Читать книгу Larandia - Das Bündnis der Zehn - B.L. BELL - Страница 10

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Kapitel 3

Alles auf Anfang


Ich saß auf dem Rücksitz des Streifenwagens der Polizei und blickte auf die mir plötzlich völlig fremde Welt und Umgebung hinaus. Ich wurde nachhause gebracht und dort gab mir dann ein anwesender Arzt ein sehr starkes Beruhigungsmittel, von welchem ich fast zwei Tage durchschlief. Als ich erwachte, trank ich einige Schlucke Wasser, nahm die nächste Tablette und schlief einfach weiter. So gingen die ersten zwei Wochen vorüber, bis ich zu schwach war, um aufzustehen. Meine Nanny befürchtete, ich könnte tablettenabhängig werden, woraufhin ich drei Wochen lang in einer Klinik in Malibu Beach lag, um mich dort physisch wie psychisch wieder zu stabilisieren.

Die Farbe in meinem Leben war verschwunden. Alles war für mich schwarz und weiß. Es gab nicht mal mehr die Farbe Grau. Ich fühlte nichts mehr, nur noch innere Leere, Dunkelheit und ein tiefes Nichts.

Mir hatte es die Luft zum Atmen genommen, es wurde mir der Boden unter den Füßen weggerissen. Ich schottete mich von der Außenwelt ab und wollte auch niemanden mehr an mich heranlassen. Ich war in Trauer – in tiefer Trauer und das war meine Art und Weise, damit fertig zu werden. Zu meiner großen Bestürzung riefen mich meine Freunde und sogar Justin kein einziges Mal an. Seitdem ich mich von allen zurückgezogen hatte und nicht mehr der hippe, lustige und fröhliche Sonnenschein war, distanzierten sie sich immer mehr. Sollten das etwa die Freunde gewesen sein, welchen ich mein ganzes Leben lang vertraut und von denen ich gedacht hatte, man würde sich in guten wie in schlechten Zeiten beistehen?

In der Zwischenzeit hatte meine Nanny mit meinen letzten verbleibenden Verwandten in Europa telefoniert. Ich war noch nicht volljährig und da meine Nanny nicht das Sorgerecht für mich hatte, musste ich dorthin auswandern oder, um es mit meinen Worten zu sagen, ich wurde dorthin abgeschoben. Nicht, dass ich etwas gegen Europa hatte, aber ich war die Sonne und das turbulente, hektische Leben in L.A. nun mal gewöhnt.

Mein Onkel Archibald Harrison und meine Tante Philippa lebten in der kleinen schottischen Stadt Wick. Die Hafenstadt lag an der nordöstlichen Küste von Schottland, etwa 410 km nördlich von Edinburgh und rund 1060 km nördlich von London. Das 7155 Einwohner zählende Wick war die Hauptstadt der Grafschaft Caithness. Allein die Zahl der Einwohner schockierte mich. So viele Schüler hatte allein meine Highschool gehabt. In diesem Ort kannte jeder jeden. Egal, wohin man kam, immer wurde man angeglotzt und wenn du ein neues Kleid anhattest, wusste es am nächsten Tag die ganze Stadt. Es war mir einfach zu dörflich. Zu wenig Stadt. Zu wenig Anonymität.

Früher hatte ich Onkel und Tante öfter in den Ferien mit meinen Eltern zusammen besucht, denn meine Mum war die Schwester meines Onkels Archie. Meine Mutter stammte ebenfalls ursprünglich aus Wick. Das Haus, in dem mein Onkel wohnte, war deren Elternhaus. Das war eines der wenigen Dinge, worauf ich mich wirklich freute. Somit hatte ich zumindest ein etwas aus dem Leben meiner Mutter zurückbekommen. Aber das war auch schon alles.

Der Flug von Los Angeles nach London dauerte zehn Stunden. Danach ging es nochmal eineinhalb Stunden hinauf nach Aberdeen und weitere fünf Stunden mit einem Flughafenshuttle nach Wick, am äußersten Rand des Nirgendwos. Die kleine Weltreise machte mir nichts aus, denn so konnte ich ein wenig für mich sein und über vieles nachdenken. Auf die Ankunft freute ich mich nicht so wirklich. Ich wusste einfach nicht, wie es werden würde. Außerdem hasste ich Überraschungen.

Archie und Philippa hatten es sehr gut aufgenommen, dass sie von nun an auf ein siebzehnjähriges Mädchen aufpassen sollten. Sie hatten selbst keine Kinder – so viel ich wusste – und sich immer welche gewünscht. Woran es lag? Keine Ahnung. Jedenfalls versprachen sie mir bei den unzähligen Telefonaten, die wir seitdem geführt hatten, dieses und jenes. Irgendwann hatte ich aufgehört zuzuhören. Sie führten also meist einen Monolog, wenn wir uns unterhielten. Ich wusste einfach nicht, über was ich mit ihnen reden sollte. Hoffentlich waren es nicht so alteingesessene Spießer, die zigtausend Regeln hatten, an die ich mich zu halten hätte.

Was ich noch mehr vermissen würde, war das Autofahren. Ich fuhr seit einem Jahr meinen eigenen Wagen, was mir enorme Freiheiten gab. Hier in Schottland durfte man erst mit achtzehn ans Steuer und das auch noch mit Linksverkehr. Das hieß, ich musste noch einmal in die Fahrschule. Zumindest ein paar Stunden zum Umgewöhnen.

