht haben wollte und wer die Macht verdiente. Und er verdiente die Macht. Wenn nicht er und seinesgleichen, wer sollte sie sonst verdienen. Denn sie waren den anderen in so Vielem überlegen und durch ihre Macht konnten alle nur profitieren. Was er alles erreicht hatte, reichte über die Vorstellungskraft der anderen weit hinaus. Er war stolz, ehrgeizig, entschlossen, er verfügte über ein abnormes Wissen und das machte ihn überlegen. Doch einfach würde es trotzdem nicht werden, das war ihnen bewusst. Die anderen hatten Angst vor dem, was sie waren und was sie nicht verstanden, vor dem, was sie taten und was sie erreichen wollten. Er kannte es, hatte es früher in den Augen derer gesehen, denen er begegnet war und die sein Schicksal kannten. Zunächst hatte es ihn frustriert, denn dadurch konnte er kaum Freunde finden, weil diejenigen, die sein Geheimnis kannten und nicht zu ihm standen, mussten sterben, damit sie ihn nicht verraten konnten. Dazwischen war er verzweifelt. Der Tod begleitete ihn ständig als zwangsläufige Konsequenz für sein Dasein. Doch schließlich bereitete es ihm Genugtuung, ihnen für ihr Unverständnis und ihre Verurteilung das Leben zu nehmen. Es war ihm ein abscheuliches Vergnügen ihnen seine Überlegenheit zu demonstrieren. Im Laufe der Zeit waren seine Anhänger immer mehr geworden und er beherrschte nun zusammen mit seinen Kindern ein stattliches Volk.

Trotzdem ... er war nicht glücklich. Nicht unter seinesgleichen. Nicht solange es jene gab, die anders waren als er und die ihn als anders empfanden. Das war das einzige, was seine Existenz trübte und warum er sie manchmal leid wurde.

Doch er hatte Hoffnung...

Sein Hoffen lag in ihr.

Er hatte schon viele Gefährtinnen gehabt, doch keine hatte ihn zufrieden stellen können. Denn sie waren es stets aus den falschen Gründen gewesen. Sie hatten sich ihm hingegeben, weil er einer ihrer Anführer war oder weil es ihnen befohlen wurde oder weil sie sich erhofften, dadurch ihr Leben retten zu können. Irgendwann hatte er es aufgegeben und war nachts losgezogen, um sich aus den anderen Völker Mädchen auszusuchen, die ihm gefielen und die er dann zu seiner Gefährtin machte. Die Letzte, die er zu sich geholt hatte, hatte sich schließlich von den Zinnen der Burg gestürzt. Sollte es für ihn kein dauerhaftes Verhältnis geben? War es aufgrund seiner abnormen Existenz gar nicht möglich, eine normale Beziehung zu führen? Doch endlich hatte er sie getroffen und sofort gewusst, sie war stark genug, seine Gefährtin zu sein. Sie gab ihm die Hoffnung, die er brauchte.

Plötzlich fuhr er herum. Er hatte sie kommen hören, bevor sie an die Tür klopfen konnte.

„Komm rein“, sagte er missmutig durch die geschlossene Tür. Es ärgerte ihn, dass er aus seinen Gedanken gerissen wurde.

Leise wurde die Tür geöffnet und Sundãri, seine jüngere Schwester, trat in das Turmzimmer. Obwohl sich ihre Mimik kein bisschen veränderte, schien ihr Gesicht zu strahlen, als sie sich durch den schmalen Eingang duckte und schließlich aufblickte. Ihre schwarzen, gewellten Haare hatte sie am Hinterkopf locker mit einer Spange zusammengefasst, ihre Lippen glänzten purpurn. Ihre schlanke Figur steckte in einer engen Korsage und einem bodenlangen Rock, der an Oberschenkeln und Hüften eng saß und auf Höhe der Knie ihre Beine umspielte und in einer langen Schleppe endete. Er war so lang, dass man ihre Füße nicht sah und es den Anschein hatte, als würde sie über den Boden schweben.

„Du siehst furchtbar aus, Zeno! Wie lange bist du schon hier?“

Ihr Bruder zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht. Lange hatte er hier gestanden und versucht erneut eine Verbindung herzustellen, doch vorerst war es ihm nicht gelungen. Vergeblich hatte er sich konzentriert und seine Gedanken in die Ferne schweifen lassen. Aber er würde nicht aufgeben, er würde es so bald wie möglich wieder versuchen.

Seine Schwester war eine so schöne Frau. Ihr Gesicht hatte die perfekte Symmetrie und war das, was man als objektiv „schön“ bezeichnen konnte. Ihre Haare hatten diesen seidigen Glanz, den sonst nur Frauen erreichten, die ihr halbes Leben in die Pflege ihrer Haare investierten oder jemand hatten, der das für sie tat. Sie hatte das aber nicht nötig. Und sie war das Ebenbild ihrer Mutter. Baldur hatte kaum noch Erinnerungen an sie, wenn er aber Sundãri anblickte, erinnerte er sich daran, wie sie ihn immer angeblickt hatte, bevor sie ihm ihre weiße Hand auf die Wange legte. Sobald sie aber zu sprechen begann, wusste er, dass bloß seine Schwester vor ihm stand. Denn sie besaß nicht die weiche, melodische Stimme seiner Mutter. Sondern eine härtere, deren Tonfall man die Entbehrungen und den Schmerz sogleich anhörte, die Sundãri seit ihrer Kindheit erleben musste. Stets hatte ihre Stimme etwas Vorwurfsvolles. Verübeln konnte er es ihr nicht. Wahrscheinlich lag es an der großen Ähnlichkeit zu ihrer Mutter, dass ihr Vater seine jüngste Tochter immer anders behandelt hatte als seine anderen Kinder. Und zwar deutlich schlechter.

„Wir müssen jetzt. Die Pflicht ruft“, sie riss ihn abermals aus seinen Gedanken und auch jetzt lag wieder einmal ein Vorwurf in ihrer Stimmlage.

Blut. Das eines Menschen. Segen und Fluch zugleich. Ein Segen, zu spüren, wie es ist zu leben, ein Herz zu haben, das schlägt und nicht starr ist wie Eis. Eines, das dieses lebensspendende Elixier durch den Körper pumpt. Das Trinken menschlichen Bluts ermöglichte ihren erstarrten Herzen noch einmal zu schlagen, für kurze Zeit. Es schenkte ihnen immense Kraft und Stärke. Ein Fluch, denn es rief ihnen ins Bewusstsein, welchen Preis sie für ihr Dasein zahlen müssen. Einen Preis, den einige allzu gern zahlen, andere weniger. Die Nacht des Blutkelches brachte diesen Segen und Fluch. Es war ein Ritual, bei dem sie gemeinsam eine Art Wiedergeburt erlebten. In seinem Ursprung wurde dafür ein hübsches Mädchen der Tänner geraubt und auf ihrem Altar geopfert. Sie wurde dort zur Ader gelassen und ihr Blut in einem Kelch aufgefangen, bis es versiegt war. Anschließend wurde der Kelch unter ihnen weiter gereicht, bis er auf den letzten Tropfen ausgetrunken worden war. im Laufe der Zeit und durch das Wachstum ihres Volkes war aus dem ehrerbietigen Ritual immer mehr ein Blutbad geworden. Einmal, während der Zeit, als sie kaum das Felsengebirge verlassen konnten, war ihnen nach einer gefühlten Ewigkeit mal wieder eine Nacht des Blutkelchs möglich. Der Fürst war von seinem Aufenthalt in Kapitall zurück gekehrt und hatte ein junges, wunderschönes rotblondes Mädchen mitgebracht. Alle hatten gespannt auf den Augenblick gewartet und als der Fürst das Ritual endlich beginnen wollte, waren einige aus den hinteren Reihen zum Altar gestürmt und hatten auf das Mädchen mit ihren Dolchen eingestochen. Ihr Blut war über den Stein hinweg die Treppen nach unten geflossen und hatte alle in einen regelrechten Blutrausch versetzt. Seitdem war die Menge in diesen Nächten kaum zu bändigen. Der Fürst, dem dieses Ritual und dessen Ehrerbietung äußerst wichtig war, hatte daraufhin Männer ausgewählt und diese als Wächter ausgebildet, deren Aufgabe darin bestand, die Menge im Zaum zu halten und im Notfall auch mit Gewalt einzugreifen.

Nun war es wieder einmal so weit und dieses Mal sollte Zeno in Abwesenheit des Fürsten die Nacht des Blutkelchs durchführen. Und es lastete auf ihm wie eine schwere Bürde. Er erinnerte sich leider noch allzu genau. An die Tage, nachdem sein Herz für immer zu schlagen aufgehört hatte. Die erste Zeit ist nicht die schlimmste. Oh nein, wer sagt, es werde mit der Zeit besser, der hat nicht erlebt, was er durchmachen musste. Am Anfang ist man vielmehr in einer Art Rausch. Du fühlst dich stark, unbesiegbar. Dein Kopf ist so klar, wie noch nie in deinem Leben. Deine Gedanken und Gefühle werden nicht mehr gelenkt noch abgelenkt durch das dumpfe, aber deutlich spürbare Schlagen des Herzens in stupider Regelmäßigkeit. Du kannst dich besser konzentrieren, musst keine Angst haben um dein Leben, wenn du dich in waghalsige Abenteuer stürzt. Doch irgendwann ist diese Euphorie vorbei. Und deine Gedanken richten sich unvermeidlich auf die Bedeutung dessen, was dir widerfahren ist. Dein Herz, das wichtigste Organ, funktioniert nicht mehr, hat seinen Dienst eingestellt. Und du beginnst dich zu fragen, wie es mit dir dann weiter gehen soll. Denn „Leben“ kannst du dein Dasein nun nicht mehr nennen. Das einzige, was dir geblieben ist, ist dein Geist, deine Seele. Die Zeit vergeht und mit jeder Sekunde, die verstreicht, spürst du deutlicher den Schmerz in deiner Brust. Ein Schmerz, der eigentlich nicht da sein dürfte. Aber er ist da. Denn dein Körper meint, er müsse noch leben und in dieser Konsequenz müsse das Herz schlagen. Doch das tut es nicht, denn es ist kein Blut da, das es durch den Körper pumpen könnte. Es fühlt sich an wie ein Krampf, ein ständiger, wiederkehrender Schmerz. Und diesem Schmerz würden sie heute Nacht nachgeben, für einen unbestimmbaren Moment stillen.

In düsterer Stimmung trat Zeno hinaus auf den Balkon.

Der große Saal war ungefähr 60 bis 70 Meter hoch. Die Decke erstreckte sich in einer schwindelerregenden Spirale nach oben und ließ ihn dadurch unendlich in seiner Höhe erscheinen. In den unzähligen Nischen brannten Kerzen, deren Flackern den höhlenähnlichen Raum in sanftes Licht tauchte. Doch sorgten diese auch dafür, dass gespenstische Schatten auf den steinernen Wänden hin und her tanzten.

Sie hatten sich um einen schwarzen Altar versammelt. Er war mit dunkelroten und schwarzen Kissen gepolstert und vier hohe Lüster standen jeweils an einer der vier Ecken. Die Flammen züngelten bereits hoch und Wachs tropfte auf den Boden hinab. Eine schlanke, weiße Gestalt, nur in einen weiten, hellen Umhang gehüllt, lag auf dem Altar. An Händen und Fußgelenken trug sie eiserne Fesseln, deren Ketten an den Seiten des Steins fest gemacht waren.

Die Umstehenden trugen lange schwarze Gewänder und hatten die dunklen Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, so dass sie im Schatten lagen und ihre Züge verborgen blieben. Wie in Trance warteten sie nebeneinander, sich fast unmerklich hin und her wiegend. Eine deutlich spürbare Anspannung lag im Raum.

Als endlich einer zur Empore hinaufblickte und Zeno dort stehen sah, ging plötzlich ein erwartungsvolles Raunen durch die Menge. Die Gestalt, die dem Altar am nächsten stand, gab ein Zeichen und von irgendwoher erklang sanft Musik. Er stieg auf die Brüstung der Empore und ließ sich von dort nach unten fallen. Die Menge machte ihm Platz, so dass er leichtfüßig zwischen ihnen landen konnte. Als einziger trug er keinen schwarzen Umhang, sondern nur lederne Hosen und ein fast durchsichtiges Hemd. Er wusste, dass sie ihn nicht nur anstarrten, weil er einer der Anführer war, sondern weil er eine große charismatische, erotische Ausstrahlung besaß und eine ausnehmende Attraktivität. Erhobenen Kopfes lief er zu dem grauen Stein und betrachtete die Gestalt, die dort gefesselt lag. Er war bereit, die unliebsame Pflicht zu erfüllen. Mit vor Angst geweiteten, blauen Augen starrte sie ihn an. Sie war höchstens sechzehn Jahre alt, ihre dunkelblonden Locken fielen ihr bis auf den Rücken hinunter und ihr Körper war wohlgeformt, das konnte er selbst durch den Stoff hindurch erahnen. Langsam beugte er sich über sie, zog an der Schleife des Gewandes und entblößte ihren nackten Körper. Erfreutes Gemurmel war um ihn herum zu hören. Erotik, sexuelle Leidenschaft und Begierde waren eine der wenigen Freuden seines Volkes.

Sanft legte er seine Hand auf ihren Bauch und ließ sie hinauf wandern über ihre kleinen, festen Brüste bis zu ihrem weißen Hals. Er konnte deutlich unter der zarten Haut ihre Halsschlagader pulsieren spüren. Tiefes Verlangen durchströmte ihn.

Was für eine Verschwendung

, dachte er missmutig. Nur zu gerne hätte er sich ihrem süßen Geschmack alleine hingegeben, mit ihr gespielt und die Stunde ihres Todes hinausgezögert, um seinen eigenen Schmerz zumindest kurz vergessen zu können. Doch dieses gemeinsame Ritual war wichtig, sorgte für ihren Zusammenhalt, machte sie stärker. Melancholisch betrachtete er die mit feinen blauen Adern überzogenen Brüste des Mädchens, ihre langen, schlanken Schenkel und ihr unschuldiges Gesicht, das jetzt vor Entsetzen erstarrt war. Wenn sie mit ihr fertig waren, würde nicht mehr viel übrig sein von ihrer Schönheit.

In einer plötzlichen Bewegung drehte er sich um und hob gebieterisch seine Arme.

„Ihr wisst, warum wir uns heute hier versammelt haben.“

Zustimmend nickten alle mit den Köpfen und Zeno konnte erkennen, wie ihre Augen unter den Kapuzen zu leuchten begannen. Er konnte ihr Verlangen förmlich spüren.

„Es ist unser Schicksal mit dem Tod zu leben. Doch durch dieses Ritual werden wir erstarken und auferstehen.“

Ein begeistertes Raunen ging durch die Menge. Die Erregung war so deutlich spürbar, dass die vielen Kerzen zu flackern begannen.

„Lange werden wir nicht mehr warten müssen. Dann brauchen wir uns nicht länger verbergen. Die letzten Hindernisse werden schon bald aus dem Weg geräumt sein.“

Einige wurden mittlerweile unruhig, seine Ansprache dauerte ihnen bereits zu lange. Er konnte diese Schwächlinge mit ihrem geringen Maß an Selbstbeherrschung nicht ausstehen. Für ihn war es jedes Mal wieder ein unermessliches Vergnügen, das Leben zu kosten. Auch wenn es ihn schmerzte, ein anderes dafür auszulöschen. Aber das musste ja auch nicht sein. Sie konnten das Leben der Opfer erhalten. Nur nicht beim Ritual. Sie waren so viele, dass sie es ausbluten mussten. Zudem sah der Ritus dies so vor. Und die Regeln hatte sein Vater bestimmt, an die mussten sie sich halten. Darüber hinaus zog die Rettung nach sich, dass das Opfer zu einem von ihnen wurde und dies bedurfte, so der Fürst, einer sorgfältigen Wahl. Doch heute war er für die Nacht des Blutkelchs verantwortlich und er würde das tun, was er für richtig hielt.

