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Die Kirche steht in den Gedanken des Bauern auf einer hohen Stelle und ganz für sich, weihevoll, die Feierlichkeit der Gräber ringsumher, den lebendigen Gottesdienst drinnen. Es ist das einzige Haus im ganzen Tal, worauf er Pracht verwandt hat, und ihr Turm ragt deswegen auch etwas höher empor, als er zu ragen scheint. Ihre Glocken begrüßen ihn schon aus der Ferne auf seinem Gange durch den klaren Sonntagmorgen, und er lüftet immer die Mütze, wenn er sie hört, als wollte er sagen: »Dank für das letztemal!« Es besteht ein Bündnis zwischen ihm und ihnen, das niemand kennt. In frühester Kindheit stand er wohl in der offnen Tür und lauschte ihrem Klang, während die Kirchgänger in stillem Zuge unten auf dem Wege vorübergingen; der Vater schloß sich ihnen an, aber er selbst war noch zu klein. Er verband damals mancherlei Vorstellungen mit diesem schweren, vollen Ton, der eine oder auch zwei Stunden die Herrschaft zwischen den Bergen hatte und von einer Felswand zur andern widerhallte; eins aber war unzertrennlich von diesem Getön: reine, neue Kleider, geschmückte Frauen, geputzte Pferde mit blitzendem Geschirr.

Und wenn sie dann eines Sonntags über seinem eignen Glück läuten und er selber in funkelnagelneuen, aber viel zu großen Kleidern gesetzt an der Seite des Vaters einhergeht und das erstemal dahin soll – ja, dann liegt Freude und Jubel in ihrem Klange. Da öffnen sie ihm die Türen zu alledem, was er nun zu sehn bekommen soll! Und auf dem Heimwege, wenn sie über seinem Haupte dröhnen, das noch schwer und wirr ist von dem Gesang, der Messe, den Worten der Predigt, die auf ihn eingedrungen und wieder verdrängt worden sind von alledem, was das Auge zugleich aufgenommen hat: die Altartafel, die Trachten, alle die Menschen – da wölben sie sich ein für allemal über alle diese Eindrücke und geben der kleinern Kirche, die er fortan in seinem Innern trägt, die rechte Weihe.

Ist er ein wenig älter geworden, so muß er auf den Bergen das Vieh hüten; wenn er aber an einem schönen, taufrischen Sonntagmorgen so auf dem Felsblock sitzt, das Vieh zu seinen Füßen, und hört, wie die Kirchenglocken das Herdengeläute übertönen, da wird ihm ganz wehmütig ums Herz. Denn mit ihnen tönt etwas Lichtes, Leichtes, Lockendes zu ihm herauf, der Gedanke an die Bekannten bei der Kirche, an die Freude, wenn man da ist, und die noch größere, wenn man dagewesen ist, an das gute Essen daheim, an den Vater, die Mutter, die Geschwister, an das Spiel auf der Wiese an fröhlichen Sonntagabenden – und das kleine Herz wird ganz aufrührerisch in der Brust. Aber seine Gedanken kehren doch immer wieder zu den Kirchenglocken zurück, die zu ihm heraufschallen; er sinnt nach und entdeckt schließlich auch ein Bruchstück eines Kirchenliedes in seinem Gedächtnis; das singt er mit gefalteten Händen und einem sehnsüchtigen Blick ins Tal hinab, spricht dann ein kleines Gebet hinterher, springt auf, ist fröhlich und stößt in sein langes Hirtenhorn, daß es in den Bergen widerhallt.

Hier in den stillen Bergtälern hat die Kirche noch ihre besondre Sprache für jedes Alter, ihr besondres Aussehn für jedes Auge; vieles kann sich dazwischen aufgetürmt haben, nichts aber ragt über sie hinweg. Den Konfirmanden steht sie erhaben und vollkommen da – mit erhobnem Finger, halb drohend, halb winkend dem Jüngling, der seine Wahl getroffen hat; breitschultrig und stark über der Sorge des Mannes, geräumig und mild über dem müden Greise. Mitten während des Gottesdienstes werden die kleinen Kinder hereingetragen und getauft, und es ist bekannt, daß bei dieser Handlung die Andacht am größten ist.

