Читать книгу Herr Spiro - Birgit Theisen - Страница 1

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Der Brief lag obenauf in der Ledermappe. Robert Lohwald setzte sich.

Mein lieber Robert,

das hier ist nur für den Fall der Fälle, und ich hoffe nichts mehr, als dass Du diesen Brief nie lesen wirst, weil alles glatt gegangen ist und ich ihn selbst entsorgen konnte.

Nur noch fünf Minuten für ein paar Zeilen an seinen besten Freund zu haben, ist ein seltsames Gefühl. Aber ich bin mit meinem Latein am Ende, diese Rhythmus­störungen bekomme ich alleine nicht mehr in den Griff. Ich vermute und befürchte eine sehr viel tiefere Ursache. Mir bleibt kein anderer Ausweg, als mich in die Fänge meiner Kollegen zu begeben. Nicht zu ändern.

Wie das, was eingetreten ist, wenn Du das hier liest.

Mach Dir keine Gedanken, ich bin/war selbst dafür verantwortlich, habe vielleicht zu lang gewartet. Frag Dich aber bitte niemals, – hörst Du: NIEMALS, – ob ich es wollte. Die Antwort lautet: Nein. Ich wollte es nicht.

Sie sind unterwegs, einem Taxifahrer möchte ich das im Zweifel nicht antun. Es kann schnell gehen.

Aber nun zu Dir.

Ich habe die Festplatte aufgeräumt, auf dem Stick findest Du sozusagen mein literarisches Erbe. Es sind ein paar Kleinigkeiten und drei Geschichten von Herrn Spiro. Die beiden letzten sind nachts entstanden, nach unseren Gesprächen. Der Fremde und Der Alte dürften Dir also bekannt vorkommen.

Ich will ehrlich sein: Herr Spiro ist mir ans Herz gewachsen und ich wünschte, ich könnte weiterschreiben, bis er neues Öl gefunden hat und wieder glücklich lebt. Momentan fühlt es sich nicht so an, als würde ich es schaffen. Der Schmerz ist unvorstellbar. Eine Scheißangst ist das. Instinktiv. Ich weiß doch, dass alles so kommt, wie es soll, und dass ich Bea wiedersehe. Auch wenn Du es sein wirst, der Herrn Spiro helfen muss.

Was ich Dir übergebe, ist vielleicht ein kleines Pflänzchen. Wenn Du magst, gieß es, und falls es eines Tages blühen sollte, häng nicht an die große Glocke, dass der Sämling dafür von mir ist war. Ich schenke Dir alles, mach damit, was Du möchtest. Nur Du allein weißt, wie wichtig es mir ist. Und damit vielleicht auch Dir.

So, mein Lieber, ich muss. Die Ampel war rot, sie haben sich verraten, gleich werden sie klingeln.

Drück mir die Daumen, dass wir uns wiedersehen. Falls nicht: Alles Liebe für Dich, alles erdenklich Gute und ein verdammt schönes, langes und gesundes Leben. Hau rein, Alter, und für mich mit. Wo auch immer ich dann bin, ich krieg es mit, verlass Dich drauf. Also fang erst gar nicht an zu heulen.

Du weißt, uns beiden geht’s jetzt gut.

Danke Dir, auch im Namen von Bea. Für alles, was war, und alles, was noch kommt.

Für immer

Dein Kai.

Robert starrte aus dem Wohnzimmerfenster auf die Astern im Beet und dachte an damals, als sie zu viert im Urlaub am Meer gewesen waren, zwei Ehepaare. Rundherum satt und zufrieden, nichtsahnend.

„Wenn Sie mal im Treibsand stecken bleiben, bewahren Sie Ruhe!“, hatte der Fremdenführer gesagt. „Strampeln hilft überhaupt nichts, dann sinken Sie nur noch tiefer ein und der Sand wird zu Beton an Ihren Füßen. Außerdem wird Ihnen verdammt kalt, wenn Sie so tief drin stecken. Nach ein paar Stunden kommt die Flut und … das war‘s dann.“

Die Worte klangen Robert nach wie vor im Ohr und er konnte sich gut erinnern, dass sie alle gespannt darauf waren, wie man sich am geschicktesten aus einer solch ausweglosen Situation befreite.

Vor drei Jahren hatte ihm aber sein Job auch noch Spaß gemacht, er hatte eine treue Ehefrau gehabt und da war Kai, der beste Freund der Welt, gewesen.

Alles vorbei.

