Читать книгу Bitte lasst mich mitspielen! - Bibiana Zeller - Страница 8
1. Kindheit und Katastrophe
ОглавлениеAls Hitler im März 1938 in Wien einmarschierte, nahm mein Vater Wilhelm Zeller uns Kinder, also meine Halbbrüder Fritz und Wilhelm, meine Schwester Friederike und mich, mit zur Mariahilfer Straße. Da erlebten wir den »Triumphzug«. Eine Weile beobachtete mein Vater das infernalische Treiben, die zu Tausenden erhobenen Hände, das Geschrei und die Vorbeifahrt des Diktators, der selbst die Hand zum Hitlergruß erhoben hatte, dann sah er uns Kinder an und sagte: »Da machen wir nicht mit, gell!« Das war alles. Dieser Satz hat sich mir bis heute eingeprägt. Und wir haben auch nicht mitgemacht. Es war der Tag, an dem meine Kindheit endete.
Jahrzehnte später notierte ich dazu in einem meiner vielen Tagebücher:
19. Juni 1989
Ich war mit meinen Eltern in der Stumpergasse, es war 1938 – die Machtübernahme. Auf der Mariahilfer Straße die Massen – und dann haben uns der Gemüsehändler und der Tischler im Haus tyrannisiert. Sie zwangen uns, mit »Heil Hitler« zu grüßen, und wir haben uns gefürchtet! Ganz schrecklich gefürchtet.
Es war mir damals vollkommen klar, dass dieses Regime nicht akzeptabel war, und bei jeder Gelegenheit versuchte ich, Reglementierungen zu untergraben. Selbst wenn es nur kleine Gesten waren: Für mich waren sie von großer Bedeutung. Ich bekam beispielsweise immer wieder einen schrecklichen Hustenanfall, wenn ich im Stiegenhaus oder auf der Straße einem Nachbarn oder Passanten »Heil Hitler!« entgegenrufen musste. So brauchte ich meinen Arm nicht zu heben. Eine winzige Geste, doch für mich eine Art der Verweigerung. Das war natürlich brandgefährlich, denn jederzeit konnte man dafür angezeigt und verhaftet werden. Aber irgendwie musste ich diesem Wahnsinn etwas entgegensetzen, viel konnte ich ja als Kind nicht tun.
Ich besuchte das Gymnasium in der Rahlgasse. Als gute Sportlerin, die ich immer war, wurde ich für das Amt der BDMFührerin in Betracht gezogen. Die Burschen kamen damals in die Hitlerjugend und wir Mädchen zum »Bund Deutscher Mädchen«. Um dafür ausgewählt zu werden, musste man eine Prüfung ablegen. Nächtelang überlegte ich, wie ich das System austricksen könnte. Plump die Prüfung einfach zu schmeißen, das ging nicht. Und so konzentrierte ich mich darauf, bei den Wettbewerben nicht als Erste ans Ziel kommen, sondern als Dritte oder Vierte. Zu schlecht durfte ich nicht abschneiden, das hätten sie mir nicht abgenommen. Zu gut aber auch nicht, sonst hätten sie mich verpflichtet.
Damit wir – es waren mehrere aus meiner Klasse ausgewählt worden – zu dieser BDM-Prüfung antreten konnten, mussten wir Kurse besuchen, in denen wir Führungsdisziplin, Gehorsam und was nicht noch alles lernen mussten. Ich kann mich noch an das Haus am Judenplatz erinnern, in dem diese Kurse im ersten Stock stattfanden. Wir »Auserwählten« saßen in riesigen Räumen im Kreis, vorne stand immer die Kursleiterin – und alle waren sie blond und blauäugig. Allein diese Tatsache hat mich fertiggemacht. Sie haben alle gleich ausgesehen – auswechselbar sozusagen.
Ich schaffte den Rausschmiss mit einem Pokerface, wie man so schön sagt. Seit damals weiß ich, was ein Pokerface ist. Ich musste diese Rolle durchgehend spielen, sozusagen in der Rolle bleiben. So gesehen war es wahrscheinlich meine erste Rolle, die ich jemals gespielt habe.