Mit all diesen Fakten sank meine Stimmung immer mehr und mehr auf den Nullpunkt und je näher ich der Hafenstadt Wick kam, desto tiefer drückte ich mich ausgelaugt, schlecht gelaunt und müde in meinen Sitz am Fenster.

Als ich am Abend ankam, regnete es natürlich wie aus Eimern. Mit wackeligen Beinen stieg ich aus dem kleinen Bus, zog mir meine Kapuze tief ins Gesicht und begab mich mit meinem Koffer auf den kleinen Bahnhofsvorplatz. Ich blickte mich suchend nach zwei mir bekannten Gestalten um. Aaus dem Augenwinkel sah ich einen dunkelgrauen Range Rover vorfahren. Die Lichter blendeten mich und die Scheibenwischer schlugen wild hin und her. Die Luft roch nach Regen und frischem Gras. Ein leichter Wind fegte über den Bahnhofsvorplatz. Es war eine friedliche Stille und das Gerede anderer Passanten um mich herum blendete ich einfach aus. Ihre Gedanken hörte ich ebenfalls nicht mehr, seit mich mein Schicksalsschlag getroffen hatte. Vielleicht war dadurch endlich der Spuk vorbei und ich konnte diese Behinderung abhaken.

Ich sammelte nun meine ganze Kraft und Konzentration, um die Ankunft meiner neuen Zieheltern so gut wie möglich zu überstehen. Als der Wagen vor mir hielt, atmete ich tief ein und aus. Eine hochgewachsene Frau mit blondem Haar, das zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengebunden war, und ein etwas korpulenter Mann mit silbergrauem Haar und wachsamen blauen Augen stiegen aus und kamen durch den Regen unter das Bahnhofsvordach auf mich zu. Auch in ihren Gesichtern konnte ich Anspannung lesen, doch sie sahen mich freundlich an.

»Schön dich zu sehen, Kimberly«, sagte Philippa lächelnd, während Onkel Archie an meine Seite kam und mir den Arm um die Schulter legte.

»Wir freuen uns sehr, dass du endlich bei uns bist. Willkommen in Wick, welches sich gerade heute nicht von seiner schönsten Seite präsentiert«, meinte Onkel Archie und drückte mich daraufhin sachte, aber herzlich an sich.

Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht zu weinen. Ich hatte schon zu viele Tränen in den letzten Wochen vergossen, doch jetzt wollte ich die Zeit der Trauer endlich hinter mir lassen. Zumindest wollte ich es versuchen.

»Ich freue mich auch, bei euch zu sein«, stammelte ich und sah verlegen zu Boden.

»Komm rasch ins Auto. Wir können uns zuhause weiter unterhalten, wenn du das möchtest«, sagte Philippa und wir hievten gemeinsam meine drei schweren Koffer ins Auto.

Ich setzte mich nach hinten, legte den Gurt an und lehnte mich zurück. Wir drei fuhren schweigend vom Bahnhof Richtung Küstenstreifen. Ich blickte aus dem Fenster und betrachtete die kleinen Lichter der Stadt. Es waren noch einige Menschen auf den Straßen unterwegs. Alle mit Regenmänteln in quietschgelb oder mit Regenschirmen. Den Bewohnern von Wick schien dieses scheußliche Wetter nichts auszumachen.

»Kimberly? Wir wissen, dass du in Amerika Auto fahren durftest. Wie du weißt, geht das hier leider nicht. Jedoch haben wir für dich ein neues Fahrrad gekauft, mit dem du dich fortbewegen kannst. Natürlich ist es auch möglich zu Fuß zu gehen. Das College ist nur fünf Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Sobald du achtzehn bist, kaufen wir dir ein eigenes Auto – versprochen«, räusperte sich Archie und zwinkerte mir im Rückspiegel zu.

»Das ist lieb von euch, danke«, antwortete ich und bemühte mich krampfhaft, zu lächeln.

Wir wechselten noch ein paar Sätze über das ständige Regenwetter und über das, was sich hier in der kleinen Stadt so alles verändert hatte. Das war es dann auch schon. Obwohl wir in einer Kleinstadt waren, erschien alles so ländlich zu sein. So grün. So unverbraucht. Ich kam mir vor wie in einem Rosamunde Pilcher-Film. Wie in einem für mich völlig falschen Film.

Kurz darauf kamen wir auch schon an Mums Elternhaus an und, nachdem ich ausgestiegen war, musste ich schlucken. Es war ein typisch schottisches Haus aus grauem Backstein mit einem Schornstein und mehreren Erkerfenstern. Hoch und relativ eng. Die Tür war schmal so wie die Fenster. Alles wirkte sehr gedrungen. Was mir allerdings auf Anhieb gefiel, war, dass hinter dem Haus die Fassade des Leuchtturms in der abendlichen Dämmerung aufragte.

Das Haus stand in der Harbour Road, in der Nähe einer Tankstelle. Auf dem kleinen Vorplatz, welcher aus Schottersteinen bestand, parkte Archie den Wagen. Wir brachten meine schweren Koffer ins Haus, bestehend aus vier Schlafzimmern und drei Bädern. Ich stieg die schmale, enge Treppe hinauf. Überall im Haus hatte man Teppichboden verlegt. Anscheinend war es hier so üblich. Bei uns in L.A. hatte man echten Holzboden oder Fließen aus Marmor. Aber das war Vergangenheit. Ich stieg noch eine weitere Treppe hinauf, bis in den zweiten Stock. Hier oben gab es nur zwei Zimmer und ein Badezimmer.

