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Vertrauenskodex

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Ich traf mitten in der Nacht an dem großzügig abgesperrten Tatort ein. Mittlerweile hatte sich ein eiskalter Klumpen in meinem Magen gebildet. Die blauen Lichter der Polizeiautos, des Kranken- und Notarztwagens tauchten das komplette Wohngebiet in skurrile Licht- und Schattenmuster, die zu leben schienen. Ich schlüpfte unter der Absperrung hindurch und hoffte, dass dies ein „normaler“ Mordfall war. Der Forensiker war vor Ort und wartete auf meine Anweisungen. Ein kurzer Blick auf die Leiche bestätigte meine schlimmsten Befürchtungen: Dies war der dritte Mord nach dem gleichen Muster innerhalb von fünf Tagen. Wir wurden tatsächlich mit einem Serienmörder konfrontiert.

„Haben Sie ihn bewegt?“, seufzte ich.

Ein stummes Kopfschütteln war die Antwort.

Das war ein Alptraum, in dem ich mich befand!

Das männliche Opfer lag mit seltsam verrenkten Beinen auf der Straße, die Kehle brutal durchgeschnitten, sodass eine große Wunde in seinem Hals klaffte, die kaum noch blutete, weil sich der Lebenssaft vollständig auf den Asphalt ergossen hatte – das letzte Bad eines Menschen im eigenen Blut. Die Handflächen der Leiche zeigten nach oben und, wie bei den zwei Morden zuvor, war in der linken Hand ein „H“, in der rechten ein „W“ eingeritzt worden – mit dem gleichen Messer, das der Täter am Hals eingesetzt hatte, da brauchte ich nicht erst das Ergebnis der Gerichtsmedizin abzuwarten.

Ich gab das Signal für die Spurensicherung, wollte unter der Absperrung abermals durch tauchen, als ich stutzte: Unter den vielen Schaulustigen, die sich um die Sicherheitszone herum geschart hatten, nahm ich IHN zum wiederholten Male wahr: Einen mysteriösen jungen Mann, der sich einen Vollbart hatte wachsen lassen. Mein kriminalistischer Verstand folgerte: Wollte er eine Narbe oder markante Gesichtszüge verdecken? Er war mir bei den anderen beiden Tatorten aufgefallen, weil er eine essentielle Ausstrahlung besaß, die ich schier körperlich empfand. Er zog mich seltsam an, stieß mich gleichzeitig ab, weil ich allmählich misstrauisch wurde, dass er beharrlich am Tatort erschien. Wieso ist das von niemandem außer mir bemerkt worden?

Die nächsten Wochen leitete ich die Ermittlungen. Unsere Sonderkommission analysierte die Mordfälle, allerdings verliefen alle Untersuchungen im Sand: keine Indizien, kein DNA-Material, keine Zeugen. Der Täter war ein Profi, der keinerlei Spuren hinterlassen hatte – es waren die perfekten Morde.

Bis ich eines Tages, nach dem fünften Serienmord darauf stieß, dass alle Getöteten in der oder für die gleiche Firma arbeiteten. Sämtliche Alarmglocken schrillten in mir los. Bei der Firma handelte es sich um einen großen Chemiekonzern, der in der Vergangenheit öfter in den Medien genannt wurde, weil er im Verdacht stand, chemische Waffen in ein krisengebeuteltes Land zu exportieren. Der Vorstandsvorsitzende wies in sämtlichen Interviews theatralisch die Vorwürfe von sich. Er sei ein Opfer der Konkurrenz, die ihm seinen Erfolg neideten. Das wäre denkbar, da sich die Aktien des Konzerns ungebrochen seit ein paar Jahren auf einem enormen Höhenflug befanden.

