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Helga und Tobias

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Helga erzählt mir, dass sie schon seit einigen Wochen immer mal wieder zum Telefonhörer gegriffen hat, um mich anzurufen. Bei jedem Versuch stiegen aber Zweifel in ihr hoch. Das schlechte Gewissen plagte sie. Sie fragte sich, ob es richtig sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bisher hatte sie sich stets bemüht, kein falsches Licht auf ihre Familie und besonders auf ihre beiden Kinder fallen zu lassen. Schließlich gilt es den guten Ruf der Familie und damit verbunden den ihres Geschäfts zu erhalten.

Helga ist Mitte fünfzig. Sie und ihr Mann Dieter haben zwei Kinder. Tochter Dörte, die ältere der beiden, ist seit zwei Jahren verheiratet und hat eine Tochter. Tobias, der jüngere Sohn, hat vor fünf Jahren geheiratet und hat zwei Töchter. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter vor etwa vier Jahren ab. Das war kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Helga kennt Tobias´ Kinder nicht. Er verwehrt seiner Mutter den Kontakt zu ihnen.

Nach meinem ersten Telefongespräch mit Helga resümiere ich, was sie mir berichtet hat. Im Rahmen meiner Arbeit zu diesem Buch sind mir so einige dramatische Familiengeschichten erzählt worden. Alle sind unterschiedlich, haben aber eine Gemeinsamkeit: Am Ende steht eine verlassene Mutter, die tief erschüttert ist. Jeder dieser Berichte berührt sehr.

Helgas Erlebnis erweitert die ohnehin schon schmerzbeladenen Geschichten, um weitere Aspekte. Zum einen ist da der Kontaktabbruch von ihrem Sohn. Zum anderen belastet es sie sehr, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen darf. Tobias verbiete ihr, wie erwähnt, den Kontakt zu sich und seinen Kindern. Für Helga ist das eine große Strafe. Sie empfindet es so, als würde das Leben nicht weitergehen.

Ich bin mit Helga verabredet. Sie hatte mich gebeten, dass wir uns in einer Großstadt treffen, dort, wo sie keiner kennen kann. Absolute Anonymität ist ihr sehr wichtig. Die erlittene Schmach sei zu groß, wie Helga mir am Telefon mitteilte. In ihrer gesellschaftlichen Stellung könne sie sich das nicht leisten. Sie befürchtet, wenn herauskäme, dass sie ihre „schmutzige Wäsche“ öffentlich wäscht, wäre sie gesellschaftlich ruiniert.

Als ich an unserem Treffpunkt ankomme, ist Helga bereits da und wartet auf mich. Sie hat für uns eine gemütliche Sofaecke ausgesucht, die sich in einer Nische am hinteren Ende eines Cafés befindet.

„Helga, am Telefon haben wir schon kurz darüber geredet, wie Ihre momentane Familiensituation aussieht. Können Sie bitte noch einmal zusammenfassen, was geschehen ist?“

„Nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, mein Sohn Tobias hat jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen. Ich darf meine Enkeltöchter nicht kennenlernen. Tobias hat mir verboten, es in irgendeiner Weise zu versuchen.“

Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa.

Ich habe den Eindruck, als wäre Helga innerlich erstarrt. Die Geschehnisse haben sie tief getroffen. Mir fällt auf, während sie mir in knappen Worten über ihre Situation berichtet, dass sie nervös an ihrer Bluse herumzupft. Sie ist um Fassung bemüht.

„Helga, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mir das so erzählen?“

„Fühlen? Wie soll ich mich fühlen? Traurig und verletzt natürlich. Aber ich versuche, meine Gefühle zu bekämpfen. Ich könnte es sonst nicht aushalten. Und außerdem darf ich Gefühle sonst auch nicht zeigen. Schon gar nicht negative. Dann reden die Leute erst recht und zerreißen sich den Mund. Wissen Sie, wenn man es bei uns im Ort zu etwas gebracht hat und eine gewisse Stellung innehat, dann darf man sich keine Gefühle leisten. Gefühle sind etwas für Loser, Gefühle zu zeigen wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.“

Helga echauffiert sich geradezu. Mir ist nicht ganz klar, ob es wegen meiner direkt gestellten Frage bezüglich ihrer Gefühle oder ob es vielmehr der Gedanke an ihr gesellschaftliches Umfeld ist. So oder so, für Helga ist es wohl besser, das Gespräch von diesem Thema wegzulenken. Ich möchte sie nicht unnötig in die Bredouille bringen.