Man kann deswegen norwegische Bauern – weder gute noch schlechte – nicht zeichnen, ohne irgendwo mit der Kirche in Berührung zu kommen. Das mag einförmig erscheinen, aber das ist vielleicht nicht das Schlimmste. Dies sei ein für allemal gesagt, und nicht einzig und allein wegen des Kirchenbesuchs, der nun folgt.

Thorbjörn war glücklich über den Gang zur Kirche und alles, was er sah; wunderlich viele Farben nahm sein Auge vor der Kirche in sich auf, er fühlte sich bedrückt durch die Stille drinnen, die auf allen und allem ruhte, ehe noch die Messe begonnen hatte; und obwohl er selber vergaß, den Kopf zu senken, als das Gebet verlesen wurde, war er doch wie gebeugt durch den Anblick mehrerer hundert gebeugter Köpfe. Der Gesang erschallte, und alle rings um ihn her sangen, sangen auf einmal, so daß es ihm fast ängstlich zumute wurde. So versunken saß er da, daß er wie aus einem Traum in die Höhe fuhr, als ihr Stuhl leise geöffnet wurde und jemand eintrat. Nachdem der Gesang beendet war, reichte der Vater dem Manne die Hand und fragte: »Geht alles gut auf Solbakken?«

Thorbjörn riß die Augen auf; aber soviel er auch starrte, war es ihm unmöglich, diesen Mann mit irgendeiner Art von Zauberei in Zusammenhang zu bringen. Es war ein freundlich aussehender, blonder Mann mit großen blauen Augen, hoher Stirn und stattlicher Haltung; er lächelte, wenn man ihn anredete, und sagte ja zu allem, was Sämund sagte, war aber sonst wortkarg. – »Da kannst du Synnöve sehn,« sagte der Vater, indem er sich zu Thorbjörn hinabbeugte, ihn auf sein Knie zog und nach dem ihnen gerade gegenüberliegenden Frauenstuhl zeigte. Da kniete ein kleines Mädchen oben auf der Bank und sah über die Seitenlehne des Kirchstuhls herüber; sie war noch blonder als der Mann, so blond, wie er nie etwas Ähnliches gesehn hatte. Sie hatte rote, flatternde Bänder an der Mütze, unter der das weißblonde Haar hervorguckte, und lachte zu ihm herüber, so daß er eine ganze Weile nichts andres ansehn konnte als ihre weißen Zähne. Sie hielt ein schimmerndes Gesangbuch in der einen Hand und ein zusammengefaltetes rotgelbes seidnes Taschentuch in der andern und ergötzte sich nun damit, daß sie das Tuch um das Gesangbuch wickelte. Je mehr er sie anstarrte, um so mehr lachte sie, und nun wollte auch er auf die Bank knien, so wie sie. Da nickte sie ihm zu. Er sah sie eine Weile ganz ernsthaft an, dann nickte auch er. Sie lachte und nickte noch einmal; er nickte zurück, und noch einmal und noch einmal; sie lachte, nickte aber nicht mehr – bis nach einer Weile, als er es schon vergessen hatte, da nickte sie.

