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So rot wie Blut

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Ich merkte es gleich beim Aufwachen: Die Luft schmeckte anders als gestern - kühl und klar und supersauber. Und die Geräusche, die von der Straße herauf in mein Zimmer drangen, klangen viel gedämpfter als sonst. Mein Fenster stand auf Kipp. Die Zeitschaltuhr hatte wie immer in den letzten drei Tagen dafür gesorgt, dass sich Punkt sechs mein Fenster, wie von Geisterhand bewegt, lautlos einen Spalt breit öffnete. Und auch dafür, dass das runde „Morgensonnelicht“ wie gewünscht warm und unaufdringlich über meiner Zimmertür glomm. (Ich sage dir: Auf unseren neuen Computer für House Keeping, Mums neueste Errungenschaft und vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für uns beide, war echt Verlass!)

Aber heute brauchte ich die Augen gar nicht aufzumachen, um meine künstliche Morgensonne zu sehen: Eben erklang nämlich aus den Boxen zu beiden Seiten der Tür leise mein Lieblingssong: „Paradise“ von „Lord Future“! Gleich die ersten Akkorde ließen vor meinem inneren Auge ein warmes, weiches Bananengelb herbeifließen. Herrlich! Ich kuschelte mich tiefer in meine Decke und lauschte auf die sanfte Flut aus gelben, grünen und himmelblauen Tönen... bis plötzlich ein grauvioletter Misston eine hässliche Schneise in meinen wundervollen Film schlug.

Natürlich! Von draußen her bahnte sich das Zischen der modernen Vakuumpumpe unserer Müllabfuhr durch den Fensterspalt. Wie jeden Donnerstag um diese Zeit schnaufte sie sich schwer durch die kleine Siedlung der Schusterstadt nördlich der Bahnlinie. Allerdings - ich konzentrierte mich auf das hässliche Geräusch - klang sogar ihr schmutziger Atem heute irgendwie feiner und weicher als sonst! Ich schlug die Augen auf; mein sonniges Paradies verflüchtigte sich. Ich reckte den Hals, um auf die Straße zu spähen. Dann ein Lachen der Verwunderung: überall Schnee! Das reale Paradies war weiß. Mein Herz hüpfte: Heute war ein ganz besonderer Tag!

Gleich darauf erfuhr meine Begeisterung einen Dämpfer: Bio-Test, erste Stunde!, schoss es mir durch den Kopf. Genetik. Hoffentlich fragte „der Findling“ nicht so penetrant genau! Ich griff nach meinem Handy: kurz das Network checken! „Ich brauch dich!“ Das war von Celine. Aber keine Nachricht von Lenny...

Der zweite Dämpfer kam, als ich im Bad meine leere Zahnpasta-Tube in dem kleinen silbernen Mülleimer versenken wollte: ein Schwangerschaftstest! Wie hypnotisiert glotzte ich auf das Anzeigefenster - und atmete gleich darauf auf: Ergebnis negativ! Ich erwischte mich beim Kopfschütteln: Was um Himmels Willen fiel meiner Mum bloß ein?

Der dritte Dämpfer kam, als ich eben mein Rad aus dem Carport holte. (Ja, Rad! Du hast richtig gehört: Ich fuhr immer noch ein stinknormales, uraltes Fahrrad. Und warum? Weil Mum mir noch immer kein E-Bike gekauft hatte. „Ist nicht drin“, hatte sie immer wieder gesagt, „bei dem wenigen Geld von deinem knickrigen Vater!“ Und mein Wochenend-Job in Pepes Tapas-Bar brachte es auch nicht!)

Jedenfalls rutschte mir da das antike Teil glatt auf dem Weg zur Straße unter dem Hintern weg: Holla! Fahrräder haben leider keine Spikes.

„Juli! Vorsicht! Brich dir nicht die Knochen, Kind!“

Das kam von der Haustür. Das konnte nur Mum sein!

