Читать книгу Jim Morrison. 100 Seiten - Birgit Fuß - Страница 6
»People are strange when you’re a stranger«: Der Junge, der Mann
ОглавлениеHätte man sich denken können, dass aus dem nichts wird. Oder eben einer der größten Rockstars aller Zeiten. Die Renitenz, der Hang zur Provokation war von klein auf in ihm angelegt. James Douglas Morrison wurde am 8. Dezember 1943 in Melbourne/Florida als Sohn von Clara (1919–2005) und George Stephen (1919–2008) geboren, einer Sekretärin und einem Marine-Offizier. Seine Kindheit war geprägt von permanenten Ortswechseln und entsprechend wenig Stabilität. Die Morrisons wohnten am Golf von Mexiko, in Washington, in Albuquerque, in verschiedenen Städten in Kalifornien – wie es eben so üblich ist, wenn der Vater vom Militär ständig versetzt wird. Manchmal sah Jim ihn wochenlang nicht. Natürlich muss das nicht zwangsläufig bedeuten, dass sich ein Heranwachsender nirgendwo integrieren kann und sich nirgends zu Hause fühlt, auch nicht in der eigenen Haut. Aber bei Jimmy, wie ihn seine Familie damals nannte, war es offensichtlich so – sobald er Freunde gefunden hatte, fuhr schon der nächste Umzugswagen vor. Er lernte, sich nicht zu sehr auf andere einzulassen, und Autoritäten waren ihm früh ein Graus. Und dann war da noch etwas in ihm, das wir wahrscheinlich nie wirklich ergründen oder erklären können – etwas Dunkles, das sich durch sein gesamtes kurzes Leben zog.
Ein Zwischenfall ist wohl der berühmteste aus Morrisons frühen Jahren, er kam selbst immer wieder darauf zurück und bezeichnete ihn als den wichtigsten Moment seines Lebens – wenngleich er damals erst fünf war. Jimmy war mit seinem Vater und seiner Großmutter auf dem Weg von Albuquerque nach Santa Fe, als sie zu einer Unfallstelle kamen. Ein LKW war umgestürzt, sie sahen etliche verletzte, womöglich tote Pueblos auf und neben der Straße liegen, einige weinten. George Stephen Morrison hielt an, rief Polizei und Krankenwagen. Angeblich war der kleine Jim so entsetzt von der Szene, dass sein Vater ihn kaum beruhigen konnte und schließlich behauptete, es sei alles nur ein böser Traum gewesen. Jim wiederum war später davon überzeugt, dass damals »die Seele eines sterbenden Indianers« in seinen Körper gedrungen sei. Den Schmerz wurde er nie wieder los.
Die Highschool begann Jim 1957 in Alameda/Kalifornien, wo es einen großen Marinestützpunkt gab. Es war schon das siebte Zuhause des gerade mal 14-Jährigen. Er machte sich dort nicht beliebt mit seinen Streichen und frechen Kommentaren. Zwar attestierten ihm die Lehrer Talent in einigen Bereichen, aber auf manch kreative Leistung reagierten sie ablehnend – zum Beispiel auf Jims obszöne Zeichnungen. Eine zeigte einen Mann, der eine Cola-Flasche als Penis und einen Flaschenöffner als Hoden hatte, dazu floss undefinierbare Flüssigkeit an ihm herunter.
