Читать книгу Vom Lügen und vom Träumen - Birgit Müller-Wieland - Страница 7

Nun also auch wir

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An jenem Abend, der Salomes Leben in ein Davor und ein Danach teilen würde, zündete sie die beiden weißen Kerzen am Tisch und jene am Silberleuchter auf dem Fensterbrett an, während Hannes mit dem Geschirrtuch über der Schulter leise vor sich hin pfiff.

Geschickt hob er mit einem Löffel das Fruchtfleisch aus der ledrigen Avocadohülle, füllte es in eine Schüssel und zerstampfte alles zu einem gelbgrünen Brei, den er mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft würzte.

Salome hörte ihn hinter ihrem Rücken hantieren und pfeifen, öffnete ruckartig die Holzschublade am Tisch, in der sie das Besteck aufbewahrten, und legte Messer und Gabel neben die beiden Teller.

„Vergiss die Muskatnuss nicht“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Hannes pfiff weiter, etwas Dynamisches, das sie nicht kannte, sie lächelte.

Die Küche hinter ihr war geräumig mit der Herdinsel in der Mitte, vor ihr der Holztisch mit den Stühlen neben der Kredenz – ein Miteinander von Alt und Neu, so, wie die ganze Wohnung aus Altem und Neuem bestand, hell war und gemütlich.

Kam Besuch von Hannes’ Cousin und seiner Familie, jagten die kleinen Jungs gewöhnlich durch den Flur in die Küche, liefen jeder für sich in entgegengesetzter Richtung durch die vier großen Zimmer, rissen die Türen zu den Bädern auf – beide befanden sich an den jeweiligen Enden der Wohnung –, rannten wieder zurück, „Ich“-brüllend, „IchbinErster!“, um in der Mitte, triumphierend und japsend, vor der Terrassentür aufeinanderzutreffen.

Es war ihr „GroßeWohnung-Spiel“, das Cousin Clemens und seine Frau, mit dünnem Lächeln im Flur stehend, nicht verhindern konnten.

Ja, sie hatten Glück gehabt, damals, als sie die Wohnung gefunden hatten, ein Zufall, ein Tipp vom Freund einer Bekannten von Salomes Arbeitskollegin, eine Bleibe unterderHand, eigentlich unerschwinglich, aber dann doch kaufbar, mit Bürgschaften und Kreditermöglichungen von den Eltern, die damals alle noch gelebt hatten.

Das Aufglimmen von Neid in den Augen jener, die zum ersten Mal die Wohnung betraten, hatten Salome und Hannes gelernt zu übersehen, so wie sie die Fragen nicht hörten, ob eine dermaßen große Behausung nicht zu viel Arbeit mache – und welcher der Räume wohl einmal das Kinderzimmer sein werde.

Über all das lächelten sie hinweg, servierten den Begrüßungssekt, erzählten Renovierungs- und Umzugsanekdoten und flochten scheinbar nebenbei und in Abständen, beim zweiten Gang oder dem Dessert oder zum Schluss, bei der Verabschiedung, die fehlenden Parkmöglichkeiten ein, den Straßenlärm, das sehr alte und deswegen sehr knarzende Parkett, wie die Gäste ja wohl schon den ganzen Abend über bemerkt haben würden, dann noch der Weg zur U-Bahn, und die Nachbarn, tja, sodass die Gäste schließlich mit dem Gefühl nach Hause gingen, sie hätten es in ihrem kleineren und unattraktiveren Heim dann doch tatsächlich besser getroffen als die beiden, die in der riesigen Flügeltür verloren wirkten, wie sie da um drei Uhr oder vier Uhr morgens aneinanderlehnten und den Gästen hinterherwinkten.

Und so gab es irgendwann keine Fragen mehr, nicht zur Größe der Wohnung oder dem Gebrauch der Zimmer und auch keine mehr zum Freitagabend.

„Unser heiliger Abend“, wie Salome und Hannes diesen manchmal nannten, wenn sie zu später Stunde kichernd die zweite Rotweinflasche entkorkten.

Ihn durchzusetzen, hatte anfangs einigen Aufwand erfordert. Bis alle in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis wussten, dass es keinen Sinn hatte, sie an diesem Tag einzuladen oder zu einem Theater- oder Kinobesuch zu bewegen, hatte es gedauert.

„Nein“, hatten entweder sie oder er damals vor vielen Jahren immer wieder freundlich gesagt, „vielen Dank, aber freitags feiern wir, wie du weißt, unseren Sabbat“.

Worauf ein „Oh“ zu hören gewesen war oder „Ach, entschuldige“ oder sich eine Stille während eines Telefonats eingestellt hatte, in der die Freunde und Freundinnen offenbar nachgedacht oder an etwas anderes gedacht hatten, oder gar nichts.

Einer hatte gewitzelt: „Habt ihr auch diesen Armleuchter?“, worauf Hannes – in Salomes Augen Übereinstimmendes lesend – liebenswürdig erwidert hatte: „Der bist natürlich du. Schönes Leben noch.“

Auf diese Weise wurde in der Frühzeit ihrer Liebe so manche Freundschaft spontan und in Einverständnis beendet, Vorgänge, die sie nicht bedauerten, Verluste, die im Überschwang ihrer Gefühle füreinander untergingen.

Und diejenigen, die ihnen blieben, hatten die Sache mit dem Freitag bald verstanden.

Natürlich besaßen sie eine Menora.

Eine wunderschöne, aus schlichtem Silber, Hannes hatte sie auf dem Flohmarkt gekauft und stolz nach Hause gebracht. Ohne einander abzusprechen, war sie immer geputzt, ein Schmuckstück, das auf dem Fensterbrett schimmerte, mit einer selbstverständlichen Grandezza auf seinen Einsatz wartend.

Schon am Wochenanfang berieten sie sich, wer dieses Mal für den Freitag einkaufen und kochen würde, oder ob sie Zeit hätten, alles gemeinsam zu tun.

Sie freuten sich auf die Stunden miteinander, das warme Licht, das ihre Gesichter weich machte und Funken in ihre Augen zauberte, auf die Verse aus den Lyrikbänden, die sie einander vorlasen, Lavant, Kaléko, Rilke, Sachs, sie freuten sich auf die Gespräche, in denen die vergangene Woche mit ihren Vorkommnissen, den wichtigen, absurden und nebensächlichen, auflebte, und später, beim Abräumen des Geschirrs, dem Löschen der Kerzen, zur Ruhe gekommen war, eine Ruhe, die beide ins Wochenende mitnahmen und welche zuweilen sogar weiterwirkte, bis Montagfrüh.

*

An jenem Abend also setzten sie sich an den gedeckten Tisch, die Gläser sirrten sacht beim Anstoßen, von den Leinenservietten stieg beim Auseinanderfalten ein zarter Duft von Rosengeranie und Lavendel auf, Stärke.

Sie aßen das Avocadomus und Salat mit Pinienkernen, danach Huhn mit Reis.

„Wir sollten“, sagte Salome, nachdem das Thema Arbeit ausgiebig besprochen worden war, „uns schön langsam Gedanken machen“.

Hannes spießte ein Stück Fleisch auf, kaute, schluckte und fragte:

„Worüber?“

„Schussel“, lächelte sie und führte das Glas zum Mund.

Hannes sah auf seinen Teller, schob Reis auf die Gabel, kam hoch mit seinem noch immer fragenden Gesicht.

„Vi-“, fragte Salome gespielt entgeistert, „et-nam?“

„Oh“, entfuhr es Hannes…“ –

„… Ha Long Bucht? Na Thrang? Hué?“, setzte sie nach –

„Oh, klar, äh …“, Hannes lehnte sich zurück, blies seine Backen auf, „entschuldige, es war ein bisschen viel in den letzten…“ –

„Sicher“, sagte Salome, „alles gut“.

Sie betrachtete seinen braunroten Schopf, dessen widerborstige Haare sie zu durchwühlen liebte, die von Sommersprossen besprenkelte Nase, seine kräftigen, gleichzeitig schmalen Hände, sie beugte sich verschwörerisch über den Tisch:

„Ich habe einige Angebote gefunden, sie sind traumhaft, du musst sie dir später…“ –

Hannes lächelte, nickte, hob die volle Gabel hoch. Aber schon im nächsten Moment kippte sein Blick nach innen, eine Abwesenheit, die Salome amüsierte.

„Vergiss nicht zu essen“, schmunzelte sie.

Als er nicht reagierte, schnippte sie mit Mittelfinger und Daumen vor seinem Gesicht.

Hannes’ Blick kam von weit her zurück, so weit her, als erinnerte er sich weder an die nach wie vor erhobene Gabel voll Reis, die zwischen seinen Fingern steckte, noch an sie, Salome.

„He“, sagte sie leise.

Hannes senkte den Arm, legte die Gabel auf den Tellerrand.

Er realisierte ihren fragenden Blick, lächelte und murmelte, indem er das Glas ergriff: „Bin etwas … etwas müde heute…“

„Ja“, erwiderte Salome, „ich auch…“

*

Später, nach dem Aufräumen und Zähneputzen, wollte sie mit ihm schlafen.