»Hier oben haben wir dein Zimmer hergerichtet und nebenan ist unsere kleine Bibliothek mit einem Piano, falls du spielen kannst oder es üben möchtest. Ich weiß ja nicht, was dir so gefällt, Kimberly«, erklärte mir Philippa zaghaft und ging vor mir geradeaus in ein Zimmer mit einem großen Erkerfenster.

Ich hatte direkten Blick auf den Leuchtturm und zum ersten Mal lächelte ich. Ein großes, breites Bett mit samt-grünen Bettlaken stand in der Ecke des Raumes. Direkt gegenüber befanden sich ein weißer Holzkleiderschrank und eine weiße Kommode. Die Decken waren schräg. Auch hier im Zimmer gab es einen weißen weichen Teppichboden. Es wirkte sehr gemütlich. Neben der Tür stand ein Schreibtisch mit einem Laptop darauf.

»Ich dachte mir, dass dieses Zimmer für dich das Richtige wäre. Gleich nebenan ist dein eigenes Badezimmer. Dein Onkel und ich sind im ersten Stock. Im Grunde hast du das gesamte Stockwerk für dich. Das, so finde ich zumindest, ist für eine junge Frau in deinem Alter das Wichtigste: Privatsphäre haben«, meinte Philippa und stand etwas verlassen neben der Tür.

»Danke, Tante. Es ist wirklich schön hier«, presste ich heraus und kam mir so dumm und unbeholfen dabei vor.

Ich war einfach noch nicht in der Lage, jetzt irgendwelchen überschwänglichen Gefühlen nachzugehen. Ich versuchte momentan schlichtweg, jeden Tag so gut wie möglich zu überstehen. Durchzustehen, ohne zusammenzubrechen. Mehr konnte man nicht von mir erwarten. Zumindest sah ich das so. Allein der Start morgen in einer neuen Schule würde schon hart genug werden.

Ich schlief nicht besonders gut in dieser Nacht. Ich hatte viel geweint, war lange wach gelegen und mich störte außerdem ein Unwetter. Es rüttelte am Dach und an den Fenstern. Blitze zuckten ständig in mein Zimmer hinein und ich verkroch mich tief unter meine Decke. Immer wieder hoffte ich, dass dies hier alles nur ein Traum wäre und ich bald in meinem großen Bett zuhause in Kalifornien erwachen und meine Eltern mich zum Frühstück rufen würden.

Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster blickte, sah alles noch gleich aus. Trüb, grau und verregnet. Es nieselte und der Himmel hing voller Wolken. Ich konnte aus der Ferne den Leuchtturm sehen und die Wellen schlugen dagegen. Einige Seemöwen kämpften gegen den leichten Sturm an. Ich setzte mich verschlafen auf, streckte mich und schlurfte dann in mein Badezimmer. Ich stellte mich unter die Dusche, drehte den Hahn volle Pulle auf und ließ mir das warme Wasser lange über den Rücken laufen. Ich benutzte das neue Shampoo mit Vanille. Es roch herrlich. Nach dem Duschen durchsuchte ich meinen Kleiderschrank nach etwas Brauchbarem. Ich entschied mich für eine dunkelblaue enge Jeans und eine schwarze Bluse. Meine rotbraunen Haare föhnte ich trocken und band sie mir zu einem langen Zopf. So gestylt ging ich mit leicht zittrigen Beinen die enge und steile Treppe hinunter bis in die Küche. Philippa stand am Herd, briet frisches Rührei und stellte mir eine Tasse Kaffee mit Toast auf meinen Platz. Von meinem Onkel war weit und breit nichts zu sehen.

Das Frühstück verlief relativ still, was mir nur recht war. Ich war in der Früh nicht unbedingt eine Quasselstrippe und momentan hasste ich es ohnehin, zu reden. Ich aß mein Frühstück, trank den Kaffeebecher leer, griff nach Tasche, Handy und Schlüssel.

»Dein Onkel und ich arbeiten sehr viel am Tag. Unser Institut liegt nicht weit von hier. In der Nähe von Old Wick Castle. Unsere Nummer hast du. Wenn du etwas brauchst, melde dich jederzeit«, meinte Philippa. Sie bemühte sich, aufmunternd zu wirken, und zwinkerte mir zu.

»Alles gut, danke. Ich bin es gewohnt, allein zu sein. Wir sehen uns heute Abend«, sagte ich mit fester Stimme und schaute ihr kurz nach, während sie das Haus verließ.

Nachdem sie gegangen war, räumte ich den Frühstückstisch ab und sah mich noch ein wenig in der Küche und im Wohnzimmer um. Die Küche war in einem strahlenden Weiß gehalten. Getäfelte Küchenschränke, ein weißer hoher Kühlschrank und einige Bilder. Auf manchen waren meine Eltern und ich mit drauf. Immer wenn ich meine Eltern entdeckte, zerbrach mein Herz noch ein Stück mehr. Das würde wahrscheinlich niemals aufhören. Zerbrechen, erneuern, zerbrechen. Da könnte ich wahrscheinlich noch hunderte Male zum Psychiater rennen. Etwas ändern an der Situation, meine Eltern ins Leben zurückholen, das konnte niemand. Sie blieben tot. Für immer.

