Читать книгу Grabesblüte - Schweden-Krimi - Björn Hellberg - Страница 4
Sonntag, 17. September, früher Abend
ОглавлениеDas planvoll Böse brütete im bald undurchdringlichen Dunkel des Waldes, während der alte Mann mühsam seiner gewohnten Abendbeschäftigung nachging. Unversöhnliche Augen folgten ihm, während er, schwer auf seinen Spazierstock gestützt, vorantaperte, nur um etwa alle drei Minuten stehen zu bleiben und eine Verschnaufpause einzulegen.
In letzter Zeit war er immer gebrechlicher geworden. Früher hatte er auf seinen Spaziergängen nie Pausen gebraucht. In seiner besten Zeit war er ausdauernd wie kein Zweiter gewesen.
Ihm fiel eine bekannte Lebensweisheit ein: Je schneller man in seiner Jugend gelaufen ist, desto älter wird man.
Nun, wie auch immer, das Gehen fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher, das stand jedenfalls fest.
Bei seinen gelegentlichen Einkaufsgängen griff er zur Gehhilfe. In der Stadt war das sehr praktisch. Nur hier nicht. Auf den weichen Waldwegen war damit nichts anzufangen. Er hatte es einmal versucht, aber sofort aufgeben müssen. Die Räder sanken zu tief in den Erdboden ein und rutschten ihm weg.
Natürlich gab es andere Spazierwege in Stad. Zum Beispiel gefiel ihm der Park in der Stadtmitte sehr gut. Aber bis dahin war es von seiner Wohnung aus zu weit. Dieses abgelegene, ruhige Gebiet hinter den tristen Hochhäusern von »Grönland« war für ihn günstiger gelegen. Auf den Straßen zwischen den vielen Mietskasernen spazieren zu gehen, sagte ihm gar nicht zu. Der Weg ins Stadtzentrum war leider zu weit, und das Gedrängel in Bussen mochte er nicht. Ein Taxi kam für einen Mann mit seinen bescheidenen Mitteln natürlich gar nicht erst infrage.
An sich konnte er sich ja auch den Seniorenfahrdienst bestellen, aber das war mit ein wenig Aufwand verbunden. Zudem wollte er niemandem zur Last fallen. Schließlich könnte eine Zeit kommen, in der er diesen Service wirklich brauchte, und er wollte nicht als ein Parasit angesehen werden, der die Gesellschaft unnötig belastete. Bislang hatte er sich aus eigener Kraft achtzig Jahre lang über Wasser gehalten, und wenn es nach ihm ging, würde er bis zu seinem Tod so weitermachen. Natürlich wusste er, dass ihm die Benutzung des Fahrdienstes zustand, doch trotz seiner ausgeprägten Sparsamkeit ging es ihm gegen den Strich, um Zuwendungen bitten oder betteln zu müssen.
Also musste er sich wohl mit diesem etwas ungemütlichen Waldgebiet abfinden. Hier war er wenigstens allein mit seinen Gedanken.
Diese Abendstunden waren wie ein Geschenk für ihn. Ein paar Mal hatte er versucht, sie ausfallen zu lassen. Immer mit dem gleichen betrüblichen Ergebnis: Er konnte sehr schlecht einschlafen.
Seine Abendspaziergängen machten einen klaren Kopf und erschöpften ihn körperlich. Davon war er geradezu abhängig.
Da er nie allzu lange fortblieb, ließ er das Licht in der Wohnung an. Das war zwar Verschwendung, keine Frage. Aber die Vorstellung, in eine dunkle Wohnung zurückzukommen, sagte ihm gar nicht zu; das kehrte seine Einsamkeit so heraus. Das Licht war wie ein Willkommensgruß, den kleinen Luxus konnte er sich wohl leisten. Außerdem hatte er nur die eine Hälfte des Jahres erhöhte Stromkosten. Und wofür sparen und hamstern, wenn man am Ende doch nichts mit hinübernehmen konnte?
In der Regel ging er zwischen sieben und acht Uhr hinaus. Wieder zu Hause angekommen, entspannte er sich dann noch ein Stündchen vor dem Fernseher, ehe er seinen Toilettengang erledigte. Danach war es höchste Zeit für ihn, ins Bett zu gehen. Er hatte festgestellt, dass er mit dieser Zeiteinteilung gut zurechtkam, also gab es keinen Grund, etwas daran zu ändern.