„Sagen Sie, Helga, wie war Tobias als Kind?“

„Wie meinen Sie das? Wollen Sie wissen, ob Tobias Scherereien gemacht hat? Ob die Leute gesprochen haben?“

Helga schaut sich ängstlich um, als sie mich das fragt. Fast flüstert sie beim Sprechen. Sie scheint immer auf der Hut zu sein. Geradeso, als hätte sie etwas zu verbergen und Sorge, ertappt zu werden.

„Nein, Helga, ich denke da an grundlegende Dinge: War Tobias ein ruhiges, pflegeleichtes Kind? Oder war er vielleicht sehr lebhaft?“

„Ach so, Frau Lutherer, das meinen Sie.“

Helga beruhigt sich. Ihre zuvor deutlich spürbare Anspannung lässt merklich nach. Es ist, als hätte es Entwarnung für sie gegeben.

„Also, mein Tobias war ein ganz entzückendes Kind. Schon bei seiner Geburt war er so hübsch. Die Schwestern auf der Entbindungsstation sagten immerzu: ´Das ist ein Kind zum Klauen´. Sie waren ganz hin und weg. Alle, die ihn sahen, waren sofort ganz vernarrt in ihn. Er hatte diesen ganz besonderen Charme. Ich kann Ihnen das gar nicht so richtig in Worte fassen. Am besten zeige ich Ihnen ein Foto.“

Helga greift in ihre Handtasche und nimmt ihr Portemonnaie heraus. Sie klappt es auf und zeigt mir stolz eine Fotogalerie, die sich in der Innenseite befindet.

„Schauen Sie mal, das hier ist Dörte, unsere Erstgeborene. Und der hier, das ist mein Tobias. Ist der nicht süß?“

Helga strahlt über ihr ganzes Gesicht, als sie mir Tobias zeigt. Auf dem Foto ist ihr Sohn ungefähr drei Jahre alt - ein netter kleiner Kerl mit blonden Haaren, rosigen Pausbacken und freundlichem Lachen.

„Ja, Ihr Tobias ist ein hübsches Kind“, bestätige ich Helga.

„Nicht wahr? Er sieht aus wie ein kleiner Engel.“

„Benahm sich Tobias denn als Kind auch wie ein kleiner Engel?“

„Das kann ich leider nicht behaupten. Ich will damit nicht sagen, dass er böse war oder so. Es war nicht einfach mit ihm. Nichts war vor ihm sicher: Er musste alles untersuchen, anfassen oder auseinandernehmen. Dabei war er auch so tollpatschig. Er musste nur etwas anfassen und schon war es zu spät. Wenn Tobias etwas kaputt gemacht hatte, und ich mit ihm schimpfte, dann hat er mich angeguckt und gelacht. Sein Lachen war so süß, da konnte ich ihm nichts übelnehmen. Niemand konnte ihm da böse sein. Er war ja auch noch so klein.“

„Als Tobias dann etwas größer wurde, sagen wir mal so acht Jahre alt, ging er da mit den Dingen umsichtiger um?“

„Nun ja, Umsicht und Tobias – das sind zwei Worte, die nicht wirklich zueinander passen. In vielen Dingen ist er so grob und unvorsichtig und leider immer noch sehr tollpatschig. Das ist bis heute so.“

„Mir fällt da gerade noch eine Anekdote ein“, fährt Helga fort. „Tobias war vier, nein fünf Jahre alt. Eines Nachmittags schlich er sich unbemerkt in unseren Keller und holte dort aus einer Werkzeugkiste einen Hammer und ein Stemmeisen heraus. Mit dem Werkzeug bewaffnet, ging er in sein Kinderzimmer und begann die Wand damit zu bearbeiten. Von dem Radau aufgeschreckt, schaute ich natürlich sofort nach, was los ist. Da entdeckte ich Tobias in seinem Zimmer. Er kniete neben der Zimmertüre vor einer Steckdose. Tobias war gerade im Begriff mit Meißel und Hammer die Steckdose aus der Wand herauszubrechen. Ich war Gott sei Dank rechtzeitig da und konnte ihn noch davon abhalten. Natürlich stellte ich ihn, nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, sofort zur Rede. Er lächelte mich nur an und erklärte mir dann mit der größten Selbstverständlichkeit, dass er nur mal gucken wollte, wie eine Steckdose in der Wand aussieht und wo die Kabel sind.“