Die Ereignisse von 1938 haben mich nachhaltig traumatisiert. Meine Erlebnisse, die ich als damals Zehnjährige hatte, lassen mich bis heute nicht los. Ich bin über den Judenplatz marschiert, und aus den Kellern hörte ich die grauenvollen Schreie von Menschen, die dort gefangen gehalten wurden. Sie waren zusammengepfercht und mussten auf ihren Abtransport in die Lager warten – wie ich später erfuhr. Irritiert von den Hilfeschreien, kniete ich mich vor die Kellerfenster, rief hinein, fragte, wie ich helfen könnte – es kamen aber keine Antworten. Höchstens unartikulierte Schreie. Ich konnte überhaupt nicht verstehen, dass niemand eingriff – die Leute gingen achtlos vorbei. Die Menschen in den Kellern waren so verzweifelt und schon so hoffnungslos, sie haben nicht mehr damit gerechnet, dass ihnen irgendwer zu Hilfe kommen würde, und schon gar nicht eine Zehnjährige.
Auch aus dem Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz hörten wir Tag und Nacht Schreie von gefolterten und misshandelten Menschen. Mich verfolgen diese Schreie bis heute. Ich kann nicht verstehen, wieso heute wieder so viele Neonazis herumlaufen. Nicht nach all dem, was geschehen ist. Es ist so furchtbar entmutigend, vor allem wenn ich mir die Zukunft vorstelle. Hat denn niemand aus der Vergangenheit gelernt? Bald sind alle Zeitzeugen weg, und dann gibt es nur mehr Erinnerungen aus zweiter Hand.
Jahrzehnte später, im Februar 2000, als die ÖVP die Koalition mit der FPÖ einging, empfand ich das als politische Katastrophe. Ich musste zwei Interviews geben und notierte in mein Tagebuch:
14. April 2000
Gestern, am 13. April, zwei Interviews im Herrenhof. Ich sprach von der Vertreibung meiner Freundin Agi Boroš und der Arisierung der Wohnungen. Von dem Schock und über die Enttäuschung der obersten Führer dieses Landes; von ihrer Unanständigkeit. Über Karrieren – und davon, dass sie sich nicht halten, wenn sie kein Fundament haben. Heute um 8 Uhr in den Nachrichten hörte ich die Meldung, dass die Rückzahlungen an die Opfer des Nationalsozialismus 21 Milliarden Schilling kosten werden.
Mein Vater Wilhelm Zeller (1882–1954) war schon 50, als ich auf die Welt kam; er war ein alter, aber sehr liebevoller Vater. Er starb mit 72 Jahren. Meine Mutter Anna (1893–1970) hat ihn noch um 16 Jahre überlebt. Meine Kindheit war sehr behütet. Ich erinnere mich nicht an viele Dinge vor 1938, wahrscheinlich, weil meine Welt eben in Ordnung war.
Ich bin das jüngste Kind, das Nesthäkchen. Ich wurde auch lange Zeit nur Zwetschgerl genannt. Erst als ich ein junges Mädchen war, wurde aus Zwetschgerl Wetschi, und meine Freunde von damals nennen mich heute noch so. Ich war – und das bin ich bis heute – irrsinnig neugierig. Immer wollte ich alles wissen, alles erklärt haben. Diese Neugier wird wohl nie aufhören.
Meine Halbschwester Mimi mit ihrem Ehemann, meine Mutter, meine Schwester Friederike und mein Vater.
Mein Vater, ein Geschäftsmann, von dem ich nie wusste, welche Geschäfte er genau betrieben hat, war, wie man es damals bezeichnet hat, ein »Entrepreneur«. Er hatte großartige Ideen, war aber seiner Zeit immer voraus. Einmal war er in der Filmbranche tätig, dann hatte er eine Bar mit Vitamindrinks, die »Bibi-Bar« in der Rotenturmstraße – und so gab es bei uns immer wieder finanzielle Engpässe. Als Mann war er ein Charmeur der alten Schule. Er hat die Frauen geliebt, und ich meine wirklich geliebt. Sie waren für ihn einfach verehrungswürdige Geschöpfe. An ihm und seiner hinreißenden Art Frauen gegenüber habe ich sicherlich jeden Mann in meinem Leben gemessen. Ich habe ein paar Mal in meinem Leben solche Männer getroffen, die voller Ehrfurcht und Liebe Frauen gegenüber waren – allerdings konnten sie auch nie Nein sagen.
Mein Vater war drei Mal verheiratet, seine ersten zwei Ehefrauen starben beide jung. Ich weiß nicht genau woran, ich weiß nur, dass die zweite im Kindbett bei der Geburt meines Halbbruders Fritz starb. Das ist auch der Grund, warum zwischen meiner ältesten Halbschwester Wilhelmine, genannt Mimi, und mir 30 Jahre Altersunterschied liegen.