Sie hatte es schon tagsüber gespürt, das vertraute Begehren, sobald sie an ihn dachte, ein Sehnen nach seiner Haut und ihren unterschiedlichen Gerüchen, das strenge Wühlen in ihrem Unterleib. Es hatte sich verstärkt durch Hannes’ träge Unerreichbarkeit im Laufe des Abends, sein Zerstreutsein, das ihr Bedürfnis nach besinnungsloser Nähe provozierte.

Er boxte sich sein Kissen zurecht, ohne sie anzusehen, als sie das von der Straßenlaterne erhellte Schlafzimmer betrat, im fliederfarbenen Nachthemd, welches er seit jeher als ihr „Verführungsteil“ bezeichnete.

Sie musste kichern, ja, sie war beschwipst, sie begann leise zu summen, hob ihre Arme, stampfte mit einem Fuß auf und begann sich rhythmisch und aufreizend langsam zu drehen. Sie fühlte den seidigen Stoff an ihren Schenkeln, das leichte Wehen. Ihre Arme, das musste sie nicht im Spiegel sehen, bewegten sich girlandenhaft, graziös, ein Kontrast zu den stakkatoartig tretenden Füßen, die ohne die notwendigen Schuhe nur klägliches Ächzen aus dem Parkett holten. Dafür begleitete immer intensiver werdender Singsang ihren Tanz, sie war geübt darin, Flamenco, seit Jahren schon, und bei jedem ihrer Auftritte hatte Hannes im Publikum gesessen, mit leuchtenden Augen.

Während sie sich nun drehte, sah sie so lange zum Bett, bis sie ihren Oberkörper ruckartig folgen lassen musste. Hannes Kopf schien zu schweben, wie abgetrennt vom übrigen Körper, der bis zum Hals bedeckt war. Als wäre sonst nichts da, nur diese nach oben starrenden Augen in einem Kopf, der im fahlen Licht wirkte, als sei –

Sie erschrak.

Klatschte in die Hände, sprang aufs Bett.

Nun wollte sie ihn ganz bei sich haben, Müdigkeit hin oder her, kichernd riss sie die Decke weg, seine Arme fuhren hoch.

Sie dachte, es sei ein Spiel.

„Klemmi“, flüsterte sie, als er die Decke, unter die sie sich nun zu drängen versuchte, festhielt, „du Klemmi“, kicherte sie, „lass mich zu dir…“

Ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, konnte sie nicht erkennen, sah nur, dass er die Bettdecke fixierte mit seinen beiden langen, starken Armen, eng an den pyjamablauen Körper gepresst, das Gesicht nach oben gewandt, stumm, ein Pharao in seiner Kiste, aber auch dieses Bild, das sie ihm lockend an den Kopf warf, erheiterte ihn nicht, wie sie erwartet hatte, nichts amüsierte ihn, im Gegenteil: plötzlich gab er einen merkwürdigen Laut von sich, eine Mischung aus Grunzen und Wimmern.

Ein Tier in der Falle. Und dann ging alles sehr schnell.

*

Sie ist eingeschlafen.

Eingeschlafen am Küchentisch mit seinen Krümeln, der Schale mit den eingetrockneten Müslikörnern, der himmelblauen Tasse.

Dem Handy, das durch ihren Ellenbogen soeben bewegt wird.

Nur widerwillig arbeitet sich Salome aus diesem Zustand heraus, den sie mittlerweile ihren gnädigen Fluchtschlaf nennt, und der sie immer wieder überkommt. Ein plötzlich eintretendes Wegsacken, Ausder Weltgleiten.

Die Arme schmerzen, der Nacken, alles tut weh, was zu lange in dieser einen Position am harten Tisch verharrt hatte – „Kernbuche, tolles Holz“, Hannes’ befriedigter Tonfall füllt ihren Kopf, sein übermütiges Lächeln, damals beim Kauf.

Damals.

Vorsichtig richtet Salome sich auf. Die Übelkeit ist verschwunden, wenigstens das. Ihre Halswirbelsäule knackt, als sie den Kopf leicht bewegt, sie sieht auf die Uhr, eine Dreiviertelstunde! Herrje!, tappt ins Badezimmer, hockt sich auf die Toilette.

„Hier ist der letzte Teil des Dramas.“

Da ist er, der Satz, ja, das sagte der Anrufer als erstes, nachdem sie ihren Namen genannt hatte. Bevor sie eingeschlafen war.

Die Entleerung der Blase ist so erleichternd, dass ihr Tränen in die Augen steigen. Spülung und Wasserhahn rauschen, sie wirft sich kaltes Wasser ins Gesicht, vermeidet den Blick in den Spiegel, bläst eine Strähne seitlich von der Wange.

In der Küche sieht sie auf ihr Handy. Er hat aus Berlin angerufen, klar. Und sich mit Namen vorgestellt, gleich am Anfang, bevor er „Guten Tag. Hier ist der letzte Teil des Dramas“ gesagt hatte.

Was war es nur für ein Name gewesen?

Einsilbig, ganz sicher. Tom? Jan? Ron?

Ach, es hat keinen Sinn.

Argwöhnisch sieht Salome zur Kaffeemaschine, sie ist von braunen Spritzern übersät. Sie nimmt die Kanne aus der Verankerung, flucht leise vor sich hin, stellt sie ins Abwaschbecken.

Auf dem Notizblock, der neben den Magneten am Kühlschrank klebt, ist in ihrer steilen Handschrift zu lesen: Nächste Woche keine Therapie!

Daneben das Foto mit den beiden verschmitzt lachenden Jungs, ohne Eltern. Die rot-weiß-gepunktete Flamencotänzerin mit dem offenen schwarzen Spitzenfächer aus dem Spanienurlaub vom letzten Jahr scheint Salome zu winken. Alle anderen Magnete, verstreut am Kühlschrank, sind wie immer bunt und stumm.

*

Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte Salome in ihrer Küche gestanden, das Handy am Ohr.

Mit einem Arm hatte sie sich am Holztisch abgestützt, mit der anderen Hand krampfhaft das Gerät gehalten, aus dem eine unbekannte Stimme gedrungen war.

„Hallo, äh, sind Sie noch da?“

Salome hatte sich gewundert, dass sie die Worte verstehen konnte. Marionettenhaft hatte es ihre Fingerkuppe geschafft, das Lautsprecherzeichen des wackelnden Displays zu treffen.

„Ja.“

Das Wackeln, das hatte sie gleichzeitig mit der Antwort bemerkt, verursachte ihre zitternde linke Hand, aber auch die rechte, in die sie das Gerät nun versuchsweise gelegt hatte, war nicht imstande gewesen, es ruhig zu halten. Schließlich war es ihr gelungen, dieses auf dem Küchentisch zu platzieren, neben der halbvollen himmelblauen Tasse.

„Vielleicht hätten wir uns etwas zu sagen.“

Aus der Tasse war ekelhafter kalter Kaffeegeruch hochgestiegen.

Hannes, hatte Salome gedacht.

Hannes und die Tasse und der Tag im Juli letzten Jahres.

Sie hatte die Tasse mit einem Schlurfgeräusch über den Tisch geschoben, weit von sich.

Der Tag des Anschlags.

„Ich weiß nicht … also…“

Bin so müde, gleich falle ich um –

„Verstehe. Hm, also… Es ist so, dass ich in München zu tun habe, nächste Woche. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht kennenlernen.“

Schlafen.

„Ich werde… werde Sie… zurückrufen.“

Das hatte sie mit äußerster Anstrengung hervorgepresst. War das so gemeint gewesen?

Die Übelkeit hatte weiteres Nachsinnen verhindert, eine Übelkeit, die sich schwungvoll in ihrem ganzen Körper verteilt hatte, ein erstaunlich dynamischer Vorgang, der ihr mittlerweile schon vertraut war.

„Es tut mir leid… ich wollte Sie nicht…“

„Ist schon… also… ist schon in Ordnung.“

„Auf Wiedersehen.“

Die Verbindung war vom Anrufer beendet worden, was Salome aber nicht mehr bemerkt hatte.

Denn was nun auf den Tisch gerutscht war, waren ihre ineinandergelegten Arme gewesen, ein stabiles Rechteck aus Muskeln und Knochen, auf das ihr Kopf sinken hatte können, der Kopf, der plötzlich mit Leere gefüllt gewesen war, einer gnädigen Leere, Nussschale, entkernt.

*

Kahl und grau wirkt der Englische Garten in diesen nassen Oktobertagen, passt, denkt Salome, passt hervorragend. Einige Hunde laufen umher, vermummte Menschen folgen ihnen, neonblinkende Turnschuhe an Joggern. Die Betriebsamkeit der Stadt bleibt an den Rändern des Parks zurück, ihr Brummen wird leiser mit jedem Schritt.

