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Grausamkeit des Augenblicks

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Rücksichtslos an den Entgegenkommenden vorbei, auf einen Ausgang zu. Der Frankfurter Bahnhof ist ein Kopfbahnhof. Ich weiß nicht, was ich heute schon in dieser Stadt zu suchen habe, es hätte auch die Möglichkeit gegeben, erst morgen in der Früh zu fahren. Etwas drängt mich seit geraumer Zeit. Doch nicht mal die Vorstellung, was es gewesen sein könnte, besteht.

Durch Unterführungssysteme, im Hin- und Rückfluß zahlloser Menschen, deren Tod mich nicht berühren würde, und wieder hinauf auf eine Straße, in der sicher niemand mehr wohnt; vorüber an Spielhallen, Schnellwäschereien, Ausländerscharen, einem Mannschaftswagen und Gebäuden voller Frauen. Nirgends ein Lebensmittelgeschäft – ich habe Lust auf eine Tüte Milch. Hinter den Fenstern statt dessen vielversprechendes Licht oder überhaupt nichts, aufgegebene Räume, nehme ich an, verwaiste Zimmer, schwer zu sagen. Ich biege um die nächste Ecke und betrete das erste Gebäude auf der rechten Seite. Im Treppenhaus und in den Fluren streunende Freier, in den offenstehenden Türen überwiegend Schwarze, andere Rassen sind schwächer vertreten. Ich weiß auch nicht, was ich im einzelnen will, und folge meinem Blick, wohin er fällt.

Die junge Frau ist aus dem Mittelmeerraum, vermutlich. In ihrer Kammer steht eine Liege, und neben der Liege, auf einem Schränkchen, reizt mich etwas von weitem, das ich nicht bezeichnen kann, eine mechanische Lichtorgel? Wieviel, will ich wissen und dazu noch ihren Namen, und sie deutet mit der ganzen Hand Richtung Brustbein, auf sich. Rosalia.

Möglichkeiten gehen mir durch den Kopf, während sie anfängt zu reden, meinen Spielraum verengt. Ihr Sprachschatz ist gering, einige Begriffe für das, was sie bietet, die Zahlen Dreißig und Vierzig, das Hauptwort Gummi und die Verhältniswörter mit und ohne. Ich merke, daß sie mich erreicht hat. Etwas zumindest, das mich durchzieht, und komme mir entblößt vor. Nicht auszudenken, daß sie mit nur einem, noch dazu falsch ausgesprochenen, verstümmelten Wort zur Sprache bringen konnte, was ich unter Umständen wirklich will. Wie heißt das neben deinem Bett, das Bunte da?

Die kleinen Hausaltäre fallen mir ein, die ich im Süden ab und zu gesehen habe, wenn ich in den Armeleutevierteln einen Blick in die offenen Fenster warf, auf Betten, in denen Greisinnen lagen, unterhalb der bunten Lichter. Anregend der Gedanke, daß sie noch fromm ist; aber es könnte sich auch schon erledigt haben.

Du wollen? fragt und löchert sie mich, und ich gehe in die Kammer. Sie schließt die Tür hinter mir, sagt noch einen weiteren Halbsatz, verwendet den Ausdruck schön, und ich greife ihn auf.

Was ist das für ein Ding da neben deinem Bett?

Sie streicht mit den Fingern darüber, sie tippt es an und steigert das Spiel der Farben. Einen Augenblick lang scheint sie sich zu freuen, dann möchte sie Geld. Als sei etwas Bestimmtes vereinbart worden, besteht sie auf Vierzig, und ich reiche ihr zwei Scheine, die sie in einer Schachtel verstaut. Danach zieht sie ihre Wäsche aus, wendet mir dabei den Rücken zu und lenkt mich ab.

Für einige Sekunden, bis eben, mußte ich an etwas anderes denken, an den kommenden Tag. Woher bist du? unterbreche ich die Stille, und sie deutet auf einen Schemel: dort soll ich meine Kleider hinlegen; und während ich das Hemd aufknöpfe, sagt sie Portugal.

Portugal, da bin ich auch schon gewesen, sage ich. Aber das beeindruckt sie nicht. Lisboa? hake ich nach, du aus Lisboa? Und ich betone das Wort, und sie sieht mich an und wiederholt es, leise, wie eine Parole. Denkbar also, daß sie dort schon tätig war, in den Bairros von Lissabon lauern die Frauen neben Gemüse- und Fischverkäufern, in Hauseingängen und Nischen, und heben für den, der einen Blick riskiert, blitzschnell den Rock, um ihr Werkzeug zu zeigen; man mag das beklagen, aber so ist es.