Nebenan befand sich das behagliche Wohnzimmer. Es war grün getäfelt und in der Mitte der Wand gab es sogar einen Kamin. Davor standen zwei hohe Lehnstühle, dahinter ein breites Sofa mit vielen Kissen und einem Couchtisch aus Holz. Den Boden hatte man – oh Wunder – mit Teppich ausgelegt. An beiden Wänden waren hohe schmale Regale mit unzähligen Büchern. Ein Fernseher rundete das Ambiente ab. Ich lächelte, während ich aus dem Fenster blickte. Es hatte aufgehört, zu nieseln, und somit zog ich mir meinen grünen Mantel über, schlüpfte in meine Boots und ging nach draußen.

Ich kannte mich in meiner neuen Heimat Wick überhaupt nicht aus, jedoch war der Weg zur Schule nicht schwer zu finden. Keine fünf Minuten später ging ich am Bignold Park vorbei und konnte vor mir das imposante Gebäude erkennen, zu dem sich schon zahlreiche Autos, Fahrradfahrer und Fußgänger bewegten. Das College hatte einen recht großen Vorplatz, wo sich bereits kleine Grüppchen von Menschen zusammenstellten und quatschten. Ich versuchte, den Kopf gesenkt zu halten, um bloß keine neugierigen Blicke auf mich zu ziehen. Schnell lief ich zum Haupteingang und stand Sekunden später in einer hellerleuchteten Halle. Ich bemühte mich, meinen Schutzschild hochzufahren, um von niemandem per Zufall die Gedanken lesen zu müssen. Ich wollte jetzt kein blödes Gequatsche oder Getratsche hören. Da fiel mir ein, dass ich gestern das Gerede von meinem Onkel und meiner Tante nicht gehört hatte. Ich konnte mich zumindest nicht daran erinnern, etwas vernommen zu haben.

Ich suchte den Weg zum Sekretariat und huschte durch Schüler hindurch, immer den Kopf gesenkt, um bloß nicht aufzufallen. Das Sekretariat lag am anderen Ende des Hauptgebäudes. Schnell eilte ich dort hinein und stellte mich höflich an den Tresen. Eine etwas rundliche Frau mit knallrot gefärbten Haaren schaute mich durch ihre dicken Brillengläser an.

»Guten Morgen, ich bin Kimberly Berry. Ich bin neu hier«, stellte ich mich kurz vor, nachdem ich ihre Gedanken gelesen hatte, dass sie es hasste, wenn man nicht am Morgen freundlich grüßen konnte und sich ordentlich vorstellte.

Sie sah mich verblüfft an und lächelte dann freundlich:

»Einen wunderschönen guten Morgen. Ich hoffe, du hast gut hergefunden. Hier, das sind dein Stundenplan und eine Übersichtskarte unserer Schule. Lass uns kurz den Stundenplan durchgehen und dann kreuze ich dir noch das Wichtigste auf dem Lageplan an, Liebes, sonst verläufst du dich noch«, meinte sie.

Sie kam mit einigen Blättern zurück und kreuzte mir Dinge an, sagte Sachen dazu und nach einer halben Stunde entließ sie mich mit rauchendem Kopf. Ich sah auf meinen Stundenplan, betrachtete danach den Lageplan und seufzte leise.

Geschichte war jetzt dran. Nicht unbedingt mein stärkstes Fach, aber da musste ich jedes Jahr aufs Neue durch. Ich ging ein, zwei Flure hinauf und hinunter und hielt schlussendlich vor einer weißen Klassenzimmertür, die weit offenstand. Ich hörte Stimmen aus dem Inneren, atmete tief aus und betrat dann das Klassenzimmer. Niemand nahm – Gott sei Dank – Notiz von mir. Ich ging zum Lehrer, stellte mich nochmals kurz vor, gab ihm meinen Laufzettel und er wies mir einen Platz ziemlich weit hinten im Klassenzimmer zu. Ich huschte durch die Reihen und setzte mich an einen freien Platz.

Die erste Stunde verlief ohne Probleme, denn das meiste, das der Lehrer von sich gab, wusste ich schon. Anscheinend waren sie hier mit dem Stoff etwas hinterher. Als ich mir meinen Stundenplan ansah, klingelte es und alle Schüler erhoben sich.

»Ich habe dich hier noch nie gesehen. Bist du neu?«, fragte mich ein schlaksiger Junge.

Er hatte rotblonde Haare, viele Sommersprossen, trug eine dunkelblaue Hose und ein weißes Hemd. Daneben stand ein Mädchen, etwas kleiner als ich. Ihre olivfarbene Haut hatte einen wunderschönen goldenen Schimmer und die langen dunkelbraunen Haare trug sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Einige Strähnen, die sich daraus gelöst hatten, umspielten sanft ihr Gesicht. Sie trug einen roten Faltenrock und eine gepunktete Bluse. Das ganze Outfit hatte sie noch mit goldenen Kreolen aufgepeppt. Das gefiel mir sofort. Sie sah mich mit ihren kugelrunden Rehaugen zwischen den dichten schwarzen Wimpern freundlich an.

»Hallo. Ja, heute ist mein erster Tag. Ich bin Kimberly«, meinte ich und sie drückten mich in eine Ecke im Flur.

»Ich heiße Christian«, stellte sich der Junge vor und gab mir höflich die Hand.

»Ich bin Emma. Wir haben jetzt eine Freistunde. Die Jungs haben Fußballtraining. Hast du Lust, zuzusehen?«, wollte Emma wissen und hakte sich sofort bei mir unter.