Roberts Magen knurrte. An der Bäckerei auf dem Weg zwischen der U-Bahn und seiner Wohnung war er vorbeigegangen. Um halb vier hätten die mit Sicherheit keine Nussschnecke mehr gehabt. Ausverkauft. Frühmorgens war ihm die Schlange zu lang gewesen.

Wirst den Tag auch ohne Süßkram überleben, hatte er gedacht und recht behalten! Er war nicht verhungert.

Warum er jetzt so müde war, konnte er auch genau sagen. Die heutige Schicht hatte es in sich gehabt. Überall in München Mord und Totschlag und er war wieder der Depp auf der Suche nach dem Wer und Warum? Sollten sie doch alle! Was hatte er damit zu schaffen? Nichts. Abgesehen davon, dass es sein Beruf war.

Robert steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief. Eigentlich hatte er nur noch einen Wunsch für heute: den, die Füße hochzulegen und irgendwann im Laufe des Abends versehentlich einzuschlafen. Denn wenn er es wollte, klappte es nie.

Die Zigarette war schnell zu Ende, er starrte wieder nach draußen. Was der Wind vor dem Fenster hin und her bewegte, sah grauenhaft aus. Sämtlichen Sträuchern standen die Haare zu Berge, das Gras war viel zu lang zum Überwintern und das Unkraut wucherte überall.

Früher hätte es Robert nicht auf dem Sitz gehalten, er hätte sich erst die Gartenschere geschnappt und anschließend seine Frau. Die war passé.

Sollte die Natur doch machen, was sie wollte.

Er starrte weiter aus dem Fenster.

Wie hatte es der Fremdenführer damals so schön ausgedrückt?

„Es ist ein Märchen, dass der Sog einen nach unten zieht, vergessen Sie das! Sie müssen nur Ihre Panik beherrschen, sich auf den Rücken legen, damit Sie Ihr Gewicht verteilen, und dann können Sie sich aus eigener Kraft herausarbeiten. Danach gehen Sie zügig zurück ans Ufer und erzählen meinetwegen im nächsten Pub, was Sie erlebt haben. Aber wundern Sie sich nicht, wenn die dort alle den Kopf schütteln, dass Sie überhaupt dort unterwegs waren.“

Ja, Robert war in der letzten Zeit in Panik geraten, das musste er zugeben. Er hatte dabei um sich getreten, davon konnten seine Abteilungskollegen ein Lied singen. Dass heute überhaupt noch jemand zu seiner kleinen Ausstandsfeier gekommen war, hatte nur der Anstand geboten. Wenn Robert es sich recht überlegte, hatte er sie aus keinem anderen Grund veranstaltet.

Wie er sich jetzt aus dem Sog befreien musste, den es zwar laut Fremdenführer nicht gab, gegen den er aber trotzdem kämpfte, lag auf der Hand: Es war Zeit, mit der Jammerei aufzuhören und sich aus dem Treibsand herauszuarbeiten. Schließlich hatte er keinen Beton an den Füßen, er schleppte nur ein paar Dinge aus der Vergangenheit mit sich herum.

Er würde mit dem Einfachsten anfangen und die Spuren seiner Frau verschwinden lassen. Robert wickelte einen großen, blauen Müllsack von der Rolle, legte den Rest aufs Bett und setzte sich dazu.

Jetzt musst du nur noch aufstehen, ihre Sachen eintüten und dann das Band zuknoten, dachte er, blieb sitzen und sah dem Display des Weckers beim Hochzählen zu.

Die Aktion musste ja nicht heute sein. Schließlich war Fiona erst knappe zwei Monate weg und würde womöglich noch darauf kommen, dass sie irgendetwas bei ihm vergessen hatte.

Grundsätzlich wollte Robert das Thema aber nicht auf unbestimmte Zeit in den Keller verlagern, sondern wenn schon, dann final abhaken und alles den Aschentonnen übergeben. Ihr Zeug würde brennen, da war er sicher.

Er stand auf, legte die Mülltüte auf die leere Betthälfte und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort lud ihn der Scotch zu sich ein und die Ledermappe auf dem Tischchen stach ihm wieder ins Auge. Kais Ledermappe, deren Inhalt tonnenschwer auf Robert lastete. Die Sache mit der Geschichte stand als nächster Punkt auf der Liste.

Selbst drei Monate danach tat es noch genauso weh wie beim ersten Mal, Kais zittrige Schrift in diesem Brief zu lesen, die über die zwei Seiten immer fahriger geworden war. Wie die eines Schülers, nachdem der Lehrer die letzten fünf Minuten bis zur Abgabe eingeläutet hatte.

