Читать книгу Herr Spiro - Birgit Theisen - Страница 3

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Um 4:32 hatte es heute angefangen, Anna konnte sich genau erinnern. Jetzt zeigte der Wecker 5:13 und die bluthungrige Zimmergenossin hatte sich immer noch jedes Mal erfolgreich unsichtbar gemacht, wenn die Nachttischlampe angegangen war.

Anna wollte sich nicht mehr weiter von diesem surrenden Untier traktieren lassen, sie stand auf und setzte sich im ersten Licht des Tages an den Wohnzimmertisch.

„Du und deine Puzzles“, hatte ihr Ex-Mann immer gesagt. „Etwas Sinnloseres als das kann ein Mensch doch gar nicht mit seinem Tag anfangen! Da stanzt eine Maschine ein wunderschönes Poster in Sekundenbruch­teilen in tausendfünfhundert Teile und du mühst dich anschließend tagelang ab, bis es nicht annähernd wieder so gut aussieht wie vorher.“

Dieser Mann hatte noch viel mehr nicht verstanden.

Anna saß am Esstisch und spürte den Flow. Der Himmel wurde, Teil für Teil. Blau und leicht bewölkt, darunter im Meer die Segelyacht, die schon seit vorgestern fertig geworden war, gleich nach dem Rand.

Ja, es war Arbeit, aber dieses Mal würde sie das Puzzle nicht wieder einpacken, sondern mit Kleber einstreichen, auf ein Brett ziehen und an die Wand hängen. Genauso wie die anderen Motive aus den fünf Schachteln, die sie im Keller in Salzburg wiederentdeckt hatte. Mit Joe und Lisa war sie anderen Hobbys nachgegangen, ohne diese Beschäftigung zu vermissen, aber jetzt schien die Zeit der Suche wieder angebrochen zu sein. Außerdem waren die Bücher aus.

Nur noch fünf Teile, dachte sie nun schon zum dritten Mal, dann machst du dir Frühstück.

Und wieder blieb sie hängen, bis ihr Magen sie anknurrte.

Sie löste sich schweren Herzens.

Draußen dämmerte es, sie konnte das Licht löschen. Bei Tageslicht war es ohnehin einfacher, die richtigen Teile zu finden. Nach dem Croissant und dem Milchkaffee würde der Endspurt kommen. Die letzten hundert gingen immer am Stück, da konnte sie jedes einzelne Teil so lang in der Hand behalten, bis es irgendwo passte, soviel wusste sie noch.

Und auch das wusste sie: Joe hatte zu ihr gepasst wie das besagte Puzzleteil. Sie war angekommen, und den Gedanken, jemals wieder suchen zu müssen, hatte sie an seiner Seite ad acta gelegt, wie Clara es versprochen hatte. Joe war die Liebe ihres Lebens gewesen, ihn hatte sie jeden Tag ein Stück mehr geliebt.

Obwohl ich nie geglaubt hätte, dass das geht, dachte Anna und wollte tapfer bleiben, doch es war ein ungleicher Kampf. Tränen aus diesem Grund ließen sich von einem solchen Vorsatz noch nie beeindrucken.

Aack ack ack ack …

Durch die geschlossenen Fenster hörte Robert das gleiche Möwengeschrei wie in den letzten zehn Tagen, aber heute knüllte er das Kissen nicht zurecht und drehte sich nicht noch einmal um. Sie hatten ihn soweit: Er stand auf und zog sich an.

Angesichts der menschenleeren Lobby griff er in seine Hosentasche und vergewisserte sich, dass er seine Hotelkarte dabei hatte.

Es war frisch, eine Jacke über dem Pulli hätte ihm nicht geschadet. Ein Lkw mit Rechen musste über den Sand gefahren sein, das Reifenprofil gefiel Robert nicht, aber es tröstete ihn, dass schon in ein paar Stunden nichts mehr davon übrig sein würde, durch konturlose Fußspuren verwischt.

Die Strandkörbe zeigten ihm ihre schwarzen Nummern, kein Mensch war weit und breit zu sehen, nur ein paar Möwen zogen übers Wasser.

Es war sechs Uhr früh, Robert setzte sich in den Sand und sog die kühle Luft tief ein. Ohne Reue. Ein paar Cumuli hoben sich vom Blaugrau des Himmels ab. Noch ein paar Minuten.

Er dachte an Herrn Spiro, der nun endlich ein Gesicht hatte und eine Gestalt. Mittlerweile war Robert froh darüber, dass er keine Flasche von Zuhause mitgenommen hatte, um Kais Helden als erste Urlaubstat im Meer auszusetzen. Diese Märchengestalt war kein Ballast, den man abwerfen musste. Es würde eine andere Lösung geben. Robert wusste noch nicht welche, nur dass.

So, wie die Fahrt auf dem Schiff gestern wider Erwarten noch etwas gebracht hatte. Der Kapitän hatte am Königsstuhl ohne Vorwarnung gewendet, der Perspektivwechsel war Robert zu schnell gegangen, aber er hatte nicht wie die meisten anderen Passagiere die Seite gewechselt, sondern war auf seiner Bank geblieben.

Nur wer alte Ufer verlässt, kann neue erreichen, hatte er gedacht und bis zur Ankunft am Steg aufs offene Meer geschaut.