Eigentlich mochte ich ja dieses Anfallen nicht, aber im Grunde war es besser, als immer so alleine dazustehen.

»Ja, gerne.« Ich nickte und ließ mich von Emma mitschleifen.

»Cool, wir sehen uns gleich. Hat mich gefreut, Kimberly«, rief mir Christian zu und eilte in Richtung Turnhalle.

»Komm, holen wir uns etwas zu trinken und gehen raus. Es ist bewölkt, aber zumindest regnet es nicht mehr. Unser schlechtes schottisches Wetter scheint dir nicht sehr zu gefallen, was?«, fragte Emma grinsend und als wir in die Cafeteria kamen, holten wir uns zwei Flaschen Wasser.

»Nicht wirklich. Ich bin das warme Wetter Kaliforniens gewohnt«, sprach ich und zuckte mit den Schultern.

»Cool. Ich war noch nie in Amerika. Muss toll dort sein. Was machst du eigentlich hier?«, erkundigte sich Emma und wir schlenderten hinaus auf den Fußballplatz, wo wir uns auf die Tribüne setzten.

Um uns herum saßen schon einige Zuschauer, die meisten weiblich. Doch zu meinem Glück schenkte man mir keinerlei Beachtung.

»Meine Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich lebe jetzt hier bei meinem Onkel und bei meiner Tante«, erzählte ich und wurde wieder traurig.

»Das tut mir sehr leid. Aber weißt du was, Kimberly? Du wirst nicht für immer traurig sein. Der Schmerz wird vergehen.« Emma drückte mir sachte die Hand und blickte dann in die Ferne.

Ich sah sie von der Seite her an und versuchte instinktiv ihre Gedanken zu lesen. Ich ließ meinen Schutzschild fallen und konzentrierte mich ganz auf sie. Zu meiner Verwunderung bekam ich nur einzelne Wörter mit. Und die auch nur sehr verschwommen. Keine klaren Sätze oder Gedanken. Ich kniff die Augen zusammen und fokussierte mich völlig auf Emma, doch keine Chance. Das verwunderte mich, denn so etwas hatte ich noch nie erlebt – zumindest bis zum Tod meiner Eltern. Und zum ersten Mal stellte ich einem anderen Menschen diese Frage:

»Emma, an was denkst du gerade?«

»An vieles und auch an gar nichts. Ich denke an meine eigenen Eltern. Sie sind jetzt schon so lange tot und dennoch kommt es mir manchmal so vor, als wären sie noch da.«

»Das tut mir sehr leid. Ja, das kenne ich. Ich muss mich erst daran gewöhnen, wie es ist, allein zu sein«, entgegnete ich und biss mir auf die Lippen.

»Du bist nicht allein. Nicht solange du Freunde hast, die für dich da sind. Oh, sieh mal, da kommen unsere Jungs!« Emma deutete auf das Spielfeld.

Ich blickte hinaus und erkannte einige Gestalten, die in lilafarbenen Leibchen herumliefen und einige, die keine trugen. Sie wärmten sich auf dem Rasen auf und ich schaute ein wenig gelangweilt in die Runde, als mir urplötzlich eine Person auffiel. Diese war groß – fast einen Meter neunzig. Schlank, sportlich und trainiert. Es war aber nicht so, dass es irgendwie protzig wirkte. Er hatte dunkelbraune Haare und kickte den Ball vor sich her, spielte Pässe und schoss Tore wie ein Profi aus der Nationalmannschaft. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm abwenden. Nicht nur ich. Auch viele andere Mädchen hingen an der Statur des jungen Mannes.

»Wer ist das?«, fragte ich und nickte in seine Richtung.

»Wer?« Emma trank einen Schluck Wasser.

»Der da, der so gut spielt und so groß ist, dass er fast alle anderen überragt«, meinte ich etwas energischer.

»Ach das! Klar, dass du fragst. Das ist Oliver York. Er ist Kapitän der Mannschaft. Ein ziemlich guter Schüler und der Sohn von Dr. Maria York. Sie ist Oberärztin bei uns im Krankenhaus«, erzählte Emma und ich verfolgte Olivers Bewegungen.

Sie waren so grazil und elegant. Ich nahm wahr, dass sich hinter uns noch einige Mädchen hinsetzten und sie schwärmten von Olivers Aussehen und seinem sportlichen Können. Ich konnte auch ihre Gedanken hören. Es war jedoch hauptsächlich langweiliges Gerede über Musik, angesagte Klamotten, Sex, ein klein wenig Geläster, aber sonst nichts Wichtiges.

»Was meint ihr, wen wird Oliver dieses Jahr zum Gründerball begleiten?«, wollte eine ziemlich hohe Stimme wissen und aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass sie von einer jungen Frau kam, die groß und gertenschlank war. Ihr langes blondes Haar fiel ihr bis auf die Hüften hinab. Sie war ziemlich stark geschminkt, jedoch hübsch.

»Frag nicht so blöd, wahrscheinlich dich, Lucia. Jeder Typ will doch mit dir ausgehen«, antwortete eine andere gelangweilt und die meisten Mädchen kicherten.

»Ach, halt die Klappe! Seltsamerweise hat er letztes Jahr alle abgelehnt, die ihn gefragt haben, und auch sonst hatte er niemanden gefragt. Dieses Jahr muss es klappen.« Lucia warf ihre langen Haare auf den Rücken und ich fuhr wieder meinen Schutzschild hoch, da ich das dumme und hirnlose Gerede nicht mehr hören wollte.