Kai musste es gespürt haben.

Und dann die schwarze Tinte! Dieser Mann hatte nie schwarze Tinte benutzt. Nur für diese letzten Worte.

Dabei hatte er eigentlich immer gewusst, was zu tun war. Dieses eine Mal nicht. Oder war es doch Absicht? Hatte Kai es darauf angelegt? Am Ende gedacht, dass er es mit Bea besser haben würde?

Hatte Robert versagt? Seinem besten Freund nicht beistehen können, dem Mann, der ihn mit Mitte zwanzig nach dem Durchblättern eines Reisekatalogs einmal gefragt hatte: Welches Paradies? Das Paradies ist doch da, wo ich jetzt bin.

Robert wurde schlagartig klar, dass er Kais letzten Wunsch nie erfüllen konnte. Er sah die Welt nicht so, weil sie es nicht war! Kai war ein unverbesserlicher Träumer gewesen.

Robert stand auf, ging zum Sekretär und griff nach einem Blatt Büttenpapier und dem Füller.

Mein lieber Kai, …

Das klappte. Robert brauchte nicht lang für seinen Brief. Einmal gefaltet, steckte er ihn in die Jackentasche und machte sich auf den Weg.

Kühlschrank und Gefriertruhe hatten am Wochenende ihr Letztes gegeben, Kaffee war auch keiner mehr da. Trotzdem hatte es Anna Wehner nicht zuerst in den Supermarkt, sondern hierher gezogen.

Sie lief schneller als sonst über den Kiesweg. Das Knirschen unter ihren Sohlen sollte sich auf keinen Fall so anhören, als würde sie gerade hinter einem Sarg hergehen.

Der Wind wehte scharf und die feuchte Kälte kroch ihr schnell unter den Mantel, sie steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen.

Dann sah sie sah, den Mann in Schwarz, der mit hängendem Kopf auf ihre Bank am Weiher zusteuerte. Ja, auf der hatte sie zusammengerechnet schon so viele Stunden verbracht!

Er kam aus einem der Seitenwege, die sie auch gut kannte. An dieser Reihe war sie oft vorübergegangen und längst hatte sie sich zu den Zahlen auf den Grabsteinen Schicksale ausgemalt. Die Beiden, die sie am ehesten als ihre Gefährten bezeichnet hätte, lagen auf dem dritten Platz, waren ungefähr so alt wie sie, und einer von ihnen hatte drei Monate länger durchgehalten als der andere. Obwohl auf dem Stein zwei verschiedene Nachnamen eingemeißelt waren, lag es für Anna auf der Hand, dass Kai und Beatrice im Leben zusammengehört haben mussten.

Der Mann ließ sich auf die Bank fallen, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und vergrub sein vollbärtiges Gesicht in den Händen.

Ja, dachte Anna, mit seiner Trauer ist man vor allem eines: allein. Und die meisten wollen es auch sein.

Anna überlegte, dass sie sich wahrscheinlich dazugesetzt hätte, wenn dieser Mann auf der Bank eine Frau gewesen wäre. Der Gedanke fühlte sich so unmenschlich an, dass sie sich schäbig vorkam, als sie an ihm vorbeiging. Doch dann spürte sie eine Böe im Rücken und alles war gut.

Nach ihrer Runde um den Weiher sah sie ihn wieder. Er ging in melancholischer Geschwindigkeit den Hauptweg entlang in Richtung Portal. Sie selbst hatte genug vom Wind und nahm die Abkürzung zum Ostausgang.

Am Grab der Gefährten lag ein gefaltetes Blatt Papier unter der Blumenschale. Da schrieb offenbar jemand Briefe und trug sie hierher. So weit war Anna nie gegangen, der Mann von vorhin etwa schon?

Sie hatte ihre Patentante im Ohr: Mach das Leid der anderen nicht zu deinem. Schau lieber, dass du es linderst!

Annas Herz beschleunigte. Was, wenn in diesem Brief etwas stünde, womit sie dem Mann helfen könnte?

Es war ein Impuls, sie konnte nichts dagegen tun, hier war jetzt Eile geboten und keine Zeit für Ungewissheit oder Rücksicht auf das Briefgeheimnis.

Sie zog das Blatt kurz und schmerzlos unter der Schale hervor und faltete es auseinander. Vorder- und Rückseite waren eng beschrieben. Das war kein billiges, sondern gutes, dickes Papier und eine schöne Handschrift, die nur mit einem schwarzen Füllfederhalter so zur Geltung kommen konnte.