„Helga, Tobias hatte zu diesem Zeitpunkt ein Alter, in dem Kinder doch schon ganz gut empfänglich sind für Hinweise auf Gefahren. Ich nehme an, Sie haben mit ihm über alle möglichen Gefahren gesprochen.“

„Ja, natürlich. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, als würde ich gegen eine Wand reden. Tobias nickte zwar immer zustimmend, als ob er verstanden hätte, was ich ihm gesagt habe. Doch es kam häufig vor, dass er kurze Zeit später wieder irgendeinen gefährlichen Blödsinn verzapfte. Es war geradezu so, als hätte er alles wieder vergessen, was ich ihm gesagt habe.“

„Sie meinen, Sie erreichten Tobias nicht mit Ihren Worten? Oder gab es keine Einsicht?“

„Auf eine Art glaube ich schon, dass er verstand, was ich von ihm wollte. Manchmal kam es mir vor, als ob er mir zuhörte, aber gleichzeitig irgendwie schon wieder mit einer anderen, neuen Sache beschäftigt war.“

„Gab es in Tobias´ Tagesverlauf auch mal Ruhephasen in denen er sich erholen konnte? Hielt er zum Beispiel Mittagsschlaf?“

„Nein. Tobias war den ganzen Tag aktiv. Nachdem ich ihn vom Kindergarten abholte, aß er sein Mittagessen und war im Anschluss sofort wieder beschäftigt. Mittags schlafen wollte er nie. Seine Lieblingsbeschäftigung am Nachmittag war es, den großen Sandkasten vom Spielplatz umzugraben. Daran hatte er die größte Freude. Das machte er stundenlang. Glücklicherweise befand sich der Spielplatz direkt vor unserer Wohnung. So konnte ich vom Küchenfenster aus immer mal nach Tobias schauen.“

„Dann konnten Sie Tobias mit gutem Gewissen draußen spielen lassen. Spielte Tobias mit anderen Kindern?“

„Ja, gewiss. Er liebt es im Mittelpunkt zu stehen oder einfach nur mittendrin zu sein.“

„Helga, Sie sagen, dass Tobias immer in Aktion war. Wie kam er in der Schule zurecht? Dort musste er ja plötzlich stillsitzen.“

„Die Schule ist so ein Kapitel für sich. Natürlich hatte Tobias Schwierigkeiten still zu sitzen und dem Unterricht zu folgen. Jede Woche wurde ich von seiner Lehrerin zum Gespräch gebeten. Es gelang ihr nicht, Tobias zur Ruhe zu bringen. Sie hatte schon einiges ausprobiert, aber nichts half. Frau K. stellte Regeln in der Klasse auf für das Verhalten der Kinder im Unterricht. Alle hielten sich an diese Regeln. Nur mein Tobias nicht. Er war nicht zu bändigen. Ständig stand er mitten im Unterricht auf und rannte herum. Er störte seine Mitschüler beim Lernen, indem er sie ärgerte. Fast täglich bekam Tobias Strafarbeiten auf oder musste nachsitzen.“

„Wie schlug sich das in den Schulnoten nieder?“, möchte ich von Helga erfahren.

„Fragen Sie besser nicht. Die Noten waren eine Katastrophe. Rechnen, Sachkunde und Sport waren noch ganz in Ordnung. Schreiben und Lesen hingegen waren eine Qual für Tobias. Es wollte ihm nicht gelingen. Wir alle waren verzweifelt. Nach einiger Zeit schlug seine Lehrerin vor, Tobias auf Legasthenie testen zu lassen. Der Test fiel, wie zu erwarten war, positiv aus. Tobias wurde als hochgradiger Legastheniker erkannt. Von da an bekam er eine spezielle Förderung. So konnte Tobias zumindest die Schulzeit mit einem ganz passablen Hauptschulabschluss beenden.“

„Ich kann mir vorstellen, Helga, dass es eine sehr anstrengende Zeit für Sie gewesen sein muss.“