Ich wandte meinen Blick erneut dem Spielfeld zu und – ob es Zufall war oder nicht – in diesem Moment trafen sich unsere Blicke. Oliver stand nah an der Bande und sah mir direkt in die Augen. Sekundenlang. Seine Augen waren eisblau, jedoch keineswegs kalt, sondern warm und freundlich. Sein Blick schien mich zu röntgen, als würde er mir bis in die Seele schauen wollen.

»Er sieht zu uns!«

»Oliver sieht zu mir!«

»Nein, er sieht zu mir!«, hörte ich die Mädchen hinter uns flüstern und ich rollte nur mit den Augen, schaute nochmals zu ihm, doch er war schon aus meinem Sichtfeld verschwunden.

Nach dem Training kam Christian völlig verschwitzt zu uns gelaufen und grinste breit.

»Und, hattest du Spaß?«, fragte er mich und schlenderte mit mir und Emma zurück in Richtung Schulgebäude.

»Mehr oder weniger. Ihr spielt sehr gut«, sagte ich und kramte nach meinem Stundenplan.

»Hattest also nicht nur Augen für unseren Kapitän?«

»Nein, Quatsch. Ich habe jetzt Mathe«, wiegelte ich ab und stopfte das Papier wieder in meine Tasche.

»Wir auch. Na los, gehen wir, sonst kommen wir noch zu spät«, sprach Emma und konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen.

So ging es den ganzen restlichen Vormittag, bis wir zum Mittagessen in die Cafeteria kamen. Es war voll und laut. Christian, Emma und ich suchten uns einen freien Platz in einer Ecke der Halle. Am Tisch, den wir uns aussuchten, saßen noch drei weitere Personen, welche die beiden kannten.

»Hey, dürfen wir euch Kimberly vorstellen? Sie ist neu hier«, sagte Christian und ich nickte etwas beklommen in die Runde.

Die zwei Jungs und das Mädchen stellten sich mir vor, doch ich vergaß ihre Namen schnell wieder. Mein Kopf rauchte ohnehin von den ganzen neuen Eindrücken und dem Stundenplan. Ich löffelte etwas lustlos meine Gemüsesuppe und aß ein paar Bissen Brot, als mich Emma anstieß:

»Kimberly?«

»Ja, was ist denn?«, fragte ich gelangweilt und war plötzlich sehr müde.

»Oliver York sieht die ganze Zeit zu dir herüber. Es ist richtig auffällig«, flüsterte sie und ich drehte mich zur Mitte des Raumes.

An einem großen runden Tisch, an dem mindestens zehn Personen Platz hatten, erblickte ich die hochgewachsene Gestalt von Oliver. Er unterhielt sich mit einigen an seinem Tisch, doch ständig blickte er zu mir herüber. Er lächelte nicht, aber sah auch nicht böse aus. Ausdruckslos starrte er mich immer wieder an. Ich konnte leider seine Gedanken nicht hören oder sie zuordnen, da einfach zu viele Stimmen auf mich einprasselten. Es war ein ohrenbetäubender Lärm und ich versuchte mich, so gut es ging, abzuschotten.

»Ich muss hier raus. Ich hab Kopfschmerzen«, meinte ich, rieb mir die Stirn, stand auf und brachte mein Tablett weg.

Dann ging ich schnellen Schrittes aus der Cafeteria und lehnte mich auf dem Flur keuchend gegen die Wand. Mir war heiß und kalt zugleich. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und meine Hände zitterten. Ich ging etwas langsamer Richtung Schulaula, aus welcher ich plötzlich Musik vernahm. Eine schöne Melodie. Sie beruhigte irgendwie mein Gemüt und so wurden auch die pochenden Schmerzen im Kopf weniger. Mein Herzschlag beruhigte sich zunehmend und ich ging mit langsamen Schritten der Musik nach.

Ich bog um die Ecke und sah einen jungen Mann neben einem Notenständer stehen. Er spielte Geige. Daneben saßen einige andere Personen auf dem Boden und hörten ihm zu. Die Musik war magisch. Anziehend. Sie fesselte mich regelrecht. Mir kam es vor, als würde den jungen Mann eine magische Aura umgeben. Er war schlank, jedoch muskulös. Seine Haare waren etwas länger und hatten einen kupferfarbenen Ton. Seine Haut war gebräunt und er trug einen leichten Dreitagebart. Sein Hemd war schief geknöpft und bei genauem Hinsehen konnte man erkennen, dass er Ohrringe trug. Alles in allem wirkte er sehr interessant. Er stach definitiv aus der Menge. Ich schlenderte zu seinen Zuhörern und setzte mich einfach dazu. Der Geigenspieler blickte kurz auf, sah aber sofort wieder weg. Ich hörte mir noch zwei weitere Lieder an und stand erst auf, als er seine Geige in den Koffer packte. Ich wollte ihn unbedingt ansprechen, also stand ich etwas zögerlich auf und fasste Mut. Untypisch für mich, denn ich war es in Kalifornien gewohnt, ständig mit Jungs zu quatschen, oder hatte sehr häufig Dates. Dass ich hier so verklemmt und scheu war, fühlte sich für mich selbst erschreckend und neu an. Ich machte mich groß, streckte den Kopf und ging direkt auf ihn zu.

»Hey, du hast sehr schön gespielt«, hörte ich mich selbst viel zu piepsig sagen.

Der Junge drehte sich zu mir um, blickte mich fragend an und nickte nur.

