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Ein folgenschweres Wochenende
ОглавлениеMartin Wenndorf, Chef einer Baustelle für Tagebaugroßgeräte, galt als ein erfahrener Mann. Die älteren Stahlbauer sagten, er wäre im Nietfeuer gehärtet, obwohl er ziemlich jung sei als Chef.
Eines Freitags nun inspizierte Martin, wie immer vor der Heimfahrt, aufmerksam die Baustelle. Eine Hand in der Hosentasche, in der anderen eine Zigarette, die Jacke offen, den Helm ins Genick geschoben, prüft er den Sitz eines Seils, rüttelt an einem Baustellencontainer, sieht nach, ob die Schienenzangen der Krane angelegt sind. Am Schluss des Rundgangs schweift sein zentraler Blick über die Baustelle. Seine Monteure halten ihre Zeigefinger an die Lippen und flüstern grinsend:
"Pssst... Der Boss beschwört die Baustellengeister..."
Martin hat Gründe dafür. Er hat sich den Lieblingssatz seines Statikprofessors:
"Was schön ist, hält auch"
eingeprägt, in dem von der Harmonie einer Gesamtsituation die Rede ist. Um dafür sensibel zu sein, bedarf es großer Erfahrung und vor allem Gespür. Martin besitzt beides.
Auf dem Weg zurück zum Bürocontainer brüllt Matze, sein Stahlbaumeister, der mit ein paar Leuten Wochenendbereitschaft hat, quer über den Platz:
"Martin! Telefon. Deine Frau."
"Ich komme."
murmelt er, noch in Gedanken, ob sich ein zusätzlicher Autokran für die Vormontagen rechnen würde, beeilt sich jedoch, nimmt den Hörer, den Matze ihm entgegenhält:
"Hallo Toni, was gibt's? Ist was passiert?"
ruft er in den Hörer und gibt Matze ein Zeichen, das Radio leiser zu stellen.
"Nein, nein Martin, nichts Besonderes. Es geht um die Jungs. Ihr Trainer hat angerufen, ob ich sie und zwei andere Knirpse nicht gegen sieben von Germshausen abholen könnte. Du weißt doch, der Judowettkampf. Er hat Transportprobleme. Dich hat er nicht erreicht, sagt er. Vielleicht will er auch nur ein warmes Mutterherz dabei haben, falls Trösten angebracht ist. Also, ich hole die Burschen ab. Wir sind dann erst gegen acht im Garten. Fürs Wochenende eingekauft habe ich. Und sieh ´zu, dass du uns noch erkennst, wenn wir kommen! Denk´ an das Morgengrauen nach Ottos Stachelbeerschnaps!"
"Was du denkst, Toni... Ich drücke den Jungs die Daumen. Also tschüs, bis gegen acht."
Martin legt den Hörer auf, beugt sich über den Schreibtisch und nippt am Kaffee, den Matze inzwischen gekocht hat.
"Na, alles im Lot?"
brummt der und rückt mit Kaffeetasse und Stuhl zum Schreibtisch.
"Ja. Übrigens: Sonntag werden die Diagonalen für den Mast geliefert. Sieh zu, dass du sie in den Schwenkbereich von Kran drei legen kannst, damit wir Montag von dort aus direkt montieren können. Sonst alles wie besprochen...
Ich hau´ dann ab. Mir blüht noch ein mittleres Besäufnis bei uns in der Gartenkneipe. Vorbereitung auf das morgige Spartenfest. Eine elende Pferdekur, kann ich dir sagen!"
"Kenn´ ich! Na, denn man tau. Da brauche ich dich ja wohl nicht anzurufen, falls was ist?" grinst Matze.
"Rate mal, warum ich gerade dich für die Wochenendbereitschaft eingeteilt habe, du Pfeife! Also, tschüs! Und halte die Ohren steif."
Martin schwingt sich ins Auto und fährt ab. Entspannt räkelt er sich im Fahrersitz, drückt die ausgestreckten Arme gegen das Lenkrad und genießt das seidenweiche Surren des Motors. Vor seinen Augen flackern die Lichtreflexe, die die Sonne durch das Blätterdach der Alleebäume auf die Straße blitzen lässt. Es scheint ein schöner Spätsommerabend zu werden.
Nach einer knappen Stunde biegt er in die Gartenanlage ein, rangiert den PKW vorsichtig neben einen Fliederbusch, korrigiert mehrmals, stellt ihn ab.
