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RAUHNACHT

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Die Eiskristalle dieser Raureifnacht überziehen die Äste der Bäume wie spitze Nadeln. Alles ist in der Kälte erstarrt. Die Geräusche des Waldes sind verstummt. Die Tiere haben sich in ihre Verstecke zurückgezogen und warten darauf, dass das Leben erneut Einzug in ihre Welt hält. In der Stille liegt eine Spannung, die nahezu greifbar ist. Dichte Nebelschwaden kriechen tief über dem Boden durchs Geäst und verbreiten eine unheimliche Atmosphäre. Die Schatten der Bäume verwandeln sich in die Konturen nichtmenschlicher Schreckgestalten, nur um im nächsten Moment wieder zu zerfließen. Leise löst sich ein einzelnes vertrocknetes Blatt von einem dürren Ast und segelt, durch das Gewicht der gefrorenen Wassertropfen an seiner Seite beschleunigt, hinab auf die unberührte Schneefläche.

Plötzlich durchbricht ein gewaltiger Tumult die Stille. Lautes Krachen kündigt eine bestialische Meute an, die in halsbrecherischem Tempo durchs Gehölz prescht. Der Boden bebt unter dem Aufprall von Hufen. Schreie, Schnauben und andere angsteinflößende Geräusche sind zu hören, Äste krachen, kleinere Gewächse werden einfach überrannt. Angeführt wird diese Schar von einer wilden, Ehrfurcht gebietenden Frau. Ihre langen braunen Haare wehen im Wind. Dicht an den Hals ihres Pferdes gedrückt, reitet sie durch das Geäst. Dabei presst sie ihre Schenkel fest an den Leib des Tieres, um nicht den Halt zu verlieren. Die Bewegungen des Pferdes werden vollkommen von ihrem Körper aufgenommen, fast scheint sie mit ihm zu verschmelzen. Ihre Kleider, welche aus Fell bestehen, bleiben immer wieder an den spitzen Dornen der Büsche hängen. Doch das hält sie nicht auf. Mit unvermindertem Tempo reitet sie durch den Wald, die Hufe des Pferdes schleudern Eisklumpen und Erde empor. Das Tier schnaubt und Schaum spritzt von seinen Nüstern. Ohne Gnade treibt die Frau, die den Namen Frau Percht trägt, ihr Pferd weiter an.

Ihr Gefolge ist grausig anzusehen. Auf den ersten Blick ist nicht zu erkennen, ob diese Wesen menschliche oder tierische Körper haben. Tatsächlich sind die meisten von ihnen Mischgestalten. Teils Mensch, teils Tier. Ihre Körper sind auf die schauerlichsten Arten zusammengesetzt. Schnauzen wie von wilden Keilern verunstalten die Gesichter zierlicher Jünglinge, lange Hörner thronen über mit Warzen bedeckten Gesichtern, muskulöse Männerbeine enden in Hufen. Einige kleidet zottiges Fell, andere besitzen nur eine von Borsten überzogene Haut. Manche dieser Gestalten ähneln Werwölfen, die mit gefletschten Lefzen hinter ihrem Leittier hereilen. Sie strahlen eine Wildheit und Entschlossenheit aus, die kaum zu bändigen ist. Manche kauern, wie ihre Anführerin, ebenfalls auf Pferden, andere wiederum besitzen die Kraft und Schnelligkeit, sich mit eigenen Beinen in dieser Geschwindigkeit fortzubewegen. Sie können nicht von dieser Welt sein. Oder zumindest nicht aus dem von Menschen bewohnten Teil dieser Welt.

Die Zeit eilt. Gerade ist die Sonne untergegangen. Der Spalt zwischen der magischen Unterwelt, aus welcher die Wesen entsprungen sind, und der Oberfläche der Erde wird sich gegen Mitternacht wieder schließen. Und dann wird es zu spät sein, die Aufgabe zu erledigen, derentwegen sie nach oben gekommen sind. Es wird wieder ein Jahr vergehen, in dem die Menschen keine Unterstützung durch die Urmutter erfahren, in dem sie vollkommen auf sich alleine gestellt sind. Und Frau Percht wird weiter in Vergessenheit geraten. Und mit ihr das Wissen um den Kreislauf des Lebens. Das muss sie verhindern.

Jetzt, zu dieser Jahreszeit, kommt fast nie die Sonne zum Vorschein. Die Nacht beherrscht den Tageslauf. Das Leben ist zum Erliegen gekommen. Nun ist es wichtig, dass neue Kraft geschöpft wird, eine Pause eingelegt wird. Die Menschen verstehen dies oft nicht recht. Aber Frau Percht weiß um die Notwendigkeit dieses Rastens. Sie wird die Menschen daran erinnern. Deshalb ist sie nach oben gekommen.

In der Ferne erscheinen die mangelhaften Befestigungsanlagen des Marktfleckens. Ein Erdwall wurde hinter den hölzernen Palisadenpflöcken aufgeworfen, welche die Ansammlung von Häusern umringen. Durch Schnee und Eis sind kaum Farben auszumachen, so dass die Umrisse ineinanderfließen. Doch bis zu dieser Befestigung muss Frau Percht nicht. Im Markt ist das Treiben so laut, sind die Ablenkungen vom Leben so zahlreich, dass ihre Stimme nicht mehr gehört wird. Die Bewohner glauben lieber den Lügen und Versprechungen, die ihnen von den Reichen und der Kirche gegeben werden. Frau Percht hat diesen Ort bereits aufgegeben. Außerhalb der Marktgrenze läuft das Leben jedoch noch anders. Es ist langsamer, bedächtiger. Hier sind die Menschen auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Hier leben sie im Einklang mit der Natur. Hier hören sie noch auf die leise Stimme der alten Götter und ihrer Magie. Und deshalb sind genau sie Frau Perchts Ziel – die ausgelagerten Höfe und der Dorfverband außerhalb des Zaunes.

Das Perchtenerbe

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