Im Winter desselben Jahres veränderte sich das Leben des Schülers für immer – so wie sich nur in den Teenagerjahren die Welt verändern kann: mit einem Buch. Er las Jack Kerouacs On The Road – Unterwegs. Und dann las er einen Schriftsteller aus der Beat Generation nach dem anderen. Er liebte auch Lawrence Ferlinghetti und Allen Ginsberg, doch in Kerouacs Roman fand er die Figur, die er sein wollte: Dean Moriarty. Er imitierte dessen Lachen, und natürlich liebte er die Stelle, in der Kerouac schreibt, die einzig wahren Menschen seien für ihn die Verrückten. Die, die wie Wunderkerzen brennen. So einer wollte Jim sein, auf keinen Fall ein Staatsdiener wie sein Vater. Er saß stundenlang in seinem Jugendzimmer und las. An den Wochenenden fuhr er manchmal mit dem Bus in irgendein entlegenes Stadtviertel, ging spazieren und schoss viele Fotos. Bilder und Sprache wurden ihm das Wichtigste. Er entdeckte auch den englischen Dichter und Naturmystiker William Blake (1757–1827), der einen entscheidenden Einfluss auf Jims weiteres Leben hatte: Den späteren Bandnamen The Doors entlehnte er dessen Satz »If the doors of perception were cleansed, everything would appear to man as it truly is, infinite« (»Wenn die Pforten der Wahrnehmung gereinigt würden, würde alles dem Menschen erscheinen, wie es ist: unendlich«) aus der Ideenschrift The Marriage of Heaven and Hell (1790–1793). Auch eine andere berühmte Erkenntnis Blakes zitierte Morrison später immer wieder: »There are things that are known, and things that are unknown, and in between there are doors.« (»Es gibt das Bekannte und das Unbekannte – und die Türen dazwischen.«) Aldous Huxley führte diese Überlegungen 1954 in seinem Essay »Die Pforten der Wahrnehmung« fort, in dem er die Wirkung von Meskalin aufs Bewusstsein beschreibt, aber auch Fragen zu Musik und Kunst erörtert.
Eine Tür – genau das wollte Morrison mit seiner Musik sein: der Übergang zum Neuen, Geheimnisvollen, Mythischen. Wie man dort hinkommt – auch dafür fand er das passende Blake-Zitat: »The road of excess leads to the palace of wisdom.« (»Der Weg der Exzesse führt zum Palast der Weisheit.«) Morrisons Dichterfreund Michael McClure erinnerte sich später gern noch an ein anderes: »Prudence is a rich, ugly, old maid courted by incapacity.« (»Umsicht ist eine reiche, hässliche alte Jungfer, hofiert von Unfähigkeit.«) Und er ergänzte lachend: »Umsicht ging Jim komplett ab.«
Vielleicht erschuf sich Jim Morrison schon damals selbst – aus seiner Bewunderung für die Visionäre und Dichter. Allerdings machen das ja nicht wenige Teenager, wenn sie clever genug sind, sich eigene Wege zu suchen, statt einfach ihren Eltern zu folgen. Und intelligent war Jim, angeblich hatte er einen IQ von 149. Ausweislich erzielte er gute Noten, zumindest solange er sich für die Schule interessierte. In den Bibliotheken verbrachte er viel Zeit, und hin und wieder zitierte er aus Büchern, die seine Lehrer gar nicht kannten. Das brachte ihm nicht unbedingt Bonuspunkte ein, einige irritierte seine Arroganz. Auch testete er seine Wirkung auf andere Menschen mit immer gewagteren Spielchen, die vor allem seine Schulfreundin Tandy ausbaden musste. Zum Beispiel, als er sie bei einem Spaziergang einmal flüsternd bat, einer Skulptur den Hintern zu küssen. Tandy weigerte sich natürlich, doch er insistierte, bis sie die Nerven verlor und ihn anschrie, sie werde auf keinen Fall den Arsch dieser Figur küssen. Die herumlaufenden Passanten starrten sie an. Jim stand ein paar Meter abseits und tat, als habe er nichts mit ihr zu tun. Als Tandy einmal wissen wollte, warum er immer so gemeine Scherze mache, antwortete er: »Sonst hättest du bald kein Interesse mehr an mir.« Später sagte er in einem Interview mit Salli Stevenson vom Circus-Magazin, er sehe sich selbst als »intelligenten, sensiblen Menschen mit der Seele eines Clowns, die mich immer dazu bringt, die wichtigsten Momente zu vergeigen«. Ein anderes Mal nahm er einen verdorbenen Fisch mit in den Bus (damals noch ohne Klimaanlage), nur um zu sehen, wie die Leute darauf reagieren würden. Seine Annahme bestätigte sich: Sie waren sauer und angeekelt.