Aufgeregtes Gemurmel wurde im Saal laut. Langsam nahm er den langen Dolch vom Kissen, das neben dem Altar auf einem Tisch lag. Die Klinge glänzte im Kerzenschein. Prüfend wog er die Waffe in seiner Hand. Dann führte er sie zum Handgelenk des Mädchens. Ihr ganzer Körper versteifte sich. Sie hätte sicherlich geschrien, wenn sie gekonnt hätte. Vorsichtig ritzte er die Ader quer zu ihrem Handgelenk.

Tarón und Xystus, seine Brüder waren zu ihm an den Altar getreten. Xystus reichte ihm den großen, schwarzen Kelch. In diesen ließ Baldur das Blut des Mädchens fließen. Er machte ihn jedoch keineswegs voll, so wie er es eigentlich hätte tun sollen. Das hätte das Mädchen umgebracht. Stattdessen drückte er, als der Kelch halbvoll war, ihr Handgelenk nach oben und stoppte so das Blut. Er reichte ihn Tarón, der ihn verwundert und irritiert fragend anblickte. Doch Zeno reagierte nicht auf den stummen Widerspruch, sondern wandte sich wieder dem Opfer zu und verband die Wunde mit dem dünnen Band, das sie um die Hüften getragen und ihren Umhang zusammen gehalten hatte.

Sein Bruder trank derweil von dem Blut und reichte den Kelch weiter an Xystus, der es ihm gleich tat und ihn dann an Sundãri weitergab.

Zeno drehte sich zu der Menge um.

„Um die Pläne meines Vaters zu verwirklichen, brauchen wir Kraft und Stärke“, seine Stimme hallte laut von den steinernen Wänden wieder, „und weitere Familienmitglieder. Daher habe ich beschlossen dieses Mädchen zu meiner Gefährtin zu machen.“

Ein entrüstetes Raunen ging durch den Saal. Die ersten, die von dem Kelch getrunken hatten, hatten auch ohne seine Rede bemerkt, was heute vor sich ging. Unmut breitete sich aus und allmählich wurde es unruhig im Saal. Die Wächter machten sich bereit, einen möglichen Aufstand abzuwehren und positionierten sich vor dem Altar.

„Bringt das Mädchen in meine Gemächer“, befahl er seinen Geschwistern und wandte sich zum Gehen. Hinter ihm wurden die Proteste lauter. Doch das war ihm egal. Sie waren keine Monster, keine Mörder und wenn sein Vater seine Pläne realisieren wollte, sollte die Welt das auch nicht von ihnen denken. Sie konnten sich zügeln, sie waren ja immer noch Menschen. Nur mit besonderem Schicksal.

Ein ungeduldiges Klopfen ertönte an der schweren Eichentür. Ohne eine Antwort abzuwarten, wurde die Tür aufgestoßen und Sundãri schob ein verängstigtes Mädchen in das halbrunde Zimmer. Ihr Gesicht sprach mehr als Worte ausdrücken können. Sie hatte Angst. Angst, die man im Leben nicht haben sollte.

Er hatte es sich bereits auf seinem riesigen Bett bequem gemacht. Mehrere große und kleine Kissen lagen am Kopfende. Auf diesen Haufen stützte Baldur seinen Rücken. Ein weißes Laken aus Seide lag unter zwei weiteren Decken aus Samt, die eine war braun, die andere golden und üppig mit Brokat bestickt. Sie waren beide zurückgeschlagen. Ein hölzernes Tablett stand darauf mit einer Karaffe und einer Schale mit blauen Trauben.

Mit einer barschen Handbewegung schickte seine Schwester das Mädchen durch eine niedrige Tür in das angrenzende Zimmer und zog anschließend mit einem lauten Knall die Türe zu. Baldur hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte sie wissend an, während er gelangweilt einige Trauben pflückte.

„Das war äußerst unklug, Zeno“, maßregelte sie ihn. Sie rang mit ihrer Fassung.

Sundãri war sehr willensstark und kontrolliert und wahrscheinlich diejenige von ihnen, die ihr Schicksal am ehesten und geduldigsten ertrug. Und das trotz der ablehnenden Behandlung durch ihren Vater. Ihr Wesen spiegelte sich in ihrem Gesicht und ihrer ganzen Gestalt wieder. Sie war schlank und groß, beinahe genauso groß wie ihre Brüder. Ihr Gesicht schien, als hätte es ein Meister aus einem marmornen Stein in größte Präzision heraus gemeißelt. Umrahmt von pechschwarz glänzenden Wellen. Ihre Haut war ebenmäßig, ebenfalls ihre Züge. Ihre dunklen blauen Augen wirkten wie tiefe, unergründliche Seen, auf denen sich keine Welle kräuselte. Wenn sie also die Beherrschung verlor, hatte sie gute, sehr sehr gute Gründe dafür.

„Es wäre eine Verschwendung gewesen“, entgegnete er gelassen, „ich habe andere Pläne mit ihr.“

„Welche? Sie dir eine Zeit lang gefügig zu halten, mit ihr zu spielen, bis du ihrer überdrüssig wirst, um sie dann an deinen Leibwächter abzuschieben, wie andere vor ihr?“

Als Antwort nahm er bloß einen Schluck aus seinem Kelch.

„Es ist ein wichtiges Ritual, das weißt du“, sie seufzte, „Vater will es so und es wichtig für uns, stark zu bleiben. Was meinst du, was los sein wird, wenn er zurück ist.“

„Ich weiß besser als du, was los sein wird. Aber ich habe keine Angst davor. Es ist Zeit für mich, meine eigenen Entscheidungen zu treffen.“

Erschrocken blickte Sundãri ihn an. Ungehorsam war der schlimmste Fehler, den man gegenüber ihrem Vater begehen konnte.

„Sie kennen und schätzen die wahre Bedeutung des Blutkelchs sowieso nicht“, erklärte er ruhiger, „Für sie ist das ein einziges Blutbad. Was bringt es schon?! Sich einmal wieder lebendig zu fühlen? Für welchen Preis? Er verlängert nur die Qual, die wir ertragen müssen.“

Man hätte es sicher nicht für möglich gehalten, vor allem diejenigen, die Sundãri gut kannten, aber ihr Gesicht veränderte sich noch mehr. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und die tiefblauen Seen schienen zu schwarzen Löchern zu werden. Die Veränderung verwunderte Baldur keineswegs, sie erheiterte ihn stattdessen.

„Tarón hat sie außerdem aus anderen Gründen hierher gebracht“, erklärte er schließlich. Er wollte nicht, dass seine Schwester weiterhin so verängstigt dreinblickte.

Fragend zog sie die Augenbrauen zusammen, ihre Stirn legte sich in drei lange Falten.

„Er hat sie aus Rothwald geholt. Sie war im Schloss zur Ausbildung. Sie sollte Zofe der Prinzessin werden.“

Sundãris Miene hellte sich auf. Allmählich begriff sie die Hintergründe für sein Handeln.

„Dann ist es also ein Versehen gewesen, dass sie Opfer des Blutkelchs werden sollte?“

„Ja und nein.“

Baldur richtete sich auf und klopfte mit der Hand auf die Matratze, damit sie sich neben ihn setzte.

„Vater ist dagegen gewesen. Er meinte, es würde nicht funktionieren. Es dauere zu lange, bis sie wirklich kontrollierbar sei. Ich bin allerdings nicht seiner Meinung.“

Ihre Miene hatte sich wieder verfinstert.

„Er wird dich nie mehr das Ritual durchführen lassen. Er wird dich bald gar nichts mehr machen lassen, wenn du dich ihm ständig widersetzt.“ Sundãris Widerspruch war laut, obwohl sie die Stimme nicht erhoben hatte.

„Er hat seine Pläne, ich meine. Wenn er das nicht akzeptiert, dann müssen wir eben getrennte Wege gehen.“

„Das ist nicht dein Ernst!“

Baldur zog eine Grimasse.

„Du müsstest das doch am besten verstehen. Wo er dich doch so lange abgelehnt hat.“

Damit hatte er seine Schwester getroffen. Rasch stand sie vom Bett auf und verließ wortlos sein Zimmer.

Während ihrer Unterhaltung hatte im Nebenzimmer eine Dienerin das Mädchen gewaschen, ihre blonden Locken zu einem dicken Zopf geflochten und sie in ein neues Kleid aus durchsichtigem Stoff gehüllt. Im flackernden Licht der schweren Kerzen, die im Kandelaber neben der großen Wanne standen, die in den Boden eingelassen war, wirkte sie wie ein Engel.

Das Wasser war noch heiß. Durch die kältere Luft, die er durch das Öffnen der Tür mit herein gebracht hatte, stiegen dampfende Wolken von der Wasseroberfläche auf. Mit einem stummen Befehl schickte er die Dienerin nach draußen, die sich durch einen verbogenen Durchlass im Gemäuer lautlos zurückzog. In einer unangenehmen, angespannten Atmosphäre blieben die beiden allein zurück. Auch aus der Entfernung konnte Baldur deutlich erkennen, dass das Mädchen am ganzen Körper zitterte.

„Wie ist dein Namen“, fragte er mit sanfter Stimme.

Als er keine Antwort erhielt, näherte er sich ihr vorsichtig und legte beruhigend eine Hand auf ihre Wange. Unter der Berührung seiner kalten Hand zuckte sie zusammen. Ihr Körper versteifte sich.

„Ich bin Baldur, Fürst des Felsengebirges“, sachte fuhren seine Hände ihre Arme hinab, eine Gänsehaut ließ ihr weichen, blonden Härchen aufrecht stehen, „du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ich werde nichts tun, was dir schadet.“

Er merkte, wie sie unter seiner Berührung und seinen verführenden Worte allmählich ruhiger wurde und sich entspannte. Langsam ging er um sie herum und stellte sich hinter sie.

„Wie ist dein Name“, fragte er abermals.

„Lysinia“, antwortete sie mit leiser Stimme.“

„Lysinia“, wiederholte er und strich mit seinen Händen über ihre Brüste, die nur von dem hauchzarten Seidenstoff verhüllt waren. Lächelnd bemerkte er, wie ein angenehmer Schauer durch ihren Körper lief.

„Was ich dir bieten kann, ist ein Leben in unbegreiflichem Luxus und Unsterblichkeit. Du wirst glücklicher sein, als du es dir erträumt hast.“

Vorsichtig öffneten seine Finger die Schnürung ihres Gewandes unterhalb ihrer Brust und schoben den Stoff zur Seite, bis das Kleid von selbst ihren Körper hinab rutschte. Ihr weißer, makelloser Körper strahlte im Kerzenlicht und ihre weiblichen Rundungen warfen Schatten auf den seinen. Ohne sein Zutun drehte sie sich zu ihm um. Ihre Hände wanderten zwar noch unsicher, aber dennoch geschickt seinen Oberkörper hinunter zu seiner Hose und öffneten dort den Verschluss. Als sie weiter wandern wollten, hielt er sie auf. So schnell, dass sie es nicht wahrnehmen konnte, hatte er seine Hose selbst ausgezogen und war in die Wanne gesprungen.

Komm!

Sprachen seine Lippen stumm und er streckte ihr seine große, schlanke Hand entgegen. Wie hypnotisiert stieg sie zu ihm in das warme Wasser. Aufsteigende Wärme und Dampf hüllten sie ein. Bestimmt zog er ihren zarten Körper an sich, presste sie an seine muskulöse Brust. Es war so weit, ganz gab sie sich ihm hin und beugte ihr Gesicht zum Kuss zu ihm nach oben. Sein Gesicht ganz nah an ihrem atmete er ihren Duft ein. Fast berührte seine Nase ihre Wange. Er spürte ihre zarte Haut, als er seinen Kopf hinunter zu ihrem Hals beugte. Sanft berührten seine Lippen ihren Nacken. Was danach geschah, dauerte nur wenige Sekunden.

Das Wasser färbte sich rot und Lysinia lag schlaff in seinen starken Armen. Ihre Augen blickten ihn an vor Schreck weit aufgerissen. Sie begriff nicht, was mit ihr passierte. Ein noch dumpfer Schmerz und ein Brennen breiteten sich allmählich in ihren Adern aus. Zuerst in den Beinen und Armen, dann wanderte es schließlich bis in das Innerste ihres Körpers. Sie schrie auf und versuchte sich aus seinem Griff zu lösen, wild um sich schlagend. Doch wie stählerne Stangen hatten sich seine Arme um sie gelegt und ihr Mühen war umsonst. Dann ließ ihr Kämpfen nach und ihr Körper begann zu zucken und zu beben. Da löste er seine Umarmung und betrachtete ihr schönes Gesicht, aus dem mehr und mehr die Röte wich. Baldur atmete tief ein. Der Duft des mit Blut vermischten Wassers stieg ihm in die Nase. Süßlich, ein wenig metallisch. Seine Augen erfassten das rote Rinnsal, das von ihrem Hals hinab über ihre Schulter und ihren Rücken ins Wasser floss. Dort verlor es mehr und mehr von seiner Röte und Substanz, bis es sich schließlich gänzlich im Wasser aufgelöst hatte. Er seufzte. Eine romantische Metapher für sein Dasein. Mit seiner Hand verwirbelte er das Wasser, an der Stelle, wo das Blut noch dick und rot war. Und sofort verschwand es in einem roten Nebel. Er zog die Hand wieder aus dem Wasser und legte sie auf ihre linke Brust. Ihr Herz schlug noch. Sehnsüchtig folgte er seinem stetigen, langsamen Rhythmus.

Lysinia erwachte. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre sie vom höchsten Turm des Schlosses auf die Felsen gestürzt. Zögernd versuchte sie ihre Finger zu bewegen und als ihr dies gelang, stützte sie sich vorsichtig auf. Unsicher blickte sie sich um. Als sie ihn entdeckte, zuckte sie unwillkürlich zusammen. Er saß in einem großen mit vielen Kissen gepolsterten Sessel, dessen hohe Lehne in einem Halbkreis gebogen war und dunkle Schatten auf sein Gesicht warf, so dass sie ihn kaum erkennen konnte. Sie war nicht erschreckt, nur verwundert und neugierig. In ihr brannten ein noch nie erlebtes Verlangen und eine tiefe Leidenschaft.

Nachdem auch der letzte Blutstropfen aus ihrem Körper gewichen war und sich mit dem Wasser vermischt hatte, hatte er sie in ein Laken gewickelt und aus der Wanne gehoben. Das Wasser war nun rot gefärbt. Er hatte sie nach nebenan getragen, um sie dort auf sein Bett zu legen. Eine Zeitlang hatte er neben ihr gelegen und ihre Verwandlung beobachtet. Er wusste, dass sie erst erwachen würde, wenn ihr Geist merkte, dass ihr Köper nicht vollkommen tot war. Im fahlen Licht des Mondes, das durch die Gitter der hohen Fenster fiel, konnte er ihre vorher braunen Augen rötlich glitzern sehen. Während er sah, wie sie sich langsam aus den Laken erhob, trank er einen großen Schluck aus seinem gläsernen Becher. Das Betttuch rutschte von ihrem Körper, als sie zu ihm hinüber ging. Geschmeidig bewegten sich ihre Hüften mit jedem Schritt ihrer langen Beine. Das Mondlicht beleuchtete ihren weißen Körper und ließ ihn noch mehr strahlen.

„Was trinkst du da“, fragte sie, ihre Stimme klang wie ein verführerischer Gesang und Baldur wusste, dass er das Richtige getan hatte. „Darf ich auch mal davon kosten?“

„Nein“, entgegnete er und trank einen weiteren Schluck, „Es ist dein Blut.“

Das Glitzern in ihren Augen wurde stärker und der Ausdruck in ihrem Gesicht nahm eine prüfende Miene an. Überlegend zupfte sie an ihrer Unterlippe. Dann, blitzschnell, hatte sie ein Bein hoch geschwungen und sich auf seinen Schoß gesetzt. Ihre Lippen suchten im Halbschatten die seinen, fanden sie und fordernd begann sie ihn zu küssen. Ihre Zunge suchte begierig zu bekommen, was sie ersehnte. Doch Baldur stellte den Becher weg und hielt sie mit einem Arm zurück. Er ließ ihren Saft seine Kehle hinunter rinnen und blickte sie streng an.