Mein lieber Kai, stand da. Der lag im Grab vor ihr.

Anna las weiter.

Du bist zwar schon eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr da, aber ich könnte immer noch jeden Tag mindestens drei Mal zum Telefon greifen, Dir irgendeinen Mist erzählen oder Dich fragen, ob Du abends auch ins Training gehst oder bei Paula noch ein Bier trinkst oder, oder, oder. Sie vermisst Dich, hat sie gesagt, ich soll Dich von ihr grüßen, wenn ich Dich besuche. Mache ich hiermit.

Eigentlich müsste ich stocksauer auf Dich sein, dass Du einfach so gegangen bist, das weißt Du. Und ich weiß, dass ich denken soll, wie gut Du es jetzt mit Bea hast. Aber so sehr ich es mir für Euch wünsche, ich glaube nicht daran, es klappt nicht.

Und das, was Du Dir mit Deinem Herrn Spiro vorgestellt hast, das klappt auch nicht. Erstens kann ich nicht so gut schreiben wie Du und zweitens bräuchte ich ein Bild von dem Mann. Hättest Du mir nicht wenigstens ein Phantombild hinterlassen können? Irgendeine Beschreibung. Es ist, als müsste ich jemanden zur Bildfahndung ausschreiben, von dem ich nicht den Funken einer Ahnung habe, wie er überhaupt aussieht. Das geht nicht! Das geht einfach nicht. Glaub mir bitte, dass ich es versucht habe.

Außerdem müsste ich wissen, wie Dein Held wohnt. Wir würden doch nur aneinander vorbeischreiben, wenn die Stube, die ich mir vorstelle, eine andere ist als die, die Du Dir für ihn vorstellst! Und dann die Lampe, um die sich alles dreht. Wie soll ich jetzt noch herausfinden, wie groß sie ist und warum sie in Deinen Augen so schön ist? Und was noch viel schwerer wiegt ist doch, dass Du mir nicht verraten hast, wie Herr Spiro denkt.

Kurz gesagt: Warum hast Du das alles so abstrakt gelassen? Warum lässt Du mich im Dunkeln stehen und verlangst dann auch noch solche Dinge von mir?

Ich verstehe Dich nicht. Und auch wenn ich mich wiederhole: Das geht so nicht. Wenn Du noch da wärst, würde ich Dir jetzt Deine Geschichte zurückgeben. Einer wie ich kann Dir da nicht weiterhelfen. Auch wenn es mir unendlich leid tut. Für Herrn Spiro und noch viel mehr für Dich.

Ja, ich weiß, was Du geschrieben hast. Ich soll nicht heulen. Tu ich auch nicht.

Anna sah dem Papier an, dass es gelogen war. Sie drehte das Blatt um.

Ich fahre jetzt für ein paar Tage ans Meer, aber nur, weil ich schon lange gebucht habe. Aus der Nummer komme ich jetzt nicht mehr raus und es stimmt ja auch: Daheim würde ich doch nur verrückt werden, wenn ich zwei Wochen auf meinen neuen Schreibtisch drüben bei den anderen warten müsste.

Mit Deiner Erlaubnis werde ich Herrn Spiro einpacken und ihn in einer Flasche den Wellen übergeben. Vielleicht findet ihn irgendwann irgendjemand und schreibt weiter. Dann hättest Du wenigstens auf dem Wege das erreicht, wozu ich nicht imstande bin. Es tut mir leid, dass ich Dich so enttäuschen muss, aber es geht nicht anders.

Die Dinge, die sich auf meinen Schultern angesammelt haben, sind so schwer, dass ich nicht mehr weitergehen kann. Ich muss aber, auch ohne Dich, und ich hoffe daher, Du bist mit meinem Vorgehen einverstanden. Nein, anders: Ich glaube zu wissen, dass Du einverstanden bist.

Sei mir nicht böse. Bitte.

Für immer

Dein Robert

Wenn der Mann von vorhin dieser Robert war, hätte Anna ihm vermutlich helfen können.

Hätte. Es war zu spät.

Anna sah ihn nicht mehr, und als sie den Brief in ihrer Hand betrachtete, meldete sich ihr Gewissen. Sie faltete das Blatt und legte es zurück.

Auf dem Weg zum Tor schaute sie sich einige Male um. Sie fühlte sich wie eine Diebin.

Herr Spiro

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