Mimis Mutter war Jüdin, was meiner Schwester natürlich später sehr gefährlich wurde. Es war ein Wunder, dass sie die schrecklichen Jahre in Wien überlebt hat. Irgendwie ist es meiner Familie gelungen, sie mit vereinten Kräften zu schützen. Sie überstand die gesamte Nazizeit sozusagen als »U-Boot«. Viel weiß ich nicht darüber, weil ich noch sehr jung war. Ich weiß nur, dass sie in der Operngasse gewohnt hat und irgendetwas mit einem Verlag zu tun hatte. Offenbar hatte sie, neben der Familie, auch noch ein anderes Netzwerk an Freunden, das sie geschützt hat.
Meine beiden Halbbrüder Wilhelm und Friedrich, die aus der zweiten Ehe meines Vaters stammten, waren durch den großen Altersunterschied zu mir eher wie liebevolle Onkel für mich. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter lebten sie in Hietzing, im sogenannten »Schönbrunner Stöckl« direkt am Hietzinger Platz, und wurden von ihrer Tante, der Schwester ihrer verstorbenen Mutter, aufgezogen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass sie täglich ihre Ponys im Schönbrunner Park spazieren führten – das hat mich als Kind natürlich sehr fasziniert.
Fritz, mein Halbbruder.
Obwohl wir Geschwister nicht zusammenlebten, war der Kontakt speziell zu den Brüdern sehr eng. Ich fuhr ständig mit der Straßenbahn zu ihnen, und wir verbrachten viel Zeit gemeinsam im Hietzinger Bad. Es waren Wilhelm und Fritz, die mir später Mut machten, meinen Weg zu gehen und Schauspielerin zu werden. Sie setzen sich sehr für mich ein, als meine Eltern ihre Zweifel hatten, ob das wohl die richtige Berufswahl für mich wäre.
Aus der dritten Ehe meines Vaters – mit meiner Mutter, Anna Wohlgemuth – gab es noch meine einzige richtige Schwester: Friederike. Sie war sechs Jahre älter als ich.
Meine Mutter war eine stille und sehr liebevolle Frau, die oft sehr traurig war. Sie weinte viel. Ich weiß noch, dass ich oft einfach bei ihr gesessen bin und sie nur gestreichelt habe. Ich hatte immer Angst um sie, sie wirkte so verletzlich und zart, dann aber auch wieder sehr distanziert, so als ob sie in ihrer eigenen Welt lebte. Viele Jahrzehnte später erinnerte ich mich an ihre Aufenthalte in Steinhof. Ich drehte dort gerade den Film »Ene mene muh – und tot bist du« (2000) von Houchang Allahyari, und plötzlich fielen mir die Besuche bei meiner Mutter im Spital wieder ein. Mir war als Kind nicht wirklich klar, warum sie dort war, heute weiß ich, dass sie wegen Depressionen in Behandlung war.
Sie hat sicher auch darunter gelitten, dass mein Vater andere Frauen so verehrt hat. Einmal stand die Ehe meiner Eltern sehr an der Kippe. Es gab damals eine Frau im Leben meines Vaters, die immer wieder bei Einladungen in unserer Wohnung auftauchte. Mir fiel sie auf, denn sie hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. Irgendetwas an ihr war einfach anders. Abgesehen davon wechselten die Gäste oft, nur sie kam immer wieder. Obwohl ich nichts Genaues wusste, hatte ich so meine Vermutungen. Ich war gerade im Maturajahr, also beileibe kein Kind mehr, und mein Vater bat mich, mit ihm in den Volksgarten zu gehen, er müsse mit mir etwas sehr Ernstes besprechen. Mir wurde ganz schlecht, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was das sein sollte. Wir setzten uns auf eine Bank, und er fragte mich, ob ich es ihm sehr übelnehmen würde, wenn er meine Mutter verließe.
Anna Wohlgemuth, meine Mutter.
In meinem jugendlichen, unreflektierten Ungestüm war meine Antwort klar: »Das wäre sehr gemein, das darfst du nicht machen.« Ich wusste, meine Mutter hätte diese Trennung nicht überlebt.
Nie wieder wurde über dieses Thema gesprochen. Heute tut mir das leid. Wer weiß, vielleicht habe ich meinem Vater ein großes Glück zerstört.