Jim Morrison 1961 als Siebzehnjähriger. Yearbook-Bild von der George Washington High School in Alexandria, Virginia
Das alles kann man noch albern bis halblustig finden. Es gibt allerdings auch die Vermutung, dass hinter Jims Stimmungsschwankungen und seinem immer erratischeren Verhalten mehr steckte als die normalen Teenager-Kapriolen. Seinem Freund Max Fink erzählte er 1969 angeblich, dass er als kleiner Junge missbraucht worden war. Und dass seine Mutter, als er ihr davon berichtete, behauptete, er sei ein Lügner. Das habe er ihr nie verzeihen können. Als er später einmal ins Bett genässt habe, habe sie sich außerdem über ihn lustig gemacht und ihn gezwungen, auf dem nassen Laken zu schlafen. »Danach hatte ich keine Kindheit mehr«, soll Morrison zu Fink gesagt haben. Zumindest Produzent Paul Rothchild leuchtete diese Kindheitsversion ein: »Das würde einiges erklären.« Der Sänger war zwar ein begnadeter, oft auch manipulativer Geschichtenerzähler, doch würde jemand bei so einer Enthüllung lügen?
Manche seiner Songtexte scheinen die Missbrauchs-Theorie zu bestätigen, zumindest können sie in diese Richtung gedeutet werden: die Verfolgungsszene im Badezimmer im Song »Hyancinth House«. Oder diese Verse in »American Prayer«: »Do you know we are being led to slaughter by placid admirals / And that fat slow generals are getting obscene on young blood?« und »This other kingdom seems by far the best / Until it’s other jaw reveals incest.« Und bei den Geistern in »Peace Frog«, die »the young child’s fragile eggshell mind« bedrängen, bezieht er sich zwar wieder auf das Erlebnis mit den sterbenden Indianern – aber nicht selten erzählen Missbrauchsopfer ja genau solche Deckerinnerungen (wie Sigmund Freud sie nannte) statt der eigentlichen Geschichte: Eine weniger schlimme Grausamkeit überdeckt eine andere, die zu schrecklich ist, um sie auszusprechen. War Morrison also traumatisiert? Wer einmal »The End« gehört hat, kann sich kaum etwas anderes vorstellen (s. S. 15). Wo das Trauma genau herkam, werden wir wohl nicht mehr erfahren. Es gibt ein anwaltliches Schreiben, in dem Jims Eltern versichern, es habe »keinerlei Fehlverhalten« gegeben. Auf jeden Fall kroch damals etwas Düsteres in Morrisons Seele und verschwand nie wieder. Es biss sich fest und fraß ihn am Ende auf.
Zurück zur Musik. Wobei: In der Richtung lief bei Jim Morrison damals noch wenig. Ein paar Monate lang versuchte er als Teenager, Klavier zu lernen, doch dazu fehlte ihm die Disziplin. Auch Gitarre war zu mühsam, mehr als Maracas waren nicht drin. Er ging kaum zu Konzerten. Dass er singen konnte, wusste er offensichtlich noch gar nicht. Aber schreiben konnte er schon in der Highschool – der Songtext zu »Horse Latitudes« stammt aus dieser Zeit. Vor allem war Jim aber damit beschäftigt, seine Geschwister (er hatte einen Bruder, Andy, und eine Schwester, Anne) zu ärgern, die Mitschüler entweder einzuschüchtern oder zu beeindrucken – er wurde mehrmals zum Klassensprecher gewählt – und kleinbürgerliche Gepflogenheiten abzulehnen. Seine in ihrer Nachlässigkeit perfekte Frisur modellierte er angeblich nach dem Vorbild von Alexander dem Großen. Auch die Art, wie er oft den Kopf neigte, guckte er sich bei dem legendären Eroberer ab. Er wusch sich die Haare ungern, lehnte Kämme strikt ab und trug wochenlang dieselben Klamotten. Von Hygiene hielt er nicht viel.