„Das wäre nicht gut für dich. Du wirst anderes bekommen und es zu schätzen lernen. Aber dein eigenes würde dich jetzt, da du für alle Ewigkeit davon getrennt bist, nur verbrennen.“

Er griff nach einer Karaffe, die auf einem hölzernen Tischchen neben ihm stand, schenkte daraus eine dunkelrote Flüssigkeit in einen zweiten Becher und reichte ihn Lysinia. In die Platte des kleinen Tischs waren zahlreiche Figuren und sogar ganze Szene hinein geschnitzt worden. Mit großem Interesse betrachtete das Mädchen diese und trank währenddessen gierig aus dem Becher. Menschen oder Wesen von fast überirdischer Schönheit waren dort abgebildet, ausgelassen tanzend und feiernd. Das Ganze schien in einen nicht enden wollende Strudel aus Leidenschaft und Wollust überzugehen.

„Was ist das?“

„Das sind wir“, antwortete er und strich ihr eine Locke aus dem Gesicht. „Es ist unser Dasein. Und jetzt auch deines.“

Ein Funkeln erschien in ihren Augen. Die Darstellung schien ihr zu gefallen. Genießend nahm sie einen weiteren Schluck. Die Flüssigkeit brannte in ihrem Hals, jedoch war es kein unangenehmes, sondern eher ein erlösendes Brennen.

„Wer bin ich“, fragte sie schließlich.

„Du bist nun eine von uns. Gestorben und doch lebendig. Was du vorher warst, liegt weit hinter dir und ist nicht mehr von Belang. Vielleicht hast du schon von uns gehört. Wir sind les Anges noirs, die schwarzen Engel oder auch Steinengel genannt.“

Aufmerksam folgte sie seinen Worten. Das Blut durchströmte ihren kalt gewordenen Körper und weckte unzähmbare Leidenschaft und Kraft in ihr. Erneut begann sie ihn zu küssen, zunächst vorsichtiger als zuvor, dann allmählich heftiger und fordernd. Heiß brannten ihre Berührungen auf seiner eisigen Haut. Suchend tasteten sie sich seinen Körper entlang. Normalerweise hätte Baldur es genossen, einmal verführt zu werden und nicht selbst zu verführen. Doch er empfand nichts dabei, gar nichts. Er wollte sie nicht und das verwunderte ihn. Wenig lustvoll erwiderte er ihre Küsse und ihre Berührungen. Da hielt sie in ihrem Tun inne und blickte ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Wut an.

„Was bin ich für dich?“

„Du wirst meine Gefährtin sein und mein Werkzeug. Du hast eine Gabe, die mir und natürlich auch dir von Nutzen sein wird.“

Sie richtete sich auf. „Es hat sich gerade überhaupt nicht angefühlt, als wäre ich deine Gefährtin“, der Ton in ihrer Stimme war vorwurfsvoll und trotzig.

Baldur hob sie von sich herunter und stand auf. Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Eine Serva, die meint, sie müsse sich als Herrin aufspielen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen.

„Wir müssen uns beide ausruhen. Schon morgen werden wir von hier in den Süden aufbrechen.“

Diese Erklärung stimmte sie offensichtlich milde.

„Wohin werden wir gehen“, fragte sie schmeichelnd.

Doch Baldur war schon zur Tür hinaus.

Eine Seuche oder Plage wäre nicht schlimmer für die Bewohner der nördlichen nordischen Wälder gewesen. Seit einigen Wochen hatten sie fast jede Nacht Verschwundene oder Tote zu beklagen. Es schien, als gäbe es keine Möglichkeit, das Unheil aufzuhalten. Die Älteren konnten sich durch Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern noch erinnern, dass es vor unzähligen Jahren solche Schrecknisse bereits gegeben hatte. Damals waren es die Könige der Wolfsherzen und der Spitzohren gewesen, die das Töten beendet hatten. Seither waren die Erinnerungen zu bloßen Schauermärchen geworden und schließlich fast verstummt. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie das gleiche Schicksal wieder ereilen könnte. Besonders bitter war, dass die Tänner, so wurden die Bewohner dieser Landes-Teile gerufen, in ihrer Heimat zwar geschützt, aber gleichzeitig in Gefahr waren. Denn die Dörfer waren in dieser Gegend sehr verstreut und zählten nur wenige Gehöfte. Die Wälder waren beinahe undurchdringlich, die Fichten standen dicht an dicht. Erst weiter südwestlich wurden sie lichter mit mehr Farnen und Laubbäumen. So konnten die Dörfer oft nur über schmale ringsherum stark bewachsene Pfade erreicht werden. Manche Ansiedlung war auf einer so kleinen Lichtung entstanden, dass sie nur ein oder zwei Anwesen zählte. Daher war ein Zusammenschluss gegen die Bedrohung nicht möglich und die einzelnen Dörfer auf sich allein gestellt.

Es traf ausschließlich junge Frauen und Mädchen, deren Eltern diese sicher und geschützt allein schlafend in ihren Zimmern vermuteten. Doch obwohl niemand etwas bemerkte und die Fenster mit Gittern versehen waren, verschwanden immer mehr oder wurden tot in ihren Betten aufgefunden. Dies dezimierte die Anzahl der weiblichen Nachkommen ungemein und stellte nicht nur ein persönliches, emotionales, sondern auch ein grundsätzliches Problem des Überlebens dar. Da sie dem Ganzen also nicht mehr Herr wurden, schickten die Bewohner der nördlichen nordischen Wälder Botschaft an den König der Wolfsherzen und baten um Hilfe. Zusammen mit einer 30 Mann starken Truppe Soldaten reisten schließlich ein Dutzend der kundigsten Akademiker in diese Gegend, um herauszufinden, was in den Wäldern vor sich ginge. Unter ihnen befanden sich auch Prinz Eron und Prinzessin Alessandra.

„Eine Krankheit oder gar Seuche ist auszuschließen“, verkündete Doktor Arigon und zog sich die Handschuhe von den Fingern. „Sie ist vollkommen blutleer. Die langgezogene Schnitte an ihrem Hals und ihrem Unterarm sind dafür die Ursache.“ Er deutete auf die genannten Stellen. Die anderen Ärzte räumten bereits ihre Utensilien und Gerätschaften zusammen, sie hatten sie nicht einmal zum Einsatz gebracht.

„Im Prinzip hätten wir uns den Weg sparen können“, fügte er hinzu und warf einen mitleidsvollen Blick auf den starren Mädchenkörper. „Aber die Tänner wollten wohl gern andere Nachrichten und haben sich mit aller Macht an die Hoffnung geklammert, es sei bloß eine Krankheit.“

„Hoffnung?“ Eron runzelte zweifelnd die Stirn.

„Ja, genau“, antwortete der Doktor und wandte sich den Geschwistern zu, „die andere Variante, die, die sich jetzt bestätigt hat, ist viel schlimmer als irgendeine Seuche. Denn so wie wir das sehen…“

Er hatte den Plural bewusst betont, weil nicht nur er zu dem erschreckenden Ergebnis gekommen war, sondern auch alle seine Kollegen. „…so wie wir das sehen, haben wir es mit den Kaltblütern zu tun, mit den schwarzen Engeln.“

Auf den Gesichtern von Alessandra und Eron zeigte sich der gleiche unverständige und ungläubige Ausdruck. Der Arzt dagegen machte einen fast amüsierten Eindruck, als er mit einer Erklärung begann.

„Ihr seid noch zu jung, Majestäten. Aber Eure Vorfahren haben sich vor langer Zeit diesem…“, er machte einen Pause, um nach dem richtigen Ausdruck zu suchen, „… diesem Problem annehmen müssen und eine Lösung dafür gefunden. Seitdem hatten wir Ruhe, doch jetzt…“

Arigon blickte erneut voller Mitleid auf den bleichen, toten Mädchenkörper.

„Könntet Ihr bitte deutlicher werden“, Eron wurde langsam ungeduldig. Er war von Anfang an nicht sonderlich begeistert gewesen, dass er Aufpasser für einen Haufen Doktoren spielen musste, die alle dachten, sie seien aufgrund ihrer Profession etwas Besseres und daher ständig mit unverständlicher Fachsprache kommunizierten. Bereits fünf Tage waren sie in dieser öden, verlassenen Gegend und anscheinend sollte sich nun auch noch herausstellen, dass sie völlig umsonst die vielen Ärzte hierher begleitet hatten. Das steigerte seine Laune ungemein.

„Diese WESEN- wir vermuten, dass sie früher einmal Menschen gewesen sind- leben weit oben im Felsengebirge, ihre Burg steht hoch droben auf einem der schwarz-silbernen Felsen ohne erkennbaren Zugang. Die steinernen oder schwarzen Engel sind unsterblich und wunderschön, aber totengleich. Sie brauchen das Blut ihrer Opfer, um stark zu bleiben. Jedoch fließt in ihren eigenen Adern kein Tropfen mehr und ihr Herz, falls sie überhaupt eines besitzen, schlägt niemals, es ist hart wie der Fels, der ihre Heimat ist.“

Der Prinz runzelte die Stirn. Für ihn hörte sich diese Beschreibung wie ein auswendig gelerntes Märchen an. Er glaubte nicht, dass es tatsächlich der Realität entsprach.

„Vampire, oder was?“

Arigon machte ein verächtliches Gesicht.

„Glaubt Ihr tatsächlich an Vampire?“

„Bestimmt nicht. Aber Ihr ganz offensichtlich.“

„Es sind keine Vampire“, der Arzt sprach das Substantiv verächtlich aus, „es sind Steinengel.“

Eron wusste auf die vermeintliche verbohrte Blödheit des Doktors keinen Rat. Er glaubte, veralbert zu werden.

„Und Steinengel ist ein Synonym für Vampire oder was?!“

„Nein“, protestierte Arigon verächtlich. Er verstand nicht, warum ein junger Mann, zwar von hohem Geblüt, aber nicht viel jünger als er selbst, so belehrungsresistent sein konnte. „Sie haben eine vollkommen andere Lebensweise.“

„Und das wollt Ihr wissen? Für mich haben sich Eure Schilderungen eher nach vagen Vermutungen angehört. Und das, was ihr gesagt habt, hat sehr nach den Märchen über Vampire geklungen.“

„Es sind aber keine Vampire“, beharrte der Doktor.

„Ich kenne sie“, warf Alessandra plötzlich dazwischen. Eron hätte beinah laut losgelacht. Belustigt betrachtete er seine Schwester, die ein ernstes Gesicht machte.

„Naja, „kennen“ ist zu viel gesagt.“ Mit einem Schauer erinnerte sich die Prinzessin an die kalten Gesichter der seltsamen Gäste beim Benedictus-Fest und an die Reaktion ihres Vater. Dann bemerkte sie schließlich den Blick ihres Bruders. Vorwurfsvoll starrte sie zurück.

„Beim letzten Ball…“, sie wartete darauf, dass er verstand. Doch Eron reagierte nicht. „Der Fremde, der mit mir getanzt hat…!“

„Könntest du bitte in ganzen Sätzen sprechen.“ Er hasste es, wenn sie der Meinung war, er müsste allein durch Andeutungen wissen, was sie meinte. Er glaubte nicht an eine mentale Verbindung zwischen Geschwistern, die einander auch ohne Worte verstehen konnten. Dafür war er zu pragmatisch.

„Einer der maskierten Fremden hat doch mit mir getanzt. Als du mit der hübschen Spitzohren-Prinzessin beschäftigt warst.“

An seinem veränderten Gesichtsausdruck konnte sie sofort erkennen, dass er sich jetzt erinnerte.

„Vater ist total ausgerastet und hat sie des Schlosses verwiesen.“

„Und du meinst diese Typen sind dafür verantwortlich, was hier passiert?“

Alessandra zuckte die Achseln. „Wenn der Hofrat dieser Meinung ist …“

„Wir wissen nicht viel über sie“, fuhr Arigon geflissentlich mit seiner Erläuterung fort. Er kannte die Geschwister nun schon einige Zeit und wusste, dass diese Kappeleien für die enge Bindung sprachen, die die beiden besaßen. „Vor etlichen Jahren sind sie plötzlich aufgetaucht und haben mit ihrer Lebensweise, so will ich es einmal nennen, für mächtigen Ärger gesorgt. Sie haben Menschen entführt und … wahrscheinlich getötet. Auf jeden Fall sind die Entführten weder gefunden worden noch wieder aufgetaucht. Die Könige der Wolfsherzen und Spitzohren sind schließlich gemeinsam gegen sie vorgegangen und haben nach langen Kämpfen ein Abkommen mit ihrem Fürsten geschlossen.“

Die Prinzessin war in einem Alter, in dem sie sich allmählich auf ihre Herrschaft vorbereiten musste und durch die Erzählung des Doktors erinnerte sie sich plötzlich an Kontrakte, die sie vor einiger Zeit in der Dokumenten-Kammer überflogen hatte. Sie hatte ganz was anderes gesucht und hatte ihnen daher keine große Beachtung geschenkt und sich nur gewundert über den seltsamen Vertrag zwischen den Völkern der Spitzohren und der Wolfsherzen und den so betitelten Anges noirs.

„Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, dass ich vor einiger Zeit den Vertrag mit ihnen in Hände gehalten habe. Ist das Vordringen in diese Gebiete nicht eine Verletzung des Kontrakts? Ganz abgesehen von den Morden.“

„Ihr habt recht. Das ist es ja, was diese Menschen hier am meisten ängstigt. Ein oder zwei Verschwundene oder Tote, über die würde man noch hinwegsehen können. Die gab es immer wieder einmal. Frischlinge, eben.“

„Frischlinge?“

„Junge Steinengel, die ihre Triebe noch nicht im Griff haben.“

Alessandra wunderte sich, dass dieser noch relativ junge Doktor, er war gerade einmal 12 Jahre älter als sie selbst, so viel über die Vergangenheit wusste.

„Ihr wisst aber doch eine ganze Menge“, warf sie dazwischen.

„Ich habe in Kapitall während meines Studiums ein Buch zweifelhafter Herkunft über sie in den Händen gehabt und das ein oder andere gelesen. Was tatsächlich stimmt, ist ungeklärt.“

„Warum hat man nie Abgesandte zu ihnen geschickt und versucht mit ihnen in Kontakt zu treten?“

„Zum einen wurde das als zu gefährlich erachtet, zum anderen lehnten das die Könige ab. Sie wollten nichts mit den Anges noirs zu tun haben.“

Eron nickte zustimmend.

„Dann sind sie gefährliche Monster“, hakte Alessandra skeptisch nach.

Arigon zog überlegend die Stirn in Falten. Er schien seine Worte bewusst abwägen zu wollen.

„Von der wissenschaftlichen Seite würde ich das verneinen. Von der menschlichen, emotionalen… Schaut Euch die Tänner an. Sie würden diese Frage sicher mit „ja“ beantworten.“

Die Geschichte kam der Prinzessin seltsam vor. Sie erinnerte sich, dass das Kontrakt vorgesehen hatte, dass die Steinengel in den Dörfern der Tänner kranke oder alte Menschen holen durften, die sowieso in Kürze eines natürlichen Todes gestorben wären. Für sie bedeutete das, dass es durchaus Kontakt mit den Steinengeln gab und sie in irgendeiner Weise überwacht wurden. Auch sprach ihr Auftauchen auf dem Fest in Rothwald nicht dafür, dass sie nur zurückgezogen im Felsengebirge lebten. Alessandra vermutete, dass es zumindest welche gab, die genauer über sie und ihr Tun Bescheid wussten. Und das es bewusst vor den anderen Menschen verschwiegen wurde.

„Monster oder nicht. Wenn sie wahrlos Menschen entführen und töten, dann werden wir eben dagegen vorgehen müssen. Wenn sie Krieg wollen, dann bekommen sie ihn auch.“

„So einfach ist das nicht“, wandte der Hofrat ein.