„Das stimmt. Nonstop war ich mit Tobias beschäftigt. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen Dörte gegenüber. Meine Große musste immer zurückstecken. Tobias hat all meine Kraft und meine ständige Aufmerksamkeit gebraucht. Ich habe alles gegeben. Und jetzt das! Wieso bestraft mich Tobias so sehr? Ich verstehe es nicht. Ich bin verzweifelt. Zwischendurch habe ich sogar darüber nachgedacht, mein Leben zu beenden, weil ich diesen Schmerz nicht mehr aushalten konnte. Doch dann dachte ich an Dörte, mein Enkelkind und an Dieter. So etwas könnte ich ihnen nicht antun. Ich liebe sie zu sehr. Ich möchte nicht, dass sie wie ich diese Höllenqualen erleiden müssen.“

„Tobias hat sozusagen Ihre volle Aufmerksamkeit gefordert?“

„So ist es. Ich bin froh, dass unsere Dörte ein so ruhiges Kind war. Sie war sehr genügsam. Wenn die Kleine ein Buch in den Fingern hatte, war sie glücklich. Dörte hatte selten das Bedürfnis, nach draußen zu gehen. Sie wollte auch keine Kontakte zu anderen Kindern haben. In der Schule kam sie ganz gut zurecht, verbrachte die Pausenzeit aber immer alleine. Während andere Kinder auf dem Pausenhof herumtobten und spielten, saß sie auf einem Mäuerchen mit einem Buch in der Hand und las. Sie war froh, wenn ihre Mitschüler sie in Ruhe ließen. Wenn ich so zurückblicke, brauchte Dörte überhaupt viel Ruhe. Auch brauchte sie für alles sehr viel Zeit. Bis heute macht sie alles mit Bedacht.“

„Helga, wenn Sie auf die Zeit zurückblicken als Ihre Kinder klein waren, würden Sie sagen, dass Dörte und Tobias auch in ihrer Entwicklung unterschiedlich waren?“

„Auf jeden Fall! Unsere Dörte ist, wie ich bereits erwähnte, ruhig und in allem eher langsam. Als Kind brauchte sie viel Schlaf. Bis zum Ende der Grundschulzeit hielt sie noch regelmäßig Mittagsschlaf. Sie begann auch, erst weit nach ihrem zweiten Geburtstag zu laufen. Trocken werden dauerte bei ihr auch sehr lange. Mit neun Jahren kam es immer noch vor, dass Dörte vor allem nachts einnässte. Tobias hingegen ist ganz anders. Er wollte nie schlafen. Er brauchte immer Action. Mit dreizehn Monaten konnte Tobias schon laufen. Wenn ich es so recht bedenke, hat Tobias seine große Schwester dazu animiert, auch mit dem Laufen zu beginnen.

Tobias kletterte auf alles hinauf. Ich erinnere mich, wie er eine Gelegenheit nutzte, um auf das Dach unseres dreistöckigen Wohnhauses zu steigen. Handwerker verrichteten einige Reparaturarbeiten an der Dachrinne. Sie hatten eine lange Leiter aufgestellt, die bis zum Dach hinauf reichte. Während einer Arbeitspause der Männer, kletterte Tobias von allen unbemerkt die Leiter hinauf und von da aus über das Dach des Hauses bis hin zum Schornstein. Dort angelangt, balancierte er über den Dachfirst hin und her. Weil keiner von Tobias´ Kletteraktion etwas mitbekommen hatte, er aber Aufmerksamkeit wollte, rief er von oben herunter: ´Fangt mich doch, wenn ihr mich kriegt´. Da erst bemerkten die Männer ihn. Sie riefen mich nach draußen. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ich wusste, ich durfte jetzt nicht in Panik geraten. Ich sprach so ruhig, wie es mir in diesem Moment nur möglich war mit ihm, während einer der Handwerker aufs Dach stieg, um ihn sicher herunterzuholen. Das war gar nicht so einfach, denn Tobias spielte tatsächlich Fangen mit seinem Retter. Nur unsere größte Überredungskunst konnte ihn dazu bringen, mit seinem Retter wieder zu uns herunterzukommen. Zum Glück blieben alle unversehrt bei dieser Aktion.“

„Wie alt war Tobias zu dem Zeitpunkt, Helga?“

„Er war noch nicht in der Schule. Also muss er ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein.“