Langsam schlendert Martin zu seinem Bungalow. Wenn der Lärm aus Ottos Gartenkneipe nicht alles übertönen würde, sinniert er, könnte man sich im Liegestuhl entspannen und der Amsel zuhören, die dort oben, auf der Spitze des Nussbaums, ihr Lied singt. Eigentlich ist der Abend viel zu schade zum Saufen. Zieh´ ich nun die bequemen Freizeitklamotten an? Ach was, kann ich immer noch, wenn Toni kommt. Aber der Schlips bleibt hier. Ich muss unbedingt mit Herbert vom Stadtbauamt wegen der Genehmigung für den Anbau reden. Sicher hat er auch ein paar Informationen zum Bebauungsplan...
Gemütlich stopft Martin sich die Stanwell-Pfeife, die er nur zu Feierabend und mit Andacht raucht, zündet sie umständlich an und trottelt entspannt in Richtung Gartenkneipe.
Angekommen registriert er eben noch, dass die Fete reichlich fortgeschritten ist, da wälzt Kneiper Otto schon seine Ringerfigur auf ihn zu, drückt ihm ein Bier in die Hand und grölt ihm ins Ohr:
"Komm rin, min Jung, hast wohl auf dem Bau verpennt!"
Vom Kneiper zum nächsten Tisch geschubst, kann er gerade noch das Ausschwappen seines Biers verhindern. Die Leute am Tisch rücken beiseite, schieben einen Stuhl zurecht. Es sind Martins unmittelbare Gartennachbarn. Eigentlich wollte er sich eine bessere Ausgangsposition für das Gespräch mit Herbert schaffen, der ist aber noch nicht da. Grinsend steigt er also in die bereits konfusen Debatten der Männer am Tisch ein:
"Na, ihr Gartenzwerge? Habt ihr schon beschlossen, ob China in die UNO soll?"
"Quatsch nich so kariert, trink lieber ein bisschen zackig, damit du auf unser Niveau kommst, Bauheini..."
krakeelt feixend der Chef vom übernächsten Garten rechts, Heinz, ein pensionierter Bahnbeamter.
"Otto! Bring` doch mal ´nen großen Wodka für den Knaben hier, damit er auf andere Gedanken kommt!"
brüllt er und fuchtelt hemdsärmlig Signale zum Tresen.
"Nun mal etwas christlicher, Freunde"
Beschwichtigt Martin die Runde,
"ich habe euch noch nicht mal alle erkannt in dem Dunst hier. Wie soll das mit einem Eimer Wodka im Bauch werden...Kennt ihr übrigens den Witz vom Angler am Baikalsee?"
Martin ist eingereiht. Nach ein paar Anschlussschnäpsen hält er sich etwas zurück. Die Baugenehmigung steht noch auf dem Programm. Ganz blau will er das Geschäft mit Herbert, dem alten Fuchs, nicht machen. Er lässt also jeden zweiten Wodka aus. Dennoch spürt er, dass seine Gedanken anfangen sich zu vernebeln.
Otto hat inzwischen System in den Trinkrhytmus der Gäste gebracht. Zufrieden spült er die Gläser, trocknet die Hände an der Schürze, zapft in Ruhe das Bier. Der Abend geht seinen geordneten Gang. Als das Telefon klingelt, nimmt er gelassen den Hörer ab, meldet sich, hört zu...
Plötzlich erstarrt er! Langsam den Schweiß von der Stirn wischend, flüstert er leise ins Telefon:
"Ja, Herr Wenndorf ist hier. Moment..."
Er legt den Hörer neben den Apparat, bindet die Schürze ab und geht behutsam zu dem Tisch, an dem Martin Wenndorf mit seinen Gartennachbarn laut über eine Story lacht, die gerade erzählt worden ist.
"Ruhe, Jungs..."
Aus Ottos blassem Gesicht und dem beherrschten Tonfall erkennen alle sofort, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein muss und es wird schlagartig ruhig in der Kneipe.
"Martin, Telefon für dich...".
Ottos Worte tropften wie Blei in die Stille. Martin springt betroffen auf und stürzt zum Telefon. Den Hörer hochreißend schreit er fast in die Muschel:
"Wenndorf, was ist passiert..."
Eine behutsame Frauenstimme meldet sich:
"Stadtkrankenhaus, Doktor Karie. Herr Wenndorf, bitte fassen sie sich. Ihre Frau hatte einen Verkehrsunfall, sie liegt bei uns auf der Intensivstation...".