Vor dem Kiosk steht ein Mann, der einen roten Schal und eine rote Mütze trägt. Im Näherkommen sieht Salome dicke blaue Jackentaschen, ausgebeult von seinen Fäusten. Sie sieht Jeansbeine, festes Schuhwerk, einen drahtigen, fremden Menschen, den sie gerne in seiner Fremde belassen hätte. Der ihr aber in den letzten Tagen zunehmend im Kopf herumgeschwirrt war und eine geradezu feurige Neugierde in ihr entfacht hatte, welche sie ziellos durch die Wohnung getrieben, schließlich schlaflos gemacht hatte, nahezu nahrungslos.

Sie hatte diese Begegnung nicht mit dem Therapeuten vorbereiten können, sie wunderte sich über ihren Mut.

Der Mann sieht ihr entgegen.

War es das? Mut?

Die rote Mütze und der Schal waren seine Idee gewesen.

„Gut“, hatte sie am Telefon gesagt und dann in einem Spontanentschluss hinzugefügt: „Ocker. Bei mir wird es Ocker sein.“

Plötzlich war ihr der schwarze Mantel samt Kapuze mit Kunstfell, den sie sonst immer trug, als ein zu grelles Statement erschienen. Nur nicht als Trauerklotz auftauchen.

Haltung.

Haltung, Schätzchen, ist nicht alles. Aber viel.

Als sie den Kamelhaarmantel ihrer Mutter aus dem Schrank geholt hatte, war sie kurz unsicher geworden. Sie war vor den Spiegel getreten und hatte gesehen, wie die Farbe ihre Gesichtsblässe betonte. Ein bleiches Dreieck mit zwei Kastanien glühte ihr entgegen.

Sie hatte den Mantel aufs Bett gelegt und im Badezimmer wild entschlossen die Schublade aufgerissen, in der sich die Schminksachen befanden. Sie hatte sich nicht mehr erinnern können, wann sie das letzte Mal Rouge und Wimperntusche aufgetragen hatte, wann ihr wichtig gewesen war, farblich passenden Schmuck in ihren Ohrlöchern zu befestigen.

Sie hatte sich bei ihrer Verwandlung zugesehen, ihre Lippen zusammengepresst, geöffnet, gewischt, geklopft, geprüft.

Sie war hübscher als sie gedacht hatte, hatte dies allerdings festgestellt wie eine Frau, welche soeben die Tür zu einem Waschraum aufdrückt, eine andere flüchtig im Spiegel sieht und erschrickt.

Alles vorübergehend. Gar nicht schlimm.

Nur ein bisschen – wie nannte der Therapeut ihre Zustände? –

Ah, ja. „Depersonalisation.“

*

Er lässt die Hände in den Taschen, als sie in zwei Meter Entfernung vor ihm stehen bleibt und seinen Blick sucht. Seine Augen sind schmal, mattes Braun.

„Tja“, sagt Salome mit ineinander verschränkten beigefarbenen Handschuhfingern, macht ihre Lippen zu einem dünnen Strich, hochgezwirbelt an den beiden Enden.

Sie tritt von einem Stiefelbein aufs andere. Das Ocker in Variationen, das sie von oben bis unten trägt, wird nur unterbrochen von ihrem dunklen, unter der Mütze hervorspringendem Haargewirr.

Jetzt erst schiebt er den Schal nach unten, ein weiches unrasiertes Kinn zeigend, schmale Lippen.

Verlegen lächelt er, sieht kurz auf seine Schuhe und wieder hoch.

„Wollen wir“, fragt sie, „ein bisschen gehen?“

Die ersten Minuten schweigen sie.

Kleine und größere Hunde in verschiedenen Farben und Formen kommen ihnen entgegen oder überholen sie, während sie nebeneinander kräftig ausschreiten, als hätten sie ein Ziel, das schnell erreicht werden muss. Salome marschiert mit erhobenem Kopf, ihre Handtasche fest im Griff.

Er räuspert sich, lässt seine Blicke über die Bäume und Wiesen schweifen, über das verlebte Grün, das schmutzige Gelb.

„Wollen wir uns“, fragt er, „duzen?“

Er heißt Jon, das weiß sie vom letzten Telefonat.

Sie bleiben stehen, sie nickt, beide lächeln verlegen, gehen nach kurzem Zögern weiter.

„Wie“, fragt sie schließlich, „war die Reise?“, und sieht ihn von der Seite an.

„Danke, gut“, antwortet Jon, sich erneut räuspernd.

Er ist mit der Bahn gekommen. „Fliegen ist nicht mehr so…“, wie er am Telefon gesagt hatte.

Sie verlangsamt ihren Schritt, weil ihr Herz hüpft, sie ist dieses Tempo nicht mehr gewöhnt. Er tut es ihr nach, sie halten schließlich unter einer Ulme, passt, denkt Salome, die Ulme passt auch, der Trauerbaum.

Sie drehen sich zueinander.

Jons Blick kommt aus Augen, die sie nun als bernsteinfarben bezeichnen würde.

„Scheiße, was“, grinst er.

Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. Er ist Polizist, auch das hatte er ihr am Telefon erzählt. Das Sprechen mit ihm war leichter gewesen in dieser Distanz, eindeutig. Sie wird schon wieder sehr müde.

Was will sie eigentlich von ihm?

*

Er habe lange nichts bemerkt, erzählt Jon schließlich.

Sie hatten ja auch getrennte Wohnungen in Berlin, er und, er zögert vorm ersten Aussprechen ihres Namens, Doreen.

Salomes Schritt stockt.

Sie atmet tief ein. Ein und aus.

Auch Jon bleibt stehen, sieht sie an.

Ein und aus.

Wann wird es aufhören? Zumindest besser werden?

Salome beißt sich auf die Lippen. „Doreen“ ist immer noch eine Nadel, die an ihrer Herzwand ritzt.

Zwei Enten fliegen über beide hinweg.

Immerhin, die Nadel ist ein Fortschritt. Die ersten Wochen war der Name ein Dolch, spitzes, zweimaliges Gehacke ins Fleisch: Do – reen.

Als Hannes ihr den Namen in jener Nacht mitteilte, bekam sie einen Lachkrampf. Er saß ruhig vor ihr und sah zu, wie sie Tränen lachte, und als der hysterische Anfall vorbei war, sagte er, er hole nun seinen Koffer.

Es gab keinen Eintrag im Internet von ihr, Doreen Irgendwer, Salome sah es Stunden später. Da hatte sie sich aus der ersten Erstarrung gelöst, konnte sich zumindest wieder bewegen. Sie bespuckte das Display. Klingelte Hannes’ besten Freund Hugo aus dem Schlaf und sagte nur:

„Hast du es gewusst?“

Die Art, wie Hugo „Was… was denn? Weißt du, wie spät es ist?“ krächzte und auf schlaftrunken machte, war ihr Antwort genug, sie legte auf.

Also auch er.

Alles war irreal. Auch er hatte sie hintergangen.

Und wenn alles irreal war, dann konnte auch alles passieren.

Zum Beispiel, dass Hannes zurückkehren würde, bald.

Gab es diese D. überhaupt?

Was nicht im Netz war: Gab es das überhaupt?

Nicht einmal der Name, nicht einmal das.

Ein Kind wackelt ihnen entgegen, ein Vater, Blick in seine Hand, mit der anderen schiebt er den Wagen vor sich her.

„Hoppla“, sagt Jon und bückt sich, als das blauverpackte Kind, vermutlich also ein Junge, fast in ihn hineinläuft.

„Oh“, sagt der Vater einige Meter weiter und lässt das Smartphone sinken.

Wie hübsch die beiden Namen, denkt Salome, Jon und Doreen.

Die Räder des Kinderwagens schmatzen auf dem feuchten Blätterboden, der Junge wird hochgehoben.

Er habe nichts bemerkt von ihrem, Jon zögert und hat die Worte wiedergefunden, also ihrem – Abdriften. Er sieht mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, die Fäuste in der Jacke vergraben, als müsse er über das Wort „Abdriften“ nachdenken. Ob es diesen Vorgang richtig beschreibt, der ihm offenbar immer noch rätselhaft erscheint.

Salome kann nichts anfangen mit diesem Wort. Sicher, im Nachhinein waren ihr Kleinigkeiten aufgefallen, Lieblosigkeiten sogar. Aber, meine Güte! Sie war realistisch genug, um zu wissen, dass sich eine Beziehung im Laufe der Zeit verändert. Wie sagten ihre Freundinnen?

„Man wird härter miteinander.“

„Ehrlicher“, meinte Salome bei diesen Gesprächen, es schien ihr das richtigere Wort zu sein. Ihr war ihre Ehe mit den Jahren immer inniger erschienen. Ehrlich und innig.

„Deswegen“, sagt sie nun zu Jon, „hat es mich auch so kalt erwischt“.

Und dann lacht sie bitter auf:

„Polareiskalt.“

Über ihnen schlagen Flügel, wieder zwei Enten.

Jon haucht seinen Atem in die geröteten Hände.

„Geknallt“, sagt er, „Doreen meinte, es habe…“, nun verzieht er seine Lippen zu einem Grinsen, hebt die Schultern und lässt sie fallen, „… einfach geknallt“.