Ich bedauere, dass ich nie Großeltern hatte. Die Eltern meiner Eltern waren alle schon tot, als ich auf die Welt kam. Daher ist mir vieles in meiner Familie unklar – ich hatte niemanden, den ich fragen konnte, und mit den Eltern hat man andere Dinge besprochen als beispielsweise die Vorfahren. Ich hätte einfach gerne mehr über unsere Familie gewusst. Ich sehe es ja bei meinen Enkelkindern: Man erzählt ihnen ganz andere Dinge als beispielsweise den eigenen Kindern, man hat zu Enkeln einfach einen anderen Zugang. Ich glaube, dass man als Kind mit Großeltern ganz anders spricht als mit Eltern, und das hätte ich mir gewünscht.
Kurz nach Kriegsende war mein Vater viel auf Reisen. Er arbeitete damals für eine Firma, die Filmrollen herstellte, und musste regelmäßig nach München fahren. Immer, wenn ich nachgefragt habe, meinte meine Mutter nur: »Du weißt ja, er muss arbeiten …« Mein Vater war oft wochenlang fort, und wenn ich ihn fragen wollte, was er denn genau gemacht hätte, zog er einfach – anstatt zu antworten – ein neues Kleid oder etwas anderes Schönes aus seinem Koffer und sagte: »Schau, was ich dir mitgebracht habe. Die Reise hat sich doch ausgezahlt, oder?« Damit war das Thema erledigt. Ich hätte nie gewagt, näher nachzufragen.
Ein Erlebnis mit meinem Vater hat mir die Augen geöffnet. Ich war etwa 17 oder 18 Jahre alt und mit meiner ersten großen Lebensliebe, dem späteren Dirigenten Michael Hutterstraßer, liiert. Seine Eltern führten die Firma Bösendorfer in Wien und hatten Anteile am Hotel »Österreichischer Hof« in Salzburg. Wir sind dauernd zwischen Wien und Salzburg hin und her gefahren, saßen oft an der Salzach, ließen die Füße ins Wasser hängen und haben viel geredet. Michaels Großvater war der legendäre Opernsänger Richard Mayr (1887–1935), der 1911 erstmals in der Wiener Staatsoper den »Ochs von Lerchenau« in Richard Strauss’ Oper »Der Rosenkavalier« gesungen hat. 1924 spielte er diese Rolle in London in Covent Garden und begründete damit seine internationale Karriere. Michael sah in ihm ein großes Vorbild, und manchmal fuhr er einfach aus einer Laune heraus nach Salzburg, nur um sich das Bild seines Großvaters, das überlebensgroß im »Österreichischen Hof« hing, anzusehen.
An einem dieser Ausflugstage begegneten wir völlig unerwartet meinem Vater. Er war nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, heimlich mit einer Geliebten unterwegs, nein, er war inmitten eines ganzen Freundeskreises, mit dem er sich angeregt unterhielt. Als er mich sah, erschrak er nicht etwa oder war bestürzt – im Gegenteil, er forderte mich und Michael auf, uns einfach dazuzusetzen, teilzuhaben und mitzudiskutieren. Mein Vater führte sozusagen ein Parallelleben.
Michael Hutterstraßer, meine erste große Lebensliebe.
Sein zweites Leben war ausgelassen, lustig und sehr geistreich. Ganz anders als sein Wiener Leben. Meine Mutter war immer sehr traurig, hat wenig gesprochen und sich auch nur für wenige Dinge interessiert. Also nahm sich mein Vater Auszeiten, sozusagen als Ausgleich. Wenn er dann zurückkam, war er ausgeglichen, liebenswürdig, fröhlich – und auch meine Mutter blühte dann wieder etwas auf.
Ich weiß nicht, wie viel und was sie genau über diese »Ausflüge« meines Vaters wusste. Meine Eltern haben wahrscheinlich auch unseretwegen den Schein aufrechterhalten. Meine Schwester und ich sollten nichts merken. Das war damals so – über Persönliches wurde nicht gesprochen.
Wir lebten zuerst in Mauer, dann, als ich in die Schule kam, in der Stumpergasse im 6. Bezirk, später im 1. Bezirk, in der Gölsdorfgasse 2, Ecke Rudolfsplatz. Dort wurden wir ausgebombt und siedelten in die Rotenturmstraße 19. Verschafft wurde uns diese Wohnung von einem Freund meines Vaters. Sie war sehr klein und wir lebten recht eng aufeinander. Da war auch kein Platz für eine Bibliothek. Es hat sich – außer mir – auch niemand dafür interessiert. Weder Literatur noch Kunst spielten in meinem Elternhaus eine besondere Rolle.