Meine Kommission und ich tappten nach wie vor im Dunkeln, als mir auffiel, dass abermals Unterlagen verschwanden, von denen ich mit Sicherheit wusste, dass sie zuvor auf meinem Schreibtisch gelegen hatten. Desweiteren fand ich heraus, dass Protokolle gefälscht oder abgeändert wurden, sowie Beweismittel nicht mehr auffindbar waren. Ich zweifelte nahezu an meinem Verstand, bis ich eines Tages zuhause in meinem Briefkasten einen braunen, dicken Umschlag ohne Beschriftung entdeckte. Noch während ich mich zu meiner Couch im Wohnzimmer begab, riss ich diesen auf und starrte auf diverse Dokumente: Kopien, Zeichnungen und Computerausdrucke. Als ich die Unterlagen studierte, kroch eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper, die nicht mehr verschwand. Ich hatte die Antworten auf all meine Fragen erhalten!

Der Chemiekonzern entwickelte eine biologisch-chemische Waffe, die in das Krisenland ausgeliefert werden sollte. Es war eine neue, perfekte Form, die mittels zweier radähnlicher Grundbestandteile gefahr- und vor allem verdachtlos getrennt transportiert werden konnten. Wer würde bei einem roten und grünen Rad eine tödliche Waffe vermuten? Im Kriegsgebiet angekommen würden die beiden Räder zusammengesetzt und gleichzeitig gezündet werden. Dies würde Menschen in einem Umkreis von mehreren tausend Quadratkilometern einen erbärmlichen und grausamen Tod verschaffen. Aufgrund einer großangelegten Industriespionage stand der Konzern kurz vor der Entdeckung der neuen Entwicklung und kriminellen Machenschaften. Daher war ein Auftragsmörder engagiert worden, der die Verdächtigen und Entwickler der Kriegswaffe systematisch zum Schweigen brachte. Warum hinterließ der Mörder seine Initialen? Wollte er, dass der Fall aufgedeckt wurde? Wer hatte mir diese Daten zugänglich gemacht? Inmitten dieser Gedanken las ich das letzte Blatt der Dokumente und mir gefror das Blut:

„Vertraue niemandem. Es gibt einen Maulwurf in deiner Abteilung!“

Jetzt, wo ich dies las, ergab alles einen Sinn: Deswegen verschwanden Dokumente, wurden Protokolle gefälscht, tauchten Beweismittel unter. Der Konzern hatte einen oder mehrere Mitarbeiter meiner Kommission unter Kontrolle!

Ich war verzweifelt. Ich konnte niemandem diese Dokumente zeigen, musste um mein Leben fürchten. Ich wollte nicht enden wie diese armen Menschen, die für die falsche Firma arbeiteten. Wollte ich weiter in diesem Fall am Ball bleiben, musste ich außerordentlich vorsichtig sein.

Ich hielt es zuhause nicht mehr aus, stürzte ins Freie, hastete schwer atmend die Straßen entlang, erkannte nicht mehr, wohin ich stürmte - den Blick nach Innen gerichtet, die Gedanken fuhren Karussell in meinem Kopf. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel stand der junge Mann vor mir, der bei den letzten beiden Mordfällen am Schauplatz war, meist sogar, bevor ich eintraf.

„Darf ich dich zu einem Kaffee einladen?“, seine angenehm tiefe Stimme verblüffte mich und ich nickte stumm.

Die nächsten Tage trafen wir uns regelmäßig und ich verfiel seiner sympathischen Ausstrahlung. Er brachte mich dutzende Male zum Lachen, unterhielt mich mit Geschichten und ich staunte über sein enormes Wissen auf allen Gebieten. Mein Misstrauen wich zurück, doch nie von mir. Vor allem, als ich bei unserem ersten Treffen nach seinem Namen fragte und er mir tief in die Augen, mir schien es bis auf den Grund meiner Seele, blickte und erklärte, dass Namen nicht wichtig sind und ich ihn Mike nennen konnte. Zudem erzählte er zu keiner Zeit Persönliches über sich. Ich kannte seine Ansichten und Meinungen zu fast allen Themen, aber nicht, wer dieser Mann war. Woher er kam, wo er wohnte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Und meine innere Stimme warnte mich davor, ihn danach zu fragen.