Der Wald zog sich Richtung Norden. Unter den Bäumen fand er Schutz vor dem Wind, der bald kalt und durchdringend heranfegen würde – wie ihm der schwedische Winter verhasst war! Aber noch ließ es sich aushalten. Dieser Septemberabend war sogar verhältnismäßig mild. Der frische, klare Sonntag hatte immer mal wieder reichlich Sonnenschein gebracht.
Die Aussichten für die nächsten Tage waren auch erfreulich. Eine Woche lang schönes Herbstwetter lautete die Voraussage. Und heutzutage lagen sie meistens richtig mit ihren Prognosen, mit all den modernen Hilfsmitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Wie waren die Wetterfrösche nur früher zurechtgekommen, als sie noch keinen Zugang zu Satellitenaufnahmen hatten?
Der alte Mann blieb stehen. Auf seinen Stock gestützt, sog er keuchend in kurzen Atemzügen die frische Herbstluft ein. Unter den Bäumen kam das Böse leise und zielbewusst Schritt für Schritt näher, während in der Ferne gedämpft und monoton der Wochenendverkehr vorbeibrauste.
Der Alte überlegte, ob er noch ein Stück weitergehen oder sich auf den Heimweg machen sollte. Er brauchte nicht lange, um sich zu entscheiden.
Bald würde das Dunkel der Dämmerung in rabenschwarze Finsternis übergehen, also war es wohl das Sicherste umzukehren.
Nicht etwa, weil er Angst im Dunkeln hatte.
Die vielen Jahre an Deck mit dem Meer als einzigem Nachtgefährten hatten ihn abgehärtet. Im Dunkeln fürchtete er sich nicht, das war schon seit seiner Kindheit so gewesen.
Allerdings könnte er den Weg nicht mehr richtig erkennen, wenn sich das Dunkel zwischen den Stämmen verdichtete. Er fürchtete, einen falschen Schritt zu machen, hinzufallen und sich zu verletzen. So etwas konnte in seinem Alter gefährlich sein. Hatte man nicht oft genug von alten Leuten gehört, die mit einem Oberschenkelhalsbruch liegen geblieben waren?
So wollte er nicht enden. Auf gar keinen Fall.
Außerdem: Wer sollte ihm zu Hilfe kommen? Hier, in der selbst gewählten Einsamkeit, würde ihn niemand hören, wenn ein Unglück geschah. Da konnte er in seiner Qual herumliegen und sich heiser schreien, ohne dass es etwas nützte. In dieses Gebiet kamen fast nie andere Spaziergänger. Das Waldstück war nicht besonders beliebt, mit ein Grund, weshalb er es sich für seine Abendspaziergänge ausgesucht hatte. Die Einsamkeit gefiel ihm.
Eine Weile hatte er sich überlegt, ob er sich ein Handy anschaffen sollte, nur zur Sicherheit. Doch mit seiner Skepsis gegenüber allem Neumodischen hatte er sich nie zum Kauf überwinden können. Vielleicht war es an der Zeit, seine Einstellung zu ändern, aber das Ganze war ja auch eine Kostenfrage.
Er machte auf dem Absatz kehrt, holte dabei zu viel Schwung und merkte, wie er den Bodenkontakt verlor. Ein paar Schrecksekunden lang stand er schwankend da, den Stock fest und verzweifelt umklammernd, kurz davor umzufallen.
Doch er fand das Gleichgewicht wieder und konnte sich nach ein paar tiefen Atemzügen auf den Nachhauseweg machen.
In einiger Entfernung tappte lautlos das todbringende Böse, den Blick unablässig auf die gekrümmte Gestalt gerichtet, die sich mit dem Stock vorantastete und die so langsam ging, so aufreibend langsam.
Der Alte erinnerte sich an seine Zeit auf See. So lange war das her, dass er nicht mehr wusste, ob er sich danach sehnte oder nicht.
Nicht, dass es ihm jetzt noch etwas bedeutet hätte.
Und wenn er sich noch so sehr anstrengte, an die meisten Namen all der vielen Schiffe, mit denen er gefahren war, konnte er sich einfach nicht mehr erinnern.
Andere Dinge dagegen hatte er noch heute glasklar vor Augen. So etwa die Fahrten mit seinem Lieblingsschiff Kirribilli – ein Frachtschiff der Transatlantic – unter anderem nach Australien und Neuseeland: wundervolle Länder, weit weg vom südschwedischen Winterschneematsch und den beißend scharfen Höllenwinden.
Auf ihr – der Kirribilli – war er so gerne gefahren.