„Alles perfekt!“, rief ich krächzend zurück, während ich mich aufrappelte. „Du weißt doch: Ich hab Knochen so hart wie Diamant!“

„Hast du auch dein Vollkornbrot?“

Mum war noch in ihrem babyblauen Bademantel, hatte wohl wieder Nachtschicht am Schreibtisch gehabt. Seit drei Monaten machte sie nebenberuflich diesen teuren Fernlehrgang; Ernährungsberaterin wollte sie werden. Aber noch war sie nur Drogeriefachverkäuferin. Seit dem Millennium hatte sie sich jedes Jahr einen neuen Arbeitsplatz erkämpfen müssen; denn eine Dromarktkette nach der anderen machte Pleite. Jetzt gab es in unserer Gegend nur noch zwei. Seitdem Mum studierte, trieb ihr Gesundheitsfimmel immer schlimmere Blüten: Im Haus hatte sie alles auf „Öko“ getrimmt; bei mir überwachte sie Zahnpflege und Ernährung, als ginge ich noch in den Kindergarten.

Jetzt stellte sie ihre Tasse mit dampfendem Kräutertee ab, fuchtelte wild mit den Armen herum und rief mir noch was hinterher! (Sie konnte so peinlich sein!) Ich verstand nur „langer Tag“ und „Denk an Omi!“ Und dann tauchte auch noch Sascha in der Haustür auf! Sascha war Mums neueste Eroberung - zehn Jahre jünger als sie und total in sie verknallt - und das schon seit drei Monaten. Sascha!

Sein Name hatte dasselbe Babyblau wie Mums Bademantel. Irgendwie schienen sie also zusammenzupassen. Sie hatte ihn im Fitness-Studio kennen gelernt. Er strotzte geradezu vor Testosteron und er schämte sich nicht, sie vor meinen Augen zu umarmen und abzuknutschen, wann immer es ihn gerade überfiel.

Ich stöhnte genervt; dabei gönne ich Mum durchaus das Umsorgtwerden. Dad hatte sich schließlich seit drei Jahren nicht mehr bei uns blicken lassen. Seitdem er damals Knall auf Fall ausgezogen war (ich höre ihn immer noch die Tür zuschlagen!), kamen nur noch seine monatlichen Schecks aus Heimberg: einer für Mum und mich und neuerdings einer für Omis sauteures Altenheim in Hamburg; zu meinem Geburtstag schickte er jedes Jahr pünktlich eine Mail.

Also riss ich mich zusammen. Ich holte tief Luft und rief angestrengt fröhlich zurück: „Alles klar, hab alles! Und Omi vergess‘ ich nicht!“

(Mein Pausenbrot hatte ich natürlich zu Hause gelassen, aber das musste Mum ja nicht wissen. Und an Omi würde ich erst am späten Nachmittag wieder denken, wenn ich in der Bahn saß und mich auf meinen Auftritt im Altenheim vorbereitete.)

Damit war ich endlich weg!

Der weiße Puderzucker ließ die Reifen meines Rades leise knirschen, aber rundherum hatte er alles sonst so hässlich Laute wie in weiche Watte gepackt. Ich genoss die frische, kühle Luft dieser weißen Winterwelt und atmete sie tief bis in meinen Mittelpunkt ein.

Als der kleine Supermarkt an der Ecke zur Schulstraße in mein Blickfeld rückte, war Schluss mit Idylle: Wie jeden Morgen hing eine dunkle, rumorende Traube von Schülern vor dem Eingangsbereich - wie ein Bienenschwarm vor dem Stock. Schon von Weitem erkannte ich Celine: Ihre Igelfrisur in Pink, perfekt gegelt wie immer, stach grell aus dem Schwarz der Schülerklamotten hervor. Gleich darauf wusste ich, dass es Celine nicht gut ging: Ihre Augen waren rot und verquollen. Das konnten auch die Gläser ihrer teuren Designer-Brille nicht verschleiern. „Wegen Bjarne?“

Celine nickte und schluchzte. „Der hat ’was mit dieser Neuen aus der b, dieser dürren Giraffe.“

„Oh“, antwortete ich möglichst mitfühlend und rollte vielsagend mit den Augen. Vertiefen wollte ich das Problem so kurz vor Unterrichtsbeginn lieber nicht: keine Chance auf Lösung so schnell! Erst am Wochenende hatte Celines Bjarne bei Pepe Tapas gegessen - in Begleitung einer Anderen: langhaarig und mit Gazellen-Beinen.