„Das sehe ich nicht so“, schaltete die Prinzessin sich ein, „der Vertrag wurde mit ihrem Tun verletzt, somit haben die anderen Völker das Recht einzugreifen und notfalls gewaltsam gegen sie vorzugehen.“

Eron war verblüfft, dass seine Schwester sich in diesem Punkt auf seine Seite stellte. Normalerweise versuchte sie jeden Konflikt erst einmal mit Worten zu lösen und das obwohl sie eine so gute Kriegerin war, wie er fand. Das musste er ihr leider neidvoll zu gestehen. Ansonsten war er der Hitzkopf von ihnen beiden. Er suchte immer nach einer Möglichkeit sich kämpferisch zu beweisen. Dass nicht er, sondern seine jüngere Schwester, Thronfolgerin war, war für ihn kein leichtes Schicksal. Für ihn bedeutete es, der ewig Zweite zu sein und daher versuchte er sich in anderen Dingen zu profilieren. Letzten Endes war es jedoch nur Zufall gewesen, dass Alessandra irgendwann Rothwald regieren würde und nicht er. Denn das Gesetz schrieb vor, dass abwechselnd ein König und dann eine Königin auf dem Thron der Wölfe sitzen sollte. Oft dachte sie, es wäre einfacher, wenn bereits ihres Vaters Schwester dieses Schicksal ereilt hätte, dann würde zwischen ihnen nicht diese ständige Rivalität herrschen. Denn Alessandra liebte ihren Bruder sehr und es tat ihr oft weh, mit ihm in einem ständigen Wettkampf zu stehen. Für sie wäre es leichter gewesen, nicht Herrscherin der Wolfsherzen zu werden. Sie wollte immer freier und ungebundener sein, als es ihr das Schicksal Thronfolgerin zu sein, ermöglichen würde. Sie hatte dadurch einen Haufen Verpflichtungen und musste sich an unzählige Regeln halten. Und was sie als Schlimmstes empfand, sie durfte nicht jeden Mann ehelichen, den sie wollte. Seitdem sie denken konnte, glaubte sie an die tiefe, unsterbliche Liebe zwischen zwei Menschen, die scheinbar füreinander geschaffen zu sein scheinen. Sie wurde dafür oft belächelt, von ihrem Bruder, ihren Freundinnen und auch von ihren Eltern. Obwohl die, wie sie wusste, sich sehr liebten.

„Ich werde sofort nach Rothwald zurückkehren und dort die Soldaten bereit machen, damit wir dieses Übel so schnell wie möglich beenden können“, stieg er beinah euphorisch auf ihren Vorschlag ein. Er wusste ja nicht, dass seine Schwester dies nur vorgeschlagen hatte, um den Doktor zu testen. Doch dieser reagierte unglücklicherweise gar nicht, wie sie gehofft hatte. Er schwieg nämlich.

Sie trat an das kleine Fenster mit den Sprossen aus Holz in der kleinen Lehmhütte und blickte in die tiefe Dunkelheit hinaus. Sie fröstelte ein wenig, obwohl es in der Kammer mollig warm war, ein loderndes Feuer brannte im Kamin.

„Vielleicht sollten wir erst einmal hier bleiben“, sagte sie schließlich, um sich ein wenig mehr Zeit zu verschaffen, denn sie wollte unbedingt die Wahrheit erfahren. Sie fand, dass das ihre Pflicht und ihr Recht als zukünftige Königin war. Und sie hatte ein persönliches Interesse an der Wahrheit. Seit dem Benedictus-Fest waren ihr die seltsamen Besucher nicht mehr aus dem Kopf gegangen und dann war da noch der anschließende Traum gewesen.

„Wir sollen darauf warten, dass diese Bestien wieder hierher kommen und Menschen töten oder verschleppen?“

Eron blickte seiner Schwester trotzig entgegen. Ihm stand nicht der Sinn danach, weiter hier auszuharren bei diesen komischen, eigenwilligen Tännern und darauf zu warten, getötet zu werden. Viel lieber wollte er organisieren und planen, ein Heer aufstellen und im Detail festlegen, welche Waffen und Gerätschaften sie für den Kampf brauchen würden. Warum hatte sie nur ihre Meinung so schnell geändert, wo doch der Vorschlag von ihr kam?

„Richtig. Wir werden ihnen eine Falle stellen. Und vielleicht erwischen wir einen von ihnen.“

„Eine gute Idee“, schaltete sich Martin, ein anderer Arzt, mit ein, „unter Folter gewonnene Informationen können im Krieg sicher äußerst nützlich sein.“

„Genau das hatte ich im Sinn.“

Arigon reagierte immer noch nicht. Seine Miene blieb weiter unverändert. Entweder war er ein wirklich guter Schauspieler oder die Prinzessin lag einfach falsch mit ihrer Vermutung, dass er mehr wusste, als er zugab.

„Wir haben viel zu wenige Informationen über sie. Wenn es stimmt, was Doktor Arigon gesagt hat, besitzt ihre Festung keinen Zugang. Wie also kommen sie dorthinein und was viel wichtiger ist, wie gelangen wir zu ihnen?“

Der Prinz legte den Kopf schief, auf diesen Einwand hatte er leider nicht sofort eine passende Antwort. Dann reckte er plötzlich das Kinn nach vorne. Manchmal kam er Alessandra immer noch wie der kleine starrsinnige Junge vor, der seine ledernen Hosen nicht mit dem samtenen Beinkleid tauschen wollte, dass er laut seiner Mutter zum Essen tragen musste. Ein Bild aus Kindertagen kam ihr in den Kopf, wie Eron mit verschränkten Beinen auf dem Boden gesessen hatte und sich vehement sträubte, sich umzuziehen.

„Das hatte ich auch nicht vor. Ich will nicht ihre Burg erstürmen, ich lasse sie angreifen im Tal des silbrigen Flusses, wo ich das Heer postieren werde.“

Im Augenwinkel konnte Alessandra erkennen, dass Arigon jetzt amüsiert schmunzelte. Wenn er nicht grundsätzlich das Verhalten des Prinzen amüsant fand, dann hatte sie vielleicht doch recht.

„Und da kannst du dann warten, bis du schwarz bist. Du weißt nichts über sie. Vielleicht werden sie darauf gar nicht eingehen. Wieso auch sollten sie ihre sichere Festung im Felsengebirge verlassen? Wenn sie sich so schon sehr verborgen halten, dann werden sie bestimmt nicht ins Tals kommen, weil du sie mit deinem Heer-Aufgebot provozieren willst.“

Sein Blick wurde hart.

„Ein Mann mit Ehre geht keiner Konfrontation aus dem Weg. Und ein echter Krieger weist eine Aufforderung zum Kampf schon gleich dreimal nicht unbeantwortet zurück. Aber das verstehst du als Frau sowieso nicht.“

„Und wenn sie nun keine Kämpfer sind. Und Männer mit Ehre sind sie offensichtlich eh nicht. Was machst du denn, wenn sie nachts dein Heer überfallen und nacheinander alle deine Soldaten im Schlaf töten? Und du wachst am Morgen auf und alle sind verschwunden und die, die noch da sind, sind tot?“

Er wusste natürlich auch ohne ihre weisen Worte, dass er sich geschlagen geben musste. Es war unüberlegt und kindisch. Seine Schwester hatte genauso wie er das Kriegshandwerk erlernen müssen, da sie als zukünftige Herrscherin im Kriegsfall effektiv Entscheidungen treffen können musste. Und Alessandra hatte wirklich gute Argumente gegen sein schnelles Vorgehen. Aber er war einfach nicht der Typ, der untätig herum saß und wartete. Eron war impulsiv, leidenschaftlich und ungestüm. Langes strategisches Planen und Überlegen lag ihm nicht. Dies war unbedacht und leichtsinnig und konnte unter Umständen gefährlich werden. Allerdings hatte es ihm im Kampf auch schon oft den Sieg beschert, wenn er sich auf seine Intuition verlassen hatte. Im Grunde hatte er sowieso von Anfang an keine Lust gehabt, sich um diese Angelegenheit zu kümmern. Aber auch wenn man nicht Thronfolger war, hatte man als Prinz der Wolfsherzen Aufgaben und Pflichten.

„Ich meine auch“, mischte sich Arigon jetzt ein, „es wäre besser, erst einmal abzuwarten anstatt gleich loszuschlagen.“ Sie hatte ihn also doch noch aus der Reserve gelockt.

Der Prinz hatte das leicht nervöse, heuchlerische Verhalten des Doktors auch durchaus bemerkt. Er hatte ihn von Anfang an mit Argwohn beobachtete und war zum dem Schluss gekommen, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Bislang war Eron aber noch nicht dahinter gekommen. Doch seine Schwester mochte den jungen Mann und vertraute auf sein Urteil und nachdem die anderen Ärzte ebenfalls zum gleichen Ergebnis gekommen und sich alle einig waren, konnte er wenig dagegen sagen und behielt seine Gedanken für sich.

Auch der Arzt spürte die Abneigung und das Misstrauen des Prinzen und so versuchte er ihn mit Bedacht in die richtige Richtung zu lenken.

„Wir sollten noch ein oder zwei Tage abwarten. Danach können immer noch Vorbereitungen für militärische Maßnahmen unternommen werden.“

Eron hob den Kopf und blickte ihn durchdringend an. Schließlich nickte er.

Der Boden aus breiten Holzdielen wirkte durch seine vielen unterschiedlichen Färbungen fast wie ein Mosaik. Er war so glatt poliert worden, dass er sich wie Fließen aus Stein oder Keramik anfühlte, jedoch war er wesentlich wärmer als diese recht kalten Materialien. Am Rand des Bodens, wo die kahlen, verputzten Wände aus Lehm nach oben gezogen waren, zierten wunderschöne aufwendig in das harte Holz hinein geschnitzte Ornamente die Dielen. Obwohl es das Haus einfacher Forstleute war, die von dem Wenigen lebten, was ihnen der Verkauf des im Wald geschlagenen Holzes einbrachte, wirkte der Boden durch diese kunstvollen Verzierungen wie der in einem Gutshof oder sogar in einer Burg.

Alessandra stand vor dem großen Spiegel, der schlicht in einem bronzenen Rahmen hing und den die Besitzer extra für ihren Gast aus ihrem eigenen Schlafzimmer in die Kammer der Prinzessin gebracht hatten. Sie trug eines ihrer seidenen Nachthemden, die lang auf den Boden fielen und mit zarten Trägern gehalten waren. Die kunstvoll gestickte Spitze erstreckte sich über Rücken und Dekolletee bis hinunter zu ihrem Bauch und ließ ihre kleinen festen Brüste durch den feinen Stoff durchscheinen. In diesem kostbaren Gewand fühlte sie sich in der einfachen Behausung völlig fehl am Platz. So hatte sie überlegt, ob sie nicht lieber das baumwollene Hemd anziehen sollte, das sie normalerweise unter ihrer Rüstung trug. Doch da es im Moment in dieser Gegend viel regnete, war es noch nass von der Erkundungstour, die sie am Nachmittag unternommen hatten. Die Prinzessin seufzte und öffnete den geflochtenen Zopf, den sie um ihren Kopf gewickelt hatte, um ihre Locken zu bändigen. Lang fielen ihre Haare den Rücken hinunter und umrahmten nun wieder ihr Gesicht.

Das Feuer im Kamin war fast herunter gebrannt und leuchtete dunkelrot. Durch die Verwendung des Holzes aus den umliegenden Wäldern war der ganze Raum von einem leicht süßlich-harzigen Duft erfüllt. Aus diesem Grund waren die Fenster im ganzen Haus geschlossen, denn die ansonsten entstehende Rauchentwicklung konnte richtig benommen machen. Ein weiterer war der, dass die fest verriegelten Fenster unerwünschte Eindringlinge abhalten sollten. Alessandra hielt dies jedoch für Schwachsinn. Kreaturen, die in eine hoch auf einem Felsen liegende Burg ohne Eingang gelangen konnten, würde ein geschlossenes Fenster nicht aufhalten. Und sie liebte es bei offenem Fenster zu schlafen, den Geräuschen der Nacht zu lauschen, das Rauschen des Waldes und der Felder zu hören, die das Schloss in Rothwald umgaben. Aber vor allem beruhigte sie das Heulen der Wölfe. Sie hatte Heimweh. Schon nach kurzer Zeit sehnte sich die Prinzessin nach der Geborgenheit der ihr vertrauten Umgebung.

Alle anderen schliefen bereits. Sie konnte leise das gleichmäßige Atmen der zwei jungen Soldaten vor der Tür zu ihrer Kammer hören, die dort als Wächter postiert worden waren. In Ermangelung einer ausreichenden Anzahl von Möbelstücken hatten sie es sich dort so gut es ging ein Lager aus Decken gemacht. Sie lehnten mit dem Rücken an den harten Wänden oder machten es sich auf dem Boden einigermaßen bequem. Die Prinzessin wusste, dass es, sollte einer der Steinengel in die Hütte eindringen, wohl wenig nutzen würde, dass die beiden vor ihrer Tür schliefen. Doch hatte sie nichts gesagt, denn hier drinnen war es trotzdem für die beiden weitaus angenehmer, als draußen in der eisigen Kälte zu schlafen.

Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie dehnte und streckte ihren Nacken. Der Kopf drauf fühlte sich an, als würde er eine Tonne wiegen. Sie konnte einfach keine Ruhe finden. Sie war angespannt, verspannt und nervös. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Das intensive Klopfen spürte sie ihm ganzen Körper und verstärkte ihre Nervosität noch zusätzlich. Sie nahm ihren wollenen Mantel von einem wackeligen Stuhl und zog ihn sich über. Dann öffnete sie vorsichtig die schmale Tür und stieg so leise wie möglich über die Soldaten hinweg. Sie schlich durch den kurzen dunklen Flur hinüber in die Küche, in der noch Licht brannte. Sie vermutete, dass das Feuer des Ofens, der ordentlich angeschürt worden war, um den vielen Gästen eine ausreichende Mahlzeit kochen zu können, noch nicht herunter gebrannt war. Sie stellte fest, dass sie recht hatte, als sie in die Küche trat.

Doch dann erschrak sie.

Im Schein einer dünnen Kerze in einer ansonsten kaum erleuchteten Ecke saß der Doktor. Sein Gesicht wirkte im Flackern bleich und ausgezehrt.

„Hab ich Euch erschreckt“, fragte Arigon mit sanfter Stimme und ein freundliches Lächeln erschien auf dem Gesicht.

„Ja“, sie schluckte, „ich dachte hier wäre niemand mehr, alle würden schlafen.“

Er saß auf einer Bank und rutschte zur Seite, während er mit einer Hand eine einladende Geste machte.

Alessandra zog den Mantel enger um sich und setzte sich neben ihn.

„Könnt Ihr nicht schlafen?“

„Ja“, sie blickte verlegen nach unten. Ihr war es unangenehm neben ihm zu sitzen, nur mit einem Nachthemd unter dem Mantel.

„Wollt Ihr einen Becher heiße Milch mit Honig?“

„Das soll bei Schlafstörungen helfen?“

Sie sah ihn verwundert an, als er ohne eine Antwort aufstand, auf den Herd einen Topf setzte und Milch hineingoss.

„Lernt man das im Studium des menschlichen Körpers“, fragte sie amüsiert und allmählich wich ihre Anspannung in dieser ungezwungeneren Atmosphäre.

„Nein, das habe ich von meiner Mutter. Wenn ich als kleiner Junge nicht einschlafen konnte, hat sie mich fest in meine Decke gepackt, war kurz verschwunden und mit einer Tasse heißer Honig-Milch wiedergekommen. Sie blieb, bis ich sie restlos geleert hatte, dann nahm sie die Tasse, strich mir noch mal über das Haar und bevor sie mein Zimmer verlassen hatte, war ich schon eingeschlafen.“ Er grinste.

Doch dann verschwand das Lächeln und sein Gesicht bekam einen bekümmerten Ausdruck. Alessandra traute sich nicht nachzufragen, denn es war offensichtlich, dass er seine Mutter bereits verloren hatte.

Sie schaute ihm zu, wie er mit neben dem Herd aufgestützten Händen in den Topf blickte und darauf wartete, dass die Milch heiß wurde. Immer wieder pustete er prüfend in die weiße Flüssigkeit. Schließlich goss er sie in einen großen tönernen Becher, nahm ein großes, verschmiertes, klebriges Glas von einem Regal und gab einen großen Löffel Honig in den Becher. Ein süßer, angenehmer Duft stieg auf, der an Geborgenheit, Wärme und Kindheit erinnerte.

Vorsichtig reichte er der Prinzessin den Becher.

„Das tut gut“, sagte sie, nachdem sie vorsichtig einen Schluck des heißen Getränks genommen hatte.

Er lächelte und sein hartes Gesicht nahm wieder einen freundlichen Ausdruck an.