Einmal hatte er sich ernsthaft überlegt, in Adelaide abzumustern, um sein Glück als Opalsucher in Port Augusta zu versuchen, aber seine Frau hatte ihn überredet, lieber auf Nummer Sicher zu gehen.
Im Geiste hörte er noch ihre ängstliche hohe Stimme: »Da weiß man wenigstens, was man hat. Wer weiß, was einen dort erwartet, Ragnar? Schlag dir diese albernen Grillen aus dem Kopf und mach bei der Reederei weiter. Du weißt doch, dass was Kleines unterwegs ist.«
Plötzlich packte ihn eine Riesenwut auf sie, weil sie all seine Aussichten auf Abenteuer und Reichtum in Port Augusta im Keim erstickt hatte. Und wenn er eine eigene Mine gefunden und abgebaut hätte? Er hätte mit Opalen steinreich werden können, anstatt auf seine kümmerliche Rente angewiesen zu sein, die ihn zu einer schäbigen Einzimmerwohnung mit Kochnische in »Grönland« verdammte, der hässlichsten Wohngegend von Stad.
Der jäh aufgeflammte Zorn verschwand ebenso rasch, wie er gekommen war. Er sah ein, dass er ihr natürlich nicht eine so ungeheuer lange zurückliegende Entscheidung anlasten konnte. Und außerdem hatte er niemanden, gegen den er seinen Zorn richten konnte, weil Agnes ja nicht mehr am Leben war.
Sie war vor ziemlich langer Zeit gestorben, aber wann genau, wusste er nicht mehr.
Seltsam: die Todestage seiner beiden Eltern (die das Zeitliche gesegnet hatten, als er noch in den Jugendjahren gewesen war) konnte er präzise benennen, aber er wusste nicht einmal mehr, in welchem Jahr seine eigene Frau verschieden war.
Aber es musste doch wohl 1992 gewesen sein?
Auf jeden Fall im Spätwinter. Er sah noch den braunen Schneematsch an den Rädern des Krankenwagens vor sich, als die Sanitäter sie nach dem heftigen Herzinfarkt, der ihr Leben in einem einzigen grausamen Moment beendet hatte, aus der Wohnung trugen. Im Fenster der Nachbarwohnung hatten sich die Gardinen bewegt – ihr Fortgang aus dem Haus war nicht unbemerkt geblieben.
Ein paar Tage später hatte die kräftige Sonne die letzten Schneewehen des Winters in frühlingswilde Bäche und Rinnsale verwandelt. Das wusste er noch, nur nicht mehr, in welchem Jahr das gewesen war.
Aber es musste doch wohl 1992 gewesen sein?
Wenn er nach Hause kam, würde er Erling anrufen müssen, um zu überprüfen, ob es stimmte.
Obwohl, vielleicht war das doch keine so gute Idee. Wenn der ihm dann Senilität vorwarf? Sein Sohn hatte so merkwürdige Ideen. Das konnte sich dann so anhören:
Weißt du wirklich nicht mehr, wann Mama gestorben ist? Das ist ja furchtbar. Bist du sicher, dass du in der kleinen Bude allein zurechtkommst? Wollen wir nicht lieber zusehen, dass wir dich in einem gemütlichen Heim unterbringen, wo man sich um dich kümmert und wo du die nötige Pflege erhältst?
Der alte Mann hatte nicht die Absicht, in ein Heim zu ziehen, und wenn es noch so gemütlich war. Am besten rief er den rechthaberischen Sohn gar nicht erst an, sondern konzentrierte sich ganz auf Agnes. Er war sich nicht einmal sicher, ob sie ihm überhaupt fehlte. Ihr Eheleben war nie überschäumend gewesen. Durch seine ständige Abwesenheit war die erste leidenschaftliche Liebe auffallend rasch abgekühlt, und als sein Sohn aus dem Nest geflogen war, war es, als hätten sie beide einander immer weniger zu sagen gehabt.
Die meiste Zeit schwiegen sie einander an.
Zur gleichen Zeit, als Erling auszog, ging er selbst in Rente, und es dauerte nicht lange, bis den Eheleuten klar wurde, dass sie sich auseinander gelebt hatten. Ihre Ansichten und Gewohnheiten klafften weit auseinander; dass sie trotzdem zusammenblieben, lag sicherlich nur an Gewohnheit, Bequemlichkeit und falscher Rücksicht. Keiner von beiden hatte die Kraft oder den Mut zu einer Trennung.