„Franzbrötchen!“, schlug ich vor. Die süßen Dinger helfen nämlich todsicher gegen Liebeskummer. Ich schob Celine in Richtung Eingang und spähte in den Laden: Das halbe Gym war schon drin, raffte hektisch den Proviant für einen langen, öden Schultag zusammen.

In der Luftschleuse mussten wir an ein paar Mädchen aus unserer Klasse vorbei. Die standen da wie aufgebrezelte Krähen in ihren neuesten Designer-Klamotten, bibbernd vor Kälte; denn schön geht nun mal vor praktisch. Jede war scheinbar in ihr Smartphone vertieft. Aber natürlich beobachteten sie uns; wahrscheinlich hatte ihr Chat gerade eben uns beide zum Thema. In ihren silbernen Astro-High-Heels, gestuften Miniröcken aus schwarzer Spitze, voluminösen Fallschirmspringerjacken aus hauchdünnem Silberlamee nahmen sie den neuesten Trend der NY Fashion Week vorweg und zeigten uns beiden, dass wir bestimmt nicht dazugehörten.

Margaux, die Hyäne, gab sich alle Mühe, dass Celine sehr wohl mitkriegte, dass man mal wieder über sie herzog: Ganz deutlich war ein höhnisches „Porky“ zu verstehen.

Dann kassierten wir einen Pfeilhagel giftiger Blicke. Celine zog den Kopf ein und hielt sich in meinem Windschatten. Ich aber segelte hocherhobenen Hauptes direkt an Margaux vorbei. Ich grinste schadenfroh; denn schließlich hatte ich gestern Mittag dafür gesorgt, dass sie zur Abwechslung mal hatte leiden müssen. (Ich hatte ihre Spaghetti Bolognese in der Mensa kurzerhand im Vorbeigehen mit einer gehörigen Portion Tabasco aufgepeppt. Puterrot war sie angelaufen, geheult hatte sie - und gejapst wie ein Fisch auf dem Trocknen!) Leider legt so eine Aktion eine Giftspritze wie Margaux höchstens für ein paar Stunden lahm! So eine erholt sich schnell! Margaux war bekannt dafür, dass sie keine Gelegenheit ausließ, Leute fertig zu machen: Mich nannte sie die „Möchtegern-Milano“ - wegen meiner Vorliebe für italienische Schuhe und Lenny mit der Stupsnase, dessen Vater mit Öko-Häusern für das Ferienzentrum in Olpenitz einen Flop gelandet hatte, nur verächtlich „den Greench“ - und das sogar, wenn Rektor Wiegand direkt daneben stand.

Während Celine im Back-Shop einkaufte, blieb ich in der Luftschleuse stehen. In der Kassenschlange entdeckte ich zwei Jungs aus unserer Klasse.

(Der Laden ist altmodisch, musst du wissen. Er hat keine Terminals zum Selber-Einscannen der Ware, sondern noch Omis an allen Verkaufstresen und an der einzigen Kasse: alle in gebügelten schweinchenrosa Kitteln mit Rüschen! Und die haben einfach alles! Und wenn ich mir vorstelle, dass meine Omi hier morgens an der Kasse säße - bei dem Gedanken muss ich jedes Mal schlucken.) Aidan aus unserer Klasse - unübersehbar mit seinem Kreuz wie ein Wrestler - wahrscheinlich hatte er wieder die halbe Nacht im Fitness-Club gepumpt, kam eben dran: Da rülpste er ungeniert und unüberhörbar, danach rollte er drei Dosen mit Power-Drink in Richtung Kassiererin. Die Omi zuckte so entsetzt zusammen, dass ihre rosa Rüschen zitterten. Hinter Aidan drängelte sich Marvin in die Schlange. Er wedelte auffällig und breit grinsend mit einer Flasche Ketchup: „...für die Pausen-Pommes...!“

Die Omi merkte nicht, dass Marvin gleichzeitig mit routiniertem Griff einen Flachmann in seiner Jackentasche verschwinden ließ.