»Ich will auch sehn!« hörte er eine Stimme hinter sich, und in demselben Augenblick fühlte er sich an den Beinen auf den Boden herabgezogen, so daß er beinahe gefallen wäre; es war ein vierschrötiger kleiner Bursche, der sich nun tapfer auf seinen Platz hinaufarbeitete; auch er hatte blondes, aber struppiges Haar und eine Stumpfnase. Aslak hatte Thorbjörn gelehrt, wie die bösen Jungen, mit denen er in der Kirche und in der Schule zusammentreffen würde, gehandhabt werden müßten; deswegen kniff denn Thorbjörn den Buben von hinten, so daß der schon laut aufschreien wollte, sich aber zusammennahm und statt dessen ganz geschwinde wieder von der Bank herabkroch und Thorbjörn bei beiden Ohren packte. Dieser faßte ihn beim Schopf und zwang ihn unter sich, noch schrie er nicht, biß aber Thorbjörn in den Schenkel; Thorbjörn zog sein Bein zurück und preßte das Gesicht des andern hart gegen die Erde. Da wurde er selber beim Rockkragen gepackt und wie ein Strohsack in die Höhe gehoben – es war der Vater, der ihn auf seinen Schoß setzte. »Wäre es nicht in der Kirche, so bekämst du Prügel,« flüsterte er ihm ins Ohr und drückte seine Hand so, daß es ihn bis in den Fuß schmerzte. Da fiel ihm Synnöve ein, und er sah wieder hinüber; sie stand noch da, aber so starr und entsetzt, daß ihm eine Ahnung davon aufging, daß das, was er getan hatte, etwas sehr Schlimmes sein müsse. Sobald sie merkte, daß er sie ansah, kroch sie auf die Bank hinab und war nicht mehr zu sehn.