Heute war die See ruhiger, es passten viele kleine Wellen in eine gefühlte Minute. Nicht zuletzt, weil Robert in den vergangenen Tagen gut gegessen und endlich wieder geschlafen hatte. Er war eben doch ein Meermensch, der die Weite brauchte, und nicht der Bergfex, den Fiona immer in ihm hatte erkennen wollen.

Robert sah aufs Wasser und das Stück Horizont, das sich zunehmend rosa färbte. Er hatte die Alpensinfonie von Richard Strauss im Ohr, die Spannung in den letzten Sekunden vor dem Sonnenaufgang. Genau so fühlte es sich gerade an.

Ein glutroter Punkt tauchte von einem Moment zum anderen aus dem Meer auf und wurde binnen Sekunden zum Kreissegment. Die Cumuli färbten sich, Pastelltöne beherrschten das Bild. Eine Möwe kreischte, das Wellenplätschern blieb die einzige Antwort.

Robert konnte seinen Blick nicht von dem roten Ball abwenden. Es wurde wärmer und heller, das Rot zu einem gleißenden Orange.

Wenn du jetzt deine Sonnenbrille aufsetzt, ist die Magie des Augenblicks dahin, dachte er und stand auf.

Dieser hier war ein Morgen, an dem man barfuß am Strand entlanglaufen und das Meerwasser bis zu den Knöcheln spüren wollte, den Sand zwischen den Zehen. Und dann, wenn keiner es sah: Run down the beach, kicking clouds of sand. Bis man nur noch nach Luft schnappen konnte.

Er ließ es bleiben.

Am Ende des Abgangs zum Strand sah er eine Frau stehen. Sie wischte sich mit dem Daumenballen über die Augen, als er sich näherte. Sie verstanden einander ohne Worte.

Ausziehen wollte Robert seine Schuhe jetzt nicht, zum Laufen waren es die falschen.

Noch.

Er ging zum Hotel zurück.

In der Lobby duftete es nach Kaffee, Croissants und Rührei. Robert hatte Hunger, aber er wollte auch laufen. Sollte er sich das Leben unnötig schwer machen? Er ging in den Frühstücksraum und steuerte auf einen der Tische mit Blick aufs Meer zu, die sonst schon immer besetzt waren. Das frühe Tageslicht gab dem Raum einen neuen Charme, die dunkle Holzvertäfelung wirkte wärmer und das Weiß der Tischdecke nicht so steril.

Er bestellte Milchkaffee und ging zum Büffet. Unberührt standen die Teller mit Käse und Wurst da. Der Obstkorb duftete in seiner bunten Pracht. Zum ersten Mal in diesem Urlaub war Robert nach einem Schluck Sekt, er wollte diesen Moment feiern, sein Glas erheben und Aufs Leben! denken.

Robert saß vor dem, was er sich als Frühstück vorgenommen hatte.

Laufen wirst du danach erst mal länger nicht, dachte er schmunzelnd und ließ es sich schmecken.

Währenddessen sah er aus dem Fenster und immer wieder auf den Stuhl gegenüber. Wie es wohl wäre, wenn die Frau vom Friedhof jetzt dort säße? Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen?

Die wenigen Worte, die sie bisher miteinander gewechselt hatten, waren für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Auch der eine Moment vor dem Musikladen, in dem in ihren Augen etwas aufgeblitzt und verglüht war wie eine Sternschnuppe. Ein Hoffnungs­schimmer, dass in ihrem Leben noch einmal alles gut werden könnte?

Erst in den vergangenen Tagen war ihm bewusst geworden, dass er sie nichts gefragt hatte. Er, der Kriminalkommissar, der sonst nie umhin kam, nach­zuhaken.

Und noch etwas war ihm eingefallen. Ein Satz von Bea, den sie gesagt hatte, als sie es noch konnte: „Ich wünsche mir, dass du weiter spielst und immer besser wirst. Egal, wo ich dann bin, ich höre dich.“

Ja, er würde sich wieder ans Cello setzen, das wusste er jetzt. Zu oft war er hier bei den fünf Cellisten gewesen, hatte ihnen zugehört und zugesehen. Er konnte es, wenn er ehrlich war, kaum noch erwarten, wieder damit anzufangen und malte sich aus, dass er Fionas Sachen kurz vorher in die Aschentonnen befördern würde. Einen Sack nach dem anderen.

Robert nahm einen Schluck Sekt und stellte sich wieder die hübsche, junge Frau vom Friedhof vor. Wäre sie hier mit ihm glücklicher als daheim?

Er schüttelte den Kopf. Wie kam er auf solche Gedanken?

Robert sah auf die Uhr. Über eine Stunde saß er nun schon hier beim Spazierendenken.

Meine Güte, du musst Urlaub haben, dachte er und merkte, dass die Vertäfelung an der Wand hinter dem Büffet und die Tischdecken jetzt wieder so wirkten wie in den letzten Tagen. Er nahm es als Zeichen und wartete nicht mehr ab, bis die erste Aufzugladung Lärm in den Frühstücksraum kam und sich wortlos über seine vereinzelte Anwesenheit an einem Vierertisch ärgern konnte.

Robert faltete die Serviette, trank den letzten Rest Sekt aus und stand auf.

Ja.

Herr Spiro

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