Plötzlich rasten zwei E-Bikes von draußen an mir vorbei, schlitterten über die von Schneematsch nassen Fliesen. Kinder schrien, Bremsen quietschten. Ein Rad knallte scheppernd auf die Fliesen. Schriller Schmerz fuhr durch meine Zähne.

Ein strampelndes Etwas mit knallrotem Helm landete zu Celines Füßen, umklammerte ihre Beine. Der zweite Junge fuhr die beiden fast über den Haufen. Er stieg nicht vom Rad. Er nahm den Helm nicht ab.

„Kevin, du Opfer!“, zischte er bloß. Dann war er schon fast wieder raus aus dem Laden.

Ich packte ihn an der Jacke, versuchte ihn zu halten - vergeblich! Er riss sich los, jagte über meine sauteuren italienischen Stiefel und entschwand in der unschuldig weißen Winterwelt. Der zweite kalte Schauer dieses Morgens durchfuhr mich wie ein kalt glänzender, violetter Pfeil.

Celine und ihren kleinen Bruder im Schlepptau, schob ich mein Rad die letzten Meter zur Schule. Celine heulte, diesmal nicht wegen Bjarne, sondern wegen der Brille: Die war schrottreif. Kevin, das Gesicht puterrot vor Wut und Scham, brütete dumpf vor sich hin. Dann stellten wir die Räder ab und teilten unsere Franzbrötchen auf - warm und weich und mit Schokofüllung!

Vor dem Haupteingang war Stau: Mindestens fünfhundert Schüler wollten ’rein ins Gym, aber keiner durfte. Irgendwas war in der Pausenhalle los! Graues Gemurmel, immer lauter! Kleine Jungs schubsten und pöbelten. Die älteren hielten lässig ihre Fotohandys hoch: unverhoffte Schnäppchen für „TouTube“!

Ein beißender Geruch drang aus dem grauen Klotz in die kühle, klare Winterluft. Ich stieg auf meinen Rucksack und reckte den Hals.

„Der Baum brennt!“, rief jemand.

Drinnen war unser Hausmeister voll im Einsatz, ein Bär von einem Mann. Ein anderer hätte es in unserem Chaotenladen auch nicht ausgehalten! In voller Brandschutzmontur schwenkte er jetzt einen roten Schaumlöscher und brüllte zwischendurch neugierige Schüler zurück.

Schulfrei?!, schoss es mir durch den Kopf. Verschiebung des Testes?

Fehlanzeige! Als es gleich darauf zur ersten Stunde klingelte, dirigierte der Hausmeister ganz cool die gesamte Schülerschaft durch die Halle.

Vorbei an einem verkohlten Wrack von Nordmanntanne, die irgendjemand bestimmt absichtlich in Brand gesetzt hatte, schlichen wir alle irgendwie beklommen zu den Unterrichtsräumen. Celine presste sich ein Papiertaschentuch auf Nase und Mund. Ich hielt auf dem unteren Flur des Altbaus einfach die Luft an. Oben war es leider nicht besser: Der beißende Gestank nach verkokeltem Tannengrün und zusammengeschmolzenem Plastik-Baumschmuck war schneller als der Schülerstrom bis in den letzten Winkel des alten Gemäuers gezogen.

