Читать книгу Wenn Sie Rennen Würde - Блейк Пирс - Страница 11
KAPITEL SECHS
ОглавлениеSie hatten es sich gerade an der Hotelbar gemütlich gemacht, als der Ansturm der Gäste, die hier zu Abend essen wollten, begann. Obwohl sie sich auf ein Glas Wein freute, sah sie dem Burger, den sie bestellt hatte, mit noch viel mehr Vorfreude entgegen. Oft genug vergaß sie, wenn sie mitten in den Ermittlungen steckte, zu Mittag zu essen; dann war sie abends halb verhungert. Als sie endlich mit Genuss von ihrem Burger abbiss, sah sie, wie DeMarco ihr verhalten zulächelte. Es war ihr erstes echtes Lächeln dieses Tages.
„Was?“, fragte Kate mit vollem Mund.
„Nichts“, entgegnete DeMarco und beschäftigte sich mit ihrem Salat mit gegrilltem Hühnchen. „Weißt du, es hat etwas Tröstendes, eine schlanke Frau deines Alters so essen zu sehen.“
Kate nickte, während sie den Bissen hinunter schluckte. „Ich habe das Glück, einen unglaublichen Metabolismus zu haben.“
„Ach Gott, du Ärmste…“, neckte DeMarco.
„Tja, was soll ich sagen. Immerhin kann ich essen wie ein Pferd.“
Sie schwiegen kurz, um dann in schallendes Gelächter auszubrechen. Es fühlte sich gut an, dass Kate ganz sie selbst sein konnte, nach all den Spannungen zwischen DeMarco und ihr. Nach dem zu urteilen, was sie kurz darauf sagte, schien DeMarco dies genauso zu empfinden.
„Tut mir leid, dass ich den ganzen Tag so bitter war. Diese Sache, einer Familie so eine Todesnachricht überbringen zu müssen… das ist hart. Ich meine, natürlich ist es hart, aber für mich ist es noch härter. Ich habe etwas in meiner Vergangenheit, das hat mich gezeichnet. Ich dachte, ich bin darüber hinweg, aber anscheinend nicht.“
„Was ist passiert?“
DeMarco schwieg einen Moment; vielleicht dachte sie darüber nach, ob sie so tief in die Vergangenheit eintauchen wollte. Sie nahm noch einen großen Schluck Wein und entschloss sich dann, zu erzählen. Mit einem tiefen Seufzer begann sie.
„Schon im Alter von vierzehn wusste ich, dass ich lesbisch bin. Meine erste Freundin hatte ich mit sechszehn. Als ich siebzehn war, entschlossen meine Freundin Rose und ich uns – Rose war neunzehn – dass wir uns outen. Wir haben es immer geheim gehalten, vor allem gegenüber unseren Eltern. Also sollte es nun losgehen – wir wollten es ihnen erzählen. Wir wollten uns zuerst bei ihr zuhause treffen, um es ihren Eltern zu sagen. Die dachten, wir sind einfach beste Freundinnen. Ich war immer bei ihr, und andersrum, weißt du? Jedenfalls sitze ich also bei ihren Eltern auf der Couch und bekomme diesen Anruf. Von der Polizei. Sie sagten mir, dass Rose einen Unfall gehabt hatte und noch am Unfallort gestorben ist. Sie haben mich angerufen anstatt ihrer Eltern, weil neunzig Prozent der Nachrichten auf ihrem Handy von mir waren, oder von ihr an mich.
Ich bin sofort zusammengebrochen, und ihre Eltern sitzen da, haben keine Ahnung, was zum Teufel los ist – warum ich so weine, warum ich auf dem Boden knie. Und ich musste es ihnen sagen. Ich war diejenige, die Roses Eltern sagen musste, was mir die Polizei gerade mitgeteilt hatte.“ Sie hielt inne, stocherte in ihrem Salat und fügte dann hinzu, „das war der absolut schlimmste Augenblick meines Lebens.“
Nur mit Mühe konnte Kate DeMarco anblicken, die ihre Geschichte nicht wie jemand erzählt hatte, der emotional involviert ist, sondern sie hatte die Ereignisse wie ein Roboter abgespult. Kate wurde nun klar, warum DeMarco so heftig reagiert hatte, als sie sie am vorherigen Abend mitgeschleift hatte, um Missy Tucker die schlechten Nachrichten zu überbringen.
„Wenn ich davon gewusst hätte, dann hätte ich dir niemals diese Sache aufgehalst“, sagte Kate.
