Читать книгу Eis.Leben - Birgit Sattler - Страница 7
GEFRORENE WELLEN
ОглавлениеAm Flughafen in Los Angeles organisiere ich mir eine Bleibe an der Endstation der Route 66. Eine heruntergekommene Jugendherberge in Santa Monica. Ich habe etwa siebzig Kilogramm Gepäck in meiner Reisetasche, die eher einem gelben Rettungsboot gleicht, Expeditionsausrüstung, wissenschaftliche Geräte, Glücksbringer, „Seelenwärmer“ von Freunden für diese erste dreimonatige Reise ins Eis.
Der Pazifik rollt in schweren Wellen in düsterem Grau auf mich zu. Ich sitze am Strand, die barfüßigen Zehen im Sand, und stelle mir vor, dass die langen Wellen irgendwann gefrieren werden. Spinne in meinen Gedanken zusammen, wie es wohl sein wird auf dem Eis. Wie es aussieht, wenn diese Wellen dann irgendwann tiefer im Süden mitten in der Bewegung erstarren. Habe ich mir zu viel zugemutet, kann man mit dieser Kälte dort überhaupt umgehen? Wieder wandert der Geist voraus ins Eis, ungeduldig.
Die Menschen hier werden mir zu viel, zu bunt, zu laut, ich möchte schon viel weiter sein. Fühle mich unbezwingbar. Diese absurde Vermessenheit fällt plötzlich von mir ab, als ich von einer Telefonzelle aus zuhause anrufe. Ich spüre Besorgtheit aus dem Gespräch und mit ungutem Gefühl bewege ich mich auf der lauten Strandpromenade in dieser schrillen Welt zurück in meine muffige Bleibe.
Über meine Bettdecke huscht eine Küchenschabe. Das ist der Preis, denke ich mir, jetzt beginnt der Dreck.
Der dieses Tor geöffnet hat, heißt John Priscu. Dieser Mann ist untrennbar mit der gesamten Forschungsarbeit in den extremen Lebensräumen der Polargebiete verbunden. Spricht man von Leben im Eis, kommt man an John Priscu nicht vorbei. Unzählige Saisonen hat er in der Antarktis verbracht. Ein schlaksiger Mann mit rumänischen Vorfahren, neugierigen, klugen Augen. Er sitzt in vielen Komitees, die im Zuge der Antarktisforschung gegründet wurden. Kennengelernt habe ich ihn auf meiner ersten wissenschaftlichen Konferenz in den Staaten. Wir haben uns über unser gemeinsames Interesse an einzelligem Leben in der Kälte gefunden. Priscu beschäftigte sich mit dem Überleben von Mikroben im permanenten Eispanzer von antarktischen Süßwasserseen, deren Wasser nie die Sonne sieht, ich erzählte ihm von meiner Arbeit in Innsbruck am selben Thema im alpinen Eis der Hochgebirgsseen. Priscu stellte schnell die Parallele her, sagte, er hätte noch einen Platz frei für die Antarktis im nächsten Jahr. Diese saloppe Einladung bedeutete für mich etwas völlig Unwirkliches, der Heilige Gral schien sich zu öffnen. Tausend Gedanken überschlugen sich blitzschnell, meine Verwunderung hat ihn wenig beeindruckt, er schickte mir einige Wochen nach unserem Treffen alle Formulare, die für die Teilnahme an einem solchen Projekt nötig sind.
Der gläserne Mensch. So dachte ich mir, als ich wochenlang von Arzt zu Arzt pilgerte, um die Blätter zu meinem Gesundheitszustand ausfüllen zu lassen. Es wird hundertprozentige Gesundheit vorausgesetzt. Verständlich, denn wie hilft man sich in solch extremen Umständen, wenn man zum Beispiel Zahnschmerzen hat? Erfüllt man diese Kriterien nicht, dann gibt es auch keine Fahrkarte ins Eis. Alkohol- und Nikotingebräuche werden abgefragt, Schwangerschafts- und Aidstest gemacht, sportmedizinische Gutachten erstellt, schlussendlich ein zahnärztlicher Befund. Der sagte mir, dass ich auf diese Reise verzichten kann mit diesem Zustand der Weisheitszähne. Die Besessenheit ließ mich schließlich drei Wochen vor der Abreise unter Vollnarkose alle Weisheitszähne entfernen. Freunde verstanden mich nicht mehr, aber dieser Wunsch, so weit südlich zu kommen, wurde zur Manie. Die Operation ist so unglücklich verlaufen, dass ich heute noch in einem Teil des Gesichtes kein Gefühl mehr habe. Eingetauscht gegen das Ticket ins Eis. Würde es wohl wieder tun.
*
Ich kenne noch niemanden von unserem Team, sie arbeiten alle in Bozeman, Montana. Cowboyland, wird mir erklärt. Das erste Zusammentreffen findet am Flughafenterminal statt. Was, wenn wir nicht zusammenpassen? Es dauert nicht lange, bis mich eine kleine Gruppe Männer anspricht. „You must be European“, ist ihre Begrüßung. Mir ist nicht klar, wie man eine amerikanische Frau in Jeans von einer europäischen Frau in Jeans unterscheiden kann. Der erste Kontakt. Das also ist meine „Familie“ für die nächsten Monate unter extremsten Bedingungen.
Wir checken ein zu unserem Flug nach Auckland und Christchurch in Neuseeland. Der Flug dauert ewig. Wie verschiedenartig die Passagiere sind, die beinahe alle dasselbe Ziel haben. Viele haben einen Vertrag in McMurdo, der größten US-Basis des antarktischen Kontinents.
Ich sitze neben einer jungen Frau, die dort für das Müllmanagement verantwortlich sein wird. Schräg vor mir eine etwas ältere Frau, sie wird in der Feuerwehrbrigade arbeiten. Feuerwehr in der Antarktis, ist das nicht absurd? Bald wird mir klar, dass der Verlust eines Daches über dem Kopf, und sei es auch nur eines Zeltes, dort lebensbedrohlich ist. Ich bin erstaunt über die Anzahl von Frauen in verantwortungsvollen Berufen. Die Männer daneben unterstehen ihnen, sei es im Hubschrauberhangar, im Lebensmittellager oder im Sicherheitsteam.
Wir fliegen auf 10.000 Metern Höhe von einem Kontinent zum anderen, von einer Zivilisation zur nächsten, näher zum Eis. Wo wird das aufhören? Vielleicht ist die Erde in Bezug auf diese Sicherheit vorgaukelnde Zivilisation doch eine Scheibe. Denn irgendwo muss es doch aufhören, sicher zu sein, irgendwann fällt man doch runter und kann sich nicht mehr halten.