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Bentham: Keine schöne Leiche (aber nützlich) JEREMY BENTHAM (1748–1832)

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Dass die sterblichen Überreste von Jeremy Bentham, auf einem Stuhl sitzend, gut anderthalb Jahrhunderte nach seinem Tod immer noch jährlich an den Sitzungen des Senats des University College of London teilnehmen und dass im Protokoll steht: »Jeremy Bentham, present but not voting«, ist eine Erfindung. Es gibt diesen Protokolleintrag nicht, und verlässlich dokumentiert ist nur, dass Bentham 2013 teilnahm. Warum etwas Erfundenes hinzugefügt wurde, ist schwer zu verstehen. Sein Leben und Nachleben waren auch ohne Ausschmückungen romanhaft genug.

Es war bloß keiner jener abgeschmackten, vorhersehbaren Romane, in denen Kindheitserlebnisse alles, was später kommt, in die Spur setzen. 1760, im zarten Alter von zwölf Jahren, kam Jeremy Bentham als eine Art Wunderkind an das Queen’s College in Oxford und wurde in eine Stube mit Blick auf den Friedhof einquartiert. Albträume und Angst vor Gespenstern verfolgten ihn fast sein Leben lang. Was wurde aus dem traumatisierten Kind, das mit 16 Jahren das College als Bachelor of Arts verließ und dann noch Rechtswissenschaften studierte? Wurde er zum Spiritisten, der mit allerlei Hokuspokus die Geister zu beschwören versuchte? Keineswegs. Sein Verstand übernahm das Kommando in der Auseinandersetzung mit dem Tod. Dass er sich vor Gespenstern fürchtete, ohne an Gespenster zu glauben, fand er mit nüchternem Blick interessant. Und 1769, mit 21 gerade volljährig und als Anwalt zugelassen, wagte er etwas Unglaubliches. Er setzte ein Testament auf und vermachte seinen Körper der medizinischen Ausbildung und Forschung. Das war vollkommen neu in einer Zeit, als die einzigen Leichen, an die man legal kommen konnte, um zu forschen und angehende Ärzte üben zu lassen, die von hingerichteten Verbrechern waren. Allerdings musste die Wissenschaft noch lange auf Benthams Leiche warten.

Benthams Familie war so vermögend, dass er kaum zu praktizieren brauchte, stattdessen machte er sich bald als Autor juristischer und rechtsphilosophischer Werke einen Namen. Dabei kannten seine Zeitgenossen nur einen Bruchteil dessen, was er schrieb. Bentham überließ seine Manuskripte häufig zu früh ihrem Schicksal, vieles wirkt unrund und ungeordnet. Manchmal mag er beim Schreiben an die britische Tagespolitik gedacht haben, nicht an die Nachwelt; manchmal mag es an dem Tempo gelegen haben, mit dem er sich immer neuen Ideen zuwandte und halbfertige Bücher hinter sich ließ wie Don Juan Frauen mit gebrochenem Herzen. Die meisten seiner ökonomischen Werke erschienen erst über hundert Jahre nach seinem Tod in einer dreibändigen Ausgabe.

Es hat immerhin dafür gereicht, unangefochten als Gründer einer philosophischen Schule zu gelten – des Utilitarismus –, aber ausgerechnet sein bekanntester Satz ist weder von ihm (sondern geht auf den italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria zurück), noch handelt es sich um eine brauchbare Maxime. »Das größte Glück der größten Zahl« sei der Maßstab guten Regierens. Ja, was denn nun? Sollen möglichst viele Leute ein bisschen glücklich sein? Oder dürfen ein paar Menschen unglücklich sein, wenn dafür zum Ausgleich viele sehr glücklich sind? Ist »das größte Glück der größten Zahl« nicht so sinnvoll wie ein Sportwettbewerb, bei dem man gleichzeitig »so hoch und so weit wie möglich« springen soll? Weder Bentham noch der Utilitarismus haben verdient, dass ausgerechnet dieser verunglückte Slogan an ihnen klebengeblieben ist.