„Ich weiß. Gestern Abend wusste ich das auch, aber meine Gefühle haben mich nicht logisch denken lassen. Um ehrlich zu sein, ich musste erst einmal selber damit klarkommen. Tut mir leid, dass du das abbekommen hast.“
„Ist schon in Ordnung“, meinte Kate.
„Musstest du das oft tun während deiner Karriere? Ich meine, solche Nachrichten überbringen?“
„Oh ja. Und es wird nie einfacher. Es erleichtert die Sache ein wenig, sich selbst emotional zu distanzieren. Aber leicht wird diese Aufgabe nie.“
Sie schwiegen eine Zeitlang. Der Kellner kam und füllte die Weingläser auf, und Kate machte sich wieder über ihren Burger her.
„Wie läuft es eigentlich mit deinem Kerl?“, fragte DeMarco. „Allen heißt er, richtig?“
„Das läuft ganz gut. Er ist jetzt an dem Punkt unserer Beziehung, an dem er sich Sorgen darüber macht, dass ich beim FBI bin. Ihm wäre es lieber, wenn ich einen Schreibtischjob hätte. Oder ganz zuhause bliebe.“
„Dann ist es also ziemlich ernst mit euch?“
„Scheint so. Einerseits finde ich das aufregend. Andererseits gibt es einen kleinen Teil in mir, der denkt, dass dies Zeitverschwendung sein könnte. Er und ich, wir gehen beide auf die sechzig zu. In dem Alter noch eine neue Beziehung anzufangen fühlt sich irgendwie… merkwürdig an.“ Da sie spürte, dass DeMarco gern mehr darüber geredet hätte, wechselte sie schnell das Thema.
„Und wie sieht es bei dir aus? Ist dein Liebesleben in die Gänge gekommen, seitdem wir uns das letzte Mal darüber unterhalten haben?“
DeMarco schüttelte den Kopf und lächelte. „Nein, aber das ist meine eigene Wahl. Ich bin gern im Land der One-Night-Stands unterwegs, solange ich noch kann.“
„Und macht dich das glücklich?“
DeMarco schien ehrlich überrascht von der Frage. „Irgendwie schon. Ich habe momentan keinen Kopf für die Pflichten und Verantwortungen, die zu einer festen Beziehung gehören.“
Kate schmunzelte. Sie selbst war nie im Land der One-Night-Stands unterwegs gewesen. Sie hatte Michael kennengelernt, als sie noch am College war. Sie heirateten anderthalb Jahre später. Schon beim ersten Kuss war ihr klar, dass sie mit ihm ihr Leben verbringen wollte.
„Also, was ist der nächste Schritt in unserem Fall?“, fragte DeMarco.
„Ich überlege, ob es Sinn macht, sich mit dem alten Fall, dem Nobilini-Fall, noch einmal persönlich zu befassen, anstatt nur die Akten durchzugehen. Ich frage mich, ob es inzwischen innerhalb der Nobilini-Familie neue Erkenntnisse gegeben hat. Aber… es verhält sich ähnlich wie bei dir und dem Tod deiner Freundin… es ist nichts, womit ich mich freiwillig gern befassen möchte.“
„Das heißt, morgen stehen noch mehr unangenehme Besuche und Gespräche an?“
„Vielleicht. Ich bin mir noch nicht sicher.“
„Gibt es irgendetwas, das ich wissen sollte, bevor ich blindlings in etwas hineinstolpere?“
„Wahrscheinlich ja. Aber glaub mir… das heben wir uns lieber für morgen früh auf. Sonst wird es heute Abend zu spät, und es wird mir den Schlaf rauben.“
„Oh. Ich sehe schon, in welche Richtung das geht.“
„Genau…“
Sie tranken ihren Wein aus und bezahlten. Auf dem Weg in ihre Zimmer dachte Kate über die Geschichte nach, die DeMarco ihr erzählt hatte – dieses traurige Erlebnis in ihrer Vergangenheit. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie sie wenig über ihren Partner wusste. Wenn sie eine normale Arbeitsbeziehung hätten, in der sie sich fast täglich sähen, dann wäre das etwas anderes. So aber sahen sie sich nur alle paar Monate ein- oder zweimal. Sie fragte sich, ob sie sich genug Mühe gab, DeMarco wirklich kennenzulernen.
Ihre Wege trennten sich vor ihren Zimmern, die sich direkt gegenüber lagen. Kate verspürte das Bedürfnis, noch etwas zu sagen – irgendetwas, um DeMarco zu zeigen, dass sie ihre Offenheit zu schätzen wusste.