Wenigstens wurde oben im ersten Stock gleich die Tür zum Bio-Raum geöffnet. Als sie aufschwang, sprang mir dennoch für einen Moment das Graffito ins Auge: grottenschlecht, aus giftgrüner und roter Lackfarbe, boshaftes Abschiedsgeschenk des Schülers, der vor einer Woche geflogen war! Das Wort über seinem blutroten Tag sagte alles: „Grrr!“

„He, Julia!“ Fabian stupste mir ein wenig zu übermütig in die Seite. „Du kannst bestimmt alles, du wiederholst ja.“

„Was du so denkst!“, antwortete ich genervt. „Du weißt doch, dass ich zweimal gefehlt hab’. Frag Steffi, die war immer da.“

Wie kam er bloß darauf, dass ich den Stoff beherrschte, nur weil ich ihn zum zweiten Male durchnahm! Für mich war’s jetzt eigentlich auch das erste Mal. Als ich letztes Jahr in der zehnten war, hatte ich so gut wie gar nichts mitgekriegt. Damals war das nämlich mit Omi so richtig schlimm geworden: Da hatte sie selbst vom Brötchen holen nicht mehr zurück nach Hause gefunden und brauchte rund um die Uhr einen Aufpasser - mich!

„Ach, Steffi...“, murmelte Fabian, „die klebt immer mit ihrer Nase auf dem Papier.“

Natürlich, dachte ich. Steffi war schließlich jedes Mal hochkonzentriert bei der Arbeit, wenn ein Test anstand. Mit affenartiger Geschwindigkeit schrieb sie ihre perfekten Antworten runter, als würden sie ihr per MP3-Player direkt in Ohr und Hirn strömen. Die hatte ja auch eine todsichere Strategie gefunden, um bestmöglich durchzukommen, und die zog sie eiskalt durch! Ihr Vater verlangte Einser von ihr; da muss man sich was einfallen lassen!

Wir Mädchen wussten alle, wie sie das machte. Sie hatte uns auf einer Pyjama-Party zu Halloween feierlich in ihr Geheimnis eingeweiht. Kurz nach den Herbstferien hatte es Theresa dann auch probiert - beim Klügel in Latein und mit Steffis Hilfe natürlich. Der Erfolg war durchschlagend gewesen - so durchschlagend, dass sie es hinterher glatt mit der Angst zu tun bekommen hatte! Unseren Lateinlehrer hatte sie trotz der Eins nicht von ihrer Leistung überzeugen können. Er tippte nämlich auf Spickzettel und hatte sie seitdem erst so richtig auf dem Kieker.

Und so beneideten wir Mädchen Steffi um ihre Chuzpe und hielten dicht. Unsere Jungs hatten keine blasse Ahnung; die staunten jedes Mal nur von Neuem über Steffis phänomenales Gedächtnis und ihre Kombinationsgabe.

Fabian blieb trotzdem dicht an mir dran, der freie Stuhl neben mir war seiner. „Nimm Schriftgröße 14!“, raunte er mir zu.

Die Laptops auf unseren Tischen waren schon hochgefahren. Frau Dr. Kiesel stand an ihrem Pult. Sie grüßte knapp und kühl wie immer, dann ging sie die elektronische Klassenliste durch: Lennart, Karsten und Marvin fehlten.

„Ach ja, Lennart: Schulverweis. Der mit der Schmiererei auf der Tür...“, erinnerte sie sich rasch.

„Karsten und Marvin waren vorhin noch auf dem Hof“, meldete Tim auffallend hilfsbereit. „Soll ich...?“

Er sollte nicht. Die Kiesel wollte keine Zeit verlieren.

Für Nico, unseren ADHS-Kasper, war das nicht o.k.; er sprang auf, riss ein Fenster auf und beugte sich weit hinaus: „He, kommt rauf! Bio-Test!“

Die Kiesel schüttelte verständnislos den Kopf. „Fenster zu, Nico!“

Aber Nico hörte nicht; wie gebannt hing er weit aus dem Fenster.