Nun kam der Küster, und dann kam der Pfarrer: aufmerksam hörte und sah er sie an. Dann kam abermals der Küster und hinterdrein wieder der Pfarrer; aber noch immer saß er da auf dem Schoß des Vaters und dachte: »Ob sie wohl nicht bald wieder aufsehn wird?« Der Junge, der ihn von der Bank heruntergezogen hatte, saß auf einem Schemel weiter hinten im Stuhl, und jedesmal, wenn er aufstehn wollte, bekam er einen Puff in den Rücken von einem alten Manne, der auch dasaß und nickte, aber regelmäßig aufwachte, sobald der Junge Miene machte, aufzustehn. – »Ob sie wohl nicht bald herübersehn wird?« dachte Thorbjörn, und jedes rote Band, das er ringsumher flattern sah, und jedes bunte Bild in der alten Kirche war entweder ebenso groß oder ebenso klein wie sie. Ja, da hob sie den Kopf wieder hervor! Sowie sie ihn aber erblickte, zog sie ihn ernsthaft wieder zurück. – Noch einmal kamen der Küster und der Geistliche zum Vorschein, die Glocken läuteten, und man erhob sich. Der Vater sprach wieder leise mit dem blonden Manne; sie gingen zusammen hinüber nach dem Frauenstuhl, wo man sich ebenfalls erhoben hatte. Die erste, die heraustrat, war eine blonde Frau, die ebenso lächelte wie der Mann, aber doch etwas schwächer; sie war ganz klein und blaß und hielt Synnöve an der Hand. Thorbjörn eilte sofort geradeswegs auf sie zu; sie aber entzog sich ihm schnell und verkroch sich hinter dem Kleide ihrer Mutter. – »Laß mich,« sagte sie. – »Der da ist wohl noch nie in der Kirche gewesen,« sagte die blonde Frau und legte ihm die Hand auf den Kopf. – »Nein, deswegen prügelt er sich auch das erstemal, wo er drin ist,« sagte Sämund. Thorbjörn sah beschämt zu ihr auf und dann zu Synnöve, die ihm noch ernster erschien. Sie gingen alle hinaus, die Eltern im Gespräch miteinander, Thorbjörn aber hinter Synnöve her, die sich jedesmal, wenn er ihr näher kam, dichter an die Mutter herandrängte. Den andern Jungen sah er nicht mehr. Draußen auf dem Kirchenanger blieben sie stehn und begannen ein längeres Gespräch. Thorbjörn hörte mehrmals den Namen Aslak, und da er fürchtete, es könne bei dieser Gelegenheit auch ein wenig von ihm selber geredet werden, zog er sich zurück. – »Du brauchst das nicht zu hören,« sagte die Mutter zu Synnöve, »geh ein wenig beiseite, mein Herz – geh weg, sage ich dir.« Synnöve zog sich zögernd zurück. Jetzt näherte sich Thorbjörn ihr und sah sie an, und sie sah ihn an, und so standen sie eine ganze Weile da und betrachteten sich gegenseitig. Endlich sagte sie: »Pfui!« – »Weshalb sagst du pfui?« fragte er. – »Pfui!« sagte sie noch einmal. »Pfui, schäm dich,« fügte sie hinzu. – »Was habe ich denn getan?« – »Du hast dich in der Kirche geprügelt, und noch dazu während der Pfarrer vor dem Altare stand – pfui!« – »Ja, aber das ist schon lange her.« – Das leuchtete ihr ein, und nach einer Weile sagte sie: »Bist du der, der Thorbjörn Granliden heißt?« – »Ja; und bist du die, die Synnöve Solbakken heißt?« – »Ja. Ich habe immer gehört, du wärst ein so artiger Junge.« – »Nein, das ist nicht wahr, denn ich bin zu Hause der schlimmste von uns allen,« sagte Thorbjörn. – »So was habe ich doch noch nie gehört!« sagte Synnöve und schlug die kleinen Hände zusammen; »Mutter, Mutter – er sagt –« – »Schweig und geh weg,« entgegnete ihr die Mutter. Sie blieb stehn, wandte sich dann langsam um und kehrte rückwärtsgehend zurück, die großen, blauen Augen auf die Mutter gerichtet. – »Ich habe immer gehört, du wärst so artig,« sagte Thorbjörn. – »Ja, zuweilen, wenn ich recht fleißig gelernt habe,« erwiderte sie. – »Ist es wahr, daß es bei euch von Kobolden und Hexen und andern bösen Geistern wimmelt?« fragte er, stemmte den Arm in die Seite, setzte den einen Fuß vor und stützte sich auf den andern, wie er es von Aslak gesehn hatte. – »Mutter, Mutter, weißt du, was er sagt? Er sagt –« – »Laß mich in Frieden, hörst du, und komm nicht hierher, bis ich dich rufe.« – Sie mußte abermals langsam und rückwärtsgehend umkehren, sie nahm einen Zipfel ihres Taschentuchs in den Mund, biß darauf und zerrte daran. – »Ist es denn gar nicht wahr, daß da drüben in den Hügeln jede Nacht Musik gemacht wird?« – »Nein!« – »Hast du denn nie einen Kobold gesehn?« – »Nein!« – »Aber in Jesu Namen –« – »Pfui, das mußt du nicht sagen!« – »Ach was, das ist nicht schlimm,« sagte er und spuckte durch die Zähne, um ihr zu zeigen, wie weit er spucken könne. – »Ja, ja,« sagte sie, »denn sonst kommst du in die Hölle!« – »Glaubst du das?« fragte er bedeutend kleinmütiger; denn er hatte nur gedacht, er könnte Prügel dafür bekommen, und der Vater stand jetzt weit von ihm entfernt. – »Wer bei euch ist der Stärkste?« fragte er und setzte die Mütze ein wenig mehr auf die eine Seite. – »Das weiß ich wirklich nicht!« – »Ja, bei uns ist es der Vater, er ist so stark, daß er Aslak geprügelt hat, und der ist stark, das kannst du mir glauben.« – »So?« – »Ja, er hat einmal ein Pferd genommen und es in die Höhe gehoben.« – »Ein Pferd?« – »Das ist so wahr, so wahr – denn er hat es selber erzählt!« – Da zweifelte sie auch nicht mehr daran. – »Wer ist Aslak?« fragte sie. – »Das ist ein schlimmer Gesell, das kannst du mir glauben. Vater, der hat ihn so geprügelt, wie auf der ganzen Welt noch nie ein Mann geprügelt worden ist.« – »Prügelt ihr euch denn da drüben bei euch?« – »Ja, manchmal, dann – tut ihr es bei euch nicht auch?« – »Nein, nie!« – »Was tut ihr denn?« – »Ach, die Mutter kocht das Essen und strickt und näht; das tut Kari auch, aber sie kann es nicht so gut wie die Mutter, denn Kari ist so faul. Und Randi besorgt die Küche, und der Vater und die Knechte sind auf dem Felde oder auch zu Hause.« – Diese Erklärung schien ihn vollständig zu befriedigen. – »Aber jeden Abend lesen und singen wir,« fuhr sie fort, »und das tun wir des Sonntags auch.« – »Alle zusammen?« – »Ja!« – »Das muß langweilig sein!« – »Langweilig! Mutter, er sagt –« Aber dann fiel ihr ein, daß sie die Mutter nicht stören sollte. – »Du kannst mir glauben, ich habe viele Schafe!« sagte sie. – »Wirklich?« – »Ja, zwei bekommen diesen Winter Lämmer, und das eine, glaube ich ganz sicher, bekommt zwei.« – »So, du hast also Schafe, du?« – »Ja, ich habe auch Kühe und Schweine. Hast du denn keine?« – »Nein!« – »Dann komm nur zu mir, dann will ich dir ein Lamm schenken. Du sollst sehn, du bekommst dann mehrere davon.« – Das würde schrecklich lustig sein! – Sie standen eine Weile schweigend da. – »Könnte Ingrid nicht auch ein Lamm bekommen?« fragte er. – »Ingrid? Wer ist Ingrid?« – »Ingrid – die kleine Ingrid!« – Nein, die kannte sie nicht. – »Ist sie kleiner als du?« – »Freilich ist sie kleiner als ich – ungefähr so wie du.« – »Ach ja, die mußt du mitbringen, hörst du!« – Ja, das wollte er tun. – »Aber,« sagte sie, »da du ein Lamm bekommst, so soll sie ein Ferkel haben!« – Das fand er auch viel vernünftiger, und dann sprachen sie ein wenig über gemeinsame Bekannte, deren sie freilich nicht viele hatten. Die Eltern waren fertig, und sie mußten nach Hause gehen.