„Hat Dörte von der Kletterpartie ihres kleinen Bruders etwas mitbekommen?“

„Nein, Dörte schlief. Sie hielt ihren Mittagsschlaf, wie immer um diese Zeit.“

„Hielt Tobias Sie häufiger derart auf Trab, Helga?“

„Ja, leider. Immer wieder vollführte Tobias solch gefährliche Aktionen. Meistens gingen sie glimpflich aus. Wie durch ein Wunder passierte ihm selten was.“

„Tobias muss einen guten Schutzengel haben, der auf ihn aufpasst.“

„Das glaube ich auch. Tobias ist schon so oft von irgendwo heruntergefallen. Es ist ihm, Gott sei Dank, nie so richtig Schlimmes passiert. Er hatte mal ein Bein gebrochen und einmal seinen linken Arm. Das waren seine heftigsten Verletzungen. Meistens kam er mit einer Beule oder einer kleinen Platzwunde davon.“

„Ließen Tobias´ Eskapaden mit heranwachsendem Alter nach, Helga?“

„Ach was. Es änderte sich gar nichts. Lediglich die Möglichkeiten um Blödsinn zu machen, wurden anders.“

„Welche Gelegenheiten boten sich Tobias denn später? Wurde er mit der Zeit nicht langsam umsichtiger in seinem Handeln?“

„Ich wünschte, dass es so gewesen wäre. Wissen Sie, es wurde immer anstrengender für mich, Tobias´ Eskapaden auch gesellschaftlich zu rechtfertigen. Da war ich sehr froh, als der Sohn einer Freundin Tobias fragte, ob er nicht auch der Landjugend beitreten wolle. Tobias war sofort begeistert von der Idee. Ich selber war von dem Gedanken auch ganz angetan. Die örtliche Landjugend genießt bei uns einen guten Ruf, müssen Sie wissen. Ich dachte, Tobias findet dort nette Freunde, die vernünftigen Aktivitäten nachgehen. Deshalb habe ich guten Glaubens zugestimmt, als Tobias dort beitrat. Alle Mütter, mit denen ich zuvor gesprochen hatte, waren derselben Auffassung wie ich. Wir alle dachten ganz unbedarft, dass unsere Kinder dort gut aufgehoben seien und sich wirklich sinnvollen Dingen widmeten. Wie naiv und gutgläubig wir alle waren, herrje!“

Helga ist zerknirscht. Sie schüttelt ihren Kopf, um ihrem Unverständnis Ausdruck zu verleihen.

„Helga, für mich hört sich das so an, als wäre das genaue Gegenteil der Fall gewesen.“

„So verhielt es sich auch. Es war nämlich so: Die Mitglieder der Landjugend sind zwischen dreizehn und etwa zwanzig Jahre alt. Was wir Mütter nicht wussten: Die Älteren von ihnen brachten regelmäßig Alkohol und Zigaretten mit zu den Vereinstreffen. Weil sie eine eingeschworene Gemeinschaft waren, hielten alle dicht - und natürlich machten auch die Jüngeren mit.“

„Sie wollen sagen, dass Tobias schon mit dreizehn Jahren Alkohol und Zigaretten konsumierte? Wie war das für Sie, Helga, als Sie davon erfuhren?“

„Ich war absolut fertig mit den Nerven. Wer weiß, was da sonst noch alles geraucht wurde. Ich mag mir das gar nicht vorstellen.“

„Nun ja, manchmal kann es auch Teil einer Mutprobe oder eines Aufnahmerituals sein, eine Zigarette zu rauchen. Haben Sie daran schon mal gedacht?“, gebe ich zu bedenken.