»Danke!«

»Spielst du schon lange?«, fragte ich weiter und ging neben ihm her.

»Seit ich sechs Jahre alt war.« Er blickte mich nicht einmal an.

»Du redest nicht sehr gerne, oder?«, wollte ich wissen und kam mir etwas dumm vor.

Die meisten Jungs sahen mich normalerweise interessiert an oder waren erfreut, wenn ich mit ihnen sprach. Aber er war völlig desinteressiert.

»Ich kenne dich nicht mal. Warum sollte ich also mit dir reden wollen? Zudem habe ich keine Zeit. Ich muss zur nächsten Stunde.« Okay, er war genervt, blickte mich mit seinen dunklen Augen ernst an und verschwand dann um die nächste Ecke.

Völlig perplex stand ich da. So abserviert hatte man mich noch nie. Da hörte ich Schritte, schaute den Gang nach rechts und erkannte Emma und Christian.

»Kimberly, alles okay? Wir haben dich überall gesucht. Sogar auf der Krankenstation«, rief Christian und beide kamen schnaufend bei mir an.

»Ich brauchte etwas frische Luft. Dann habe ich mir ein kleines Konzert angehört.« Ich zuckte mit den Schultern und wir gingen Richtung Ausgang.

»Konzert?«, fragte Emma und spielte an ihren Haaren.

»Ja. In der Aula hat ein Junge Geige gespielt. Er sah ein wenig gewöhnungsbedürftig aus, aber interessant«, meinte ich und schulterte meine Tasche.

»Das kann nur Adam Kent gewesen sein. Er ist ein begnadeter Geigenspieler. Er ist ebenfalls im Fußballteam, aber nur als Reservespieler. Seine Musikstunden sind ihm wichtiger. Seine Eltern leben außerhalb von Wick, in der March Road, ganz in der Nähe der alten Burgruine. Sie sind beide Geowissenschaftler, jedoch gibt sein Vater hier an der Schule öfter private Musikstunden«, erzählte Emma. Sie sah sehr verträumt aus, während sie von ihm sprach.

»Magst du ihn, Emma?«, erkundigte ich mich und blickte sie von der Seite her an.

»Nein. Er ist nicht mein Typ.«

»Nein, gar nicht. Emma redet nur fast jeden Tag von Adam.« Christian lachte und stieg auf sein Fahrrad, das neben gefühlt hundert anderen Rädern parkte.

»Hör auf, Christian, das stimmt nicht. Er ist wirklich nicht mein Typ. Ich finde ihn nur wahnsinnig interessant und talentiert. Er ist nicht der typische Womanizer und hat nur Fußball im Kopf. Adam ist einfach anders und genau das finde ich so klasse. Wir sehen uns dann morgen«, verabschiedete sich Emma – etwas rot im Gesicht – und schwang sich ebenfalls auf ihr kanariengelbes Rad.

Ich winkte beiden nach, da sie anscheinend in dieselbe Richtung mussten, und wollte gerade über den Parkplatz in Richtung Hauptstraße gehen, als ich das Quietschen von Reifen hörte und mich erschrocken umdrehte.

»Sag mal, träumst du mit offenen Augen?«, hörte ich eine laute Stimme rufen.

Fest, aber wie Samt. Nur einen halben Meter neben meinem Bein entdeckte ich eine silbergraue Motorhaube. Es war ein Audi. Ein neueres Modell.

»Entschuldige«, stammelte ich und schüttelte den Kopf über meine eigene Dummheit.

Ich sah auf und blickte in die Augen von Oliver York. Er war wirklich verdammt gut aussehend. Wunderschön. Fast zu perfekt. Ein typischer Sonnyboy – wie er im Buche stand. Ich trat vom Auto weg und er fuhr bis zu mir heran.

»Ich hab dich auf dem Spielfeld gesehen«, meinte er und lächelte mich an.

»Ich dich auch«, antwortete ich und bemühte mich, nicht nervös zu wirken.

»Wie heißt du? Ich hab dich hier noch nie gesehen.« Oliver lehnte sich etwas aus dem Fenster.

Hinter uns stauten sich die Autos und einige hupten schon.

»Ich glaube, du hältst den Betrieb auf«, meinte ich und nickte in die Richtung hinter ihm.

»Dann steig ein. Ich fahr dich nachhause.« Er nickte auf den Beifahrersitz.

»Wie bitte?« Ich zog die Augenbrauen hoch.

»Keine Angst, ich beiße nicht«, brummte Oliver und rollte mit den Augen.

Das Hupen wurde lauter und manche fingen an zu brüllen. Ich zögerte kurz, stieg jedoch zu Oliver ins Auto. Kurz darauf fuhren wir auf der Hauptstraße Richtung Innenstadt. Es ging nur langsam voran.

»Also ...?«, fragte er und sah mich von der Seite an.

»Was?«

»Wie heißt du und woher kommst du?«

»Ich bin Kimberly Berry. Gestern bin ich aus Kalifornien hierher gezogen zu meinem Onkel und meiner Tante, Archibald und Philippa Harrison. Bevor du nachfragst: Meine Eltern sind gestorben. Sie hatten einen Unfall. Vor etwas mehr als drei Monaten. Nur deshalb bin ich hierhergekommen. Ich wäre gern in Kalifornien geblieben«, antwortete ich schnell und schaute dabei aus dem Fenster.

Mein Herz schlug schnell. Ich roch seinen herben männlichen Duft.

