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KAPITEL SECHS

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Jessie lehnte sich weit aus dem Fenster.

Nur weil sie keine aktiven Fälle hatte, hieß das nicht, dass Captain Decker froh wäre, dass sie in Brentwood war, um einen Fall zu untersuchen, mit dem sie nichts zu tun hatte. Und doch war es genau das, was sie tat.

Caroline Gidley, das Opfer, das letzte Nacht gefunden worden war, war bewusstlos und nicht in der Lage zu sprechen. Kommissar Sands hatte sie gewarnt, dass Jayne Castillo, das dritte Opfer, nicht befragt werden wollte. Und da Kats Klientin, Morgan Remar, nicht in der Stadt war, blieb nur noch eine Person zum Reden übrig.

Als sie Sands fragte, ob es ein Fehler wäre, zu versuchen, mit dem ersten Opfer, Brenda Ferguson, zu sprechen, sagte er ihr, dass die Kommissare des Polizeireviers von West LA nicht gerade erfreut darüber sein würden. Aber er hatte sie auch ganz bewusst nie gebeten, dies nicht zu tun. Sogar in ihrer beschränkten Erfahrung mit ihm bekam Jessie das Gefühl, dass dies wohl eine Art Startschuss war.

Ryan hatte sich großzügig bereit erklärt, sich auf dem Revier für sie einzusetzen, um ihre Abwesenheit vor Captain Decker geheim zu halten. Kurz bevor sie zum Haus der Fergusons fuhr, sprach sie mit ihm.

„Was gibt’s Neues?", fragte sie.

„Decker ist so in die Folgen des Überfalls der Sittenpolizei vertieft, dass er nicht mal bemerkt hat, dass du nicht hier bist."

„Ich weiß nicht, ob ich mich erleichtert oder beleidigt fühlen soll", antwortete sie.

„Falls es ein Trost ist, ich vermisse dich", sagte Ryan.

Bewaffnet mit dieser Gewissheit stieg sie aus und machte sich auf den Weg zum Haus. Sie hatte vorher nicht angerufen, aus Angst, Ferguson könnte Rücksprache mit den Kommissaren des Falls halten. Außerdem stellte sie oft fest, dass sie nützlichere Informationen erhielt, wenn sie einen Zeugen, einen Verdächtigen oder sogar ein Opfer überraschte. Sie hatten nicht so viel Zeit, ihre Gedanken zu sortieren und nützliche Informationen wegzulassen.

Das Haus war beeindruckend, wenn auch bei weitem nicht so prunkvoll wie einige andere in der von Bäumen gesäumten Straße. Es war ein zweistöckiges Haus im spanischen Stil, das sich weit über das große Grundstück hinaus erstreckte. Allein der Vorgarten bot Platz für ein zweites Haus. Sie klopfte an die Tür und musste gut sechzig Sekunden warten, bis ein Mann um die dreißig mit misstrauischem Gesichtsausdruck aufmachte.

„Kann ich Ihnen helfen?", fragte er zurückhaltend.

„Ich hoffe es. Ich nehme an, Sie sind Frau Fergusons Ehemann?"

„Ja. Ich bin Ty."

„Hi, Ty", sagte Jessie mit ihrer wärmsten, wenig einschüchternden Stimme. „Ich bin Jessie Hunt. Ich arbeite als Kriminalprofilerin für das LAPD. Ich weiß, dass Brenda eine Menge durchgemacht hat. Aber ich hatte gehofft, kurz mit ihr sprechen zu können. Ich versuche, ein Profil des Mannes zu erstellen, der sie entführt hat, und die Akte des Falls gibt nicht so viel her. Aus Rücksicht auf das, was sie durchgemacht hat, habe ich so lange wie möglich gewartet. Aber ein persönliches Gespräch mit ihr wäre äußerst hilfreich.“

Sie war nicht gerade begeistert davon, ihre erste Einführung mit Notlügen machen zu müssen. Aber sie brauchte einen Einstieg und das schien ihr der effektivste Weg zu sein. Ty knallte ihr nicht die Tür vor der Nase zu, aber er sah immer noch zurückhaltend aus.

„Hören Sie", sagte er leise und blickte dabei zurück über die Schulter. „Ich weiß, dass Sie nur Ihren Job machen. Aber Brenda hat so viel durchgemacht. Sie schläft erst seit kurzem wieder durch. Ich mache mir Sorgen, dass dadurch all die Wunden wieder aufbrechen könnten."