„Peng“, Salome schaut den Enten spöttisch hinterher, „peng“.

*

Nach der ersten Tasse Kaffee weiß sie, dass Jon Leiter einer Spezial-Abteilung ist. Seine Gruppe hat die Aufgabe, Salafisten für eine Kooperation mit der Polizei zu gewinnen.

Die rote Mütze liegt auf dem Tisch, das Offenbaren seines kahlen Schädels und seines Berufes haben ihren Blick auf ihn verändert. Natürlich äußert er sich nicht näher zu seinen Tätigkeiten. Welchen Preis man für diese Art Zusammenarbeit zahlen muss, welche Gefahren damit verbunden sind. Das sind Fragen, die sie nicht zu stellen wagt.

Er habe sich im letzten Jahr sehr in die Arbeit vergraben, sei auch viel im Ausland gewesen, lächelt Jon.

Gesprächiger wird er, als Salome nach seinem Privatleben fragt.

Acht Jahre zuvor habe er Doreen bei einem Jazz-Konzert kennengelernt.

„Sie war in diesem Club und spielte Trompete. Nach dem Gig ging ich hinter die Bühne und fragte sie nach ihrer Nummer. Sie stellte mir ihre Musiker vor. Alles ihre Brüder“, er lachte auf, „und ich dachte, gut, dann wäre das mit der Familie schon mal geklärt“.

Sie stammten aus der DDR, waren vor ’89 in den Westen gekommen, hatten Einiges durchgemacht. Im Brotberuf war sie Krankenschwester geworden, und in der Freizeit trat sie mit ihrer Brüderband auf. Freiheit sei für Doreen das Wichtigste. Er wäre gerne mit ihr zusammengezogen.

„Tja“, sagt Jon und sieht zu den Propyläen hinüber, wo sich eine Touristen-Gruppe unter Schirmen aneinanderdrängt. Salome folgt seinem Blick.

„Was ist?“, fragt Jon.

Auch andere Mütter haben schöne Söhne.

Salome fasst sich an die Stirn.

Das Gesicht ihrer Mutter schaukelt auf sie zu. Vor ihrem Tod waren sie oft hier gewesen, im Museum, sie hatten danach Kuchen gegessen. Und das Thema Hannes vermieden.

Kochen, das ja. Kochen kann er, Schätzchen.

Wie konnte sie nur glauben, sie könnte an diesem Ort wie ein normaler Mensch umherspazieren, sich niederlassen, Kaffee trinken, einfach so?

Salomes Herz schlägt schneller, sie weiß, wo das enden wird.

Murmelt etwas, will aufstehen.

Und sieht Hannes da draußen, umringt von Leuten, die ihm zuhören. Wie oft hatte sie ihn in den ersten Jahren begleitet, als er neben dem Medizinstudium Stadtführungen anbot.

Jüdisches Leben in München, Räterepublik, Arcisstraße und Königsplatz – Von der Bücherverbrennung zur Musikhochschule, Grete Weil, Oskar Maria Graf…

Jedes seiner Worte wurde verstanden, auch wenn man am Rand der Gruppe stand, selbst das Rumpeln des Verkehrs hatte sie abgefedert, seine gutturale Stimme, die alle mitnahm, in seinen Bann zog. Sie sieht den rötlichbraunen Haarschopf hüpfen, feinstachlig, ihre Handflächen brennen. Hannes’ gelassene Kompetenz, wenn er bei jeder noch so blöden Frage lächelte.

Das war er! Das war er doch! Nicht dein Phantom, Ma.

„Alles in Ordnung?“, fragt Jon.

Und wer hat ihm all das nahegebracht? Der Heilige Geist? Oder wer?

Salome sieht sich als Mädchen lesend in der elterlichen Wohnung und spürt die Verlegenheit, wenn Kinder sie besuchten und fragten, warum sie in einer Bibliothek wohne, sie sieht sich als Erwachsene Unmengen von Kisten auspacken, Kisten voller Bücher, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte, nachdem diese in eine kleine Wohnung gezogen war.

Ach, Ma…

Die Wände ringsherum kommen näher. Und von oben die Decke, das ist am schlimmsten. Salome schließt die Augen, was aber, sie weiß es, gar nichts helfen wird. Beim Versuch, sich endlich von diesem Stuhl hochzustemmen, treibt aus ihrem Magen, der ein Krater geworden ist, etwas wie Lava, schießt nach allen Seiten, glühendes Geprassel bis unter die Schädeldecke, ins Gesicht, die Fingerkuppen, Fußspitzen, hinein in jede schockheiße Zelle.

Hannes ist nach Berlin gezogen.

„Zahlen, bitte.“

Zu ihr.

Do – reen.

Jon legt Geld auf den Tisch. Fällt sie in Ohnmacht?

Er stützt sie. Jetzt ist ihr Gesicht eindeutig zu rot, sie atmet schwer, wirkt wie unter Drogen.

Die Leute am Nebentisch –

Salome reißt sich los mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, eilt zur Tür, jemand kommt soeben herein, sie ist draußen.

Nur weg hier, wegwegweg. Nach den ersten Schritten beschleunigt sie, fällt nicht um, kann sich aufrecht halten. Weiter, nicht stehen bleiben, gehen, laufen, wenn sie stehen bleibt, gibt es keine Garantie. Die Augustenstraße überqueren, die Abgasluft wegatmen, diese ganze verpestete Luft. Sie wird nicht versteinern, diesmal nicht. Nichts mehr bewegen können, eine Statue sein, festgeschraubt am Asphalt –

Und dann die Blicke und Fragen, kann man Ihnen helfen, das inwendige Gebrüll NEINMIRISTNICHTZUHELFEN, nicht nach hinten sehen, bewegen, bewegen, solange es geht, auch wenn sie jetzt keucht, weiterweiterweiter –

Plötzlich ist er neben ihr, muss schnell gelaufen sein.

In der Hand den Mantel ihrer Mutter.

Jons Atem ist normal, ein durchtrainierter Mensch, während sie alles Mögliche ausstößt, aus jeder Pore, Panik und Scham.

*

Später wird sie sich nur erinnern, wie er „Alles klar, ich bringe dich nach Hause“ sagte und den Arm hob, als er an der Kreuzung ein Taxi sah.

Ihr beim Einsteigen half, sich nach hinten zu ihr setzte und zum Fahrer meinte, er solle losfahren, gleich wisse er die Adresse.

„Nimrodstraße 3“, hüstelte Salome.

Und wie sie es folgerichtig und grotesk zugleich fand, dass sie jener, zu dessen Frau ihr Mann gezogen war, nach Hause brachte.

Dorthin, wo sie lächerlicherweise gedacht hatte, gemeinsam alt zu werden, in „heiterer Würde“, wie sie es immer bezeichnet hatten, sie und Hannes, der „Ihrige“, wie man in der Gegend sagen würde, aus der er kam.

*

„Wer…“, fragt Jon, als sie sich gegenübersitzen und die Tablette, die Salome geschluckt hat, wirkt, „…ist Herr Nimrod?“

Sie lacht: „Ja, der Herr Nimrod. Erstes Sinnbild für Überheblichkeit. Laut Bibel. Gründer von Babylon und Ninive, Erbauer des Turms von Babel. Und angeblich der Mann von Semiramis.“

„Oh“, sagt Jon, streicht sich über den Schädel und grinst, „ehrlich gestanden…“

„Das ist die mit dem Weltwunder, den hängenden Gärten… und vermutlich hat sie ihn getötet.“

Jon schmunzelt: „Interessante Straße…“

Ja, denkt Salome. Das fand Hannes auch, als sie hierherzogen. Und dass einige Leute in der Stadtverwaltung offenbar über einen subtilen Humor verfügten, als sie eine Straße mit fünf Häusern, die etwa dreißig Meter lang und fünf Meter breit ist, nach jemandem benannten, der als „der Erste“ gilt, „der Macht gewann auf Erden“.

Ein Jäger, Eroberer, Schätzchen, ein Tyrann.

Sie sitzen am Küchentisch. Das Wohnzimmer mit seiner Sitzlandschaft war Salome beim Eintreten zu intim erschienen und die anderen Zimmer zu unaufgeräumt, sodass sie Jon sofort ins Unverfänglichste gelotst hatte.

Er hatte sich kurz umgesehen, Röntgenblicke, als brauche er nur den Flur und einen Raum, um sich zu orientieren.

„Darf ich…?“, fragt er nun und steht auf, sie deutet nach draußen.

Geh endlich weg, Ma.

Als er von der Toilette wiederkommt, schließt Salome soeben die Kühlschranktür, hat den Wein herausgenommen.