In der Nacht träumte er von Solbakken, und es war ihm, als sähe er da drüben nur weiße Lämmer und ein kleines blondes Mädchen mit roten Bändern zwischen ihnen umhergehn. Ingrid und er sprachen jeden Tag davon, daß sie hinübergehn wollten, sie hatten so viele Lämmer und kleine Ferkel zu hüten, daß sie gar nicht wußten, wie sie damit fertig werden sollten. Indessen wunderten sie sich sehr darüber, daß sie nicht sofort hinübergehn durften. – »Nur weil euch das kleine Mädchen eingeladen hat?« fragte die Mutter. »Hast du je so etwas gehört?« – »Ja, ja, wartet nur bis zum nächsten Sonntag, wo gepredigt wird,« sagte Thorbjörn, »da werdet ihr schon sehn.«

Der Sonntag kam. – »Du sollst so arg prahlen und lügen und fluchen,« sagte Synnöve da zu ihm, »daß du nicht eher kommen darfst, als bis du dir das abgewöhnt hast.« – »Wer hat das gesagt?« fragte Thorbjörn ganz verwundert. – »Die Mutter.«

Ingrid sah voller Erwartung der Heimkehr entgegen, und er erzählte ihr und der Mutter, wie es ihm ergangen wäre. – »Siehst du wohl!« sagte die Mutter. Ingrid aber sagte nichts. Doch von nun an gaben sie und die Mutter acht auf ihn, sobald er prahlte oder fluchte. Ingrid und er gerieten sich indessen eines Tages darüber in die Haare, ob der Ausdruck: »Der Hund fahre in mich!« als Fluch zu betrachten sei oder nicht. Ingrid bekam Prügel, und nun sagte er den ganzen Tag: »Der Hund fahre in mich!« Am Abend aber hörte der Vater es. – »Ja, er soll in dich fahren!« sagte er und versetzte ihm eine Ohrfeige, daß er zu Boden taumelte. Thorbjörn schämte sich am meisten vor Ingrid; aber nach einer Weile kam sie zu ihm hin und streichelte ihn.