Jessie spürte, dass seine Widerspenstigkeit kurz davor war, seine guten Absichten zu überwältigen, und beschloss, dass es jetzt an der Zeit war, offener zu sein.

„Ich kann nicht versprechen, dass das nicht passieren wird, Ty. Aber ich versuche herauszufinden, wer dieser Typ ist, damit er niemanden mehr verletzen kann. Ich weiß nicht, ob Sie sich dessen bewusst sind, aber ein viertes Opfer wurde gestern Abend entdeckt."

„Nein", sagte Ty, seine Augen weiteten sich.

„Ja, sie ist im Krankenhaus. Sie hat ein gebrochenes Bein, nachdem sie nach vier Tagen aus einem Hundezwinger entkommen konnte. Offen gesagt gibt es keine Anzeichen dafür, dass dieser Typ in absehbarer Zeit aufhören wird. Ich hoffe, dass wir ihn mit Brendas Hilfe finden können, bevor er sich eine fünfte Frau sucht."

Ty sah immer noch hin- und hergerissen aus, aber Jessie merkte, dass er nun dazu tendierte, sie hereinzulassen. Er blickte ein zweites Mal in den Flur zurück.

„Warten Sie hier", sagte er schließlich. „Lassen Sie mich zuerst mit ihr sprechen. Vielleicht kann ich sie überzeugen."

„Danke", sagte Jessie und betrat das Foyer, als Ty in einem unbekannten Raum am Ende des Flurs verschwand.

Sie konnte mehrere Minuten lang ein leises, erregtes Flüstern hören, bevor Ty schließlich seinen Kopf durch die Tür steckte.

„Kommen Sie rein", rief er. „Bitte schließen und verriegeln Sie die Tür hinter sich."

Jessie nickte, tat, was er verlangte, und machte sich dann auf den Weg durch den Flur. Als sie um die Ecke kam, sah sie Ty neben einer dunkelhaarigen Frau mit abgemagertem Gesicht und roten Augen am Frühstückstisch sitzen. Sie wirkte nicht sehr glücklich darüber, einen Gast zu haben.

Hallo, Frau Ferguson", sagte sie, ihre Stimme kratzte. „Danke, dass Sie mit mir sprechen."

„Ich tue es nur, weil Ty mich darum gebeten hat. Er hat mir von der vierten Frau erzählt. Wie geht es ihr?"

„Sie wird überleben", sagte Jessie. „Sie wurde auf einem Feldweg im Griffith Park mit einem gebrochenen Bein und mehreren anderen Verletzungen gefunden. Soweit ich weiß, wird sie noch vor Ende der Woche entlassen werden."

„Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder?"

„Ich glaube nicht", sagte Jessie.

„Das ist gut. Es ist schlimm genug, das durchzumachen. Aber für den Rest der Familie war es fast genauso schlimm. Meine Tochter kommt nachts meist weinend in unser Zimmer. Mein Sohn hat angefangen, ins Bett zu machen. Ty hat alles im Griff, aber ich merke, dass er kurz davor ist, zusammenzubrechen."

„Es ist okay, Süße", sagte Ty und drückte ihre Hand. „Es geht mir gut. Und den Kindern wird es bessergehen. Du konzentrierst dich nur auf dich. Das wird dir helfen. Wenn Frau Hunt einen Weg finden kann, diesen Kerl zu schnappen, wird das allen helfen, nachts besser zu schlafen."

„Glauben Sie, dass Sie das schaffen, Frau Hunt?"

„Bitte nennen Sie mich Jessie. Und mit Ihrer Hilfe hoffe ich das."

Brenda studierte sie mit ihren erschöpften Augen und nickte.

„Kommen Sie mit mir, Jessie", sagte sie. „Ich möchte Ihnen etwas zeigen."

Sie stand ohne ein weiteres Wort auf und verließ den Raum. Jessie folgte ihr, blickte aber zurück zu Ty, der mit den Schultern zuckte. Brenda führte sie in den Flur und blieb an einem Bücherregal stehen.

Sie streckte die Hand aus und zerrte an einem roten Buch, das hüfthoch am rechten Ende des Regals stand. Das Buch rutschte leicht heraus und schnappte dann zurück. Jessie hörte ein leises Klicken. Plötzlich schwang das Bücherregal wie eine Tür in den offenen Raum zurück.

Eine dumpfe Leuchtstoffröhre flackerte auf und enthüllte einen Raum von der Größe eines kleinen Arbeitszimmers. An einer Wand stand ein kleines Sofa, daneben zwei Holzstühle. Sie alle umgaben einen Mini-Couchtisch. In der Ecke stand ein winziger Kühlschrank.