Nach und nach reckten fast alle die Hälse - nur die Kiesel nicht. Da hatte Nico seine Worte wiedergefunden: „Aber da unten liegt einer, der rührt sich nicht! Und da ist alles voller Blut!“

Schülerblicke schossen hin und her. Der Raum hing voller Fragezeichen.

Endlich bewegte sich die Kiesel zum Fenster: ein unterkühlter Blick in den Hof , ein Kopfschütteln.

„Aber... wollen Sie nicht...?“, fragte Nico ungläubig.

„Der wird schon von allein heraufkommen“, meinte die Kiesel lässig. „Länger als zehn Minuten hält das sowieso keiner aus. Ist schließlich ziemlich kalt heute!“ Ungerührt klappte sie das Fenster direkt vor Nicos Nase zu. Dann gab sie vom Pult aus das Testformular frei. „Ihr habt genau 20 Minuten“, sagte sie.

Vor meinem inneren Augen polterten vier große Würfel aus Karton von einem Podest: einer schneeweiß, einer mausgrau, einer schwarz, einer blutrot.

Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren. Welche Typen von RNA gab es noch gleich?

Die Kiesel saß vorne am Pult und behielt uns alle mit ihrem Prüfblick im Visier. Fabian stieß er mich unter dem Tisch mit dem Fuß an und flüsterte: „Nummer 6: t-RNA oder m-RNA?“

Ich zog die Brauen hoch und sah von meinem Bildschirm auf; das war der erste Fehler. Mit der freien Hand den Pony aus der Stirn zu streichen und „Oh, M...ann“ zu murmeln, der zweite: Schon war der Test für mich beendet!

„Fräulein Kunstmann, Datei speichern, schließen und beenden!“

Ich verkniff mir jegliche Widerrede. Anderenfalls - das wusste ich - würde der Findling meinen Test gar nicht korrigieren, sondern gleich eiskalt mit „Sechs“ bewerten. So klappte Frau Doktor nur meinen Laptop zu und wies gleichzeitig Nico an, nochmals einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

„Der ist weg!“, rief Nico völlig entgeistert.

„Natürlich“, sagte die Kiesel ungerührt. „Was habt ihr denn gedacht? Morgen schreiben beide Schüler nach!“

Ich griff nach meinem Rucksack. „Darf ich mal zum Klo?“

Ein Nicken der Kiesel - und ich durfte endlich raus aus der Hochleistungsbox. Auf dem Korridor sprang der Bewegungsmelder an; kaltes Neonlicht ergoss sich über den blanken Boden. Meinen Rucksack über der Schulter, schlich ich an der 10b und 10c vorbei bis zu der Treppe, die in die Pausenhalle hinunterführt. Auf der obersten Stufe machte ich es mir bequem, soweit das möglich war: An das Geländer gelehnt, einen Stöpsel meines Players im linken Ohr, frühstückte ich erst einmal. Dass das Licht wieder ausging, störte mich nicht - im Gegenteil! Die Musik und mein süßes Franzbrötchen verbesserten langsam, aber sicher meine Stimmung. Es war fast wie Picknick im Grünen! Und als ich das zweite Brötchen halb aufgegessen hatte, begann ich die morgendliche Ruhe im Halbdunkel des Treppenhauses richtig zu genießen. Ich kramte mein Handy hervor und checkte in aller Ruhe meine neuen Eingänge: Lenny hatte sich per SMS gemeldet, vor einer halben Stunde, zweimal sogar, erstmals wieder nach zwei Wochen! Ob wir uns nicht zum Frühstück in der Stadt treffen könnten, im „Horizon II“, so gegen acht? Ob ich mir nicht ’mal einen freien Tag gönnen wolle? Einen „Tag zero“?

Typisch Lenny! War selber gerade geflogen, hatte Langeweile und wollte mich zum Schwänzen überreden! Und dann noch ins „Horizon II“, dem teuersten Laden der Stadt, Ableger dieser brandneuen, supercoolen Snackbar-Kette aus Heimberg! Guten Morgen, Größenwahn!