Einer meiner stärksten Kindheitseindrücke ist ein kleiner Frosch, den sich meine Schwester in einem winzigen Terrarium hielt. Alles drehte sich um diesen Frosch und was er gerade machte oder nicht machte. Ich weiß nicht, warum ich mir gerade diese Belanglosigkeit gemerkt habe. Das Gedächtnis ist schon etwas Merkwürdiges.
Jahrzehnte später, als ich in Reichenau Sommertheater spielte, fiel mir wieder ein, dass wir einmal im Sommer in Payerbach gewohnt haben. Ich muss noch sehr klein gewesen sein, wahrscheinlich war ich gerade in der ersten Klasse Volksschule. Wir, das waren meine Schwester Friederike, genannt Dita, meine Mutter und mein Vater:
8. Juli 1990
Schöne Parkanlagen – wunderbare Bäume. Sicher haben wir auch deshalb in Payerbach gewohnt. Ich erinnere mich an meinen Tretroller, an den Pavillon, der noch immer im Park dort steht. Ich erinnere mich an die zu hohe Türschnalle am Bahnhof, wenn ich Papa zum Zug brachte. An einen großen Streit meiner Eltern – wo Papa mich gern zu sich genommen hätte, ich aber zu Mutti floh, in ihren Schoß. An Dita, meine Schwester. Die gemütlichen Nachmittagsschläfchen mit Papa, wo wir einen Doppeladler bildeten beim Schlafen. Wir lagen Rücken an Rücken.
Ich erinnere mich an das Kochenspielen, wo ich Kirschenkompott und Apfelkompott erzeugte, das weiß ich noch genau. Es taucht alles unglaublich klar auf. Dita hatte einen ganz geraden Haarschnitt. Wir trugen Dirndlkleider einfachster Art und Jackerln.
Ich hatte immer kurzes Haar, mit einer Welle. (Ich habe die Haare meiner Mutter geerbt.) Ich vermute, Papa hatte seine Abenteuer in Wien und kam nur am Wochenende. Wir waren sehr arm, glaub ich. Ich habe den Verdacht, dass das Geld von einer der Geliebten meines Vaters kam, die damit meine Mutti, meine Schwester und mich ernährte. Denn damals war große Arbeitslosigkeit. Ungefähr 1931–1932, 1933, 1935 fuhren wir dann in die Großstadt. Über die Mariahilfer Straße. Das erste Mal Schilder lesen; versuchen, zu lesen. Ganz arm in der Webgasse Untermiete – noch ärmer in der Stumpergasse 8. (Diesen Wohnungsalbtraum habe ich bis heute noch.) Unvorstellbar klar ist der Alltag mir noch von dort. Ich glaube der einzige Gedanke meines Vaters war: Wie ernähre ich meine dritte Frau mit dem vierten und fünften Kind – also meine Schwester Dita und mir.
Mit Mimi und Friederike.
Ich besuchte die Volksschule in der Mittelgasse 24 im 6. Bezirk. Fast alle meine Freundinnen waren Jüdinnen. In der Klasse waren wir 33 Schülerinnen, und von einem Tag zum anderen waren wir nur mehr zu acht. Buchstäblich über Nacht sind 25 Mitschülerinnen verschwunden. Natürlich haben wir uns sofort gefragt, was da denn los war. Die Antwort der Lehrer, kurz und lapidar: »Das sind alles Jüdinnen. Die mussten weg und haben schon die Stadt verlassen.« Meine Reaktion: Um Gottes willen, ich muss raus aus meiner Schulbank, sofort nach Hause laufen und schauen, ob ich meinen Freundinnen wenigstens noch ein Bussi oder irgendetwas mitgeben kann, denn die haben ja gestern noch gar nicht gewusst, dass sie weg müssen.
Ich hatte ganz unterschiedliche Freundinnen, aus ganz armen Familien und auch aus gutbürgerlichen beziehungsweise sehr reichen Verhältnissen – und allen ist es gleich ergangen, es war schauerlich. Ich bin in die Häuser gelaufen, um nach ihnen zu suchen. Bei manchen stand die Wohnungstür offen, und es hatte sich schon der Hausmeister in der jüdischen Wohnung breitgemacht. Das ging alles ruck, zuck, sie übersiedelten alle von ihren Kellergeschoßen in diese tollen Wohnungen.
Rechtlich war es abgedeckt, innerhalb weniger Stunden waren die Wohnungen arisiert. Noch heute denke ich mir, wie schnell es gehen könnte, dass sich alles zum Bösen wendet, wenn eine politische Kraft am Werk ist, die für so viele Menschen sinnvoll erscheint.