Als ein paar Monate vergangen waren, gingen sie beide nach Solbakken hinüber; dann kam Synnöve zu ihnen, und sie waren wieder bei ihr, und so ging es während der ganzen Zeit, daß sie heranwuchsen. Thorbjörn und Synnöve lernten um die Wette; sie gingen in dieselbe Schule, und er machte schließlich größre Fortschritte; so gute Fortschritte machte er, daß sich der Pfarrer seiner annahm. Mit Ingrid ging es nicht so gut, und die beiden andern halfen ihr. Sie und Synnöve wurden so unzertrennlich, daß die Leute sie die Schneehühner nannten, weil sie immer beieinander flatterten, und weil sie beide so blond waren.

Es kam wohl vor, daß Synnöve sich über Thorbjörn ärgerte, weil er gar zu wild war und beständig in Schlägerei geriet. Ingrid legte sich dann immer ins Mittel, und sie waren gute Freunde wie zuvor. Hörte aber Synnöves Mutter von der Schlägerei, so durfte er in der Woche nicht nach Solbakken und nur mit genauer Not in der nächsten. Sämund wagte niemand etwas von dergleichen zu erzählen; »er ist zu hart mit dem Jungen,« sagte die Mutter und gebot allen Schweigen.

Als sie nun heranwuchsen, waren sie alle drei schön anzusehn, jedes freilich auf seine Weise. Synnöve wurde groß und schlank, hatte hellblondes Haar, ein feines, leuchtendes Gesicht und sanfte, blaue Augen. Sie lächelte, wenn sie sprach, und schon früh sagten die Leute, es sei ein Segen, in den Bereich dieses Lächelns zu kommen. Ingrid war kleiner, aber rundlicher, sie hatte noch helleres Haar und ein ganz kleines, rundes, weiches Gesicht. Thorbjörn wurde mittelgroß, aber er war gut gewachsen, hatte dunkles Haar, dunkelblaue Augen, scharfe Gesichtszüge und starke Glieder. Er pflegte, wenn er zornig war, zu erzählen, daß er ebenso gut lesen und schreiben könne wie der Schulmeister und sich vor niemand im ganzen Tal fürchte – den Vater ausgenommen, dachte er bei sich; aber das sagte er nicht.

Thorbjörn wollte gern früh konfirmiert werden, aber daraus wurde nichts. »Solange du nicht konfirmiert bist, bist du nur ein Knabe, und ich kann besser mit dir fertig werden,« sagte sein Vater. So kam es denn, daß er, Synnöve und Ingrid zu derselben Zeit zum Pfarrer gingen. Synnöve hatte auch lange gewartet, sie war fünfzehn Jahre und ging ins sechzehnte. – Man kann nie genug, wenn man sein Glaubensbekenntnis ablegen soll, hatte die Mutter immer gesagt, und der Vater Guttorm Solbakken hatte sein Ja dazu gesprochen. Da war es denn nicht zu verwundern, daß sich schon ein paar Freier zeigten, der eine der Sohn eines vornehmen Mannes, der andre ein reicher Nachbar. »Das ist aber doch zu arg! Sie ist ja noch nicht einmal eingesegnet!« – »Ja, dann müssen wir sie wohl einsegnen lassen,« meinte der Vater. Von alledem wußte aber Synnöve selbst nichts.