Ich zog den schmalen silbernen Freundschaftsring vom Finger und drehte ihn, um die Gravur entziffern zu können. Aber es war zu dunkel dafür. Egal! Ich wusste ja, was drin stand: Lenny & Juli - friends forever 1.8.18. Also steckte ich ihn wieder auf und tippte auf „Neue Nachricht“.

Da sprang unten, einen Stock tiefer, der Bewegungsmelder an. Sofort erfüllte grelles Neonlicht den Flur. Ich musste grinsen: bestimmt Marvin und Karsten, durchgefroren! Nichts mehr mit Ketchup!

Ich reckte den Hals - aber sie kamen nicht. Ich ahnte ein dumpfes „Plomp“: Das Licht ging wieder aus.

„Hi, Lenny“, tippte ich ins Handy, „schon ausgeschlafen?“

Unten wurde es jetzt wieder hell. Aber das registrierte ich nur am Rande; ich wollte meine SMS loswerden. Erst als ein schwarzer Schatten aus der Tür des Jungen-Klos schlüpfte und in Richtung Neubau huschte, sah ich kurz auf. Was war das? Ich zog den Ohrstöpsel heraus und lauschte: Eben fiel eine Zwischentür schmiegend-schmatzend ins Schloss. Das konnte nur die Tür zum Neubau sein! Da unten lagen die Klassenräume der Achten und die Lehrküche. Aber am Ende des Korridors gab es auch noch einen Zugang zum zweiten Treppenhaus, über das man nach oben zu den zehnten Klassen gelangte - und zu dem neuen gläsernen Übergang zu den Räumen der Oberstufe, unserem „Elfenbeinturm“!

Es war jetzt totenstill im Schulgebäude. Nur mein Herz schlug laut - und ungewöhnlich hart und schnell. „Tag zero“, schoss es mir durch den Kopf.

Als wie ein Peitschenknall der erste Schuss fiel, fuhr ich zusammen. Das Licht war noch an. Mein Handy knallte auf die steinernen Stufen der Treppe. Ich sprang auf. Für einen Moment wollte ich dem Teil hinterher, wollte schreien - aber dann schlug ich doch nur die Hand vor den Mund. Starr wie ein Eiszapfen verharrte ich auf der Treppenstufe. Gleich darauf konnte ich hören, dass Klassentüren aufflogen, dass aufgeregte Stimmen durch grell erleuchtete Flure hallten.

Dann fielen drei weitere Schüsse. Die Stimmen wurden schrill. Ein Mädchen schrie in Todesangst. Grelle Blitze im Morgengrauen! Ich glaubte, die donnernde Stimme von Klügel zu hören: „Tür zu, unter die Tische! Handys aus!“ Diverse Klassentüren fielen dumpf und schwarz ins Schloss.

Ich versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Das einzige, was mir einfiel, war Flucht. Flucht! Zum Hauptausgang! Ich ließ alles liegen. Ich sprang, stolperte, rutschte die Stufen hinunter, rannte den langen, leeren Korridor entlang, vorbei an den Türen zum Musikraum, zur Cafeteria, zu den Klos, vorbei an dem verkohlten Christbaum und durch die ganze große, gläserne Pausenhalle, vorbei am Verwaltungstrakt - nur hinaus in die eiskalte Winterluft!

Ich lief nicht zu den Fahrradständern, ich rannte die ganze Straße hinunter. Der Supermarkt! Da waren Leute, da war es hell, da war ich sicher!

In der Luftschleuse prallte ich mit Marvin zusammen. Er glotzte mich an wie einen Yeti. Sein heißer Cappuccino ergoss sich über meine Hand, aber ich spürte keinen Schmerz. Ich sah ihm direkt in die wasserblauen Augen. Ich japste wie ein Fisch auf dem Trocknen und stammelte: „Lenny ist da, und er bringt alle um!“

Eine mörderisch gute Schule

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