Und dann war sie gestorben, an einem Märztag mit Schneematsch im Jahr 1992.
Wenn es nicht 1991 gewesen ist.
Vielleicht konnte er es doch wagen, Erling anzurufen, nur um seine Neugier zu stillen. Schließlich konnte er das ja so ganz nebenbei erwähnen, während er so tat, als riefe er aus einem ganz anderen Grund an.
Das vorsätzlich Böse war jetzt keine zehn Meter mehr von seinem unwissenden Opfer entfernt, bereit zuzuschlagen.
Bald würde der entscheidende Schlag fallen.
Es war so weit.
Der Alte hatte keine Ahnung, was für ein Grauen sich hinter den Baumstämmen am Wegrand verbarg. Sonst hätte er natürlich alles unternommen, um sich in Sicherheit zu bringen, so schwer das in seiner Verfassung auch sein mochte.
Stattdessen machte er eine Pause, während der er angestrengt das Gesicht seiner Frau heraufzubeschwören versuchte. Panik befiel ihn, als das Bild verschwommen und konturlos blieb, als hätte es sie nie gegeben.
Vielleicht stand es schlimmer um ihn, als ihm selbst bewusst war: sich nicht einmal die Gesichtszüge der Person vergegenwärtigen zu können, mit der er vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war – schlimm, schlimm!
Doch sein schlechtes Gefühl legte sich, als sie plötzlich vor ihn trat, breit in den Hüften, mit Pausbacken, die Nase rund wie eine Ofenkartoffel, die glanzlosen Haare streng zurückgekämmt.
So hatte sie ausgesehen. Ganz genauso.
Und in dem Moment verspürte er einen Stich, etwas wie Sehnsucht, ein Gefühl von Verlust; seine Einsamkeit machte sich deutlicher bemerkbar und erfüllte ihn mit Trauer. Er bekam Lust, alle Hemmungen fallen zu lassen und einfach draufloszuheulen.
Er schluckte ein paar Mal und ging weiter, blieb aber fast sofort wieder stehen, mitten in einem seiner wackligen Schritte.
Das Böse ging zum Angriff über.
»Leandersson?«
Der Alte zuckte zusammen.
Bildete er sich jetzt etwa auch noch ein, dass er Stimmen hörte?
Konnte das sein?
»Leandersson?«
Jetzt bestand kein Zweifel mehr.
Jemand hatte ihn angesprochen.
»Ja?«, antwortete er, noch nicht ängstlich, nur erstaunt.
Es kam sehr selten vor, dass er auf seinen Abendspaziergängen jemandem begegnete. Er hatte auch niemanden gesehen.
Er blickte sich um, entdeckte aber niemanden.
»Wer ist das?«
Woher die Antwort kam, ließ sich unmöglich feststellen:
»Nur ich.«
»Und wer ist Ich?«
»Der Graue.«
»Der Graue?«, wiederholte Leandersson ungläubig.
Er fand, dass die beiden Wörter merkwürdig im Schädel hallten. Plötzlich überfiel ihn die Furcht; etwas stimmte nicht, vielleicht etwas mit der Stimme. Sie klang so unnatürlich, so fremd. Wenn er gekonnt hätte, wäre er sofort geflohen, aber ihm war klar, dass er nicht besonders weit kommen würde. Mit keuchendem Atem lehnte er sich auf den Stock, auf das Schlimmste gefasst.
Etwas stieg aus dem Wald und glitt langsam auf ihn zu.
Der Alte versuchte, den schemenhaften Umriss schärfer ins Auge zu fassen, und spürte zugleich, wie sich sein Unbehagen in Entsetzen steigerte: Wer konnte das bloß sein?
Die Ahnung einer Gefahr wuchs von Sekunde zu Sekunde.
Die Schritte kamen näher.
Wer war das? Wie sah er aus?
Unerbittlich und drohend kam die Gestalt auf ihn zu, unscharf, wie in Nebel gehüllt – noch ließ sich nicht ein Gesichtszug desjenigen erkennen, der sich als der Graue bezeichnet hatte. Auf dem Kopf befand sich etwas Dunkles, Spitzes. Eine Kutte? Was immer es war, es verbarg das Gesicht gründlich.
Die Gestalt begann, schneller zu laufen, zu rennen. Als die Gestalt die Rechte hob, wurde Ragnar Leandersson von einer Höllenangst befallen, wie er sie noch nie zuvor auch nur annähernd empfunden hatte.