Auf dem Pfarrhofe hatten die Damen Synnöve so gern, daß sie sie hereinholten, um sich mit ihr zu unterhalten. Ingrid und Thorbjörn waren draußen bei den andern stehngeblieben, und als einer der Knaben zu ihm sagte: »Du kamst also nicht mit hinein? Die schnappen sie dir gewiß noch weg!« da kostete es den Burschen ein blaues Auge. Von nun an wurde es Sitte bei den andern Knaben, ihn mit Synnöve zu necken, und es zeigte sich, daß ihn nichts in einen so großen Zorn versetzen konnte. In einem Walde unterhalb des Pfarrhofes kam es schließlich verabredetermaßen zu einer großen Prügelei, die ihren Grund in diesen Hänseleien hatte. Die Zahl seiner Gegner wuchs so an, daß sich Thorbjörn schließlich gegen eine ganze Schar auf einmal zu verteidigen hatte. Die Mädchen waren vorausgegangen, so daß niemand da war, der sie hätte auseinanderbringen können, und deswegen wurde es ärger und ärger. Nachgeben wollte er nicht, es drangen immer mehr auf ihn ein, und nun verteidigte er sich, wie er am besten konnte, und daher wurden Schläge ausgeteilt, die später selbst erzählten, was vorgefallen war. Die Veranlassung zu der Prügelei wurde zugleich bekannt, und infolgedessen entstand ein großes Gerede im Kirchspiel.

Am folgenden Sonntag wollte Thorbjörn nicht zur Kirche gehn, und am nächsten Tage, als sie zum Pfarrer gehn sollten, stellte er sich krank. Ingrid ging deswegen allein. Er fragte sie bei der Heimkehr, was Synnöve gesagt habe. – »Nichts.«

Als er dann wieder mitging, glaubte er, alle Leute sähen ihn an, und die Konfirmanden lachten über ihn. Aber Synnöve kam später als die andern und war an diesem Tage lange im Pfarrhause. Er fürchtete, Vorwürfe von dem Pfarrer zu bekommen, merkte aber bald, daß die beiden einzigen im ganzen Kirchspiel, die nichts von der Schlägerei wußten, der Vater und der Pfarrer waren. Das war ja soweit alles ganz gut, nur wußte er nicht, wie er es anfangen sollte, wieder mit Synnöve zu sprechen, denn zum erstenmal wagte er nicht recht, Ingrid um ihre Vermittlung zu bitten. Nach dem Unterricht ging Synnöve wieder ins Pfarrhaus. Er wartete, solange noch andre auf dem Hofe waren; schließlich mußte aber auch er gehn. Ingrid war mit den ersten fortgegangen.

Am nächsten Tage war Synnöve vor allen andern gekommen und ging mit einer der Damen und einem jungen Herrn im Garten. Das Fräulein grub Blumen aus und gab sie Synnöve, der Herr war dabei behilflich, und Thorbjörn stand draußen unter den andern und sah zu. Sie erklärten ihr so laut, daß alle es hörten, wie diese Blumen eingepflanzt werden müßten, und Synnöve versprach, es eigenhändig zu tun, damit es genau so würde, wie sie es ihr gesagt hatten. – »Allein kannst du es nicht,« sagte der fremde Herr, und das merkte sich Thorbjörn. – Als Synnöve wieder zu den andern herauskam, erzeigten ihr diese noch mehr Achtung als sonst; Synnöve aber ging zu Ingrid hin, begrüßte sie freundlich und bat sie, mit ihr zusammen auf den Grasplatz hinauszukommen. Dort setzten sie sich hin, denn es war lange her, seit sie vertraulich miteinander geredet hatten. Thorbjörn stand wieder unter den andern und betrachtete Synnöves schöne, ausländische Blumen.

An diesem Tage ging Synnöve mit den andern zusammen nach Hause. – »Soll ich dir nicht die Blumen tragen?« fragte Thorbjörn. – »Das kannst du gern tun,« erwiderte sie sanft, aber ohne ihn anzusehn, dann nahm sie Ingrid bei der Hand und ging voran. In der Nähe von Solbakken blieb sie stehn und sagte Ingrid Lebewohl. »Das kleine Stück kann ich sie sehr gut noch selber tragen,« sagte sie und nahm den Korb auf, den Thorbjörn niedergesetzt hatte. Den ganzen Morgen lang hatte er darüber nachgedacht, daß er sich erbieten wollte, ihr die Blumen einzupflanzen, aber nun kam er nicht dazu, denn sie wandte sich rasch um. Er dachte aber an nichts andres danach, als daß er ihr doch bei den Blumen hätte helfen sollen. – »Worüber habt ihr beiden denn gesprochen?« fragte er Ingrid. – »Über nichts.«