Später drückte Bentham es anders aus: Die Politik soll das Glück der Bürger mehren und nicht mindern. Das hört sich heute nach einer selbstverständlichen Forderung an, aber zu Benthams Zeit war es das noch nicht – gerade eben war damals der Merkantilismus überwunden, dessen Vertreter sich besonders für den Zufluss von Edelmetallen in Volkswirtschaften interessierten, und neu war auch der Gedanke, dass das Glück aller gleichermaßen zählen sollte. Bis »gestern«, schrieb Bentham 1821, seien überall auf der Welt nur Tyrannen an der Macht gewesen, die sich bloß um ihr eignes Glück geschert hätten.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Wirtschaftswissenschaft im Fahrwasser von Benthams Utilitarismus. Erstens haben Ökonomen die Vorstellung übernommen, dass das Wohlergehen einer Gesellschaft nichts anderes ist als die Summe des Wohlergehens ihrer Mitglieder. (Dagegen mag es Ziele geben, die ein Gebilde wie eine »Nation« zum Beispiel militärisch erreichen könnte, ohne dass die Bürger davon etwas haben, ja vielleicht sogar zu ihren Lasten. So etwas mutet für Ökonomen seltsam an.) Zweitens schwebt Benthams Geist über fast jedem ökonomischen Modell, denn er meinte, Menschen würden ständig berechnen, wie sie ihre Freude mehren und ihr Leid verringern könnten. Das hört sich nach einem reichlich simplen Menschenbild an, ist es aber nicht. Bentham sieht, dass es viele verschiedene Quellen von Freude und Leid gibt: nicht nur Sinnesfreuden, sondern auch Freuden der Freundschaft, Freuden der Macht, Freuden der Einbildungskraft oder Freuden der Frömmigkeit. Ferner Leiden der Sinne, Leiden des schlechten Rufs, Leiden der Erinnerung, Leiden der Frömmigkeit und so weiter.

Reichtum kann direkt Freude bereiten, kann aber auch Mittel sein, um andere Freuden zu erlangen. So wie viele moderne Ökonomen stellte schon Bentham die Frage, wie sich materieller Wohlstand auf das Glück auswirkt. Solange besondere Umstände wie Krankheit oder anderes persönliches Unglück keine Rolle spielen, sollte von zwei Personen die reichere die glücklichere sein. Allerdings unterscheiden sich die Glücksniveaus der beiden weniger als ihr Reichtum, denn je reicher jemand schon ist, desto weniger wächst das Glück mit einem zusätzlichen Taler, Pfund, Dollar oder Euro. Für heutige Ökonomen ist das eine Selbstverständlichkeit (und heißt »abnehmender Grenznutzen des Geldes«), Bentham aber musste viel Mühe darauf verwenden, diesen damals neuen Gedanken zu erklären. Der Leser, schrieb er, solle sich tausend Bauern vorstellen, deren Einkommen zum Überleben reicht und für ein bisschen mehr. Und dazu einen König, der so reich ist wie die tausend Bauern zusammen, oder besser noch einen Prinzen anstelle des Königs, damit er die Mühe des Regierens nicht hat, sondern seinen Reichtum genießen kann. Dieser Prinz sei nun sicherlich glücklicher als ein durchschnittlicher Bauer – aber nicht tausendmal glücklicher. Selbst wenn er nur fünf- oder zehnmal glücklicher sei, wäre das schon bemerkenswert, meinte Bentham.

Wenn Geld nun aber den Armen mehr Glück bringt als den Reichen, dann müsste man konsequenterweise folgern, dass das Glück insgesamt am größten wäre, wenn alle gleich viel hätten. Und Bentham tat das auch. Was nicht heißt, dass er meinte, man solle den Reichen ihr Geld so lang wegnehmen, bis alle Unterschiede zwischen Armen und Reichen verschwunden seien.

Zum einen würde das dazu führen, dass niemand sich noch Mühe gäbe, seinen Besitz zu vermehren – was er sich erarbeitet, würde ihm ja sogleich wieder genommen. Zum anderen ist für das Glück nicht nur wichtig, wie viel Geld man hat, sondern auch, wie der Besitz zustande gekommen ist. Hinzugewonnenes Geld erhöht das Glück, verliert man aber dieselbe Summe, dann ist der Einfluss auf das Glück stärker (und natürlich negativ).