Martin wirft den Hörer auf den Tisch, steht Sekunden wie erstarrt, dann stürzt er zum Ausgang. Blind vor Entsetzen rennt er zum Garten, wirft sich ins Auto. Die Leute aus der Gaststätte, die Martin vor Unbedachtsamkeiten bewahren wollen, können nur noch zur Seite springen, als das Auto aufheulend an ihnen vorbeischießt. Betreten sehen sie den rasch verschwindenden Rücklichtern nach.
In Martins Gehirn hämmerte nur eine Frage: was ist mit Toni. Und den Kindern? Es muss ein Irrtum sein...Vielleicht ist es gar nicht Toni... Herrgott-nochmal! Das Scheiss-Auto ist viel zu langsam, verdammt!
Inzwischen hat er das Ortseingangsschild passiert, fährt aber mit unverminderter Geschwindigkeit weiter. Auf den Fußgängerwegen drängen sich die Leute an die Häuserwände, wenn er vorbei rast. Vor einer Ampel, die rot zeigt, bremst er zu spät und schleudert mitten über die Kreuzung gegen eine Laterne. Polizei und Krankenwagen sind schnell zur Stelle. Die beiden durchtrainierten Polizisten können den tobenden Martin nur mit Spezialgriffen in den Krankenwagen zwingen. Ununterbrochen schreit er, sie könnten mit ihm machen, was sie wollten, aber nicht jetzt, erst müsse er ins Krankenhaus! Toni wäre doch dort! Und die Kinder...!
Martin schreit, schluchzt und bettelt, man möge ihn zu Toni lassen. Der Notarzt sieht keine andere Möglichkeit, als ihn mit einer Spritze ruhig zu stellen.
"Den müssen wir erst einmal in die Ausnüchterungszelle bringen" meint der Fahrer,
"der ist ja stockbesoffen!"
Martin wird zur Alkoholkontrolle auf die Polizeidienststelle gefahren. Im dichten Nebel aus Beruhigungsspritze und Alkohol flackert in seinem Gehirn ein dumpfes Gefühl aus ohnmächtiger Hilflosigkeit und Angst.
Er registriert nur im Unterbewusstsein, dass die Beamten ihn vor den diensthabenden Offizier zerren. Sie drücken das hilflose Bündel auf einen Stuhl, bleiben aber aufmerksam in seiner Nähe, immer gewärtig, bei einem erneuten Tobsuchtsanfall einzugreifen.
Die Routinefragen prasseln gegen Martins Gehirn wie Nebelfetzen aus heran jagenden Worten und Gedanken, deren Sinn er nicht entschlüsseln kann. 'Alles ist aus. Vorbei. Ende.' flüstert ihm manchmal ein Funke Bewusstsein zu, bevor er wieder in der Dämmerung verlischt.
"Herr Wenndorf" sind die ersten zusammenhängenden Worte, die er erfasst, "sie sind mit 3,1 Promille Alkohol im Blut durch die Stadt Amok gefahren. Sind sie sich dessen bewusst? - Herr Wenndorf..."
Wie vom Blitz zerfetzt zerreißt der Schleier vor Martins Augen: Toni, die Kinder, das Gelage in der Gartenkneipe, der Anruf.
"Toni" schreit er, "was ist mit meiner Frau und den Kindern!"
Mit angstgeweiteten Augen und Schweiß auf der Stirn starrt er den Beamten an und flüstert, plötzlich tonlos:
"Bitte, ich muss zu meiner Frau!"
Der Offizier wird ärgerlich. Ohne von seinen Unterlagen aufzusehen bellt er Martin an:
"Was soll das. Ihre Frau wird gleich hier sein. Sie war nach einem Auffahrunfall zur Beobachtung im Krankenhaus. Und was reden sie ständig von Kindern? Kinder waren in den Unfall nicht verwickelt!"
Martin Wenndorf sinkt auf seinem Stuhl zusammen. Mit geschlossenen Augen verharrt er so Sekunden. Dann richtet er sich langsam auf, blickt den Offizier mit klarem Blick an und flüstert mit brüchiger Stimme:
"Danke..."
Der Polizeioffizier sieht ihn erstaunt an:
"Es scheint ihnen zu dämmern, was ihnen bevorsteht?"
Martin Wenndorf nickt düster, aber seine Augen strahlen.