Als die andern alle zu Bette gegangen waren, kleidete er sich leise wieder an und ging hinaus. Es war ein schöner Abend, warm und still; über den Himmel lag ein leichter Schleier von blaugrauen Wolken ausgebreitet, der hie und da zerrissen war, so daß es aussah, als ob jemand aus dem tiefen Blau wie aus einem Auge hervorluge. Niemand war zu sehn in der Nähe des Gehöfts und auch nicht in der Ferne, aber auf allen Seiten zirpten die Heuschrecken im Grase, rechts schlug eine Wachtel, eine andre antwortete ihr von links her, worauf ein Gesang im Grase hin und her anhub, so daß es ihm zuletzt war, wie er dahinging, als habe er ein großes Gefolge um sich, obwohl er nichts sehn konnte. Der Wald zog sich blau, dann dunkel und immer dunkler zum Gebirge hinauf und glich einem großen Nebelmeer. Drinnen aber hörte er den Auerhahn spielen und balzen; eine einsame Eule schrie, und der Gießbach sang seine alten, harten Reime lauter als je – jetzt, wo sich alles niedergelassen hatte, um ihn anzuhören. Thorbjörn schaute nach Solbakken hinüber und schritt weiter. Er bog von den gewöhnlichen Wegen ab, kam schnell hinüber und stand bald in dem kleinen Garten, der Synnöve gehörte und der gerade unter dem einen Giebelfenster lag, gerade unter dem, hinter dem sie schlief. Er lauschte und spähte, aber alles war still. Da sah er sich im Garten nach Arbeitsgerät um und fand auch richtig Spaten und Rechen. Mit der Umgrabung des einen Beetes war schon begonnen worden, aber nur eine kleine Ecke war fertig geworden, in die aber schon zwei Blumen gesetzt worden waren, wahrscheinlich um zu sehn, wie es sich ausnehmen würde. – Sie ist müde geworden, die Ärmste, und hat die Arbeit aufgeben müssen, dachte er; hier ist eine männliche Kraft nötig, dachte er weiter und nahm die Arbeit in Angriff. Er fühlte keine Lust zum Schlafen, ja es war ihm, als habe er niemals eine so leichte Arbeit verrichtet. Er erinnerte sich, wie die Blumen gepflanzt werden sollten, er erinnerte sich auch des Pfarrgartens und richtete nun das eine nach dem andern. Die Nacht verstrich, aber er merkte es nicht, er ruhte kaum, und es gelang ihm auch, das ganze Beet umzugraben, die Blumen einzupflanzen und die eine und die andre wieder umzusetzen, um es noch schöner zu machen, und dabei warf er von Zeit zu Zeit einen Blick nach dem Giebelfenster hinauf, ob nicht vielleicht doch jemand ihn bemerke. Aber weder dort noch anderswo war jemand, auch hörte er nicht einmal einen Hund bellen. Endlich begann der Hahn zu krähen und weckte die Vögel des Waldes, die nun einer nach dem andern aufflogen, um ihre »Guten Morgen« zu singen. Während er so dastand und die Erde glattklopfte, fielen ihm die Märchen ein, die ihm Aslak früher erzählt hatte, und daß er ehemals geglaubt hatte, drüben auf Solbakken wüchsen Kobolde und Hexen. Er schaute zum Giebelfenster hinauf und lächelte bei dem Gedanken, was Synnöve wohl sagen würde, wenn sie in der Morgenstunde herunterkäme. Es war schon ganz hell geworden, die Vögel machten schon einen großen Lärm, deswegen schwang er sich über die Gartenhecke und eilte nach Hause. Ja, nun sollte nur einer sagen, daß er es gewesen wäre, der drüben in Synnöve Solbakkens Garten die Blumen eingepflanzt hätte!

Synnöve Solbakken: Erzählung

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