Er betrachtet das Foto mit den beiden Jungs, „Unsere Neffen“, sagt Salome, „naja, Hannes’ Neffen zweiten Grades… wir haben…“, sie dreht sich um, „… ich habe sie… lange nicht mehr gesehen“, Jons Blick schweift über die Magnete, während sie mit dem Rücken zu ihm die Flasche bearbeitet. Nur das Quietschen des Korkens ist zu hören, denn es gibt nichts zu sagen angesichts dieser auf Bahnhöfen, Flughäfen, Kiosken, Flohmärkten weltweit gekauften buntschreienden Mitbringsel von vergangenen, sicher glücklichen Reisen.

Plopp. Salome wendet sich um, mit Flasche und Korkenzieher in der Hand. Es war Hannes gewesen, der ihr die Nimrodstraße erklärt hatte.

Nicht du, Ma.

Es gab wenig, was er nicht wusste.

Pah. Dir konnte er das Wasser nicht reichen.

Hör auf, Ma.

„Er will“, Salome holt tief Luft und nimmt zwei Gläser aus dem Schrank, „dass wir… wir die Wohnung verkaufen“.

Sie schenkt ein, sieht ihren Gast nicht an, als sie ihm das Glas reicht.

Sehr still ist die Küche, nichts rührt sich.

„Sie… sie gehört uns beiden …“, fügt sie hinzu, „Prost“.

„Salute“, Jon löst sich aus seiner Starre, hebt das Glas, betrachtet dessen lichtes Inneres.

Dieses Problem hat er nicht, denkt Salome, schön für ihn.

Sie deutet zum Tisch, Jon nickt, sie setzen sich.

Ich habe es immer gewusst, immer. Unglück wird er dir bringen, Unglück.

„Wirst du hoffentlich gut beraten?“ Nun sucht Jon ihren Blick.

„Ja…“, sie zögert, „nun…“

Weiß er das schon? Sie beißt sich auf die Lippen.

Er sieht sie fragend an, und sie sagt, als wolle sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen:

„Hanneswillsichscheidenlassen.“

Jon betrachtet sie regungslos.

„Er sagte es nicht, aber… aber als ich ihn beim letzten Mal fragte …“

Salome fixiert die Tischkante, streicht mit einer Handfläche darüber.

„Was denn?“ Jon beugt sich vor, mit verschränkten Armen.

„Okay. Als ich ihn fragte, ob das bedeute, dass er wieder heiraten wolle – und ich Idiotin war sicher, dass er Nein sagen würde – antwortete er nicht.“

Sie fächelt sich Luft zu, gegen die plötzlich aufsteigende Hitze, die, sie weiß es, ihren Hals, ihre Wangen rötet.

Jon wartet. Er ist es gewöhnt zu warten.

Salome schließt die Augen, gibt sich einen Ruck, öffnet sie:

„Hannes bekam nur einen glasigen Blick. Und als er erkannte, was das bei mir bewirkte, schüttelte er den Kopf, er sah weg, und ich… ach, es war so demütigend, ich verachtete ihn so, nie hätte ich gedacht, dass ich ihn so verachten könnte, ein schreckliches Gefühl, ich wollte dieses Gefühl in mir ersticken… es war alles so… so erbärmlich…“

Sie ist nahe dran zu weinen, schluckt. Genug geweint, es ist genug.

Nicht nur Jons Gesicht, sein gesamter Schädel: Versteinerung, Gipsabdruck, Totenmaske –

„Tut mir leid“, flüstert Salome.

Hab ich’s nicht gesagt, Schätzchen?

Immer noch treten seine Kieferknochen scharf hervor. Aber nun kommt Bewegung in ihn, er setzt das Glas an den Mund, trinkt einen kleinen Schluck, stellt es am Tisch ab. Sagt sarkastisch:

„Das Leben ist immer wieder voller Überraschungen, nicht wahr?“

Sie blickt aus dem Fenster, über die schmale Nimrodstraße hinweg auf das gegenüberliegende dunkle Gebäude, die Kindertagesstätte.

Eine flüchtige Erinnerung steigt auf: Hannes’ Rücken am Fenster, sichtbar durch die halb angelehnte Tür, wenn vom Haus drüben Lachen, Weinen, Geschrei und Mahnworte oder Kurzbefehle herüberschwappten.

„Ja“, murmelt Salome, „Überraschungen…“

Einige Male hatte sie ihn auch nachts vor diesem Fenster gesehen, als alles still gewesen war und lichtlos, sie war dann ins Schlafzimmer zurückgeschlichen und irgendwann doch eingeschlafen.

Ihr Blick kehrt zu Jon zurück, taucht in seinen, der sie mit einer merkwürdig kühlen Wachheit durchdringt. Als könnte er etwas sehen, was tief in ihr verborgen ist, er dreht den Kopf, sie starrt auf ihre Hände, verwirrt, ohne Atem.

Wie ist das möglich! Sie fühlt sich aufgerissen, so, als habe sein bohrender Blick die Tür zu einem geheimen Raum aufgestoßen, der nur ihr und Hannes gehört, ein Raum, in dem eine Verkündigung hockt, eine Entscheidung, eine Übereinkunft. Etwas für immer.

Ewig und immer… ha!

„Ziemlich stickig hier, nicht wahr“, lächelt Salome, wartet keine Reaktion ab, sondern geht zum Fenster und kippt es.

Doch die kühle Luft kann nicht verhindern, dass sie nun auch daran denken muss:

An den Traum, den sie seit Jahren träumt.

In dem es ein Kind gibt zwischen Hannes und ihr.

Im Traum sieht sie weder das Kind noch ihn, aber sie weiß, dass sie zu dritt durch eine etwas neblige Landschaft gehen und fühlt, wie sich eine weiche kleine Hand in ihre schiebt. Und träumend weiß sie, dass Hannes auf der anderen Seite soeben dasselbe erlebt. Ein Dahingleiten in einer eigenen Zeitrechnung, ein schwereloses Existieren in einem Universum, das osmotisch mit der übrigen Welt verbunden ist, aber Regeln folgt, die nur sie kennen, Mutter, Vater, Kind.

Im nächsten Moment Bodenlosigkeit, Fallen, panisches Umsichschlagen.

Wenn Hannes da war, fand sie sich in seinen Armen, Stirn an Stirn, sie schwitzend, mit nassen Wangen, er „Istschongut, war nur der Traum, alles gut“ murmelnd.

Salome setzt sich wieder.

Jaulen und Fauchen sind von draußen zu hören.

Hatte er nicht auch einmal gemurmelt, entnervt: „Was… wieder dein Traum? Lass mich schlafen …“, und sich umgedreht?

„Die Nachbarskatzen“, sagt sie und hätte nichts dagegen, das Thema auf sie zu lenken, tierische Kampfstile zu besprechen.

Jon aber nickt nur und streicht mit dem Zeigefinger am Glas, in dem noch ein Rest Weißwein schimmert, hinauf und hinunter.

„Wie hast du den Anschlag erlebt?“

Salome hört zu atmen auf.

„Äh…“, sagt Jon, „… entschuldige“.

Sie steht erneut auf, geht auf den knarzenden Dielen zum Kühlschrank.

Weiß er denn nicht, dass er damit ins Zentrum trifft?

Mit einem Ruck öffnet sie die Tür, ihr Gesicht leuchtet auf, sie nimmt eine Wasserflasche heraus.

Dass seit jenem Anschlag, Amoklauf, Hassverbrechen –

Natürlich weiß er es.

Weiß von jenem Freitag, diesem warmen bewölkten Julifreitag im vorigen Jahr, an dem kein heiliger Abend stattfinden konnte, kein gemeinsames Kochen und Essen, kein Kerzenlicht, weil Hannes schon mittags nach Berlin zu einem seiner Humangenetik-Kongresse geflogen war und sie tagsüber Termine gehabt und dann in die Klinik gemusst hatte, zum Bereitschaftsdienst.

Während sie sich schließlich für die Anästhesie entschieden hatte, war er mit seinen vielfältigen Interessen und nach längerem Hin und Her Genetiker geworden.

Ein Präventivmediziner, der Genprofile erstellt. Der Menschen erläutert, welche Enzyme sich bei ihnen anoder abschalten, welche Medikamente für sie richtig oder falsch sind, welche Risikoallele sie tragen, – „die Leute rennen mir die Bude ein“, lachte Hannes manchmal abends beim Zubereiten des Essens, „Schlomo, du glaubst es nicht“.

Schlomo.

Nie wieder würde sie jemand Schlomo nennen.

*

Ein Zettel mit einem gemalten schwarzen Herz vor der himmelblauen Tasse hatte sie am Küchentisch erwartet, als sie im Morgengrauen damals von der Klinik nach Hause gekommen war. Sie hatte das Papier an sich gedrückt und die Tasse abgewaschen und Wasser aus ihr getrunken. Sie war so durstig gewesen, dass sie die Tasse mehrmals nachgefüllt hatte.

Danach war sie ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.

Die ganze Nacht davor hatte sie ruhig und seltsam gefasst verbracht, trotz des unaufhörlichen Sirenengeheuls und Hubschrauberlärms in der gesamten Stadt, der Bilder, Videos und Meldungen.

Tote, Verletzte vor und in einem Einkaufszentrum, unweit der Klinik.