Abgesehen von ein paar Zeitschriften und einigen Malbüchern und Buntstiften gab es hier keine Unterhaltungsmedien. An einer Wand hing ein Schnurtelefon aus dem letzten Jahrhundert. An einer anderen Wand hing ein großes Poster mit dem Cover von Nirvanas Nevermind-Album, auf dem ein Baby unter Wasser zu sehen ist, das nach einer Dollarnote greift.

„Das ist cool", sagte Jessie und zeigte auf das Poster, unsicher, wie sie sonst reagieren sollte.

„Ich weiß", sagte Brenda. „Es hängt da, weil es groß genug ist, um die Öffnung zu dem Tunnel zu verdecken, den wir unter dem Haus zum Vorgarten gegraben haben.“

„Okay", antwortete Jessie, überrascht von dem faden Ton, mit dem Brenda eine so unkonventionelle Situation beschrieb.

„Ich zeige Ihnen dies, weil ich wollte, dass Sie einen Eindruck davon bekommen, wie unser Leben jetzt aussieht. Ich habe Ty dazu gebracht, diesen Panikraum bauen zu lassen, nachdem ich wieder zurück war. Ich weiß nicht, ob das in einem Notfall etwas nützt. Aber ich konnte nicht mehr als zwei Stunden am Stück schlafen, bis er fertig war."

„Ich verstehe", sagte Jessie leise.

„Verstehen Sie das?“, forderte Brenda.

„Ich verstehe es wirklich", versicherte Jessie ihr. „Ich will Sie nicht mit den Details langweilen, aber ich hatte schon mehrere Stalker. Ich habe meine Wohnung renovieren lassen, um mehrere Sicherheitsmaßnahmen einzubauen, die normalerweise von Banken und Regierungseinrichtungen eingesetzt werden. Und selbst nachdem die unmittelbaren Gefahren für meine Sicherheit beseitigt waren, habe ich die Sicherheitsvorkehrungen aufrechterhalten. Ich verstehe Sie also sehr gut.“

Jessie bemerkte, dass Brenda sie zum ersten Mal so ansah, als könnte sie eine Verbündete sein.

„Es tut mir leid, dass Ihnen das passiert ist", sagte sie. „Und Sie können mich Brenda nennen."

Jessie lächelte.

„Danke, Brenda", sagte sie. Möchten Sie sich setzen?", fragte sie und nickte dem Sofa zu.

„Da drin?"

„Es könnte Ihnen helfen, sich daran zu gewöhnen“, sagte Jessie.

Brenda sah ihren Mann an, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hatte. Er zuckte wieder mit den Schultern.

„Ich warte in der Küche, damit Sie beide etwas Privatsphäre haben."

Nachdem er gegangen war, drückte Brenda einen Knopf an der Wand, und die Tür schwang zu und rastete ein. Sie zeigte auf einen kleinen Schalter, der ungefähr an der Stelle zu liegen schien, wo das rote Buch auf dem Regal draußen stand. Er war mit den Worten "verriegelt" und "entriegelt" gekennzeichnet.

„Diesen Schalter gibt es, damit niemand den Raum betreten kann, sobald wir drinnen sind, selbst wenn sie von dem Buch wissen", sagte Brenda.

„Solide Entscheidung", sagte Jessie. „Sonst ist es wohl kaum ein Panikraum."

Sie ergriff die Initiative, ging zum Sofa und setzte sich. Brenda schloss sich ihr an, setzte sich aber auf einen der Stühle in der Nähe.

„Also", begann Jessie, „ich weiß, dass Sie mehrmals mit der Polizei gesprochen haben. Ich habe die Akte gelesen. Ich werde also versuchen, ihre Fragen nicht zu wiederholen. Ich interessiere mich eigentlich für andere Dinge als sie."

„Wofür zum Beispiel?“, fragte Brenda, als sie nervös die Beine übereinanderschlug.

„Ich weiß aufgrund der Beschreibungen von Ihnen und der zweiten und dritten Frau, dass Ihr Entführer aufwendige Verkleidungen trug, darunter Perücken, Bärte und Masken. Ich weiß auch, dass jeder von Ihnen nach Ihrer Entführung erst einmal die Augen verbunden war. Deshalb möchte ich mich jetzt mehr auf seine Stimme konzentrieren. Erinnern Sie sich daran?"

„Ich bekomme sie nicht aus meinem Kopf", sagte Brenda, „obwohl er überhaupt nicht viel gesprochen hat".