„Wollt Ihr auch“, fragte sie alle Distanz und Sitte vergessend und hielt ihm den Becher hin.

Er schüttelte den Kopf und aus Verlegenheit trank sie selbst.

„Ich glaube nur nicht, dass es wirklich hilft“, sagte sie schließlich in die Stille hinein.

Arigon hob den gesenkten Kopf und blickte sie verwundert an. Seine Augen leuchteten im Schein des Kerzenlichts. Sie hatten eine extrem dunkle Färbung und schienen einen rötlichen Rand um die Iris zu haben. Sein Haar fiel in dunkelblonden Locken ungezähmt über seine Stirn bis zu seinen Ohren und verdeckte ein wenig die tiefe Narbe, die sich von der Mitte seiner Stirn in gezackter Linie bis zu seinem Wangenknochen hinunter zog. Eigentlich wirkte er gar nicht, wie ein Doktor. Aber musste ein Doktor immer das ausstrahlen, was er war? Musste er denn unbedingt ein hohes Alter haben, um zu verdeutlichen, welches Wissen er besitzt? Trotzdem, die Prinzessin stellte sich einen Hofrat immer älter vor mit einem weißen Bart. Auch hatten Mediziner in ihrer Vorstellung immer Falten. Sie schmunzelte bei dem Gedanken, dass ein langes, intensives Studium diese Veränderung der Haut bewirken sollte. Mit seinen wilden Locken und der Narbe über der Stirn wirkte dieser Arzt jedoch eher wie ein Soldat oder ein Ritter. Wie war ihm diese Wunde im Gesicht wohl zugefügt worden? Vielleicht hatte sie ja etwas mit seinem Wissen über die Steinengel zu tun?

Arigon musterte Alessandra ebenfalls neugierig und seine Haltung verriet deutlich, dass er auf eine Erklärung wartete. Sie fühlte sich ertappt.

„Ich … ich habe Angst, naja das ist vielleicht nicht unbedingt der richtige Ausdruck… auf jeden Fall traue ich mich nicht die Augen zu schließen und einzuschlafen.“

Der Arzt schien über ihre Antwort amüsiert. Er lehnte sich zurück, legte bequem den Unterschenkel auf das Knies des anderen Beins und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Gesicht lag so im Schatten und Alessandra konnte nicht erkennen, welche Regung ihre Geschichte nun bei ihm auslösen würde.

„Seit einiger Zeit habe ich seltsame Träume, sehr seltsame. Aber ich würde nicht unbedingt sagen, dass sie mich ängstigen…“

„Es sind also keine Alpträume?“

„Nein, das sind sie nun wirklich nicht. Es sind eher … erotische Träume. Sexuelle Phantasien…“

„Aber nicht meine“, fügt sie schnell hinzu.

„Ihr habt erotische Träume einer anderen Person“, hakte er nach, „das ist allerdings äußerst merkwürdig.“

Sie konnte, obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, deutlich hören, dass er sich ein Lachen verkneifen musste.

„Es ist nicht das, wofür Ihr es halten mögt. Und ich weiß genau, dass Euch meine sexuelle Naivität amüsiert. Aber gerade das ist es ja, was die Träume so seltsam macht.“

Die Prinzessin machte eine Pause. Es war ihr unangenehm mit einem Fremden über solche Dinge zu sprechen. Doch hatte sie zu dem jungen Doktor Vertrauen, seit sie ihn kannte, und sie war sich sicher, dass er alles, was sie ihm erzählte, für sich behalten würde. Denn verschwiegen war er allemal.

„Sie sind so real, als hätte ich sie bereits erlebt. Es fühlt sich vertraut an, obwohl es das nicht sein dürfte und es sind Dinge, die ich wohl in meinem Leben niemals tun würde.“

„Darf ich es dann so verstehen, dass es die Träume einer…“ Er überlegte, ob er es aussprechen sollte, „… einer Dirne sind.“

Obwohl Arigon sich bemühte, die Prinzessin ernst zu nehmen, kam ein leiser Gluckser aus seiner Kehle, als es versuchte sein Lachen zu unterdrücken. Alessandra funkelte ihn wütend an. Vielleicht war sie doch zu weit gegangen und hatte einen Fehler gemacht, als sie dachte, sie könnte sich ihm anvertrauen. Er verspottete und beleidigte sie sogar.

Der Arzt war weder in der Stimmung, noch der Verfassung für solche Gespräche. Eigentlich war er müde, ausgelaugt und wollte am liebsten seine Ruhe haben. Daher hatte er sich mitten in der Nacht in diese Küche zurückgezogen und jetzt kam die Prinzessin mit ihren Problemen zu ihm. Krampfhaft unterdrückte er ein Gähnen und versuchte sich damit abzulenken, indem er sie eingehend betrachtete. Sie hatte wunderschöne Augen, dass konnte er sogar in dem sanften Schein der fast herunter gebrannten Kerze sehen. Sie waren von einem sehr dunklen Grün, in dem sich die Farbe der Wälder ihrer Heimat wiederspiegelte, die Iris umrandete ein grauer Ring. Ihre Haut war sehr hell, an manchen Stellen so durchscheinend, dass er die Adern erkennen konnte, und wenn sie sich aufregte, bekam sie zarte rote Flecken auf den Wangen. Aufgrund der dunklen Ringe unter ihren Augen vermutete er schließlich, dass die Träume vielleicht doch ernster waren, als es sich im Moment anhörte.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich, „aber Ihr müsst zugeben, dass sie sich schon recht komisch anhört, Eure Geschichte.“

Sie schmollte immer noch. Ihre Augen verengten sich kritisch, während sie versuchte, ihn zu mustern. Im Halbdunkel, in dem sein Gesicht lag, konnte sie seine Miene ja nicht erkennen.

„Aber erklärt es mir doch genauer, vielleicht kann ich Euch helfen. Oder ich weiß einen Trank dagegen, den ich Euch brauen kann, wenn ich Näheres weiß“, überlegte er.

Alessandra seufzte.

„Nun gut, den ersten dieser Träume hatte ich nach dem Benedictus-Fest. Dort waren die mir Fremden, die wohl Steinengel gewesen sein mussten, ebenfalls aufgetaucht. Und einer von ihnen hat mit mir getanzt. Als ich später im Bett lag, konnte ich erst nicht einschlafen und dann … dann hatte ich diesen Traum, der sich so real anfühlte …“

Sie hielt in der Erzählung inne und überlegte, wie sie dem Hofrat den Traum berichten sollte ohne ins Detail gehen zu müssen. Langsam trank sie aus ihrer Tasse.

„Ich wurde geküsst und … gestreichelt und … und ich hatte das Gefühl, dass wir nicht allein waren.“

Unbedarftheit und Naivität sprachen aus ihren Worten.

„Nicht allein?“, hakte Arigon sogleich nach.

Die Prinzessin wurde noch verlegener. „Ich weiß es nicht genau, aber ich meinte, es wären noch mehr Frauen und vielleicht Männer im Zimmer …“

„Wie bei einer Orgie?“ Sein Tonfall hatte sich verändert, offensichtlich schien ihm nun nicht mehr nach Scherzen zumute zu sein.

„Hmm … ja, so könnte man es nennen.“ Sie wurde rot.

„Und wie häufig hattet oder habt Ihr diese Träume?“

„Noch zwei oder drei Mal … manchmal kann ich mich nicht mehr richtig erinnern und habe nur das Gefühl beim Aufwachen, dass ich wieder einen solchen Traum gehabt hab. Aber ich bin nicht sicher, ob ich mir das nur einbildete.“

„Es ist nicht das erste Mal, dass mir von derartigen Träumen berichtet wird. Ihr müsst auch nicht weiter sprechen. Ich denke, ich kenne Euer Problem.“

„Das heißt, Ihr könnt mir helfen.“ Die Aussicht auf diese Möglichkeit befreite die Prinzessin von ihrer Last. Der dunkle Schleier verschwand von ihrem Gesicht. Sie stellte ihre Tasse auf den Tisch, die sie verlegen zwischen ihren Händen gehalten hatte. Doch der Doktor stand abrupt auf und wandte sich zur Tür, hielt jedoch im Gehen kurz inne.

„Nein, Hoheit. Das kann ich leider nicht. Dazu fehlen mir die Mittel. Aber lasst Euch eines sagen: Ihr solltet auf der Hut sein. Lasst Euch nicht auf diese Träume ein.“

Er bedachte sie mit einem ängstlichen Blick, der sie erst recht verunsicherte.

„Es ist gefährlich“, fügte er hinzu und ließ sie allein in der fast stockfinsteren Küche. Einige Minuten, nachdem der Arzt sie verlassen hatte, rührte sie sich aus ihrer erstarrten Haltung. Nach dieser Reaktion von Arigon ängsteten sie ihre Träume tatsächlich, aber nicht aufgrund ihres Inhalts. Es war offensichtlich, dass er mehr wusste und es absichtlich verschwieg. Aber warum? Sein Verhalten weckte die Vermutung in ihr, dass er ihr sehr wohl helfen konnte, es aber nicht wollte oder konnte. Was für ein Geheimnis umgab die Steinengel und welcher Zusammenhang bestand zu ihren Träumen?

Ihr war kalt und ihr Herz schien nun nur noch heftiger gegen ihre Brust zu schlagen. Sie griff noch einmal nach der Tasse, doch die Milch war mittlerweile kalt und so stellte sie sie zurück auf das Holztischchen. Da die Kerze bald ausgehen würde, beschloss sie zurück in ihre Kammer zu gehen. Es war egal, ob sie dorthin gehen oder hier bleiben würde, zu dieser Stunde war sie sowieso allein, denn alle schliefen und sie wollte niemanden wecken wegen eines merkwürdigen Traums. Einem, der anscheinend gefährlich werden konnte.

Schweißgebadet wachte sie auf. Ihr Nachthemd klebte am Rücken und die Locken an ihrer Stirn fühlten sich feucht an. Ihr Atem ging immer noch schwer von dem Schrecken, den ihr der Traum eingejagt hatte. Ein Blick zum Fenster verriet ihr, dass es bereits später Morgen sein musste. Helles Licht drang gedämpft unter den schweren Stoffvorhängen hervor.

Langsam stand sie aus dem Bett auf. Mit wackeligen Beinen ging sie hinüber zum Waschtisch und goss Wasser in die porzellanene Schale. Während sie sich das Gesicht wusch, versuchte sie sich an Details des Traumes zu erinnern, der allmählich vor ihrem inneren Auge verblasste. Es war nicht jener gewesen, sondern ein ganz anderer. Agiron war darin vorgekommen. Er hatte verzweifelt versucht, sie vor irgendetwas zu warnen. Aber da war noch jemand gewesen. Angestrengt versuchte Alessandra, sich zu erinnern. Doch es gelang ihr nicht. Das einzige, was es verursachte, waren Kopfschmerzen.

Ihr Gesicht im Spiegel enthüllte die kurze Nacht und die Nachwirkung des Alptraums. Die Ringe unter ihren Augen waren noch dunkler geworden. Sie musste endlich dahinter kommen, warum sie all diese Dinge träumte und sie musste hinter das Geheimnis von Arigon kommen. Entschlossen schraubte sie den Tiegel mit der Creme ihrer Mutter auf, den sie ihr gegeben hatte, weil sei meinte, es würde die Haut glätten und einen strahlenden Teint zaubern. Doch Alessandra glaubte nicht daran, auch wenn sie es an diesem Morgen gern getan hätte. Sie benutzte die Creme eigentlich nur ihrer Mutter zuliebe. Danach bändigte sie ihre Locken, indem sie sie zu einem dicken Zopf zusammen flocht. In ein langes, weißes Hemd gekleidet mit einer braunen, ledernen Weste darüber und Pumphosen aus dem gleichen Material verließ sie schließlich ihre Kammer.

Eron, ihre zwei Wächter und die Tänner, deren Hütte sie bewohnten, saßen am Tisch in der Küche. Die Familie bestand aus den Eltern und den beiden Töchtern, die sich sehr ähnlich sahen und nur ein Jahr auseinander waren. Spiegeleier und Speck waren reichlich auf Tellern verteilt worden. Daneben stand eine große Schüssel mit dem für diese Gegend typischen Brei aus Haferflocken, Milch und Honig.

„Guten Morgen, Eure Hoheit“, grüßte der Forstarbeiter mit seiner brummigen Stimme und deutete einladend auf den Stuhl, den seine jüngere Tochter frei machte.

„Guten Morgen.“

Ihr war nicht wirklich nach Essen zumute. Der Traum hatte ihr auch auf den Magen geschlagen und sie wollte viel lieber ihren Plänen nachgehen.

„Danke sehr“, sagte sie deshalb, „aber ich möchte nicht essen.“

An den Gesichtern von Mutter und Töchtern konnte sie ablesen, dass sie enttäuscht waren. Sicher hatten sie, wie jeden Morgen seit ihrer Ankunft, mit viel Fleiß aus den kärglichen Mitteln, die ihnen zu Verfügung standen, dieses Frühstück bereitet.

Der Boden in den nördlichen nordischen Wäldern war zwar nicht hart, denn die Nadeln der Tannen und der viele Regen lockerten die Erde stets auf. Trotzdem war der Platz zu gering, um große Felder anlegen zu können. Dafür müsste eine große Menge an Bäumen gefällt werden und das würde Erdrutsche und schließlich schwerwiegende Veränderung der Natur nach sich ziehen. Daher mussten die Tänner kleine Beete auf natürlichen Lichtungen anlegen. Diese waren allerdings nicht sehr groß, da sie dort auch ihre Hütten und Ställe errichten mussten. Tiere konnten sie nur wenige halten. Für Kühe und Schafe gab es nicht genug Gras. So hatten die meisten Familien wenige Ziegen und einige Hühner. Manche konnten sich sogar Schweine leisten, mussten dann allerdings aufgrund des geringen Platzes auf Ziegen verzichten. Das hatte den Nachteil, dass sie sich von anderen oder aus den Dörfern im Tal Milch kaufen mussten. Ins Tal gingen die Tänner aber nur sehr selten und dazu auch noch ungern. Der Rückweg mit schwer beladenen Körben und Säcken war extrem kräftezehrend. Und der Weg war weit. Man musste für Hin- und Rückweg drei Tage einplanen. Das bedeutete eine teure Übernachtung, die sich die meisten nicht leisten konnten oder wollten. Daher nahmen nur diejenigen den beschwerlichen Weg auf sich, die Bekannte oder Verwandte im Tal hatten, bei denen sie für eine Nacht unterkommen konnten.

Es war ein hartes Leben und die Prinzessin hatte großes Mitleid mit diesen Menschen. Vor allem da sie selbst ein sehr luxuriöses Leben führen durfte. Ihre Begleiter, die ebenfalls privilegiert und daher andere Speisen gewohnt waren, aßen die sorgsam bereiteten Mahlzeiten nur verächtlich. Dazu zählte auch ihr Bruder, obwohl er gerade eine große Schüssel Brei in sich hinein schaufelte. So tat es ihr leid, das Essen heute abzulehnen.

„Wo ist Doktor Arigon“, fragte sie, denn groß war ihr Wunsch, erneut mit ihm zu sprechen.

„Er wird bei den anderen Ärzten sein“, antwortete Eron mit vollem Mund.

Die Doktoren waren in der benachbarten, größeren Hütte untergebracht, die einige hundert Meter entfernt war. Ein schmaler Pfad führte vom Eingang am Stall entlang und dann durch einige eng beieinander stehende Tannen hindurch. Dort war er so schmal, dass zwei Menschen nebeneinander nicht hindurch passten.