Sie ist nackt, und ich stehe noch immer in Hosen herum, streife mir aber die Schuhe jetzt ab, und sie tritt vor eine Waschgelegenheit. Ihr Körper wirkt jünger als ihr Gesicht und zeigt keine großen Farbunterschiede. Nur um die natürlichen Falten herum ist die Haut dunkel, dort liegen die Gefahrenherde. Ich fürchte mich vor einer Infektion und schaue vorsichtig an ihr entlang – an manchen Stellen treten Muskeln in Erscheinung, Folgen einer gleichförmigen Verrichtung, Feldarbeit vielleicht. Ganz verschiedene Prägungen auf ihrem Körper, Welten zwischen ihren Händen und den Augen: plumpe Finger, vielsagende Art zu schauen. Vergleichbar beschaffen hingegen Schenkel und Brüste; auf beidem noch keine Spur von Geschichte, keine erzwungenen Formen, keine unnatürlichen Eindrücke. Und sicher weiß sie um die Wirkung dieser Bereiche.

Du hast schöne Schenkel, bemerke ich. Das rutscht mir so heraus, und mit einem eigentümlichen A-Laut stimmt sie mir zu. Ich lege meine Hose über den Schemel, die Socken behalte ich an. Lissabon ist eine recht schmutzige Stadt, ich fange an mich zu erinnern. Doch sie bricht es ab, mein Zurückschauen, zum Glück; sie führt mich ans Licht und fängt mit einer Untersuchung an.

Bist du aus Lissabon? Lisboa du zu Hause? Man muß freundlich sein, mit jedem Menschen, ich versuche das, obwohl sie an mir herumdrückt, sich mit dem Zeigefingernagel einen Einblick verschafft. Sie fahndet nach Indizien, ihre Routine beruhigt mich und ängstigt zugleich; es ist die erste Untersuchung dieser Art, der ich unterzogen werde.

Wie lange bist du schon hier? Wie lange in Frankfurt?

Zwei Monat, sagt sie.

Monate, verbessere ich und lege meine Hand auf ihre Schulter. Für Vierzig ist es inbegriffen, sie auch zu berühren. Langsam fahre ich an ihrem Oberarm herab, springe über zur unteren Hälfte der Brust, streife den Hof um die Warze und gleite weiter bis zum Nabel, wo wir uns plötzlich in der Quere sind. Ich ziehe meine Hand zurück und sehe ihr zu: wie sie mein Haar untersucht, womöglich nach Läusen, aus alter Gewohnheit. Als sie damit fertig ist, beginnt sie mich zu waschen.

Wie alt bist du? Wie alt?

Sie schweigt, und ich sehe ihr abermals zu. Sie benützt gewöhnliche Seife, und ihre Finger sind geschickter, als ich annahm. Falls sie mich reinlegen will, auf ein vorzeitiges Ende spekuliert, hätte sie keine Chance; ich bin ganz woanders, weit entfernt von mir. Ich streichle über ihren Rücken, entlang der Wirbelsäule, bis in die Höhe des Steißbeins und merke, daß ihr schauert. Ich wiederhole den Weg, doch sie entzieht sich kurz vor dem Punkt.

Die Waschung ist gründlich, nicht nur auf bestimmte Stellen konzentriert. Augenblicklich hat sie die Oberhand.

Ich dich auch? frage ich und deute es an. Sie reicht mir die Seife und hockt sich auf den Beckenrand. Ich habe noch nie eine Frau gewaschen, nur zugesehen dabei. Genau verfolgt sie meine Hände, und ich lasse nichts aus, spüle den Schaum dann noch weg, trockne sie überall ab und nenne meinen Namen. Sie spricht ihn nach, ich korrigiere. Beim vierten Mal betont sie ihn richtig, in Verbindung mit einer Geste. Ein seltsames Zeichen, das meinen Namen unterstreicht und mich vorübergehend sprachlos macht; sie weist mir einen Platz auf ihrer Liege an, sie flüstert ein Wort dazu.