Wie bei allen Ökonomen des 18. und 19. Jahrhunderts ist die Quelle solcher psychologischer Einsichten die Introspektion, bestenfalls Alltagsbeobachtung. Seit den 1980er Jahren aber zeigen auch zahlreiche Experimente, dass Bentham recht hatte. Beispielsweise schenkten die Ökonomen Jack Knetsch und Jack Sinden einigen Studenten Lotterielose und boten ihnen an, sie für zwei Dollar zurückzukaufen. Genau die Hälfte der Studenten ging auf dieses Angebot ein, die andere Hälfte wollte die Lose lieber behalten. Andere Studenten bekamen keine Lose geschenkt, konnten sie aber für zwei Dollar kaufen. Das wollte nur ein knappes Viertel aus dieser Gruppe. Offensichtlich erschien das Los also denen attraktiver, die es schon in ihrem Besitz hatten, und es fiel ihnen schwer, sich davon zu trennen. Anders formuliert: Im Durchschnitt müssen die Gefühle derer, die das Los haben und weggeben, schwerer wiegen als die Gefühle derer, die das Los bekommen. Verlust beeinflusst das Glück stärker als Gewinn.

Ein ähnliches Experiment führte Jack Knetsch zusammen mit zwei späteren Ökonomie-Nobelpreisträgern durch: mit Daniel Kahneman, einem Psychologen, der 2002 ausgezeichnet wurde, und Richard Thaler, dem Preisträger von 2017. Die drei Forscher gaben einigen Studenten eine Kaffeetasse mit Universitätslogo, die sie nach Gutdünken behalten oder verkaufen konnten. Die Teilnehmer, die den Preis der Tasse nicht kannten, sollten zu einer Vielzahl von Beträgen jeweils angeben, ob sie für diesen Preis verkaufen würden oder nicht. Andere Studenten erhielten keine Tasse, hatten aber die Möglichkeit, eine zu kaufen. Der Betrag, den die Käufer gerade noch bereit waren zu zahlen, lag im Durchschnitt bei 2,45 Dollar, die Wertschätzung der Becherbesitzer für ihr Eigentum lag aber viel höher, bei 5,50 Dollar. Besitzen wir Dinge, erscheinen sie uns allein deshalb wertvoller: Das ist ein inzwischen oft bestätigtes Phänomen und bekannt als »endowment effect« (Besitztumseffekt).

Dass Bentham intuitiv erfasste, was Ökonomen fast zweihundert Jahre später experimentell nachwiesen, half ihm, diese Frage zu beantworten: Was ist eigentlich der Schaden, den ein Dieb anrichtet? Genauer gesagt: Was ist der volkswirtschaftliche Schaden? Das Opfer ist ärmer, aber der Dieb ist um denselben Betrag reicher. Heißt das nicht, dass bloß Einkommen innerhalb einer Volkswirtschaft umverteilt wird? Zugegeben, handelte sich um einen Einbruch, bei dem eine Scheibe eingeschlagen, ein Tresor gesprengt oder ein Wachhund vergiftet wird, dann ist klar, dass das Opfer mehr verliert, als der Dieb gewinnt. Aber Bentham war der erste Ökonom, der klar erkennen konnte, dass auch durch Taschendiebstahl ein Schaden entsteht – kein materieller Schaden für die Volkswirtschaft, aber doch ein Verlust an Glück, denn der Verlust schmerzt das Opfer mehr, als der Gewinn den Dieb erfreut.

Was also tun, damit weniger gestohlen wird? Benthams Antwort ist charakteristisch für sein ganzes Denken: Ganz offensichtlich, meinte er, wiegen beim Dieb die Freuden des Diebstahls schwerer als seine Leiden. Also muss man die Freuden verringern und die Leiden vermehren. Dies ist die Rechtfertigung dafür, Diebe zu bestrafen.