Nicht alle meiner Freundinnen waren jüdisch. Meine allerbeste Freundin, deren Eltern fanatische Nazis waren, hat in der Neubaugasse im 1. Stock gewohnt. Im Erdgeschoß war eine riesige Parfümerie, in der ihr Vater als ganz normaler Angestellter einer geregelten Arbeit nachging. Als ich sie besuchte, sah ich, dass die ganze Familie in die arisierte Wohnung des Parfümeriebesitzers gezogen war. Meine Freundin tippte sich auf die Stirn und meinte, ihre Eltern wären verrückt geworden. Sie war unglaublich zornig auf ihren Vater.
Wir Kinder waren ja größtenteils recht vernünftig und haben die Welt der Erwachsenen mit Erstaunen und sehr viel Argwohn beobachtet.
Ihr Vater hat das Geschäft übernommen und sich dort schließlich halb zu Tode gearbeitet. Als der Krieg aus war, musste die ganze Familie fliehen. Sie ließen sich in Tirol nieder, dort habe ich sie oft besucht. Als Kind von Nazieltern hatte man keine Chance, egal welche Einstellung man selbst hatte. Ich war froh um unsere eigene Welt – die nichts mit jener der Erwachsenen zu tun hatte.
Eine meiner besten Freundinnen war die ungarische Jüdin Agi Boroš, mit der ich die Volksschule besuchte. Auch sie habe ich von einer Sekunde auf die andere nicht mehr gefunden. Sie hatte rechtzeitig mit ihrer Familie nach Ungarn fliehen können. Nur ihr Vater weigerte sich, zu gehen. Die Vorstellung, sein geliebtes Wien zu verlassen, war ihm unmöglich, also blieb er. Wir wohnten damals schon in der Rotenturmstraße, die Familie Boroš und wir waren Nachbarn. Ihr Vater lebte nach der Flucht seiner Familie als Untermieter im Nachbarhaus. Ich traf ihn meist abends oder nachts auf der Straße – dann, wenn alles leer war und er weniger Angst haben musste, entdeckt und geschnappt zu werden. Ähnlich wie meine älteste Schwester lebte er mehr oder weniger geschützt, aber in völliger Anonymität und immer in Angst. Ich steckte ihm ab und zu ein Stück Brot zu oder auch eine andere Kleinigkeit. Manchmal half ich ihm einfach dabei, ein Stück zu gehen, denn er war sehr krank und gebrechlich. Kurze Zeit später kam er ins Spital. Ein paar Mal habe ihn noch besucht. Als er starb, hat er mir sein einziges Hab und Gut vermacht: einen Koffer mit Unterwäsche und Kleidung.
Mit Agi Boroš, meiner besten Freundin, Mitte der 1980er-Jahre.
7. Mai 1990
Morgen, 8. Mai, soll »Kriegsendetag« sein. Der Tag, an dem ich 1945 von der Rotenturmstraße aus zur Peterskirche ging und als alle Glocken läuteten! Wir weinten und küssten einander – im Freien! Ich weiß noch, wie glücklich ich war!
Nach dem Krieg war die ungarische Grenze für kurze Zeit offen und meine Freundin Agi konnte nach Wien zurückkehren. An der Grenze wurde sie von Samaritern empfangen. Man fragte sie, wohin sie denn wolle. Sie meinte nur: »Rotenturmstraße 19, da wohnt meine Freundin, und die heißt Zeller.«
»Die Familie kenn ich – die haben da ja so eine kleine Bar, die Bibi-Bar«, meinte einer der Samariter, nahm Agi mit und lieferte sie bei uns ab.
Sie wohnte danach bei uns, bis ihre Ausreisepapiere für die USA fertig waren. Später reiste sie von den USA nach Kanada weiter und ließ sich dort nieder. Wir blieben in Kontakt, haben uns über all die Jahre nie aus den Augen verloren und einander immer wieder besucht.
Für mich war das Merkwürdige an der ganzen Geschichte, dass ich immer voller Scham ihr gegenüber war, sie hingegen immer voller Fröhlichkeit. Einige Male habe ich sie gefragt, wie sie uns – und damit meinte ich uns Österreicher – denn vergeben könne, denn immerhin habe man ihr die Heimat gestohlen und alles, was für sie wichtig und von Bedeutung war. Agi zuckte nur mit den Schultern und meinte, es gäbe überall nette und schreckliche Menschen, egal wo man sei. Wenn es irgendwo mehr schreckliche als nette gebe, dann ziehe man eben weg. Eine unglaubliche Haltung, die ich immer bewundert habe.