„Ja, ich weiß. Das sagte Dieter auch, als ich ihm davon erzählte. Aber es war ja nicht nur einmal. Es kam mit der Zeit immer häufiger vor, dass Tobias nachts betrunken und nach Zigarettenqualm stinkend nach Hause kam.“

„Haben Sie mit Tobias über Ihre Sorge gesprochen?“

„Selbstverständlich!“

„Wie hat er reagiert?“

„Er hat mich ausgelacht. Er hat mir vorgeworfen, ich sei überängstlich und hinterwäldlerisch. Außerdem sei ich diejenige gewesen, die seinen Beitritt zur Landjugend so sehr befürwortet habe. Jetzt solle ich halt sehen, wie ich damit zurechtkäme. Dann ging er einfach weg und ließ mich stehen.“

„Wie alt war Tobias da?“

„Sechzehn.“

„Ging er zu diesem Zeitpunkt noch zur Schule?“

„Nein. Er hatte eine Lehre als Landschaftsgärtner begonnen. Tobias fühlte sich richtig erwachsen. Er ließ sich von mir nichts mehr sagen. Er kam, wann er wollte, er ging, wann er wollte und nicht selten brachte er nach zehn Uhr abends noch seine Kumpels mit nach Hause. Die blieben dann oft bis weit nach Mitternacht bei uns und machten Krach. Irgendwann tauchte auch die erste Freundin bei uns auf und blieb gleich über Nacht.“

„Versuchten Sie denn nicht dem turbulenten Treiben Einhalt zu gebieten?“

„Ja, natürlich. Doch es gelang nicht. Tobias hatte keinerlei Einsicht oder Unrechtsbewusstsein. Schließlich sagte ich mir, dass es vielleicht auch besser sei, wenn Tobias sich bei uns austobt. Wer weiß, wie er draußen unangenehm auffallen würde.“

„Wie lange lebten Sie so?“

„Eine gefühlte Ewigkeit. Ich hatte es irgendwann geschafft, mich mit dieser Situation zu arrangieren. Ich sah viele Freunde von Tobias kommen und gehen. Genauso verhielt es sich auch mit seinen Freundinnen. Er hat nie eine länger als drei Monate gehabt. Dann kam schon die nächste. Es war wirklich ein Kommen und Gehen. Ich hatte nur dann Ruhe in unseren eigenen vier Wänden, wenn Tobias mit den Kumpels von der Landjugend oder mit seinen Arbeitskollegen unterwegs war.“

„Hatten Sie und Dieter vielleicht auch einmal über die Möglichkeit nachgedacht, dass Tobias in eine eigene Wohnung ziehen könnte?“

„Auf gar keinen Fall wäre das eine Option für uns gewesen. Wir setzten doch nicht unser Kind vor die Türe! Das tut man nicht!“

Helga ist bei diesem Gedanken wieder sichtlich empört. Erneut schaut sie sich prüfend im Café um. Ihr ist gerade bewusst geworden, wie deutlich und enthusiastisch sie erzählt hat.

„Helga, Tobias hat bei Ihnen ein komfortables Leben führen können. So wie ich Sie verstanden habe, haben Sie alles für ihn getan. Sie haben seine Wäsche gewaschen, Sie haben für ihn das Essen gekocht und dergleichen mehr. Tobias hätte so gesehen keinen Anlass gehabt, Sie zu verlassen und den Kontakt zu Ihnen so rigoros abzubrechen.“

„Das stimmt. Ich hätte auch ein wenig Dankbarkeit erwartet. Zumindest ein wenig. Aber das jetzt, das habe ich nicht verdient. Bestimmt nicht.“

„Wie ist es denn zu diesem radikalen Schnitt gekommen?“

„Ach, so genau kann ich Ihnen das gar nicht sagen. Er hatte dieses Mädchen kennengelernt. Sie war total anders als die, die er sonst so mitbrachte. Carina, so heißt sie, ist eher unscheinbar. Eine graue Maus. Aber sonst nett. Wir hatten nie so einen Draht zueinander. Nachdem Tobias erstaunliche elf Monate mit Carina zusammen war, verkündete er uns eines Tages, dass er mit ihr weggehen würde. Tobias war mittlerweile dreiundzwanzig Jahre alt. Er sagte uns, sie würden nach Österreich gehen, er habe dort eine Stellung als Forstwirt angenommen. Eine Woche später klingelten seine Kumpels bei uns. Sie waren mit einem Transporter angerückt. Tobias empfing sie lachend und ging mit ihnen in sein Zimmer. Einer nach dem anderen kamen sie kurze Zeit später mit einem Möbelstück oder Umzugskarton in der Hand wieder heraus. Sie verstauten alles in dem Transporter.“

Helga schluckt, um ihre Tränen zu unterdrücken, als sie mir das erzählt.