Nun handelte es sich zu Benthams Zeiten bei Gefängnissen wahrlich um Orte des Leidens: In feuchten und kalten Verließen waren die Häftlinge inkompetenten, teilweise grausamen Wärtern ausgeliefert, vegetierten schlecht ernährt und mitunter angekettet vor sich hin, kaum imstande zu der Zwangsarbeit, die ihnen auferlegt war. Das war nicht die Art von Strafe, die Bentham sich vorstellte. Wenn es schon Gefängnisse geben musste, dann sollten sie viel nützlicher sein!

Benthams jahrzehntelanger Traum von einer großen Gefängnisreform begann im Jahr 1786. Er unternahm die größte Reise seines Lebens und besuchte in Russland seinen Bruder Samuel, der damals im Dienst des Fürsten Potemkin stand (ja, eben jenes Beraters und Ex-Liebhabers von Katharina der Großen, nach dem die Potemkin’schen Dörfer benannt sind). Samuel Bentham war Ingenieur; er half Potemkin, große Territorien im Zarenreich wirtschaftlich zu erschließen und militärisch zu sichern. Als Jeremy bei ihm eintraf, beschäftigte ihn gerade der Bau von Binnenschiffen, die Baumaterial von Potemkins Besitz im weißrussischen Kritschew über die Sosch und den Dnjepr zu Werften am Schwarzen Meer bringen sollten.

An Geld mangelte es nicht, aber die Fachkräfte, die Samuel brauchte, gab es vor Ort einfach nicht. Also ließ er Engländer kommen, die die russischen Arbeiter anlernen und beaufsichtigen sollten. Doch bald stellte sich heraus, dass unter denjenigen, die England verließen, um in Weißrussland ihr Glück zu suchen, einige problematische Charaktere waren, die selbst der Aufsicht bedurften.

Daher plante Samuel eine zentrale Aussichtsplattform, um die herum die verschiedenen Gewerke, durch Holzzäune voneinander getrennt, tortenstückartig angeordnet sein sollten. Auf der Plattform sollte sich eine Art Pavillon befinden, der von außen nicht gut einzusehen war. Diese Anlage wurde nie gebaut, weil Potemkin seinen Besitz verkaufte und Samuel für andere Aufgaben einsetzte. Jeremy aber war Feuer und Flamme und begann, Samuels Idee zu einem völlig neuartigen Gefängnis, dem »Panoptikum«, weiterzuentwickeln: kreisförmig mit einem Turm in der Mitte, von dem aus ein Inspektor alle Zellen im Blick haben konnte, ohne dass die Gefangenen – und die Wärter, die dem Inspektor unterstellt waren – wissen konnten, ob sie gerade überwacht wurden.

Das ist zunächst einmal effizient: Zwar ist es unmöglich, alle Gefangenen gleichzeitig zu beobachten, aber die sollten sich klugerweise trotzdem so verhalten, als würde jeder permanent beaufsichtigt. Vor allem aber knüpfte Bentham große Erwartungen an die Wirkung auf die Kriminellen: »Verbesserung der Moral – Erhaltung der Gesundheit – Belebung des Arbeitseifers – Verringerung der Belastungen für die Allgemeinheit (…) – und all dies durch eine simple architektonische Idee!«

Das Panoptikum war Anlass für eine Fülle von scharfsinnigen Analysen durch professionelle Bentham-Interpreten. Manche meinten, in der psychologischen Naivität Benthams, der sich schon als Herr über zahlreiche Gefängnisse wähnte, die nach seinen Vorstellungen gebaut werden und viele Häftlinge bessern sollten, ein Anzeichen für das Asperger-Syndrom zu erkennen. Andere sahen den Reformer, der die Zellen gut lüften und mit fließendem Wasser versehen wollte. Oder den kühlen Kalkulierer, der die Gefangenen nur deshalb ausreichend und gesund ernähren wollte, damit sie zu sechzehn Stunden Arbeit am Tag in der Lage waren. Oder den intelligenten Ökonomen, der den Gefängnisdirektoren Anreize setzen wollte – ihre Bezahlung sollte davon abhängen, wie viele Sträflinge die Haft überleben.