Obwohl die Sonne schien, war der Wind empfindlich kalt, der Alessandra um die Ohren pfiff, als sie die Hütte verließ. Die Bäume, die den Berg hinauf standen, waren fast 50 Meter hoch und schwankten ordentlich hin und her. Bevor sie loslief, schaute sie in den Stall hinein, in dem ihr Pferd untergebracht worden war. Hier standen auch das von ihrem Bruder, und die der zwei Soldaten und so waren die Ziegen der Familie vorüber gehend ausquartiert worden. Durch das viele Stroh und die niedrige Decke war es mollig warm. Die Pferde fanden gerade so darin Platz. Sie scharrten mit den Hufen und schnaubten, als sie eintrat. Ganz offensichtlich waren sie ungeduldig und vor allem nervös. Dazu trugen sicher auch die Hühner bei, die noch im Stall herum flatterten und sich immer wieder frech auf die Rücken der Tiere setzten. Alessandra ging zu ihrem dunkelbraunen Hengst hinüber und streichelte sanft seinen Hals. Auf der Stirn besaß er ein sternförmiges weißes Fellbüschel und im Dämmerlicht der Hütte wirkte sein Fell fast schwarz. Allzu gern hätte sie ihn jetzt gesattelt und wäre mit ihm ein Stück geritten. Er war ein muskulöses, kräftiges Tier und liebte die Bewegung. Es musste für ihn eine Qual sein, schon seit Tagen einfach nur herum zustehen, das wusste die Prinzessin. Sie legte ihre Wange an seine und flüsterte beruhigend auf ihn ein.

„Die Ärzte haben die Sache geklärt und wenn wir Glück haben mit unserem Plan, dann können wir schon bald wieder nach Hause zurück. Ich habe auch Hoffnung, dass ich hinter das Rätsel meiner Träume kommen kann.“ Sie drückte ihr Gesicht gegen seine Stirn und genoss für einen kurzen Moment die Nähe mit dem Tier. Dann tätschelte sie ein letztes Mal seine Wange. Sie ging wieder hinaus in die Kälte und lief schnellen Schrittes hinüber zur anderen Hütte.

Fünf Soldaten standen dort in einer Gruppe zusammen und diskutierten lautstark mit zwei Tännern. Etwas abseits standen zwei der Doktoren und unterhielten sich leise. Sie wurden unterbrochen, als Alessandra zwischen den Bäumen hervorkam. An den Mienen der Männer konnte sie gleich erkennen, dass etwas nicht stimmte.

„Zwei Frauen sind letzte Nacht verschwunden“, begann Leutnant Caron und ging auf sie zu. Er war noch jung, so wie alle Soldaten, die dem Befehl der Prinzessin unterstanden, groß gewachsen und muskulös. Sein dunkles Haar trug er sehr kurz geschnitten, dazu einen gestutzten Vollbart. Seine hellen, blauen Augen strahlten stets, ob er fröhlich, wütend oder traurig war. Geschätzt wurde er für seine Zuverlässigkeit und seine Ehrlichkeit. „Wie befohlen, haben immer zwei Männer Wache gehalten die ganze Nacht hindurch. Abe wir haben nichts bemerkt. Heute morgen dann haben diese beiden ihre Frauen als vermisst gemeldet. Sie sind unauffindbar.“

„Meine liebe Elisabetha“, mischte sich einer der Tänner ein, er war ungefähr 30 Jahre alt, „sie hat neben mir geschlafen und ich habe nichts bemerkt. Wie kann das nur sein?“

Der Mann war völlig verzweifelt. Seine Augen waren rot, Schweiß stand ihm auf der Stirn und beim Sprechen fuchtelte er wild mit den Händen. Er machte den Eindruck, als stünde er kurz vor einem Nerven-zusammenbruch.

„Auch ich habe erst heute morgen bemerkt, dass meine Frau nicht da ist“, der zweite Tänner rang ebenfalls mit der Fassung. Ihre Blicke und Stimmen waren flehend. „Wie kann das nur sein? Wir haben uns sicher gewähnt, seit Ihr hier angekommen seid. Es ist ja auch niemand mehr verschwunden… bis letzte Nacht.“ Die Prinzessin fühlte sich extrem hilflos. Sie konnte den Männern auch nicht mehr sagen, als das, was sie selber wussten. Und jetzt sprach auch noch der Leutnant eindringlich auf sie ein. Wenn Arigon nur alles sagen würde, was er wusste.

„Die Doktoren wollen so schnell wie möglich abreisen. Sie sagen, sie können hier sowieso nichts mehr tun und fürchten um ihre eigene Sicherheit. Sie haben ihre Sachen bereits zusammen gepackt.“

„Wieso? Die Opfer sind doch alle Frauen. Sie haben nichts zu befürchten“, mischte sich ein anderer Soldat ein. „Oder sind sie etwa verkleidete Damen?“

Alessandra war nicht nach solchen Scherzen zumute. Sie ließ den Leutnant stehen und trat zu den Ärzten hinüber.

„Ihr könnt sofort losziehen, wenn Ihr das wünscht. Eure Arbeit ist hier getan. Wir brauchen höchstens einen Doktor für Notfälle und ich hätte gern Arigon dafür, wenn es ihm recht ist. Wo ist er denn?“

Die beiden sahen sie verwundert an.

„Arigon ist bereits vor zwei Stunden fort geritten. Er sagte, er hätte mit Euch gesprochen und Ihr hättet ihm gestattet nach Kapitall zurück zu kehren.“

„Nein, das habe ich nicht. Wir haben uns letzte Nacht noch unterhalten und da hat er davon nichts gesagt.“

Sie legte die Stirn in Falten. Die ganze Sache mit dem Doktor wurde immer mysteriöser. Die Prinzessin vermutete, dass die Geschichte von ihrem Traum die Erklärung dafür war, dass er so plötzlich verschwunden war. Nur das konnte ihrer Meinung nach der Grund für seine Abreise und die Notlüge sein. Durch seine Handlungen wurde sie nur mehr in ihrer Vermutung bestätigt, dass er etwas verheimlichte. Die Sache mit den zwei Frauen gefiel ihr ebenfalls nicht. Offensichtlich hatten sie das Ganze unterschätzt, wenn nicht einmal Wachposten und der direkt daneben schlafende Ehemann die Entführungen und das Morden verhindern konnten. Und ob die beiden letzte Nacht verschwundenen Frauen tot waren, war unbestätigt. Bislang fehlte von ihnen jede Spur. Sie konnten ebenso gut noch am Leben sein.

Sie wandte sich wieder dem Leutnant zu.

„Habt Ihr irgendwelche Spuren gefunden, wie sie ins Haus gelangt sein könnten?“

„Nein, Prinzessin. Nirgends sind Spuren eines gewaltsamen Eindringens zu finden. Es sind eigentlich überhaupt keine Spuren zu finden.“

„Waren denn die Fenster geschlossen in der Nacht?“

„Ja“, bestätigte einer der Tänner, „natürlich. Seit es begonnen hat, verriegeln wir jede Nacht Fenster und Türen. Aber das hält sie ja nicht auf.“

Alessandra überlegte. Alles wurde immer rätselhafter.

„Dann gibt es nur noch einen Weg, wie sie hinein gelangt sein können“, sagte sie schließlich und blickte das Dach der Hütte hinauf zum Kamin.

„Ihr glaubt, sie kommen durch diesen Schacht ins Haus?“ Caron folgte ungläubig ihrem Blick nach oben.

„Wenn sie nicht durch Wände und verschlossene Fenster und Türen gehen können. Ist dies die einzige Möglichkeit. Und ich glaube nicht, dass es Geister sind.“

Schnell wurde nach einer Leiter gesucht und an die Wand gelehnt. Einer der Soldaten stieg hinauf und kletterte dann auf die braunen Lehmziegel des Daches, das nicht sehr steil war. Ohne Leiter oder andere Hilfsmittel war es zwar ein wenig schwierig, aber das Klettern auf dem Dach selbst stellte keine große Anstrengung dar. Am Schornstein angelangt, stand er jedoch vor einem Problem.

„Er ist viel zu schmal, um dort hinein zu gelangen“, rief er nach unten.

„Kannst du trotzdem was erkennen? Irgendwelche Spuren“, fragte Caron.

Der Schacht lag in völliger Dunkelheit und man konnte kaum die gemauerten Wände erkennen. Doch dann schien die Sonne hinein, als er sich ein wenig vom Schornstein wegbewegte und dann konnte er es sehen. Die ansonsten Ruß geschwärzten Wände wiesen auf zwei Seiten deutliche Spuren auf. Dort war der schwarze Dreck stellenweise wie weggewischt. Dazu kamen längliche Kratzspuren.

„Ja, da war etwas“, rief er zurück, während er vorsichtig vom Dach hinunter stieg, „es muss jemand oder etwas im Schacht gewesen sein. Ich konnte Kratzspuren sehen und der Ruß war an einigen Stellen weggewischt.“

„Aber wie kommen sie dort hinunter“, entgegnete der Leutnant, als der Mann wieder unten war.

Die Prinzessin zuckte mit den Schultern. „Es ist die einzige Erklärung. Auch wenn das wieder neue Rätsel aufgibt.“

„Wenn sie dort hineinkommen, müssen sie aber äußerst beweglich sein“, mischte sich der eine Tänner ein, „Wir haben zwei Kamine. Einen in der Küche, den anderen im Schlafzimmer und von jedem führt ein Schacht nach oben zum Schornstein. Nach einigen Metern teilt sich der große Schacht von oben vom Dach kommend also in zwei kleinere auf und da drin kann sogar ein Kater stecken bleiben.“

Obwohl die ganze Geschichte ein Mysterium blieb, war der Entschluss schnell gefasst. Es war ja auch die einzige Möglichkeit, die einzige Hoffnung, die sie hatten, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Aus Stangen und Rohren aus Eisen, die nicht mehr gebraucht wurden oder deren Zweck zum derzeitigen Zeitpunkt weniger wichtig war, wurden Gitter geschweißt, die anschließend unten an den Kaminöffnungen sowie in den Schächten verkeilt wurden. Sollte nach dieser Maßnahme jemand oder etwas versuchen auf diesem Weg in die Hütten einzudringen, musste er an diesem Hindernis vorbei, was nicht ohne lautstarke Geräusche möglich war, oder den Rückzug antreten. Obwohl das Einsetzen der Gitter nicht ohne große Schwierigkeiten von statten ging und dazu enorm quietschende, jaulende und kratzende Geräusche verursachte, was einen erschauern ließ und den Gedanken nahelegte, es würden gleich die Höllenhunde aus der Unterwelt auftauchen, war Alessandra immer noch skeptisch. Caron dagegen sowie seine Soldaten und die übrig gebliebenen Bewohner waren zuversichtlich. Meinten sie doch, dass sie einen erneuten Angriff auf jeden Fall sofort bemerken und daher würden verhindern können. Die Prinzessin jedoch befürchtete, dass sie die Anges noirs unterschätzten.

„Wenn Ihr erlaubt, Hoheiten, dann würden wir gerne wie Arigon diesen Ort nun verlassen“, erneut trugen die Doktoren ihre Bitte vor.

Eron war mittlerweile am Ort der schrecklichen Geschehnisse der vergangenen Nacht eingetroffen, während die letzten Vorkehrungen getroffen wurden. Die Soldaten machten sich bereit, zu den nächsten Hütten zu ziehen, um dort ebenfalls Gitter zum Schutz in den Schornsteinen anzubringen.

„Von mir aus, könnt Ihr sofort los. Wir werden sowieso in Kürze alle von hier verschwinden“, antwortete der Prinz. Aufgestützt auf sein Schwert beobachtete er voller Zufriedenheit die Arbeiten, die seiner Meinung nach die Lösung dieses Problems darstellten.

„Natürlich könnt Ihr gehen“, pflichtete Alessandra ihrem Bruder bei, „doch Doktor Silom soll bei uns bleiben, wenn es ihm recht ist.“

„Wie Ihr wünscht, Eure Majestät, aber aus welchem Grund ist dies Euer Begehren?“

Sie nahm den Arzt am Arm und ging mit ihm einige Schritte weg von der Gruppe, um mit ihm in aller Verschwiegenheit sprechen zu können.

„Ich brauche Euch. Ihr seid ein guter Bekannter von Arigon, wie ich weiß, und ich brauche Euch, um ihn zu finden.“

Silom verstand nicht recht.

„Ich muss nach Kapitall und ihn suchen. Es ist wichtig, denn ich denke, dass er uns helfen kann, die Rätsel in dieser Angelegenheit zu lösen.“

„Und meine eigenen“, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Ich dachte, Ihr würdet mit Eurem Bruder zurück nach Rothwald reiten. Die Sache hier scheint ja erledigt zu sein. Ihr wollt sicher mit Eurem Vater beratschlagen, was weiterhin gegen die Steinengel zu unternehmen ist.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich denke nicht, dass die Sache erledigt ist. Ich benötige mehr Informationen. Wir müssen das Übel grundsätzlich beseitigen und nicht eine vorübergehende Lösung finden. Ich denke, dass Arigon dazu der Schlüssel.“

Der Arzt war ein Studienkollege von Arigon gewesen. Gemeinsam hatten sie an der Universität in Kapitall studiert und promoviert. Von Silom erhoffte sich die Prinzessin daher, dass er ihr zeigen konnte, wo sich Arigon bevorzugt aufhielt.

Silom nickte bedächtig mit dem Kopf.

„Ich werde Euch nach Kapitall begleiten und hoffe, dass Euer Handeln ein erfolgreiches Ende finden wird.“

Alessandra atmete tief durch. Am liebsten wäre sie sofort aufgebrochen, aber Eron und auch Caron hatten darauf bestanden, dass sie bis zum nächsten Morgen warten sollte. Sie wusste selbst, dass es so besser war, dennoch wollte sie eigentlich keine weitere Nacht in der Hütte verbringen.

Draußen vor dem Fenster konnte sie dicke Flocken fallen sehen. Das war auch der Grund für den Protest der Männer gewesen. Das Wetter war hier in den Gebirgswäldern unberechenbar. In der einen Minute konnte noch die Sonne scheinen, in der nächsten fiel kräftiger Regen oder sogar Schnee. Und das in den eigentlich warmen Monaten. Die dicht stehenden Bäume, die bis hinauf zum Himmel zu reichen schienen, machten ein frühes Erkennen eines Wetterwechsels beinahe unmöglich. Zudem wurde es in dieser Gegend schnell dunkel und die schmalen Pfade dann unpassierbar. Es sei denn, man war scharf darauf, dass man auf einem glitschigen Stein ausrutschte oder vom Weg abkam und den steilen Hang hinunterstürzte.

Das Feuer prasselte laut und hell im Kamin. Sie hatte extra noch mehr Holzscheite nachgelegt, denn sie wollte nicht, dass es bald ausgehen würde. Natürlich hatten die Soldaten auch in dieser Hütte Gitter in den Schornsteinen befestigt, aber Alessandra traute der Maßnahme nicht recht. Sie zog die schweren Vorhänge vor den Fenstern zu und begann ihre restlichen Sachen in eine lederne Satteltasche zu packen. Dann überlegte sie, ob sie gleich ihre Reisekleidung anlegen oder sich mit dem seidenen Nachthemd unter die Decke kuscheln sollte. Sie wollte am nächsten Morgen so früh wie möglich aufbrechen. Aber dann bedachte sie, dass die Kleidung knittrig werden würde und zudem im Bett sehr warm war. So entschied sie sich für das Nachthemd, da es durch das große Feuer im Zimmer richtig warm war. Als sie gerade ins Bett gehen wollte, klopfte es plötzlich kurz an der Tür. Bevor sie reagieren konnte, ging die Tür auf und Caron steckte seinen Kopf hinein.

„Oh, verzeiht“, entschuldigte er sich mit hochrotem Kopf, „Ich wollte nur kurz nach Euch sehen und Bescheid sagen, dass für morgen alles vorbereitet ist.“

„Danke, Caron.“

„Und… ich werden… werde persönlich die Nacht über Wache halten vor der …Eurer Tür.“

Die Prinzessin konnte sich ein leises Lachen aufgrund der Verlegenheit des Leutnants nicht verkneifen.

„Gute Nacht.“ Dann verschwand er mit einem etwas zu energischen Schließen der Tür.