„Ich möchte mich noch einmal für gestern Abend entschuldigen“, sagte sie. „Mir wird langsam klar, dass ich dich nicht genügend kenne, um solche Entscheidungen für uns beide treffen zu können.“
„Es ist okay, wirklich“, sagte DeMarco. „Ich hätte dir gleich davon erzählen sollen.“
„Wir müssen beide mehr daran arbeiten, uns besser kennenzulernen. Das ist absolut nötig, wenn wir uns unser Leben anvertrauen. Vielleicht sollten wir deshalb auch außerhalb der Arbeit mehr gemeinsame Zeit verbringen.“
„Ja, das wäre gut“, meinte DeMarco, als sie ihre Tür aufschloss. „Du sagtest, du wolltest dir noch ein paar Gedanken machen zu dem alten Fall, dem Nobilini-Fall. Sag Bescheid, falls du etwas besprechen möchtest.“
„Das mache ich“, sagte Kate.
Und damit verschwanden beide in ihre jeweiligen Zimmer und beschlossen so den gemeinsamen Abend. Kate entledigte sich ihrer Schuhe und setzte sich direkt an den Laptop. Während sie ihn hochfuhr, rief sie Director Duran an. Wie schon erwartet, nahm er den Anruf nicht selbst entgegen, sondern Kates Anruf landete bei seiner Persönlichen Assistentin Nancy Saunders in seinem Vorzimmer. Kate bat sie darum, ihr schnellstmöglich die digitalisierten Akten des Nobilini-Falls zu emailen. Zwar hatte DeMarco einige der Akten im Gepäck, aber das waren nur die mit generellen Informationen zum Fall. Kate hatte das Bedürfnis, sich wieder neu mit den unappetitlichen Details vertraut zu machen. Saunders versprach, sich darum zu kümmern, und dass Kate die Email spätestens am nächsten Morgen um 9 Uhr erhalten würde.
Cass Nobilini, dachte Kate.
Sofort, als Duran die mögliche Verbindung des aktuellen Falls mit dem Nobilini-Fall erwähnte, hatte sie an die Frau denken müssen. Als sie die Klagelaute und das Weinen von Missy Tucker hörte, die gerade vom Tod ihres Mannes erfahren hatte, musste sie wieder an Cass Nobilini denken. Und dann wieder, als sie mit Jack Tuckers Freunden sprach.
Cass Nobilini, Frank Nobilinis Mutter. Die Frau, die es als beleidigend und absolut verwerflich angesehen hatte, dass die Medien den Mord an ihrem Sohn insbesondere auf Grund der Tatsache aufgriffen, dass er einst mehreren bekannten Mitgliedern des Kongresses als Finanzieller Berater zur Seite gestanden hatte. Kate schalt sich dafür, dass sie angenommen hatte, dass der aktuelle Fall sie nicht auf die eine oder andere Weise zum Nobilini-Fall zurück führen würde.
Die Erinnerung an Cass Nobilini blieb für den restlichen Abend im Vordergrund ihrer Gedanken, selbst als sie sich schließlich hinlegte und langsam einschlief.
***
Sie sah noch immer den Tatort vor sich. Durch die vielen Jahre, die inzwischen vergangen waren, war die Erinnerung etwas eingerostet und verblasst, aber wann immer sie träumte, gab es von Verschwommenheit keine Spur. In ihren Träumen sah sie alles messerscharf vor sich, so, als sähe sie fern.
Auch in dieser Nacht, als sie kurz nach 21 Uhr einschlief und sich dann bis Mitternacht unruhig im Schlaf hin und her wälzte, sah sie die Szene wieder vor sich.
Sie sah Frank Nobilini vor sich, getötet in einer Seitengasse liegend, seine BMW-Schlüssel noch in der Hand. Im Zuge der Ermittlungen war sie bei ihm zuhause gewesen. Er hatte in einem Haus mit vier Schlafzimmern in Ashton gelebt. In der Garage, in der es nach frisch gemähtem Gras roch, hatte sie mit der Untersuchung des Hauses begonnen. Sie kam sich fast wie in einem Geisterhaus vor, so als ob sich Frank Nobilinis Geist dort aufhielte und nur auf sie wartete. Vielleicht war er genau dort auf dem leeren Platz in der Garage, wo sein BMW – der mehrere Blocks vom Fundort seiner Leiche auf einem Parkplatz entdeckt worden war – hätte stehen sollen. In der Garage war es kalt gewesen; Kate hatte damals das Gefühl gehabt, sich in einer Grabkammer zu befinden. Aus Gründen, die sie nie verstanden hatte, war dies die Szene, an die sich über die Jahre tief in ihr Gedächtnis gebrannt hatte.