Damals dachte er noch nicht daran, dass er jemals ein Rocksänger werden würde, aber unbewusst sammelte er in seinem Kopf schon alles zusammen, was es dafür brauchte. Er sah sich selbst eher als Schriftsteller oder Soziologen, doch irgendwann begann er, innerlich ganze Rockkonzerte zu hören. Er dachte sich Texte aus, er hörte die Melodien dazu, und er sah vor allem das Publikum – ein großes Publikum. Wie alle zusammen nach etwas Höherem streben, von der Ekstase zur Erkenntnis, eine transzendentale gemeinsame Erfahrung, nicht weniger. Dagegen konnte die reale Welt, in der er sich noch befand, nur verlieren. Zur Abschlussfeier seiner Highschool tauchte Jim nicht auf, das Zeugnis bekam er per Post. Um dem Kriegsdienst zu entkommen, fing er 1961 halbherzig ein Studium am St. Petersburg Junior College, dann an der Florida State University an. (Im März 1965 gelang es ihm, endgültig als untauglich eingestuft zu werden – er hatte einiges eingeworfen und behauptete, schwul zu sein. Möglicherweise rettete ihn aber auch einfach sein Asthma.)
Erst 1964 begann sein Leben endlich so richtig: Er wurde am Department Of Theatre Arts an der UCLA, der University of California in Los Angeles, angenommen, Fachbereich Film. Zur selben Zeit studierte dort unter anderem auch Francis Ford Coppola. Das Filmische spielt in Morrisons Kunst eine große Rolle, wie sich später noch zeigen wird, aber an der UCLA war er keiner der Überflieger. Im Mai 1965 fabrizierte er einen Film zum Semesterabschluss, der »ein Film über den Prozess des Filmens« sein sollte – ein wirrer Zusammenschnitt von einem kiffenden Jim, halbnackten Frauen, Fernsehausschnitten von einer Nazi-Parade. Bei der Aufführung rissen schließlich auch noch die verklebten Stellen. Es gab ein »Ungenügend«. »Film ist ein schwer zugängliches Medium«, sagte Jim später. »Es ist viel komplexer als Musik, man braucht so viele Leute und so viel Ausrüstung. Ich mag das Medium Rock wegen seiner Direktheit.« Auf der Bühne konnte er dem Publikum viel näher sein, seine Wirkung direkt spüren. Filmzuschauer bezeichnete er als »stille Vampire«, ihm war dann doch das Laute lieber.
Mit der Familie schloss Jim früh ab. Als er seinen Eltern schrieb, ein Abschluss in Kinematographie sei leider nicht viel wert und er habe sich jetzt einen anderen Job gesucht, nämlich als Sänger in einer Band, bekam er von seinem Vater einen Brief zurück, in dem vor allem Vorwürfe und Bedenken standen. Als Kind habe er doch nicht mal das Klavierspielen lernen wollen, bei den Weihnachtsliedern auch nie mitgesungen, vier Jahre lang habe man ihm das Studium bezahlt, und nun das? Jim meldete sich nie wieder. Zum letzten Mal gesehen hatte er seine Eltern Ende 1964.
Als seine Plattenfirma Elektra Records Material für ein Presse-Info zum Debütalbum der Doors zusammensuchte, gab er an, seine gesamte Familie sei tot. Im Herbst 1967 rief seine Mutter ihn noch einmal an und lud ihn zum Thanksgiving-Essen ein, aber als sie ihn darum bat, sich dafür dem Vater zuliebe die Haare zu schneiden, legte er auf. Sie kam dann trotzdem mit seinem Bruder Andy zu einem Konzert in Washington, war schockiert, als er ihr die berühmten Zeilen von »The End« direkt ins Gesicht sang (»Father, I want to kill you / Mother, I want to…«) – und hoffte dennoch, ihn später im Hotel noch treffen zu können. Doch Jim war schon abgereist.
Morrison hatte längst eine andere, größere Welt für sich entdeckt. Auf dem UCLA-Gelände war er eines Tages im Frühling 1965 Ray Manzarek begegnet, dessen Band Rick And The Ravens einen lukrativen Gig in Aussicht hatte. Rays Bruder Rick spielte das Piano, sein anderer Bruder Jim die Gitarre, aber ihnen fehlte, um den Vertrag ordnungsgemäß zu erfüllen, noch ein weiterer Musiker. Ob Jim einspringen wolle? Jim gab zu bedenken, dass er gar kein Instrument spielen könne. »Schon okay«, sagte Ray, »wir stöpseln deine E-Gitarre nicht ein.«