Eigentlich war ihr nicht nach Lachen zumute. Sie hatte Angst. Angst vor ihrem Traum und Angst vor den Steinengeln. Vor dem einen konnte sie sich schützen und beschützt werden, aber vor dem anderen war sie machtlos. In die Kissen gelehnt, begann sie zu grübeln. Sie hatte nicht vor zu schlafen, zumindest würde sie versuchen, wach zu bleiben und wenn sie doch einschlafen würde, hoffte sie zu müde zum Träumen zu sein. Sie saß daher ziemlich aufrecht im Bett und blickte hinüber zum Kamin, der sich gegenüber an der Wand befand. Das Feuer wurde schon schwächer, und in der Hütte wurde es stiller und stiller. Irgendwann konnte sie sogar den Schnee fallen hören. Ebenso wie die Welt langsam ruhiger wurde, kam auch die Müdigkeit über sie. Es war doch ein anstrengender Tag gewesen. Die Prinzessin hatte beim Fertigen der Gitter geholfen, Werkzeuge geholt und gereicht und den Soldaten ihre Aufgaben zugewiesen. Sie hatte den ganzen Tag mit herum gewerkelt und sich keine Pause gegönnt. Schließlich hatten sie bis zum Abend fertig sein wollen und das hatten sie auch gerade so geschafft. Ihr Kopf wurde schwer und nickte immer wieder nach vorne. Die letzten züngelnden Flammen des Feuers verschwammen mehr und mehr vor ihren Augen. Schließlich schlossen sie sich wie von selbst und ihr Kopf fiel zur Seite gegen eines der Kissen. Ihr Körper entspannte sich und hob sich in langsamen, gleichmäßigen Atemzügen. Unter der dicken, weichen Decke fühlte sie sich wie auf einer Wolke schwebend. Arme und Beine waren wunderbar leicht.

Ein sanfter Hauch spielte mit ihren Locken. Der Wind ließ das Kleid wehen, das sie trug. Millionen Sterne funkelten vor einem tintenblauen Himmel. Weiße dicke Kerzen auf goldenen Kandelabern warfen warmes Licht auf ihr Gesicht und ihren Körper. Sie strich sich die Locken zur Seite und lief langsam los. Wie in Trance, als zöge ein unsichtbares Band sie vorwärts. Von irgendwoher kam leise Musik. Suchend blickte sie sich in dem traumhaften Raum um. Dort wo im Halbschatten das Licht noch hell genug schien, waren silbrig glänzende Gesteinswände zu erahnen. Unendlich hoch schien die Decke zu sein, die sich hinauf zu einem funkelnden Sternenhimmel erstreckte, doch vereinzelt hingen wie Stalakmiten kristallene Tropfen herunter. An ihnen glitzerten Perlen, die daran hinab glitten und auf den Boden tropften. Dort verbanden sie sich miteinander und bildeten einen flachen See. Auf seinem Grund blühten silberne Seerosen und üppig roséfarbene Anemonen. Als sie ihren nackten Fuß vorsichtig auf die Wasseroberfläche setzte, sank er nicht ein. Er war nicht einmal nass, aber hinterließ sich verflüchtigende Kreise auf der ansonsten spiegelglatten Fläche. Voller Verwunderung lief sie bedächtig über den See weiter, blickte staunend umher.

Und sie spürte, sie war nicht allein.

Aus dem Dunkel traten sechs Frauen. Sie trugen lange, voluminöse Kleider aus weißem, durchsichtigem Stoff, der ihre schlanken Körper einhüllte. In sanften Wellen fielen ihre glänzenden Haare hinunter über ihre Brüste. Elfengleich bewegten sie sich auf sie zu, umkreisten sie spielerisch, streiften dann die Träger ihres Hemdes die Arme hinunter bis es hinab fiel. Die Prinzessin beobachtete neugierig, aber ansonsten ungerührt, wie es auf den Grund des Sees schwebte.

Plötzlich lag sie wieder auf dem Bett. Die Köpfe der Frauen tauchten hinter den bauschigen Kissen und Decken auf. Sanft näherten sie sich ihr von allen Seiten. Katzenartig wandten sie sich über das Bett. Sie versuchte, sich zu rühren, doch schaffte sie es nicht. In Panik presste sie ihre Augen fest zusammen und riss sie im nächsten Moment auf.

Das Feuer warf noch kurze Schatten an die Wände. Lange konnte sie nicht geträumt haben. Sie versuchte sich zu beruhigen. Doch dann meinte sie, in der einen Ecke undeutlich jemanden stehen zu sehen. Sie erschrak.

Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Brust. Sie konnte das Klopfen im ganzen Körper spüren. Ihr Atem ging nur noch stoßweise. Sie wagte nicht, sich zu bewegen, saß statuengleich im Bett. Wie hypnotisiert starrte sie hinüber in die Ecke. Als sich ihre Augen schließlich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie die Gestalt dort deutlicher erkennen. Mit verschränkten Armen lehnte ein groß gewachsener Mann an der Wand, das eine Bein locker angewinkelt, den Fuß gegen die Wand gestellt.

„Wer seid Ihr?“ Ihre Stimme war kaum mehr als ein krächzendes Flüstern. Es erforderte ihren ganzen Mut, ihren Mund zu öffnen und zu sprechen.

Seine Bewegungen waren schnell, als er aus dem Schatten hervor trat in den flackernden Lichtschein. Sein Blick war eine Spur aus Verwunderung und Belustigung.

„War dein Traum nicht schön genug“, entgegnete er schließlich.

„Wer seid Ihr?“ Beharrlich wiederholte sie ihre Frage. Keinesfalls wollte sie sich von der Erinnerung an diesen Traum verunsichern lassen.

Provozierend langsam kam er näher, ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

Auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lag ihr Schwert. Es würde sie nur eine schnelle Bewegung bedürfen und sie konnte sich gegen ihn wehren. Vorsichtig lehnte sie ihren Körper zur Seite, so dass sie in die Nähe der Waffe gelangen konnte. Sie war in diesem Augenblick dankbar dafür, dass das Bett nicht gerade breit war.

„Du hast Angst vor mir“, stellte er trocken fest.

Langsam tastete sich ihre rechte Hand weiter. Und er kam näher. Und in diesem Moment, in dem seine Aufmerksamkeit ein wenig nachließ, umgriffen ihre Finger den Schwertknauf und im nächsten schwebte die Spitze vor der Brust des Mannes. Er blieb ruhig. Regungslos stand er da, das Schwert auf Höhe seines Herzens.

„Nur zu! Tötet einen Unbewaffneten, Prinzessin.“

Seine Augen blitzten herausfordernd. Das Grinsen war immer noch nicht verschwunden. In dieser veränderten Situation, in der Alessandra nun die Oberhand zu haben schien und sich dadurch sicherer fühlte, nahm sie sich die Zeit, ihn nun genauer zu betrachten. Er trug schwarze enge Hosen aus Leder, die in ebenfalls schwarzen Stiefeln steckten. Sein Oberkörper war nur von einem weißen Hemd verhüllt aus dicker, glänzender Baumwolle mit einem kurzen Stehkragen. Es besaß keine Knöpfe und der Ausschnitt entblößte seine muskulöse Brust zu einem großen Teil. Unterhalb der breiten Manschetten mit schwarz-silbernen Knöpfen schauten lange, schlanke Hände heraus.

Ihr wurde immer klarer, dass sie ihn kannte.

Es war der Mann aus ihren Träumen.

Langsam ließ sie das Schwert sinken.

Vergeblich versuchte sie eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen.

„Wenn du mit einer so tödlichen Waffe auf mich losgehst, hat dir dein Traum wohl wirklich nicht gefallen“, seine Stimme war ruhig, angenehm… verzaubernd schön.

Er war jetzt ganz nah, setzte sich zu ihr aufs Bett und legte das Schwert vorsichtig beiseite, das sie neben sich auf der Decke abgelegt hatte.

Seine Blicke zogen sie in seinen Bann. Er hatte wunderschöne, leuchtende Augen. Süße Worte versetzten sie zurück in die Traumwelt. Plötzlich waren die Frauen wieder um sie herum, streichelten ihr Arme, Schultern und Rücken. Eine setzte sich neben ihn, ihr Kleid, auf einer Seite herunter gerutscht, entblößte ihre nackte Brust. Mit ihren langen Fingern strich sie über seinen weißen Hals. Schließlich beugte er sich über Alessandra und drückte sie hinunter in die Kissen. Sie fühlte sich, als würde sie fliegen. Das Bett begann sich zu drehen, weiter und weiter nach ob zu schweben. Langsam kam sein Gesicht ihrem näher. Sie wusste, dass er sie gleich küssen würde. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln. Zu ihrer Verwunderung ersehnte sie den Kuss, die Berührung seiner Lippen.

Dann ging alles ganz schnell.

Ihr Zimmer war plötzlich hell erleuchtet. Sie saß aufrecht im Bett.

Caron stürmte durch die offene Tür und schrie laut. Doch sie konnte ihn nicht verstehen. Auch rühren konnte sie sich nicht. Sie sah, wie der Leutnant auf sie zustürzte. Zwei Soldaten mit gezückten Schwertern tauchten hinter ihm auf.

„Prinzessin… Prinzessin…“

Sie erwachte aus ihrer Erstarrung und endlich konnte sie ihn verstehen.

Der Leutnant war jetzt bei ihr und packte sie an den Schultern.

„Geht es Euch gut?“

Steif blickte sie sich um. Die Frauen waren verschwunden. Und der fremde Mann ebenfalls. Es war, als wäre sie aus einem Schlaf aufgeweckt worden. Als wäre alles nur ein Traum gewesen. War es das denn nicht auch? Aber gleichzeitig hatte sich alles so real angefühlt. Sie konnte seine Berührung und Nähe immer noch spüren.

Schließlich nickte Alessandra.

Sie verstand immer noch nicht richtig, warum Caron und seine Soldaten in ihr Zimmer gestürmt waren. Angeblich hatten sie Stimmen gehört und Licht unter der Tür gesehen. Aber als sie durch die Tür gekommen waren, war da niemand gewesen. Außer der Prinzessin. Doch wenn da niemand gewesen war, wie hatten sie dann Stimmen hören können? Und wenn da wirklich jemand gewesen war, wie hatte dieser jemand so schnell verschwinden können. Die Soldaten hatten zur Vorsicht die gesamte Kammer und auch die restliche Hütte sorgfältig durchsucht, aber niemanden gefunden. Es war unerklärlich und daher waren sie einstimmig zu der Meinung gekommen, Alessandra müsse schlecht geträumt haben. Die Stimmen hatten sie vermutlich gehört, weil die Prinzessin im Schlaf gesprochen hatte. Für diese Erklärung sprach auch die Situation, in der die Soldaten sie vorgefunden hatten. Ihre verzögerte Reaktion hatte wohl daher gerührt, dass sie noch nicht völlig aufgewacht war. Alessandra selbst hatte sich kaum zu den Mutmaßungen geäußert. Die ganze Sache war sehr merkwürdig und verunsicherte und ängstigte sie noch mehr, als es ihre Träume sowieso schon getan hatten. Trotz allen plausiblen Erklärungen war sie felsenfest davon überzeugt, dass jemand in ihrer Kammer gewesen war, bevor die Soldaten hereingestürmt waren. Doch sie versuchte, ihre düsteren Gedanken abzuschütteln und sich auf ihre neue Aufgabe zu konzentrieren.

Die Tänner ließen sie nur ungern ziehen. Sie hatten die Prinzessin und ihre Soldaten als Schutz und Unterstützung empfunden, denen sie vertrauten. Schon lange hatten sie sich nicht mehr so sicher gefühlt. Doch Alessandra versicherte ihnen, dass sie Dingen nachgehen musste, die das Problem womöglich dauerhaft lösen würden. Sie versprach aber, Caron und einige Soldaten zur Bewachung des Dorfes da zulassen.

Eron war von ihrem gesamten Plan alles andere als begeistert. Er argumentierte, er brauche Caron und jeden Soldaten in Rothwald, um Strategien gegen einen möglichen Angriff der Steinengel zu erproben. Denn ausgeschlossen sei es nicht, dass sie sich nach den erfolgsversprechenden Maßnahmen hier aus Rache gegen die Wolfsherzen wenden würden. Oder aber sie würden nach anderen Orten suchen, an denen sie Menschen entführen und töten konnten. Hier bei den Tännern hätten sie ja dafür gesorgt, dass es keine weiteren Opfer mehr geben würde. Darum galt es sich jetzt zu kümmern. Es sei eine schwachsinnige und sinnlose Idee diesem Feigling von Arzt hinterher zu rennen. Ihr Platz sei in Rothwald und an keinem anderen Ort auf der Welt.

„Das heißt wohl, dass ich am besten hinter den sicheren Mauern bleiben und mich in nichts einmischen soll.“

„So hab ich das nicht gemeint“, protestierte Eron und stapfte ihr hinterher, als sie wütend zu ihrem Pferd lief, den Sattel über den Arm gelegt.

„Wie denn dann“, bluffte sie zurück, „es geht dir doch nur mal wieder um das leidige Thema der Thronfolge.“

„Das ist nicht wahr und das weißt du auch.“

„Das weiß ich nicht“, entgegnete sie kalt und zog die Gurte am Bauch des Hengstes fest.

Kampflos gab er sich geschlagen, er wusste, dass es in ihrer momentanen Verfassung nicht möglich war, mit ihr zu diskutieren. Er würde sie von ihrem Entschluss nicht abbringen können.

„Und wenn dir etwas zustößt?“

„In Kapitall?!“ Sie lachte laut. „Dort wird mir mit Sicherheit am allerwenigsten geschehen.“

„Nein. Auf dem Weg dorthin!“

Alessandra hielt in ihrer Rage inne. Eron hatte den wunden Punkt getroffen. Denn darüber hatte sie sich selbst schon Sorgen gemacht. Sie mussten zuerst noch ein ganzes Stück durch die nördlichen nordischen Wälder, bis sie ins Tal gelangten und damit auf die Straße nach Kapitall. Aber wenn sie sich beeilten, konnten sie noch vor Sonnenuntergang in Kreuzwalde sein. Am helllichten Tag würde ihnen bestimmt nichts zustoßen. Sie waren alle erfahrene Reiter und zudem bewaffnet. Wenn sie erst einmal in Kreuzwalde waren, würde ihnen dann nichts mehr passieren, denn es war der Ausgangspunkt einer breiten und am besten befestigten Straße weit und breit. Dort trafen viele Reisende zusammen, die sich auf dem Weg nach Kapitall befanden. Das Städtchen war ein großer Bahnhof für Kutschen, Karren, Pferde und andere weniger schnelle Transportmittel. Ein Umschlagsplatz für Waren aus oder für Kapitall. Daher war in Kreuzwalde zu jeder Tages- und Nachtzeit Hochbetrieb.

„Aus diesem Grund wollen wir ja so schnell wie möglich los, damit wir gegen Abend Kreuzwalde erreicht haben.“

„Unsere Eltern werden mit Sicherheit platzen vor Zorn. Gerade Vater wird toben, wenn er erfährt, was du vorhast.“

Auch das noch! Das konnte sie jetzt gar nicht vertragen. Nun versuchte Eron, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Mit der Berufung auf die Strenge ihrer Eltern hatte er sie in ihrer Kindheit bereits, meist erfolgreich, von einer Sache abzuhalten gesucht. Trotz allem musste Alessandra nun grinsen, darüber, dass sich auch mit wachsender Reife manche Gewohnheit aus Kindertagen nicht änderte. Sie bedachte ihren Bruder mit einem liebevollen, versöhnlichen Blick. Aber dieses Mal würde sie sich nicht abhalten lassen. Dann nahm sie ihr Pferd am Halfter und führte es aus dem kleinen Stall hinaus. Draußen wartete bereits Silom auf sie zusammen mit zwei Soldaten, die sie ebenfalls mitnehmen wollte. Eron kam ihr hinterher, half ihr auf den großen Hengst. Das wäre zwar nicht nötig gewesen, aber es war seine Art sich zu entschuldigen. Als sie sich zu ihm hinunter beugte, drückte er ihr einen Kuss auf die Wange.

„Sag Mutter und Vater, dass ich sie liebe. Sobald ich meine Angelegenheiten erledigt habe, kehre ich unverzüglich nach Rothwald zurück.“

Alessandra gab das Zeichen zum Aufbruch und die kleine Gruppe machte sich endlich auf den Weg nach Kapitall. Als sie zurück blickte, winkte ihr die Familie zum Abschied, bei der sie gelebt hatten. Der Vater hatte den Arm um seine Frau gelegt und drückte sie an sich, die beiden Töchter hielten sich an den Händen. Alessandra bewunderte diesen Familien-Zusammenhalt, sie hielt ihn für einen wichtigen Wert im Leben.