„Können Sie deren Klang beschreiben?“, fragte Jessie. „War sie tief oder hoch? Irgendwo dazwischen?"

„Irgendwo dazwischen; es war eine normale, mittelmäßig klingende Stimme."

„Okay", sagte Jessie. „Was ist mit einem Akzent? Ist Ihnen etwas in dieser Richtung aufgefallen? Vielleicht ein Näseln? Oder ein flacherer, mittelwestlicher Akzent? Vielleicht etwas, das Sie an New York oder New England erinnerte? Hat er Wörter benutzt, die Sie hier draußen normalerweise nicht hören, wie 'Pop' statt 'Soda' oder 'ihr da' statt 'ihr alle’?"

„Ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt", sagte Brenda und knirschte konzentriert mit den Zähnen. „Ich bin aus LA und er klang normal für mich, vielleicht ist er also auch von hier?"

„Das ist durchaus möglich", sagte Jessie unterstützend. „Was ist mit der Sprachwahl? Hat er viel Slang verwendet oder war sein Gebrauch eher angemessen? Klang er so, als wäre er gebildet?"

Brenda nahm sich einen Moment Zeit, um ihr Gedächtnis zu durchforsten.

„Ich erinnere mich nicht, dass er besonders ausgefallen gesprochen hätte. Aber ich erinnere mich auch nicht an viel Slang. Es war meist eine ganz normale, einfache Sprache."

„Hat er ungewöhnlich schnell oder langsam gesprochen?"

Brendas Augen leuchteten dabei auf.

„Vielleicht ein bisschen langsamer als normal", antwortete sie. „Es war, als wollte er sicher sein, dass er genau das Richtige sagte, wenn er sprach. Er war sehr bedacht. Hilft das?"

„Das könnte es", sagte Jessie. „Lassen Sie uns andere Bereiche erkunden. Ist Ihnen ein bestimmter Geruch aufgefallen?"

Brenda war ruhig und ihr Gesicht wurde rot.

„Was ist los?“, fragte Jessie sanft.

Sie dachte, die Frau würde nicht antworten, aber nach einigen langen Sekunden tat sie es schließlich doch.

„Um ehrlich zu sein", flüsterte sie fast: „Ich kann mich an keinen Geruch von ihm erinnern. Was immer er benutzt hat, um mich außer Gefecht zu setzen, als er mich entführt hat, hatte einen überwältigenden Geruch. Und danach konnte ich nichts Anderes mehr riechen als meinen eigenen Gestank, zuerst nach Schweiß und Körpergeruch und später nach… meinen eigenen Exkrementen."

Sie blickte nach unten und sagte nichts weiter.

„Okay, dann lassen Sie uns weitermachen", sagte Jessie schnell. „Warum reden wir nicht darüber, wie er sich allgemein verhalten hat, als Sie eingesperrt waren?"

Im Laufe der nächsten halben Stunde erfuhr Jessie, dass der Mann nie übermäßig wütend wurde, sondern immer dann gereizt war, wenn sie über ihren Mann oder ihre Kinder sprach. Sie lernte, diese nicht so schnell zu erwähnen. Er lachte nie, aber er klang glücklicher als sonst, wenn er ihr Essen und die Wasserschüssel in den Zwinger fallen ließ oder wenn er sie abspritzte.

„Meine Momente der Erniedrigung schienen ihm einen Kick zu geben", sagte Brenda. „Er sagte, sie seien Teil des 'Reinigungsprozesses'."

Danach brach sie zusammen und war nicht mehr sehr hilfreich. Jessie beendete das Gespräch frühzeitig. Als sie fertig waren, brachten die beiden Fergusons Jessie zur Tür. Brenda sah etwas besser aus als bei ihrer ersten Begegnung in der Küche. Als sie nach draußen gingen, hatte sie eine eigene Frage an Jessie.

„Könnten Sie uns vielleicht den Namen der Sicherheitsfirma nennen, die die Sicherheitsvorkehrungen in Ihrer Wohnung getroffen hat?“

„Natürlich", sagte Jessie, überwältigt von einem Gefühl des Mitleids. „Ich werde Ihnen die Informationen per SMS schicken."

Als sie zu ihrem Auto zurückging, machte sie sich Gedanken darüber, wie der Entführer wohl sein mochte. Erst als sie direkt neben ihrem Auto stand, merkte sie, dass alle ihre Reifen aufgeschlitzt worden waren.

Das Perfekte Alibi

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