Man kann das Skurrile herauspicken, etwa Benthams Idee, dass in dem Wachturm nicht nur der Inspektor wohnen sollte, sondern auch seine Familie, denn Frau und Kinder würden ja sonst nutzlos aus dem Fenster schauen, während das im Wachturm einen produktiven Sinn hätte. Oder man kann Bentham zum Bannerträger einer philosophischen Rechtfertigung des überwachenden und strafenden Staates machen. Die undurchdringliche Menge von Literatur zum Panoptikum verstellt uns den Blick auf den Menschen Bentham; an anderen Stellen seiner Biografie sehen wir ihn wieder deutlicher.

Bentham liebte Tiere, genauer: alles, was vier Beine hat, und das schloss die Mäuse ein, die er unbehelligt durch sein Arbeitszimmer tanzen ließ. Allerdings hielt er sich auch The Reverend Sir John Langbourne und – ohne dass die Namen überliefert wären – weitere Katzen, ein Umstand, der, wie sein Biograf Leslie Stephen bemerkte, schwer mit dem Prinzip vom größten Glück der größten Zahl in Einklang zu bringen war. Einen wichtigeren Grundgedanken des Utilitarismus aber wandte Bentham in der Tat auf Tiere an: Da sie Glück und Leid empfänden, sei es wichtig, wie gut es ihnen gehe.

Einer der bekanntesten utilitaristischen Philosophen unserer Zeit, Yew-Kwang Ng, führt Benthams Gedanken zum Tierschutz weiter, wenn er nach einer Antwort auf die Frage sucht, ob Fleischkonsum moralisch zu vertreten ist. Würden wir Hühner, Schweine und Rinder nicht essen, dann gäbe es die meisten von ihnen einfach nicht, denn nur wenige Menschen kämen auf die Idee, ein Angusrind bis zu seinem Tod durch Altersschwäche als Haustier zu halten. Ist es nun gut, dass es die vielen Nutztiere gibt, die wir schließlich schlachten und essen? Wenn wir von Gesundheits- und Umweltproblemen absehen, dann hängt das, meint Ng, davon ab, ob das Glück der Tiere während ihrer Lebenszeit ihr Leid überwiegt. Schlachtvieh zu halten ist aus utilitaristischer Sicht vertretbar, wenn es den Tieren gut geht, bevor wir sie essen.

Nun könnte man auch argumentieren, Tiere hätten »natürliche Rechte«, aber das hielt Bentham, ob es nun Tiere oder Menschen betraf, für »Unsinn auf Stelzen«. Rechte waren für ihn nie naturgegeben, alle Regeln hatten nützlich zu sein, alle Rechte waren damit zu begründen, dass sie Glück mehren und Leid mindern konnten. Ein Beispiel sind Benthams Argumente für das Frauenwahlrecht: Männer kennen manche Leiden von Frauen nicht (etwa die Mühen der Schwangerschaft und Geburtsschmerzen), so dass ihnen das Urteilsvermögen in Fragen fehlt, die Frauen betreffen. Oder sie haben gar Interessen, die denen der Frauen entgegengesetzt sind, zumindest gilt das für die Männer, die Freude daran haben, ihre Frauen zu schlagen. Es ist daher gut, wenn Frauen ihre Interessen selbst vertreten.

Und so argumentiert Bentham auch gegen den Kolonialismus, den er nicht etwa ablehnte, weil die Völker in den Kolonien ein natürliches Recht auf Unabhängigkeit hätten, sondern weil sie besser als die Kolonialherren in der Lage seien, ihre eigenen Interessen zu erkennen und ihr Glück zu mehren. Er war gegen die Bestrafung von Homosexuellen, denen ihre Handlungen ja offensichtlich Freude bereiteten, während sie niemandem schadeten. Er war gegen die Todesstrafe, für Bankenregulierung, für Pressefreiheit, für eine aktive Rolle des Staates im Bildungs- und Gesundheitswesen und schlug einen internationalen Gerichtshof vor.

Oft versuchte er, es nicht bei der Theorie zu belassen, sondern die Politik direkt zu beeinflussen. So bot er sich dem vierten US-Präsidenten James Madison ebenso als Autor fortschrittlicher Gesetzeswerke an wie dem russischen Zaren Alexander I.; Portugal schließlich zeigte sich interessiert, aber dort war, als er sein Werk endlich fertig hatte, die liberale Revolution schon wieder Geschichte.