Sie kamen schnell voran. Schneller als sie erwartet hatte, da der Weg zu den Tännern ihr unendlich vorgekommen war. Doch die Pferde fanden relativ leicht festen Tritt auf den schmalen mit Tannennadeln übersäten Pfaden. Es kam einem so vor, als würden die Tiere an einem unsichtbaren Seil nach unten geführt werden. Trotzdem erlaubten sie sich keine Rast. Nachdem erst gestern zwei Tännerinnen verschwunden waren, musste man davon ausgehen, dass sich Steinengel in den Wäldern aufhielten. Eile und Vorsicht waren geboten. Doch gegen Abend erreichten sie dann tatsächlich Kreuzwalde. Das Städtchen schmiegte sich zwischen zwei grüne Hügel. Wie erwartet war es hell beleuchtet und der Trubel schon von Weitem zu hören. Obwohl es keine Vorfälle gegeben hatte, atmete die kleine Gruppe auf, als sie das Stadttor passierten. Dahinter begegneten ihnen zahlreiche Menschen, Gefährte und Tiere. Wagen wurden beladen und entladen und die Güter auf andere Transportmittel geladen.

Die meisten Häuser, die sich dicht an dicht entlang der Straße reihten, waren Gasthäuser oder Wirtsstuben oder beides. Die gesamte Bevölkerung Kreuzwaldes hatte sich auf die unzähligen Reisenden eingestellt. Hier war jeder zweite ein Gastwirt. Sie wählten ein kleines Gasthaus, etwas abseits des Trubels, für ihre Übernachtung. „Grünes Lichtlein“ war der poetische Name und bezog sich wohl auf die waldgrünen Vorhänge, die vor den Fenstern hingen und das helle Licht im Innern grün färbten. Sie führten ihre Pferde in den kleinen Stall rechts neben dem Gasthaus, der den Gästen zur freien Verfügung stand. Die Kreuzwaldener waren in dieser Hinsicht wirklich gut organisiert. Jedes Haus besaß mindestens einen Stall, in dem sich mehrere Boxen befanden, in welche man sein Pferd für die Nacht unterbringen konnte. Wasser und Heu kamen aus hohen Spendern. Das Heu fiel unten in eine Raufe und rutschte nach, wenn diese leer war. Das Wasser floss in einem wohl sorgsam ausgetüftelten Strahl in eine Rinne und von dort in den Abwasserkanal. Es gelangte schließlich in große Becken, in denen es gesäubert wurde. Anschließend wurde es zurück in die Wasserleitungen der Stadt geleitet. Auf diese Weise war das Wasser immer frisch. Für eine solche Konstruktion war vermutlich lange Erfahrung notwendig. Aber so konnte das Tier, ohne dass sich jemand groß kümmern musste, versorgt werden. Das sparte den Wirtsleuten Personal und damit Kosten, und für die Gäste war es eine kostenlose Annehmlichkeit, für die menschlichen wie auch die tierischen.

Alessandra und ihre Begleiter führten ihre Pferde jeweils in eine Box, nahmen die Sättel ab, rieben sie trocken und schlossen dann die Türen. Wer mochte und sein Tier in vollkommener Sicherheit wissen wollte, konnte eine Münze in ein Fach einwerfen, das dann aufsprang. Man konnte daraus einen dort drinnen liegenden Pfand-Schlüssel entnehmen, der die Box zuschloss. Sie taten das alle vier. Anschließend gingen sie durch eine Tür im hinteren Teil des Stalls nach nebenan in die Wirtsstube. Diese war hell erleuchtet. So waren sie erst einmal geblendet von dem Licht. An mehreren Tischen saßen Leute, tranken und aßen. Links neben der Theke in der Ecke auf einem kleinen Podest spielte ein Mann auf einer Zitter fröhliche Tanzmusik. Der beleibte, schon etwas ältere Mann hinter der Zapfsäule war vermutlich der Wirt. Emsig war er damit beschäftigt, einen Krug nach dem nächsten zu füllen. Seine Backen war schon gerötet von der Anstrengung. Vier junge Frauen in der traditionellen Tracht der Region, lange, weite Taillen-Röcke bis zu den Knöcheln und weiße, grün bestickte Blusen mit kurzen, gebauschten Ärmeln, kamen in unregelmäßigen Abständen an die Theke und trugen die gefüllten Krüge fort an die Tische. Auch ihnen war die hektische Anstrengung im Gesicht anzusehen.

„Grüß Ihnen“, warf ihnen eine von ihnen beim Vorübergehen zu. Sie war schon vorbei, noch bevor auch nur einer antworten konnte. Daher traten sie an die Theke.

„Entschuldigung“, ergriff Silom die Initiative. „Wir hätten gern Zimmer für die Nacht.“

„Essen wollt´s Ihr nix“, entgegnete der Wirt ohne aufzublicken.

„Doch schon…“

„Dann setzt Ihnen an einen der Tischen. Es kimmt gleich ein Madel.“

„Und die Zimmer…?“

Aber der Wirt hatte sich schon abgewandt und einer neuen Tätigkeit zugewandt. Also suchten sie sich einen ruhigen Tisch in der Ecke.

„Grüß Ihnen.“ Es hatte wirklich nicht lang gedauert, bis eine Bedienung gekommen war. Sie warf einen kurzen Blick in die Runde. „Was darf ich Euch bringen?“

„Wir möchten nur eine Brotzeit und eine Karaffe Weinschorle, wenn es möglich ist.“

„Sicher.“ Sie notierte kurz die Bestellung.

„Und dann brauchen wir noch vier Zimmer“, fügte Silom hinzu.

Sie lachte kurz auf.

„Wir sind so gut wie ausgebucht“, antwortete sie, während sie ihren Notizblock in die Rocktasche steckte, „eines haben wir noch.“ Und damit war sie auch schon wieder verschwunden.

Der Arzt atmete tief durch und rieb sich mit der linken Hand seine Stirn. Auch das noch. Jetzt hatten sie sich extra ein ruhigeres Gasthaus ausgesucht und da war nur noch ein Zimmer frei. Dabei wollten sie so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen. Aus diesem Grund hatte Alessandra ihre Locken auch hochgesteckt und trug immer noch einen Filzhut.

„Und nun“, wollte einer der Soldaten wissen. „Suchen wir eine andere Unterkunft?“

„Ich fürchte, wir werden es überall schwer haben. Die Stadt scheint mal wieder voll zu sein.“

„Dann nehmen wir eben dieses Zimmer“, unterbrach die Prinzessin die Überlegungen.

Die drei Männer blickten sie irritiert an. Die Soldaten öffneten fast gleichzeitig ihren Mund, sagten aber vor lauter Entgeisterung nichts. Und schlossen ihn wieder.

„Das geht doch nicht.“ Silom fand seine Sprache am schnellsten wieder. „Wir können doch nicht…“, er senkte seine Stimme, „mit Euch Hoheit in einem Zimmer…“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Nein, das geht wirklich nicht!“

„Wir haben keine andere Wahl“, entgegnete Alessandra bestimmt. Die drei Männer schwiegen. „Es ist ja bloß für eine Nacht.“

Der Arzt brummte irgendetwas vor sich hin. Es klang, wie Karlus werde ihm den Kopf abschlagen. Und auch die beiden Soldaten fanden weitere Widerworte. Ihre Diskussion wurde schließlich von der Bedienung unterbrochen, die mit einer Karaffe und einem großen Holzbrett zu ihrem Tisch kam. Auf dem Brett lagen drei unterschiedliche Brotsorten, ein Helles, ein Roggen und eines mit Allerlei Nüssen und Kernen, sowie eine großzügige Auswahl an Käse, Wurst und Schinken. Das Ganze war angerichtet mit Radieschen, Rettich und Kräutern.

„Lasst´s euch schmecken.“

Die Vier zögerten. Obwohl sie alle Hunger hatten, war ihnen die Merkwürdigkeit der Situation, auf die sie erst durch die Zimmer-Problematik aufmerksam geworden waren, nun mehr als bewusst. Das traf vor allem für die drei Männer zu. Sie hatten bislang noch selten zusammen mit der Prinzessin gegessen und dann schon gar nicht in einer so intimen Atmosphäre, in der Heiterkeit einer Wirtsstube. Mit Wein, Weib, Tanz und Gesang am besten noch. Alessandra bemerkte das und fühlte sich verpflichtet, das strenge Protokoll aufzuheben.

„Bitte, tut mir den Gefallen und seht in mir in der nächsten Zeit nicht die Thronfolgerin, sondern eine Soldatin und Gefährtin.“

„Gefährtin…?!“ Silom stand das Entsetzen im Gesicht.

„Nicht in dem Sinn, in dem Ihr es jetzt verstehen wollt“, ihr stieg die Röte ins Gesicht.

Die anderen beiden mussten jetzt laut loslachen.

„Das ist das Richtige. Lasst uns locker bleiben, sonst fallen wir am Ende gerade wegen der Anstrengung, nicht auffallen zu wollen, auf. Wir kennen uns ja schon länger … und da denke ich, dass es in Ordnung geht, wenn wir in einer speziellen Not-Lage auch mal ein Zimmer teilen. Und mein Vater wird davon sowieso niemals etwas erfahren.“

Mit den beiden Soldaten, Rufus und Niklaus, der eine ein Jahr jünger, der andere zwei Jahre älter als sie, hatte sie ihre Kriegs-Ausbildung absolviert. Alessandra kannte sie also seit ihrer Kindheit. Silom war vor ungefähr zehn Jahren mit Arigon an den Hof gekommen und hatte dessen Aufgaben übernommen, als der Hofrat seine Forschungsarbeit in Kapitall fortgesetzt hatte. Er hatte somit die Prinzessin schon in viel schlimmeren Zuständen gesehen. Sie erinnerte sich noch genau daran, als sie mit elf Jahren an Scharlach erkrankt war. Tagelang hatte sie mit Fieber in ihrem Bett gelegen. Mehrmals hatte sie im Fieberwahn gemeint, Fremde vor ihrem Fenster gesehen oder in den Schnitzereien in der Holzdecke über ihrem Bett schreckliche Fratzen entdeckt zu haben. Jedes Mal war sie erschrocken und voller Angst in ihrem Nachthemd aus ihrem Zimmer gerannt, mindestens dreimal war sie dabei genau in Siloms Arme gelaufen. Damals war er noch nicht einmal Zwanzig gewesen, gerade mit seinem Studium fertig und im Umgang mit jungen Mädchen und insbesondere mit Prinzessinnen sehr unerfahren. Erst hatte er sie schützend und tröstend in seine Arme geschlossen und an seine Brust gedrückt. Dann, als ihm bewusst wurde, um wen es sich handelte, hatte er sie schnell von sich geschoben und zuerst an der Hand gefasst und dann nur noch ihre Schulter berührt und sie zurück in ihr Zimmer gebracht. Nachdem Alessandra die Krankheit überstanden hatte, war er ihr wochenlang aus dem Weg gegangen und extrem steif und zurückhaltend gewesen.

Mal abgesehen davon, dass es trotz allem unschicklich war, dass die zukünftige Königin mit zwei Soldaten und einem Hofrat in einem Zimmer schlafen würde, war es der Prinzessin nur recht, nicht allein schlafen zu müssen. Der Schock über den ungebetenen Besucher in ihrem Zimmer saß immer noch tief. Und so hatte sie Angst, panische Angst, dass er wieder kommen würde, um sich in ihre Träume zu schleichen. Wenn drei Männer bei ihr schliefen, würde er das nicht wagen, so glaubte Alessandra. Mit ihren Argumenten hatte sie die Männer jedenfalls überzeugt und beruhigt begannen sie, sich über die Brotzeit herzumachen. Auch die Karaffe war schnell geleert und so bestellten sie eine zweite. Nachdem sie die Probleme wegdiskutiert und sich entspannt hatten, wirkten die vier wie eine ganz normale Gruppe Reisender. Sie fielen neben den anderen Gästen überhaupt nicht auf, die sich wie sie mit Speis und Trank für die Weiterreise am nächsten Tag stärkten. Niklaus schlug dann in der heiteren Stimmung sogar vor, entgegen jeglicher Etikette, es sei unauffälliger, sich zu duzen. Bis auf Silom waren alle begeistert und so übergingen sie einfach das energische Kopfschütteln des Arztes.

Rasch vergingen zwei Stunden und die Gaststube leerte sich allmählich. Nach und nach zogen sich die Gäste auf ihre Zimmer zurück. Und als die Bedienung wieder an ihren Tisch kam, bezahlten sie und verlangten nach dem Schlüssel.

„Es ist das im obersten Stock“, erklärte die junge Kreuzwaldnerin und gab dem Arzt den Schlüssel, „es ist das einzige dort oben. Ihr könnt´s nicht verfehlen.“ Sie grinste. „Ich hab Ihnen das Größte aufgehoben, weil Sie Ihnen ja eines zu viert teilen müssen. Ich hoff´, es ist recht.“

Sie bedankten sich für die freundliche Großzügigkeit und standen auf. Gerade als sie im hinteren Teil der Stube durch den Durchgang zur Treppe gehen wollten, kamen weitere Gäste durch den Vorder-Eingang ins Gasthaus. Es waren ein junger Mann und eine junge Frau. Sie trugen beide dunkelblaue lange Mäntel und hatten die Kapuzen über den Kopf gezogen. Alessandra drehte sich um und blickte sie an. Sie erschrak. Das konnte nicht sein. Verfolgte er sie jetzt etwa auch, wenn sie wach war? Fast wäre mit Rufus zusammen gestoßen, der an ihr vorbei wollte.

„Oh, entschuldige“, murmelte sie.

„Ist dir die Weinschorle nicht bekommen“, fragte er lächelnd und stützte sie am Arm.

Dafür erntete er einen strafenden Blick von Silom.

„Das ist ein wenig zu intim“, zischte er dem Soldaten zu.

„Ist schon in Ordnung“, sagte Alessandra, „ich bin nur ziemlich müde.“ Zur Bekräftigung ihrer Aussage hielt sie sich die Hand vor den Mund und tat, als würde sie gähnen. Sie ließ die Männer vorgehen und wandte sich dann noch einmal um. Mittlerweile war der Wirt bei den neuen Gästen und diese hatten ihre Mäntel ausgezogen. Sie atmete erleichtert auf. Offensichtlich war sie so durch den Wind, dass sie schon Halluzinationen hatte. Der junge Mann mit den hellen Haaren und den strahlenden Augen hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem dunklen Mann aus ihren Träumen. Die junge Frau hatte noch hellere blonde Haare, die ihr fast bis zur Hüfte reichten. Sie hatte braune Augen und mit diesen blickte sie ihren Begleiter immer wieder hingebungsvoll an. Wahrscheinlich war es ein frisch vermähltes Paar. Dafür sprach auch die Ähnlichkeit ihrer Kleidung. Denn sie trugen nicht nur den gleichen Mantel auch die Farbe seines Hemdes stimmte mit der ihres Kleides überein. Es war ein auffälliges helles Grün und passte sowohl perfekt zu ihrem Teint als auch zu seinem. Während der Wirt mit ihnen sprach, lächelten beide immer wieder. Sie machten einen sympathischen, freundlichen Eindruck. Und anscheinend kannte der Wirt sie auch. Freundschaftlich fasste er jetzt den jungen Mann an der Schulter und führte sie an einen der Tische, an den er sogleich eine Bedienung winkte.

Beruhigt stieg Alessandra die Treppe ins oberste Stockwerk hinauf. Sie wollte jetzt nur ins Bett, denn plötzlich fühlte sie sich doch sehr erschöpft. Das Zimmer war äußerst großzügig. Es standen ein Doppelbett und zwei einzelne Betten darin, die sich in einer Nische links und rechts an der Wand befanden. Eine kleine Tür rechts des Eingangs führte ins Bad, das ebenfalls ziemlich groß war. Zumindest für ein Gästezimmer.

Als die Prinzessin eintrat, hatten ihre Begleiter bereits die Betten verteilt. Rufus und Niklaus sollten im Doppelbett schlafen, Silom und Alessandra in den zwei Einzelnen. Es war so am sinnvollsten, denn ansonsten hätte sie mit einem der Männer in einem Bett schlafen müssen. Trotzdem und natürlich als reine Vorsichtsmaßnahme behielt sie Hemd und Hose an, als sie sich endlich hinlegte.

Wolfsengel

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