Die Liege muß unendlich dreckig sein, anzunehmen, daß sie schon seit Jahren in der Kammer steht. Das Muster aus Rauten ist kaum noch erkennbar. Über die Mitte der Liege ist ein Tuch gebreitet. Auch das Tuch ist nicht mehr frisch. Ich setze mich auf die Kante.

Wie alt bist du?

Sie drückt meinen Oberkörper nach unten, beugt sich über ihre Arbeitsstelle und sagt zwanzig.

In der Decke oberhalb von meinem Kopf ist ein Loch. Sicher hing dort mal eine Lampe, wenn nicht ein Lüster. Die Kammer ist im nachhinein entstanden, durch Unterteilung eines großen Raumes in mehrere Verschläge. Ich drehe meinen Kopf zur Seite, spüre, wie sie tätig wird, mich teilnahmslos macht, ein Stück weit verschlingt, während ich schaue. In meinem Blickfeld nichts Persönliches von ihr, oder ich nehme es nicht wahr. Vieles zieht ja an mir vorbei, ohne daß es auffällt. Es erreicht mich so wenig, daß ich mir ungestört das Gegenteil einbilden kann, das Gegenteil von dem, was mir passiert; alles ist denkbar. Denkbar, daß ihr die Arbeit Vergnügen bereitet, nirgends ein Hinweis auf Haß. Meine Hand liegt jetzt auf ihrem Schenkel, dort ist es warm.

Draußen sind jetzt Stimmen zu hören, ich verstehe kein Wort; an ihrer Körperhaltung hat sich etwas verändert. Wie spät mag es sein? Zwanzig nach vier vielleicht, allenfalls halb fünf; mein Zeitgefühl ist in Ordnung. Wir liegen nebeneinander, ich auf dem Rücken, sie auf der Seite. Gerne würde ich ihre Brüste halten, wenigstens eine davon, umgehe sie aber. Ich möchte mich nicht vergreifen, das muß nicht sein, und biete meine Hand als Stütze an für ihren Kopf, und so komme ich, ganz nebenbei, mit der Wange in Kontakt.

Überrascht von dieser Wendung zögert sie. Es dauert eine Zeitlang, bis der Kopf Gewicht erhält. Behutsam richte ich mich auf, und beide sehen wir zu der Stelle, um die sich unser Vorgespräch gedreht hat. Ich weiß nicht, was geschehen wird. Sie will mich in der Hand behalten, soviel steht fest.

Als ich in gleicher Höhe bin mit ihrer Schulter, benützt sie noch einmal das Stichwort, gegen mich gerichtet. Ich sinke wieder zurück, versucht, sie dabei mitzunehmen. Ihre Finger setzen die Arbeit noch fort, mit ihren Augen scheint sie mir nachzugeben; nicht mehr diese Wachsamkeit, bilde ich mir ein.

Bist du müde? Du schlafen? Sag …

Rosalia sieht mich an; sie möchte wissen, was die Frage soll, da könnte ich wetten. Ich stehe auf, gehe zu meiner Hose und hole aus der Tasche einen weiteren Schein und lege ihn auf die Schachtel.

Wie lange kann ich bleiben? Wie lange ich hier? Ich, hier bei dir, wie lang?

Sie greift nach dem Geld, gibt einen A-Laut von sich, irgendwie erfreut, und findet dann ein Wort für Dauer und Art des Aufenthalts: Gemutlich.

Gemütlich, verbessere ich und frage sie, wie lange ist das? Wie lange dauert Gemütlich? Eine Stunde? Bis halb sechs? Ich übersetze ihr das durch Zeichen, und sie nickt. Wir nehmen wieder unsere Positionen ein, nichts weiter. Die Entwicklung ist stehengeblieben, ich bin noch immer woanders, sie kann meine Abwesenheit buchstäblich fühlen; nicht auszuschließen, daß es sie verletzt, so erfolglos zu sein. Ich schaue an ihren Augen vorbei, suche nach Spuren auf ihrer Gesichtshaut, und plötzlich öffnet sie den Mund und führt mir eine Zungenleistung vor.

Ach so, denke ich.

Kein Zweifel, daß sie noch mehr haben will, mein ganzes Geld. Und kopfschüttelnd lehne ich das Angebot ab. Fast mit einem Gefühl von Enttäuschung, in das ich mich hineinsteigern könnte, wie ich mich auch in das Leben an sich hineinsteigere; ich will leben, jawohl.