»Ich kann dich gut verstehen. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Mich hat meine Mutter allein großgezogen. Ich bin hier in Wick geboren und aufgewachsen und glaub mir, wenn du dich hier erstmal eingewöhnt hast, wirst du merken, dass es gar nicht so schlecht ist«, lächelte er und es wurde mir wieder warm ums Herz.

Eigenartig. Oliver blickte aus dem Fenster und ich versuchte erneut, von der Seite in seinen Kopf zu sehen. Gerade jetzt wollte ich unbedingt wissen, was er über mich dachte. Vielleicht mochte er mich sogar.

Ich konzentrierte mich.

Sekunden vergingen. Nichts. Weitere Sekunden vergingen. Nichts. Alles still und leise. Ich hörte nur ein Rauschen, wie bei einem schwarz-weißen Film. Ich verstand die Welt nicht mehr. Was war hier los? Erst schaffte ich es nicht, Emmas Gedanken zu lesen und jetzt die von Oliver. Verlor ich etwa meine Fähigkeiten? Oder ging hier etwas anderes vor, von dem ich nichts wusste oder verstand?

Nach zehn Minuten belanglosem Gerede hielt der Wagen vor meinem neuen Zuhause. Ich blickte ein klein wenig verlegen auf meine Hände und dann auf seine, welche die Gangschaltung umklammert hielten. Seine Handknöchel traten weiß hervor und die Haut spannte sich darüber. Er wirkte verkrampft.

»Also danke fürs Heimbringen«, meinte ich und schaute auf.

Unsere Blicke trafen sich.

»Gern geschehen. Es ist schön, dich kennengelernt zu haben«, raunte Oliver und wieder fesselte er mich mit seinen eisblauen Augen.

Ich wollte gerade aussteigen, als Oliver meine rechte Hand nahm und mich nochmals in seine Richtung zog. Seine Hände waren warm. Fast heiß. Als würde er glühen.

»Geht’s dir gut? Du bist so warm, als würdest du glühen«, flüsterte ich und mein Atem ging schneller.

»Ja, das ist bei mir normal. Hör mal, Kimberly, pass auf dich auf.« Er hielt mich noch einige Sekunden fest, dann ließ er blitzartig meine Hand los.

Ich sah ihn nur kopfschüttelnd an, stieg danach aus dem Wagen, schloss die Tür und ging ins Haus. Darin lehnte ich mich einige Sekunden gegen die Haustür und ließ den Kopf gegen die Wand sinken. Ich war verwirrt. Was war das da gerade im Auto gewesen?

Ich hörte Schritte und mein Onkel Archie kam aus dem Wohnzimmer. Er hielt ein Buch in der Hand und paffte an einer Pfeife. Das machte ihn irgendwie älter.

»Wie war dein erster Schultag, Kimberly? Kommst du mit dem Unterrichtsstoff gut klar?«, erkundigte er sich und blickte auf.

Er sah mich durch seine halbmondförmigen Brillengläser an und legte den Kopf schief. Der weiße Vollbart schimmerte im Licht. Er wirkte wirklich alt. Vielleicht erschöpfte ihn auch nur die Arbeit.

»Gut, danke. Alles, was wir durchnehmen, hatte ich in Kalifornien bereits. Ich komm also zurecht. Wie läuft es bei euch im Institut?«, fragte ich neugierig, um das Thema zu wechseln.

»Deine Tante und ich haben viel zu tun. Wie du weißt, sind wir Parawissenschaftler. Eine Art der Wissenschaft, die nicht bei jedem anerkannt ist.« Archie ging vor mir in die Küche und setzte Teewasser auf.

»Was meinst du damit?«, wollte ich wissen, setzte mich auf den Holzstuhl und nahm mir ein kleines Teegebäck, welches in einer Schale auf dem Tisch stand.

»Parawissenschaftler beschäftigen sich mit dem Übernatürlichen. Wir erforschen, wie nah sich Realität und Fiktion stehen. Wie man das Normale mit dem Übernatürlichen kombinieren kann«, erklärte mir Archie und gab drei Beutel Schwarztee in die Teekanne.

»Klingt interessant. Wenn man daran glaubt.«

»Genau das ist es, Kimberly. Man muss daran glauben. Glaubst daran, dass es Dinge gibt, die man nicht erklären kann? Dass Menschen Dinge tun können, die unerklärlich sind?« Archie beäugte mich wieder mit festem Blick.

»Ja, ich denke schon«, schnell nahm ich mir noch einen Keks.

Beide sahen wir uns für wenige Sekunden an. Automatisch ließ ich die Barriere fallen und konzentrierte mich auf meinen Onkel. Ich bemühte mich, in seinen Kopf zu kommen, doch es gelang mir nicht. Schon wieder. Nur Rauschen. Monotone Wellen und Geräusche, aber keine klaren Worte. Nichts. Das konnte doch nicht wahr sein! Sollte ich etwa tatsächlich meine Gabe verlieren? Sollte der Schmerz über den Verlust meiner Eltern mir meine Fähigkeiten entziehen?

Wir schwiegen beide eine ganze Weile, tranken den viel zu starken Schwarztee und dann ging ich nach oben und genehmigte mir eine lange heiße Dusche. Ich musste das, was heute alles geschehen war und was ich erlebt hatte, erstmal verarbeiten. Ich lag lange wach und schlief erst weit nach Mitternacht ein.

Larandia - Das Bündnis der Zehn

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