Salome mochte es, dort einzukaufen. Sie kannte jeden Meter Asphalt zwischen dem Restaurant, wo die ersten, offenbar Jugendliche, erschossen worden waren, und den weiteren Gebäuden.

„Was… dort? Dort gehst du hin? Ich weiß nicht… Mir gefällt der Publikumsverkehr da nicht.“

Salome hatte die Stimme einer ihrer Kolleginnen im Ohr, einer Oberärztin.

Was meinte die? Bei den nächsten Einkäufen hatte sie begonnen, die Leute zu beobachten. Ja, es gab offensichtlich viele, deren Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern gekommen waren.

Salome hatte sich darüber nie Gedanken gemacht. Das Herablassende der Kollegin aber war wie Gift in sie hineingeträufelt, hatte ihre Wahrnehmung verändert. Sie wünschte sich ihren früheren Blick zurück, der Menschen im Fokus gehabt hatte.

Nichts als Menschen.

Der Klinikchef hatte die Belegschaft zusammengerufen und die unübersichtliche Lage dargelegt. Man sei in ständigem Kontakt mit verantwortlichen Stellen. Oberste Maxime: Ruhe bewahren.

Überall bleiche Gesichter, blinkende Displays in den Fluren und Schwesternzimmern, den Besprechungsräumen und der Cafeteria, die plötzlich zum Treffpunkt wurde, weil die beiden Angestellten wie alle anderen nicht nach Hause konnten.

Als die Nachricht von mehreren flüchtigen Attentätern kam, wurden alle Eingänge der Klinik verriegelt.

Blickte man aus den Fenstern des Krankenhauses, sah man leere Straßen. Kein öffentliches Verkehrsmittel war mehr in Betrieb. Keine Tram, kein Bus, und, so die Meldungen, auch keine S- und U-Bahn mehr.

Kein Taxi durfte jemanden mitnehmen.

Dann die nächste Nachricht: Schüsse an mehreren Stellen im Zentrum der Stadt. Weit weg vom ersten Ort des Verbrechens.

Salome hatte den Mundschutz hinter den Ohren befestigt und den Raum betreten, in dem sich ein alter Mann soeben in der Aufwachphase befand. Ein Routine-Notfall, Herzinfarkt. Das OP-Team war auseinandergegangen, Salome und Slava, die Anästhesieschwester, waren für die Nachsorge zuständig. Das Monitoring hatte keine Auffälligkeiten ergeben, die Schutzreflexe des Patienten würden wohl zufriedenstellend ausfallen.

Am Rande hatte sie mitbekommen, wie die Schwestern und Pfleger die Leute in den Betten zu beruhigen versuchten.

„Hier sind Sie sicher.“

Die eilig vorbereiteten OP-Säle und zusätzlichen Krankenzimmer aber waren leer geblieben. Nur eine Frau, in der allgemeinen Panik aus dem Fenster eines Lokals im Zentrum der Stadt gesprungen, wurde am späteren Abend mit einem Armbruch eingeliefert.

„Nun also auch wir.“

Slava hatte dies ohne aufzusehen beim Präparieren des Katheters festgestellt, kurz bevor der nächste ungeplante Kaiserschnitt in den OP geschoben wurde.

„Wo ist mein Mann?“, stieß die Schwangere nach einer Wehe hervor und krallte ihre Fingernägel in Salomes Unterarm, „Ich erreich’ meinen Mann nicht“, und Salome befreite sich sanft und antwortete, „Ganz ruhig, schön atmen, beruhigen Sie sich –“

Die dünne Nadel in die Lendenwirbelsäule der Frau zu stechen, um ihr Hirnwasser zu erreichen, war ein schwierigeres Unterfangen als sonst, der Rücken zuckte unaufhörlich vom Schluchzen der Frau. Erst als die Hebamme ihr versprach, den Mann ausfindig zu machen, ließ sie sich in die Seitenposition bringen und Salome konnte die Spinalanästhesie durchführen.

Das Baby kam ohne den Vater zur Welt. Die Mutter sah das Kind mit aufgerissenen Augen an, als man es ihr zeigte, und Salome gab ihr schließlich ein mildes Beruhigungsmittel.

Sie konnte sich später nicht mehr erinnern, ob sie Slava richtig verstanden und diese nicht gesagt hatte:

„Nun also auch hier.“

Es war die Nacht der knappen Sätze gewesen, der mechanischen Bewegungsabläufe, des Schlafwandelns in einer Hyperrealität.

Und bei jedem Handgriff, den sie ausgeführt hatte, bei jeder neuen Information, die zu ihr und den anderen gedrungen war, hatte sie die Gewissheit gestärkt:

Hannes ist sicher.

Er war in Berlin, er würde nach dem Kongress zurückkehren, sie würde ihn vom Flughafen abholen und später in seinen Armen aufwachen und die Szenen mit ihm durchgehen, in denen sie Menschen aus Fenstern fallen oder Straßen entlangrennen gesehen hatte, und die Berichte mit ihm gemeinsam verfolgen von geisterhaft leeren Bahnstationen, Straßen und Plätzen, Schilderungen von fliegenden Stühlen in Lokalen und Brauhäusern, von zerbrochenen Tellern und Gläsern und Leuten, die über Weichteile, die stöhnten, getrampelt waren, irgendeinem Ausgang zu.

Er wäre wieder bei ihr, überarbeitet und unendlich froh.

Sie würden hören, dass der jugendliche Attentäter sich seine Opfer gezielt ausgesucht hatte. Vorwiegend junge Menschen, die nichtdeutsch aussahen.

Die aussahen wie er.

Hannes würde den Kopf schütteln und hervorstoßen:

„Was für ein Wahn. Was für ein abartiger Wahn. Es gibt keine Rassen. Das sind Konstrukte! Das muss endlich in die Schulen! Es gibt genetisch keine Rassen!“

Sie würden sich umarmen, fest. Und Salome würde ihm von einem Augenzeugenbericht erzählen, der sich nicht mehr löschen ließ in ihrem Gehirn, in leisen, stockenden Worten, die wirkten, als wäre sie dabei gewesen in diesen Minuten, in denen ein sterbender Junge am Gehweg vor dem Einkaufszentrum liegt und ein Mann, der in der Panik, im Schreien rundherum zu ihm kriecht, über den Asphalt, im Schutz der Hecken – und ganz nah, Aug in Aug, fragt der Junge den Unbekannten: „Warum? Warum muss ich sterben?“, und der Mann flüstert mit all der Liebe, die er zur Verfügung hat:

„Dubistnichtallein. Ichbinbeidir. Dubistnichtallein…“

*

„Ich gehe manchmal dorthin“, sagt Salome, „und stelle mich in das Denkmal. Kennst du es?“

„Nein.“

„Ein Gingkobaum wird von einer Art offenem Ring umschlossen. Im Inneren des Ringes sind die Porträts der… der… Getöteten angebracht. Schwarz-Weiß-Bilder. In einer milchigen Auflösung.“

Sie stockt.

„Wären es normal scharfe Bilder, könnte man meinen, sie lebten noch. Aber so… das Milchige, Graue zeigt das Unwiederbringliche… den unumstößlichen Verlust…“

Salome wendet sich ab.

Jon starrt auf sein Glas.

Draußen ist plötzlich wüstes Kreischen und Fauchen zu hören, Kampfgetümmel.

„Jetzt reicht’s aber“, Salome steht auf und schließt das Fenster.

„Du magst das Wort Opfer nicht, richtig?“, sagt er in ihren Rücken hinein.

„Richtig.“

Sie dreht sich um und kommt zurück zum Tisch, setzt sich, schlägt die ockerfarbenen Hosenbeine übereinander.

„Und“, fragt sie ein klein wenig angriffslustig, „wie hast du diese Nacht erlebt?“

Jon holt tief Luft.

Doreen hatte ihn noch angerufen nachmittags, sie müsse abends zu diesem Kongress, sie habe eigentlich keine Lust, könne man nichts machen, gehöre zum Job, mach dir ’nen schönen Abend, man sieht sich.

Er sah sie dann etliche Tage nicht, was nicht ungewöhnlich war, sie telefonierten und sprachen über den Anschlag und wie schrecklich –, kurze nichtssagende Nachrichten mit vielen Bildchen dazu folgten, bin müde, du verstehst schon.

Er musste beruflich weg für eine Woche, und als er wiederkam und endlich ihre Stimme hörte, sagte sie, sie brauche eine Auszeit.

„Ehrlicher“, sagt Salome kühl, „als er war sie in jedem Fall“.

In jener Nacht, in der sie ihn in Sicherheit in einem Berliner Hotel geglaubt hatte, war Hannes schon bei ihr, Doreen, in ihrer Wohnung gewesen. Er habe sein Handy nicht gefunden, als er schlafen gegangen sei, hatte er Salome tags darauf angelogen.