Diese Treffen stellten trotz allen Misstrauens mein Fels in der Brandung dar, denn die Morde endeten nicht und meist fiel ich erst morgens um drei, vier Uhr todmüde ins Bett, nur, um nach zwei oder drei Stunden unruhigen Schlafes voller Alpträume, völlig gerädert aufzuwachen. Es gelang mir keinen Fortschritt in der Ermittlung der Mordfälle, Nachforschungen bezüglich des Chemiekonzerns gestalteten sich schwierig, da der Maulwurf allzeit in vollem Einsatz war und ich mich nicht verraten durfte, dass ich über die Dinge Bescheid wusste.

Nach einem weiteren Mord hielt ich es nicht mehr aus.

Dieser Mord war der schlimmste von allen gewesen - das männliche Opfer lebte beim Eintreffen noch so lange, dass er mir röchelnd eine Nachricht übermitteln konnte: „'Schnitter', … der Mörder nennt sich 'Schnitter'...!“

Nach diesem Satz schloss er für ewig seine Augen.

Ich hätte schreien wollen, allein meine Professionalität verbot mir das. Ich biss mir so fest auf die Innenseite meiner Wangen, dass sie bluteten.

Anschließend saß ich um drei Uhr morgens zitternd auf meiner Couch, als es an der Haustür klopfte. Ich wusste, dass es Mike war.

„Du brauchst mich jetzt“, stellte er fest und erstaunt erkannte ich, dass er Recht hatte.

Nach einer wundervollen Liebesnacht musste ich mir eingestehen, dass ich mich in Mike verliebt hatte, indes die misstrauische Stimme in meinem Inneren war nicht verstummt.

Am darauffolgenden Mittag verabredeten wir uns zu einem Spaziergang am Strand. Wir liefen Hand in Hand barfuß am Wassersaum entlang, die Sonne stand hoch, wärmte meine nackten Arme und ich war ungewöhnlich schweigsam. Wie gerne hätte ich mich ihm anvertraut – ihm VERtraut! Ich konnte nicht.

Wir erreichten eine einsame Stelle am Strand, als ich es nicht mehr aushielt: „Mike, wie heißt du wirklich?“

Sein eiskalter Blick ließ mich frösteln: „Wieso kannst du mich nicht annehmen, wie du mich kennen gelernt hast?“

Ich wich seinem Blick nicht aus, wohingegen er die Frage in meinen Augen las: „Wieso vertraust du mir nicht? Ich habe dir nichts Böses getan und doch misstraust du mir.“

Ich hätte mir auf die Zunge beißen sollen, dem ungeachtet musste es heraus, endlich heraus: „Wie ist dein Name?“

Seine Augen überzog ein trauriger Schimmer: „Hans-Walter.“

Nach diesen Worten ließ er meine Hand los und verließ mich. Ich blickte ihm nach, bis er hinter einer kleinen Düne verschwand, da erst brach ich zusammen. Ich fiel auf die Knie, in den weichen Sand, konnte das Zittern in mir nicht mehr kontrollieren, weinte bittere Tränen der Angst, Wut und Enttäuschung, heiße Tränen eines zerbrochenen Herzens, indes musste ich eine Sache noch vollbringen.

Geraume Zeit später holte ich mein Handy hervor, wählte seine Nummer und stellte ihm eine letzte Frage, als er meinen Anruf entgegennahm: „Wie ist dein Nachname?“

Er antwortete nicht, ich hielt das Handy vor meine Augen, blickte es stumm an, als ich im Display, das mein Gesicht widerspiegelte, entsetzt erkannte, dass sich hinter mir eine große Person aufbaute. Ich drehte halb meinen Kopf, erkannte Mike, der „Mein Nachname ist Schnitter“ antwortete, mir mit seinem Messer die Kehle aufschlitzte und ich tot auf dem Sand aufschlug.

Angstküsse der Träume

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