Natürlich hat meine Freundin nicht unrecht – überall gibt es anständige und auch schreckliche Menschen. Mein Vater gehörte da eindeutig zur Kategorie »anständig«. Er hatte fast ausschließlich jüdische Freunde und war in der Lage, vielen zu helfen. Es war wie eine Kettenreaktion: Kaum hatte sich herumgesprochen, dass sich mein Vater für seine jüdischen Freunde einsetzte, kamen immer mehr und baten ihn, ihnen bei der Ausreise zu helfen. Mein Vater hatte überall hin Verbindungen – wie das zustande kam, ist mir völlig unklar. Und er hatte ein gewisses Auftreten. Dadurch ist ihm vieles gelungen.
Aus Dankbarkeit wollten einige jener Menschen, denen er helfen konnte, ihm entweder Gemälde da lassen, manche sogar ihre Wohnungen überschreiben – wir hatten ja nur eine winzige Wohnung. Aber mein Vater hat weder einen Groschen genommen noch ein Gemälde, noch irgendeinen Gegenstand von Wert behalten oder angenommen. Er hat gesagt: »Das kommt so etwas von überhaupt nicht infrage.«
Seine Überzeugung war, den Menschen zu helfen, so gut er es eben vermochte. Dafür zu sorgen, dass sie zu ihren Tickets kamen, in Sicherheit ausreisen konnten und möglichst unbehelligt blieben.
Er hat mir erzählt, wie wichtig es war, dass sie ihn als Verbindungsmann hatten, denn wenn sie auf sich allein gestellt waren, wurden sie geschlagen, getreten und angeschrien. Durch sein Auftreten und auch die Bestimmtheit, die mein Vater ausstrahlte, hat es zumindest mit den Ausreisepapieren geklappt. Er konnte fast allen seinen jüdischen Freunden und Bekannten helfen, halbwegs sicher aus Wien rauszukommen. Für ihn war das eine Selbstverständlichkeit, keine Heldentat.
Natürlich ging all dies nicht spurlos an meinem Vater vorüber, aber auch er fand eine Möglichkeit, mit dem Grauen umzugehen. Um seinen eigenen Schmerz über die vielen verlorenen Freunde zu verbergen, tat er oft so, als würden sie einfach auf eine geplante Reise gehen – und so war dann alles nicht so schlimm.
Jahrzehnte später schrieb ich in meinem Tagebuch über meinen Vater:
27. September 1989
Ich denke an meinen Vater. Wenn ich so dasitze und meine gealterten Hände und Schenkel sehe, dann erinnere ich mich an den Schmerz, den ich empfand, als mein Vater in diesem Zustand war. Ich war unendlich traurig und fasziniert, wenn ich meine Brüder und Schwägerinnen ansah, die irgendwie in ihrem Verhalten zeigten: Es ist bald vorbei. Diese Brutalität kam mir unsagbar schmerzlich zu Bewusstsein.
Obwohl: Und was hatte ich getan? In der Rotenturmstraße 19 bin ich hinter seinem Sarg hergelaufen – die Treppen runter, so hastig, allein gelassen und kindlich, als wäre ich gerade vier Jahre alt geworden. Oh Gott! Es ist ein Sekundenleben, das wir alle führen.
Nach der Volksschule steckten meine Eltern mich in die Hauptschule am Loquaiplatz 4. Das Gymnasium haben sie mir offenbar nicht zugetraut. Doch schon bald stellte sich heraus, dass ich in der Hauptschule ziemlich unterfordert war. Meine Brüder Fritz und Willi meinten, ich sollte doch lieber das Gymnasium besuchen, dann hätte ich wenigstens die Matura und könnte, wenn ich wollte, studieren. So wurde beschlossen, dass ich aufs Gymnasium in die Rahlgasse wechseln sollte.
Das erste Schuljahr, das ich in der Hauptschule abgeschlossen hatte, wurde mir nicht angerechnet, ich musste extra noch eine Aufnahmeprüfung machen und kam dann in die erste Klasse. In der Rahlgasse blieb ich bis zur Matura.
Ich war ich eine mittelmäßige Schülerin, weder besonders gut noch besonders schlecht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals in irgendeinem Fach besondere Fähigkeiten oder umgekehrt Probleme gehabt hätte. Nur im Sport war ich wirklich gut.