In Frank Nobilinis Fall hatte es keinerlei Hinweise darauf gegeben, warum ihn jemand umgebracht hatte. Man hätte annehmen können, dass sich jemand seines sehr schönen BMWs bemächtigen wollte, aber die Autoschlüssel hatte man in Franks Hand gefunden. Sein Haus war sauber gewesen – und zwar so sauber, dass es schon fast unheimlich wirkte. Es lagen keine Papiere herum, es gab keine Einträge in seinem Kalender, keinerlei Post. Nichts.
In ihrem Traum sah Kate sich in der Seitengasse stehen. Wie ein Kind, das vorsichtig einen Tropfen Sirup auf dem Küchentisch berührt, fuhren ihre Finger über die an der Hauswand klebende Masse. Sie wandte sich um und blickte hinter sich, in Richtung des Eingangs zur Gasse, aber sie sah stattdessen das Innere von Nobilinis Garage. Als ob man sie hereingebeten hatte, stieg sie im Traum die hölzerne Treppe hinauf, die zur Verbindungstür zur Küche führte. Dann bewegte sie sich auf eine fließende Art und Weise, wie man es nur in Träumen konnte; sie schwebte eher, als dass ihre Beine sie trugen. Irgendwie gelangte sie in das Badezimmer und blickte in die Duschwanne entlang der hinteren Wand. Sie war gefüllt mit Blut. Etwas schien sich unter der Oberfläche zu bewegen und ließ kleine Bläschen aufsteigen. Wenn eine die Oberfläche erreichte und zerplatzte, hinterließ dies kleine Blutspritzer an der gekachelten Wand.
Vor Schreck stolperte sie rückwärts zur Badezimmertür hinaus und in den Flur, wo ihr Frank Nobilini entgegen kam. Hinter ihm stand seine Frau Jennifer und schaute dem Geschehen zu. Sie winkte Kate sogar kurz zu, als ihr toter Ehemann den Flur entlang auf sie zu taumelte. Frank bewegte sich langsam, zombieartig, mit einem starken Hinken.
„Es ist alles okay“, sagte da eine Stimme hinter ihr.
Sie wandte sich um und sah Cass Nobilini, Franks Mutter, auf dem Boden sitzen. Sie sah müde aus, geschlagen… als warte sie auf des Henkers Schwert.
„Cass…?“
„Du hättest den Fall niemals gelöst. Das hattest du einfach nicht drauf. Aber die Zeit… die ändert Dinge, nicht wahr?“
Kate wandte sich wieder zu Frank um, der immer noch auf sie zukam. Als er an der Tür zum Badezimmer vorbeikam, sah Kate, dass das Blut über den Rand der Duschwanne getreten und über den Boden gelaufen war und sich jetzt im Flur ausbreitete. Als Frank in das Blut trat, war ein schmatzendes Geräusch zu vernehmen.
Frank Nobilini lächelte sie an und erhob wie zum Gruße eine schon vermoderte, abgefaulte Hand. Kate trat einige Schritte rückwärts, hob die Hände vors Gesicht und begann zu schreien.
Durch ihr Schreien wachte sie auf. Dieses verdammte Haus. Sie hatte nie begriffen, warum es sie so verstört hatte. Vielleicht lag es an Jennifer Noblinis Schreien, die damals durch dieses perfekt scheinende Haus gehallt waren… das alles war total surreal gewesen. Wie etwas aus einem Horrorfilm.
Kate setzte sich im Bett auf und drehte sich zur Bettkante. Nachdem sie ein paar Mal tief Luft geholt hatte, blickte sie auf ihren Wecker: es war 1:22 Uhr morgens. Das einzige Licht im Raum stammte von den Digitalzahlen ihres Weckers und von der Lampe draußen, deren schwacher Schein kaum durch die geschlossenen Jalousien drang.
Sie hatte schon zuvor von Cass Nobilini und diesem ersten Fall geträumt, aber dieser Traum war wirklich allzu realistisch gewesen. Ihr Herz hämmerte noch in ihrer Brust, als sie aus dem Bett stieg und zum Minikühlschrank ihres Hotelzimmers ging, um sich dort eine Flasche Wasser zu holen. Sie trank davon, während sie das Zimmer durchquerte und sich auf die Bettkante neben ihrem Laptop, der auf dem Nachttisch daneben stand, setzte.
Sie knipste die Nachttischlampe an, fuhr den Laptop hoch und checkte ihre Emails. Sie hatte nur eine neue Mail, und die kam von Director Durans Assistentin Nancy Saunders. Die hatte einen Agent beauftragt, die Nobilini-Akte auszubuddeln, welche ihr kurz vor Mitternacht gemailt wurde.