Mehr Erfolg sollte einer seiner letzten Initiativen beschieden sein. In den 1820er Jahren wurden im Vereinigten Königreich pro Jahr etwa 75 Verbrecher hingerichtet – viel zu wenig für die Ausbildung der Ärzte. Die Institute kauften die meisten Leichen den finsteren »Auferstehungsmännern« ab und stellten keine Fragen, denn sie ahnten ja doch, dass ihnen frisch Beerdigte geliefert wurden, die man nachts ausgegraben hatte. Die Angehörigen wussten davon natürlich nichts, allenfalls die bestochenen Friedhofswärter.

1826 schickte Bentham dem britischen Innenminister einen Gesetzentwurf, der an die aktuelle Diskussion über Organspenden erinnert. Heute schlagen einige Ökonomen vor, das Ausfüllen eines Spenderausweises so zu belohnen: Wer bereit ist, postmortal zu spenden, der soll bevorzugt werden, falls er selbst eine Organspende benötigt. Bentham meinte, in Krankenhäusern sollten nur Patienten behandelt werden, die einverstanden waren, sich im Todesfall sezieren zu lassen. Er vergaß nicht, bei der Gelegenheit sein eigenes Testament zu erwähnen:

Wie gering auch die Dienste gewesen sein mögen, die meine Kräfte mir erlaubten, der Menschheit zu meinen Lebzeiten zu leisten, so bleibe ich doch nach meinem Tode nicht völlig nutzlos.

Der Minister antwortete höflich, zog es allerdings vor, nicht an dem Tabu zu rühren und eine öffentliche Diskussion zu vermeiden.

Doch damit blieben Leichen knapp, und 1828 kamen zwei besonders durchtriebene Gesellen in Edinburgh, William Burke und William Hare, auf die Idee, sich das Bestechungsgeld und das mühevolle Graben zu sparen. Sie töteten sechzehn Menschen, bevor sie aufflogen und selbst auf dem Seziertisch landeten (Burkes Skelett wird bis heute im Anatomischen Museum der Edinburgh Medical School aufbewahrt). Dies und einige Nachahmer, die nun ebenfalls »Burking« betrieben, erhöhten die Bereitschaft, auf Benthams Gesetzentwurf zurückzukommen, unterstützt von einflussreichen Bentham-Anhängern im Parlament. Die Einverständniserklärung von Krankenhauspatienten fiel allerdings unter den Tisch; der »Anatomy Act« erlaubte das Sezieren von Leichen aus Armenhäusern, auf die Angehörige, die ein Begräbnis hätten bezahlen können, binnen 48 Stunden nach dem Tod keinen Anspruch erhoben.

Wenige Wochen bevor dieses Gesetz in Kraft trat, starb Bentham im Alter von 84 Jahren. Zwei Tage später, am 8. Juni 1832, erhielten Freunde und ausgewählte Bentham-Bewunderer die Einladung zu seiner Leichenöffnung, vorgenommen und von einem Vortrag begleitet durch seinen Freund Dr. Thomas Southwood Smith. Jeder der Eingeladenen durfte zwei weitere Personen mitbringen.

Gut möglich, dass sich Benthams Freunde zum ersten Mal begegneten, denn Bentham pflegte sie nur einzeln zu empfangen. Dabei war er ausgesprochen wählerisch – als die berühmte Madame de Staël England besuchte, ließ sie ihm ausrichten, sie werde niemanden aufsuchen, solange sie nicht Bentham getroffen habe. Er bedaure, ließ Bentham antworten, in dem Fall würde sie eben niemanden treffen.

Die Leiche zu sezieren war nicht die einzige Aufgabe, die Dr. Southwood Smith zu erledigen hatte. Bentham hatte sein Testament um einen wichtigen Punkt erweitert: Das Skelett sollte mit Benthams ausgestopftem Sonntagsanzug bekleidet auf einen Stuhl gesetzt werden; darauf war der vorher vom Leib getrennte und mumifizierte Kopf zu setzen. Bentham hatte das lange vorbereitet: Er hatte seinen Ofen für Mumifizierungs-Experimente zur Verfügung gestellt, und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens trug er die Glasaugen mit sich herum, die in seinen getrockneten Kopf eingesetzt werden sollten.