Gelesen wurde bei uns zu Hause nicht sehr viel, und in der Schule interessierten mich am meisten die Schulaufführungen, für die ich mich immer freiwillig meldete. Beim Theaterspielen hatte ich endlich die Möglichkeit, die Realität auszublenden und für ein paar Stunden in eine andere Welt einzutauchen.
Fasziniert hat mich das Theater immer schon. Bei meinem allerersten Besuch im Burgtheater, ich muss ungefähr neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, sah ich »Der Talisman«. Nach dieser Vorstellung ging ich zum ersten Mal außen um das große Haus herum und dachte mir: »Wenn man da drinnen ist, ist das förmlich ein in sich geschlossenes Universum. Da drinnen ist man geschützt.« Vielleicht hatte es mit der Zeit zu tun, ich wollte aus der grauenvollen Realität entfliehen, und mir war bereits mit zehn Jahren klar: Das Burgtheater muss das Paradies sein.
Mein Schulweg von der Rotenturmstraße in die Rahlgasse führte jeden Tag am Burgtheater vorbei. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an diesem Prachtbau, wie er da stand in perfekter Harmonie. Hinter diesen Mauern lag ein magisches Land.
Das Burgtheater hatte ich also 1938 für mich entdeckt. Ein Jahr später begann der Krieg. 1943 ging es in Wien mit den Bombardierungen los. Ich höre heute noch das Sirenengeheul – dann der kurze Schreckmoment, und schon hieß es, schnell etwas überwerfen und ab in den Bombenkeller. Wir konnten nie sicher sein, ob wir nach den Angriffen noch ein Zuhause vorfinden würden. Doch das war nicht mein erster Gedanke. Ich machte mir nur Sorgen ums Burgtheater. Jedes Mal dachte ich mir: »Hoffentlich ist dem Burgtheater nichts passiert!« Und gleich, nachdem Entwarnung gegeben worden war, lief ich in Windeseile mit klopfendem Herzen hin, um nachzusehen.
Weihnachten 1942: Meine Nichte Ingrid, Mimi, meine Mutter und ich.
Das Gebäude an sich war schon so imposant, so wunderbar gebaut, und es strahlte für mich etwas Behütendes aus – weil es so schön rund ist. Ich habe mich immer für Architektur interessiert, und ich finde es so schön, weil es weder zu lang gestreckt ist, noch verschiedene Höhen hat. Schon damals habe ich mir gedacht: Da will ich hinein. Da drinnen gibt es Sicherheit. Da kann ich weg vom schrecklichen Alltag, von der geistigen und gedanklichen Unterdrückung, vom ständigen Geheul der Sirenen und den Bombenangriffen. Wie sich ein Kind halt einfach eine heile Welt so vorstellt.
Ganz kurz vor Kriegsende, am 12. April 1945, geschah dann das für mich und viele andere Menschen Unfassbare. Ein Bombenhagel ging über Wien nieder, das Burgtheater wurde getroffen und schwer beschädigt. Die Nachricht von der Zerstörung des Burgtheaters hörte ich im Radio. Es war fast völlig ausgebrannt. Ich stand vor diesem Trümmerhaufen und war total unter Schock. Weniger deswegen, weil der Zuschauerraum ausgebrannt war – der hat mich nicht so interessiert, den konnte man ja schnell wieder mit Sesseln füllen, und ich wusste ja, dass dort zu der Zeit keine Menschen gewesen waren. Mich interessierte nur der Bühnenbereich, die Menschen, die dort arbeiteten. Ich wusste aus Erzählungen meiner Freunde, wer dort seine Garderoben hatte, wie viele Bühnenarbeiter, Garderobieren und auch Sicherheitspersonal ihren Dienst verrichteten, und jetzt lag auf einmal alles in Schutt und Asche.
Während ich noch versuchte, das Unfassbare zu verstehen, sah ich die unvorstellbar lange Menschenschlange, die vom Burgtheater über den Volksgarten bis zum Hof reichte und die, fast wortlos und still, den Schutt wegräumte, indem man einzeln Ziegel für Ziegel händisch weiterreichte. Diese wurden dann Am Hof in Lastwägen gestapelt und wegtransportiert. Natürlich habe ich mich sofort eingereiht und mitgeholfen. Vielleicht ist das auch ein Grund für meine fast körperliche Verbundenheit mit diesem Haus. Ich habe die Ziegel des Burgtheaters in meinen Händen gehalten. Es wird nicht mehr viele geben, die sich an diese Tage so gut erinnern können wie ich.