„Hat Tobias Ihnen den Zeitpunkt seines Auszugs aus Ihrem Haus nicht mitgeteilt?“

„Nein. Tobias klang so, als würde er seinen Plan in wenigen Monaten wahr machen. Dass es so bald sein würde, davon hatten wir keine Ahnung. Er hat es nicht einmal angedeutet. Jetzt stand ich da, vollkommen perplex und handlungsunfähig. Innerhalb kürzester Zeit war der Spuk auch schon vorbei.“

„Hat Tobias sich von Ihnen verabschiedet?“

„Ich weiß noch genau, ich stand wie versteinert im Hausflur. Tobias ging an mir vorbei. Im Vorübergehen sagte er zu mir: ´Es ist besser so, Mama´. Dann gab er mir einen Kuss auf meine linke Wange und war weg. Seitdem ist es vorbei.“

Helga sitzt da, ringt wieder mit den Tränen und versucht, die Kontrolle über ihre Gefühle zu behalten. Ich spüre, wie groß der Verlustschmerz in ihr ist. Sie ist gekränkt und zutiefst verletzt.

Nach einer Weile richtet sie sich auf, seufzt deutlich hörbar und sagt: „Vielleicht ist es wirklich besser so. Wer weiß, was noch geworden wäre, wenn er noch länger bei uns geblieben wäre. So haben Dieter und ich unser Leben zurück und ich brauche nicht mehr so sehr auf der Hut zu sein. Ich meine, es war schon sehr anstrengend gewesen, ständig Rechtfertigungen zu finden, wenn Tobias mal wieder nicht so war, wie unser Umfeld es gutheißt. Und außerdem habe ich ja noch Dörte und ihre Familie. Sie machen mir viel Freude. Wenn mein kleiner Sonnenschein zu Oma zu Besuch kommt, geht es mir gut. Meine kleine Enkeltochter Mia ist mein Ein und Alles. Manchmal, wenn ich sie so anschaue, entdecke ich auch ein bisschen von Tobias an ihr. Sie sieht auch so aus, wie ein kleines Engelchen mit rosa Pausbäckchen.“

Helga lächelt sanft, als sie das sagt. Der Gedanke an Mia scheint ihr Ruhe zu geben und versöhnlich zu sein. Helga hat für sich einen Weg gefunden, mit dieser, für sie, unerträglichen Situation umzugehen.

Abschließend möchte ich von Helga erfahren, ob sie heute in der Erziehung etwas anders machen würde.

„Helga, wenn Sie noch einmal zurückblicken auf die Zeit als Tobias klein war, würden Sie in einigen Dingen anders verfahren? Würden Sie etwas anders machen wollen? Bereuen Sie vielleicht irgendetwas?“

„Ach, wissen Sie, Frau Lutherer, darüber habe ich mir schon einige Male Gedanken gemacht. Ich glaube, ich würde es heute genauso machen. Ich bereue nichts. Ich habe mein Bestes gegeben. Tobias ist halt, wie er ist. Da kann man nichts machen.

Eine sehr gute Freundin versuchte mich einmal zu trösten, als ich ziemlich frustriert war wegen Tobias. Sie sagte zu mir: ´Sieh es mal so, du hast alles getan. Er hat leider nichts von dir angenommen. In jeder Kiste Äpfel ist halt doch immer ein fauler Apfel dabei, so sagt man doch. Aber aus Tobias ist ja doch noch was geworden´. Als meine Freundin mir das sagte, war ich erst sauer über ihre freche, niederschmetternde Aussage. Doch leider muss ich meiner Freundin Recht geben. Also, um noch einmal auf ihre Frage zurückzukommen, Frau Lutherer: Ich würde nichts ändern und heute alles wieder so machen. Eigentlich müsste alles gut sein, wäre da nicht dieser nagende, furchtbare Schmerz in mir. Tobias hat mir mein Herz gebrochen. Es ist, als hätte er es herausgerissen. Daran wird sich wahrscheinlich nie etwas ändern. Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Das mag vielleicht stimmen. Aber diese verdammten Narben, die entstehen, schmerzen gewaltig.“

Helga ist in ihrer Gefühlswelt hin- und hergerissen. Ihr Gefühlsleben fährt permanent Achterbahn. Haltlos versucht sie, die Kontrolle zu bewahren.

Kann das, einer so sehr verletzten Mutter, auf Dauer gelingen?

Rabenkinder

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