In einem nachgelassenen Manuskript, das erst 1995 veröffentlicht wurde, wirbt Bentham für die allgemeine Übernahme dieses Verfahrens: den Körper sinnvollen Verwertungen zu überlassen, aus dem Kopf dagegen eine »Auto-Ikone« zu machen, ein Wort, das Bentham erfunden hatte: So wie der Autor in der Autobiografie sein eigenes Leben beschreibt, so sei die Auto-Ikone »ein Mensch, der sein eigenes Ebenbild ist«. Wohin aber mit den Köpfen? Er erwähnt die platzsparende Anhäufung von Kanonenkugeln in Munitionsarsenalen, spricht sich dann jedoch gegen diese Pyramidenform aus, da man so nur einen Teil der Auto-Ikonen sehen könne, im Gegensatz zu einer Unterbringung in Wandregalen, oder sogar im Freien, wenn man sie mit einer Schicht Kopalharz vor dem Regen schützt. Wie auch immer, anstelle von Gräbern könnten die Hinterbliebenen dann die Auto-Ikonen besuchen. Die Gelehrten sind sich nicht einig, ob es sich bei dieser Schrift um eine Satire handelt oder nicht.

Benthams letzter Wille jedenfalls wurde getreulich erfüllt. Die Knochen sind mit Kupferdraht verbunden, mit Stroh und diversen anderen Materialien umhüllt, zum Schutz vor Ungeziefer dienten Lavendel und Naphthalin. Wunschgemäß behielt Bentham auch seinen Spazierstock »Dapple« (nicht der einzige Gegenstand, den Bentham liebevoll benannte, von seiner Teekanne ist überliefert, dass er sie »Dickey« taufte). Dr. Southwood Smith war ein seriöser Arzt, aber ein stümperhafter Konservator. Mit einer durch Schwefelsäure verstümmelten Nase, viel zu schnell mit einer Luftpumpe dehydriert und erbärmlich geschrumpft, hatte der Kopf jede Ähnlichkeit mit Bentham verloren – bevor ich ein Foto davon in Vorlesungen zeige, gebe ich zarten Gemütern die Gelegenheit, sich die Hand vor die Augen zu halten (was natürlich keiner macht). Schon bald wurde ein ansehnlicher Wachskopf auf den Körper gesetzt.

Benthams Schädel aber diente 72 Jahre nach seinem Tod noch einmal der Wissenschaft: Der Statistiker Karl Pearson und seine Mitarbeiterin Marie A. Lewenz begründeten 1904 ausführlich, warum an der Vermutung, zwischen Intelligenz und Schädelvolumen bestehe ein Zusammenhang, nichts dran ist. Sie stützen sich auf umfangreiche Datensammlungen, aber um der Anschaulichkeit willen stellen sie Bentham als prominenten Fall besonders heraus. Sie berichten detailliert über Benthams Schädel, der sich als ziemlich durchschnittlich entpuppte.

1992 besuchte Bentham Deutschland. Er war Teil der Ausstellung »Metropole London. Macht und Glanz einer Weltstadt 1800–1840«, unter der Schirmherrschaft von Königin Elizabeth II. Zu den anderen 704 Exponaten, die in Essen zu sehen waren, gehörten die Galionsfigur der H. M. S. London, einige Modelle der ersten Dampfmaschinen und Lokomotiven, ein Modell der ersten Rechenmaschine von Charles Babbage, ein mechanischer Schrittzähler für Pferde sowie eine Medaille, die an das Ende der Sklaverei in den britischen Kolonien 1834 erinnerte.

Damals lag Benthams mumifizierter Kopf noch zwischen seinen Füßen. Danach wurde er eine Zeitlang separat in einer Kiste aufbewahrt, die kürzlich für eine DNA-Analyse geöffnet wurde. (Hatte er wirklich Asperger? Das Ergebnis steht noch aus.) Eine Journalistin beschrieb den Geruch des Kopfes als Mischung aus Essig, Füßen, verdorbenem Trockenfleisch und feuchtem Staub.

Zu Keynes passt das nicht

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