Ihre Versuche damals, ihn von der Klinik aus zu erreichen, waren erfolglos geblieben, sie hatte mehrmals MachdirkeineSorgen esgehtmirgut getippt und eine Sonne geschickt. Natürlich schlief er, hatte sie sich gesagt, möglich, dass die Handys alle ausgeschaltet gewesen waren abends, beim Kongress, Empfang, wasauchimmer, dass niemand von den Vorgängen im Süden des Landes informiert worden war, aber eigentlich, und das war ein Unruheherd in einem entfernten Winkel ihres Denkens gewesen, konnte das nicht sein, es war doch auf allen Kanälen, der Ausnahmezustand einer Millionenstadt, in der Menschen Unbekannten, die panisch umherirrten, egal ob Einheimischen oder Leuten aus anderen Ländern, ihre Haustüren öffneten, Kommt rein, schnell, hier seid ihr sicher, alles verriegelten, während viele auf den Bahnhöfen außerhalb der Stadt festsaßen, andere stundenlang in Garagen hockten, Büros, Supermärkten, in Kühlhäusern, Kellern, sich zusammenkauerten in den Geschäftspassagen in der Innenstadt. Hannes war zurückgekommen am nächsten Tag, sie hatte sofort seinen rotbraunen Schopf zwischen den Leuten, die durch die Sperre am Flughafen gingen, erkannt, seinen besorgten, flattrigen Blick, war in seine Arme gestürzt, „Naaa“, hatte er, an sie gedrückt, gesagt und sich geräuspert.

Und wie sie es sich gewünscht, wie sie es erwartet hatte, war er mit ihr die Ereignisse durchgegangen, hatte alles mit ihr angesehen, diskutiert, aufgearbeitet, sie getröstet und bekocht. Sie hatten Freunde und Freundinnen eingeladen in den Wochen danach, zum Essen und Trinken und Reden über jene Nacht, sie waren beschäftigt gewesen, viel Arbeit und Aufregung, „gut“, hatte er auf ihre Frage nach dem Kongress in Berlin gemeint, „das Übliche, du weißt ja“.

Und dann waren noch einige Anekdoten hinzugekommen von Leuten, die Salome auch kannte und mochte oder weniger mochte und von Erkenntnissen, die Neues versprachen, wie immer.

„Nichts“, sagt Salome bitter, „nichts war ihm anzumerken…“

„Ja, das ist bei vielen Tätern… äh…“, Jon verstummt.

Sie lehnt sich zurück, verknotet unterm Tisch ihre Finger, lächelt dünn.

Was soll das hier? Sinnlos und vergeblich. Alles sinnlos und vergeblich.

Was will sie von diesem Fremden? Wie kann sie sich nur so hinreißen lassen und so vieles offenbaren?

Es war falsch, mit ihm hierher, nach Hause, zu kommen. Falsch, auch wenn die Pharmaindustrie ihr wieder einmal ermöglicht, es auszuhalten, dass jemand keine Ahnung hat, was sie fühlt.

So war’s immer, Schätzchen.

Jaja.

Warum hatte sie nicht bemerkt, dass sie in einem Gespinst von Verrat lebte?

Jon lächelt sie an, ein wenig unsicher, Salome presst die Lippen aufeinander, schluckt, will den Ekel nicht hochkommen lassen, dieses Gebräu – diese Selbstbeschädigung, Ohnmacht, sie will ihr altes Leben zurückhaben, verdammtnochmal, das Leben, in dem alles sicher schien im Rhythmus von Arbeiten und Leben und Planen für die Zukunft, von Sabbat zu Sabbat. „Halthalthalt“, hört sie ihren Therapeuten (bildet sie sich das ein oder hat er das tatsächlich gesagt?), „steigen Sie mal aus Ihrer Opferrolle aus“.

„Was macht er – er – als Genetiker eigentlich genau?“, fragt Jon nun.

Offenbar ist auch ihm unbehaglich, den Namen auszusprechen. Hannes.

Das stimmt sie versöhnlich, obwohl sie wenig Bedürfnis hat, sein Berufsbild zu erklären –

Jon lächelt: „Man kann ja schon so viel erkennen. Würdest du alles wissen wollen?“

„Du meinst sicher“, sagt Salome, „die Frage, ob man Gene trägt wie… Brustkrebs beispielsweise oder Alzheimer…“

„Naja, zum Beispiel…“

Wie oft war es in den letzten Jahren genau darum gegangen, hier an diesem Tisch. Sobald einige Leute, nahe oder auch nicht so nahe, in dieser Küche Platz genommen hatten, war es immer nur eine Frage der Zeit gewesen, wann irgendjemand zwischen Suppe und Dessert seinen Blick auf Hannes gerichtet und nach den neuesten Erkenntnissen gefragt hatte.

Und wie oft war die Tischgesellschaft einig in ihrer Gespaltenheit auseinandergegangen, manchmal sogar wütend, sodass Salome schon begonnen hatte, Ablenkungsstrategien zu entwickeln, jedes Mal munter neue Themen in die Runde geworfen hatte, von denen sie ähnliche Brisanz voraussetzte, aber mit weniger Erregungspotenzial. Ihr Erfolg allerdings war mäßig geblieben.

Der Blick in die eigene genetische Struktur war so verlockend wie unheimlich und wurde immer wieder zwischen den Polen – „Also, ich möchte nicht wissen, ob ich Alzheimer bekomme“ und „Aber wenn man einer heilbaren Krankheit vorbeugen kann“ – verhandelt.

Hannes war in der Regel wortkarg geblieben in diesen Diskussionen, Salome wusste, dass er jeglichen Anschein von Eigeninteresse vermeiden wollte.

Offenbar konnte er vieles gut verbergen.

„Noch ist das alles ja sehr teuer“, sagt Salome, „eher was für Betuchte“, und erwartet, dass Jon sie nach ihrer Genanalyse fragt.

Aber er fragt nicht. Sie könnte ihm auch nichts sagen, weil es keine Analyse ihrer Gene gibt.

„Ich nehme mir einfach das Recht auf Nicht-Wissen“, hatte sie Hannes entgegengelächelt, und er: „Verstehe ich!“, erwidert, „Verstehe!“, und dann hatten sie nicht mehr davon gesprochen.

Salome steht auf, „entschuldige bitte“, und geht aus der Küche hinaus in den Flur, hinüber zum Bad. Im Spiegel sieht sie verschmierte Augenlider, sie wischt herum und zieht neue Linien.

Beim Zurückgehen streift sie im Flur versehentlich den Kamelhaarmantel, sie biegt um die Ecke und da sitzt sie, die Mutter, ein aufrechtes, zierliches Kraftpaket, schwarze Augen und Haare, zurückgebunden zu einem beachtlichen Knoten, glänzender Goldschmuck an Ohren und Hals, eine orientalische Königin mit kleinen faltigen Händen und rotem Nagellack, um deren Gelenke bei jeder Bewegung Goldreifen aneinanderklirren, Hannes ihr gegenüber, dazwischen Bekannte aus einem früheren Leben, ein fortgeschrittener fröhlicher Abend, und Hannes hat rotgeäderte Augen, wird entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung gesprächig, als jemand zu fragen beginnt, lässt sich zu den Vorzügen einer Genanalyse hinreißen – dass sie unter anderem aufzeige, welche Medikamente man vertrage, welche nicht, was bei bestimmten Operationen lebensentscheidend sein könnte – und dass man auch Erfreuliches erfahren könne.

„Das wäre?“, Mutter fragt mit spitzen Lippen.

„Na, zum Beispiel, sogenannte Langlebigkeitsgene…“

Das war natürlich dumm von ihm.

Ja, Ma.

Langlebigkeitsgene, pah. Haben die etwa irgendeinem von uns in Dachau geholfen? In Ravensbrück? Mauthausen?

Salome betritt die Küche, setzt sich, legt ihre Fingerspitzen an beide Schläfen.

„Es ist spät,“ räuspert sich Jon, „ich werde mich mal auf den Weg machen“.

„Wohin?“, fragt sie mit sinkenden Händen.

Er nennt ihr ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs, sie kennt es nicht.

Eine Woche nach dem Oktoberfest war es kein Problem gewesen ein Zimmer zu bekommen. Und in der Stille, die nun folgt, hören sie beide das Knurren, das direkt und unmissverständlich aus der Mitte seines Körpers kommt.

*

Nach Mitternacht fragt sie, ob er bleiben möchte.

Sie sieht Jon dabei gelassen an, so, als sei sie geübt darin, einem Mann am ersten Tag des Kennenlernens diese Frage zu stellen.

Er blickt ebenso zurück. Zwei Flaschen stehen zwischen ihnen am Tisch, Gläser, zwei Teller mit Pizzaresten.

Jon senkt den Kopf, streicht mit einer flachen, kräftigen Hand über seinen Kopf, Nacken.

Als er ihr zwei Stunden zuvor eingestand hungrig zu sein, berührte er sich ebenso. Einen Moment ertappte Salome sich bei der Frage, wie sich diese Haut, die Schädelknochen darunter anfühlen würden. Da kam sein Gesicht wieder zurück, verschmitzt.

Noch was müsse er beichten.

„Noch was?“

Salome leerte ihr Glas in einem Zug.

Mit Radikalen könne er. Er könne Wohnungen renovieren, am Auto herumbasteln, Räder reparieren, solche Sachen. Aber kochen könne er nur Würstchen. Und Tiefkühl-Pizza.

Salome lachte laut auf.

Eigenartig leicht fühlte sich alles an, wunderbar leicht und wohlig – Ach, herrlicher Wein! Danke, Pharmaindustrie mit deinen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Tranquilizern! Danke, Therapeut auf Urlaub! Erhol dich von mir! Was für ein lange nicht mehr erlebter Zustand, sie erhaschte im Spiegel gegenüber der Küche ihr Gesicht mit den rosigen Wangen und blitzenden Augen – war das tatsächlich sie?

Und dann stöberte sie im Kühlschrank und belegte einen Pizzateig mit Tomaten und Thunfisch und Käse, schob ihn in den vorgeheizten Ofen, und Jon versuchte, sich alles gut zu merken.

„Ja“, sagt er nun.

Salome bemüht sich, ihr Lächeln zurückzudrängen, steht etwas unsicher auf, „Hoppla!“, gummipuppenartig bewegt sie sich vorwärts und muss lachen darüber, sie knipst das Licht im Wohnzimmer an, holt schwankend Decke, Kissen und Bettwäsche.

„Warte“, er hilft ihr, beide kichern, das Sofa rumpelt, quietscht in den Scharnieren, als es ausgezogen wird.

Sie kichern noch mehr beim Bespannen der Liegefläche mit dem Laken, das störrisch von den Ecken wegspringt, „nanu“, prustet Salome, „wieso ist das auf einmal zu klein?“

„Achlassmalgehtschon“, flachst Jon zurück, jetzt reißt das Laken fast, als er es langzieht, aber es ist für sie keine Frage, es ist „zu heiß gewaschen, gibt’s doch nicht“, sie knautscht es zusammen, marschiert ins Schlafzimmer, wühlt im Schrank herum, sie kann ihm doch nicht den Platz neben sich im ehemaligen Ehebett anbieten, ach, da, da findet sie noch ganz hinten ein Geeignetes, Größeres, ist erleichtert – und zu ihrem Entsetzen irgendwie auch wieder nicht.

*

Mitten in der Nacht erträgt sie die Schlaflosigkeit nicht mehr. Sie hüpft aus dem Bett, als wäre es morgens, tänzelt auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer über die Dielen, öffnet unhörbar die Wohnzimmertür, er schnarcht.

Salome versteht sich selbst nicht, wird von etwas, das ihr den Verstand genommen hat, getrieben, lautlos bleibt sie vor der Bettkante stehen, verharrt Sekunden oder Minuten, setzt sich dann behutsam, schiebt sich so leicht wie möglich ins Bett, er schläft, tatsächlich, er schläft und schnarcht, sie beobachtet das scharfe Profil, den Arm, der aus dem T-Shirt ragt und locker seinen Kopf umrahmt, und sie sehnt diese vollkommene Entspannung herbei, die er verströmt, die Bewusstlosigkeit, von keinem Traum gestört, nichts vom Körper neben sich wissend, welcher am Rand der Bettfläche steif verharrt, um nicht an ihn zu stoßen.

Salome versagt sich den Wunsch, ihn zu berühren, obwohl ihre Handflächen schon die seidige Haut fühlen, das Harte, Feine, es ist ein innerer Kampf, die Arme an sich selbst gedrückt zu halten, die Hände ans eigene Fleisch zu pressen, sie liegt und lauscht seinen Lauten, die fremd sind, auch sein Geruch ist fremd, was macht sie hier, weg hier – sie bleibt liegen.

Will nicht zurück in ihr Bett, das nicht leer ist.

Seit Hannes in jener Nacht, in der sie „Klemmi“ zu ihm gesagt und gelacht hatte, aus dem Bett aufgesprungen war und in gepresstem Ton verkündet hatte, dass er ihr etwas sagen müsse, und sie nichts gesagt und zugehört und schließlich zu schreien begonnen und ihm Stunden später fassungslos zugesehen hatte, wie er seinen Koffer genommen und mit einem ihr unbekannten stockgeraden Rücken die Tür hinter sich geschlossen hatte, seit damals liegt die Mutter neben ihr.

Sie sehen einander an, aus dunklen Augen, beide seitlich hingestreckt, mit den Köpfen auf den Armen. Salome spürt unter ihrem Körper den Asphalt, den rauen Boden, sieht einen Zigarettenstummel zwischen ihnen, hat den durchdringend scharfen Geruch von Urin und Blut in der Nase, wie durch Watte dringen Schreie an ihr Ohr, Schüsse.

„Schätzchen“, sagt die Mutter, und Salome möchte ihr deuten, dass sie nicht so laut und frech sein solle, aber sie kann weder sprechen noch sich bewegen, „Schätzchen, wir haben keine Wahl, töte ihn“.

Und Salome weiß, dass die Mutter gleich sterben wird, sie könnte sie retten, sie ist Ärztin, sie könnte es, aber sie klebt am Asphalt und hat keine Sprache mehr. Und im Traum weiß Salome nicht, wen sie töten soll, wem dieser letzte Wunsch ihrer Mutter gilt, sie möchte schreien, natürlich kommt kein Laut aus ihr, aber sie braucht diese Information doch, wie soll sie diesen Auftrag ausführen, wenn sie den Namen nicht weiß – wen nur, um Himmels willen, soll sie töten??

Jon dreht sich seufzend auf die andere Seite, ist nun still, sie hält den Atem an, sieht im Zwielicht seinen Hals, die bleiche Schulter, den Rücken, der nun freiliegt, jetzt kann sie –, sie schafft es, sich aus ihrer starren Position zu lösen, vorsichtig, ganz vorsichtig gleitet sie aus dem Bett heraus, balanciert auf dem Parkett um die knarzenden Stellen herum, schleicht aus dem Raum.

In der Küche drückt sie den Lichtschalter.

Ihr Blick wandert über das schmutzige Geschirr im Abwaschbecken, die hellblaue Tasse darunter, das Foto mit den Jungs, die bunten Magnete auf dem summenden Kühlschrank. Auf der Anrichte liegt die silbrige Alufolie mit dem eingedrückten Blister und den verbliebenen Tabletten.

Sie geht zur alten Kredenz, dem Erbstück, das in einem Dachboden versteckt überlebt hat, öffnet den Unterschrank und betrachtet die Menora, die in ihrer Verbannung glänzt.

An die Schachtel neben der Menora hat sie lange nicht mehr gedacht. Sie hebt den Deckel auf, da sind sie, in Seidenpapier eingewickelt ruhen die schwarzen Schuhe. Salome befreit sie von der knisternden Hülle, schließt die Tür, richtet sich auf. Wischt die nackten Fußsohlen an den Waden ab und steigt in die genagelten Riemchen-Schuhe mit dem geschwungenen Absatz. Sofort fühlt sie ihre veränderte Körperspannung, das gereckte Kinn, Brust raus!, die ersten Schritte klacken auf dem Parkett, sie kichert. Wie gut sich ihre Hände die Drehungen gemerkt haben, die Arme die graziöse Luftzerteilung! Wie lange hat sie nicht mehr getanzt –

Und überhaupt: All die gutgemeinten Ratschläge von anderen – „Nimm dir doch eine kleinere Wohnung. Fang ganz von vorne an. Du wirst doch dauernd an ihn erinnert!“ – Sie zieht die Schuhe von den Füßen, drückt sie an sich. Mit dem feinen Ledergeruch aber atmet sie den Schmerz, der sie versengt, wieder ein, natürlich, wie sollte es auch anders sein, Hannes hatte so eine Jacke, ihre Arme fallen herab, ihre Brust hebt und senkt sich, die Schuhe drücken kalt durch den leichten Nachthemdstoff an ihre Schenkel, alles ist vergiftet rundherum, die Luft, die Gegenstände, allesallesalles – nein, Schluss jetzt, beruhige dich, los, geh schlafen.

Reiß dich zusammen.

An der Tür gähnt Salome, Tränen laufen über ihre Wangen, sie löscht das Licht.

Strafft in der Dunkelheit, der Stille erneut ihren Rücken.

Morgen.

Morgen wird sie sich hinsetzen und überlegen. Eine Strategie überlegen.

Diese Wohnung wird nicht aufgegeben.

Auf keinen Fall.

Nichts rührt sich, auch von der Straße dringt kein Laut herein.

Sie tappt blind über den Flur, öffnet die Schlafzimmertür und schleicht zum Bett. Stellt die Schuhe neben sich auf den Boden.

Salome ist nun so müde, dass sie es gerade schafft, unter die noch warme Decke zu kriechen und sie hochzuziehen.

Und in den wenigen Sekunden des Wegsinkens in den Schlaf hört sie nicht mehr, ob von der anderen Seite Gute Nacht, Schätzchen geflüstert oder ob es still bleiben wird.

Vom Lügen und vom Träumen

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