Und sie? Die Nutzlosigkeit macht ihr offenbar angst. Hält sie mich für ihren Mörder? Mitten in das Schweigen fragt sie: Du Lisboa? und ich summe ihr den Anfang von April in Portugal. Doch sie scheint das Lied nicht zu kennen. Vielleicht kennen es auch nur die Touristen, und ich versuche es mit Namen. Amalia Rodriguez? Keinerlei Wirkung; dann die Helden der Revolution, mit entsprechender Betonung. Aber auch das geht daneben. Es gibt keinen Anknüpfungspunkt, jedenfalls nicht im Moment. Und um es wieder voranzutreiben, weiterzukommen, taste ich ihr Becken ab, gleite langsam über ihren Oberschenkel, über die Außen- und die Innenseite und versuche nun meine Hand zwischen die Beine zu schieben, gegen keinen spürbaren Widerstand, im Gegenteil, wenn auch nicht erkennbar wird, wie sie dabei behilflich ist, nicht mir, sondern sich; nur eine unscheinbare Verschiebung, durch die meine Hand einen größeren Spielraum erhält. In meine Ohren strömt Blut.

Noch immer stützt sie sich mit einem Ellenbogen ab, aber der Körper verrät eine Neigung: Sie will sich gehenlassen, glaube ich. Etwas über sie gebeugt schon, in noch unverfänglicher Distanz, betrachte ich sie. In ihrem Gesicht herrscht Unruhe. Die Augen springen hin und her, die Stirn ist in Bewegung, ihr Mund ist sprechbereit. Ich komme noch ein Stückchen näher, und sie hält mir meinen Namen vor, ja verwendet ihn, fragt mich, was ich mache, was für eine Arbeit.

Was ich bin?

Was arbeit? wiederholt sie.

Ich suche nach einem Buch, doch es liegen nur illustrierte Zeitschriften herum.

Buch. Bibliothek. Bibliotheka. Ich in Bibliotheka.

Und noch einmal der gewohnte Laut, nur etwas höher als sonst. Sie scheint sich zu freuen, mehr als vorhin, strahlt über Wiedererkanntes, ein Wort, vielleicht auch nur eine Silbe. Freude einer Silbe wegen, und unterdessen lege ich ihr eine Hand auf die Stirn, beschwere sie, bis ihre Haare endlich die Liege berühren.

Jetzt wieder Wachsamkeit in den Augen. Alles übrige, die Haut, die ich erblicken kann, wirkt offen.

Ich wandere mit meiner Hand nach unten, aus ihrem Magen dringt ein Geräusch. Nach einer Umkreisung des Nabels fange ich an, ihren Namen zu schreiben, Rosalia, vom Bauch über die Leiste Richtung Knie, mit der Spitze meines kleinen Fingers, der in die Oberfläche drückt. Bei der Verschleifung von S zu A öffnet sie das rechte Bein noch etwas weiter, so daß der Schritt nun freiliegt. Das Schamfleisch ist dunkel, beinahe schwarz und geschlossen; ich streife es auf dem Rückweg.

Wie lange bist du hier? Wie lange du arbeiten hier?

Zwei Uhr.

Und in der anderen Zeit? Wenn du nicht arbeiten?

Schlafen, sagt sie.

Und wenn du nicht schläfst?

Mit den Händen deutet sie mir Essen an, Essen und Schlafen. Inzwischen bin ich wieder auf dem Innenschenkel und teile ihn ein in Quadrate. Für einen Moment schließt sie die Augen, etwas länger, als es notwendig wäre zur Erholung der Augen, und ich dringe weiter in sie. Kennst du Frankfurt? Römer, Zoo, Airport?

Aeroporto! ruft sie.

Wieder so ein Gemeinschaftswort, Erstaunen auf beiden Seiten. Sie gibt den A-Laut von sich, und ich greife ihr ins Haar; allmählich wird sie unvorsichtig, unterschätzt die Situation. Den linken Schenkel habe ich beschrieben, für den anderen muß ich meine Lage noch weiter verbessern. Etwas von ihrer Unruhe kehrt zurück. Was? will sie wissen, was?

Ich … dich, beginne ich zu erklären, und sie mischt sich gleich ein, zählt wieder auf, was ich in ihren Augen wollen muß, und Schweiß rinnt mir übers Gesicht, ich weiß nicht weiter, handle zwar, doch ohne jede Absicht. Sie kann mich nicht verantwortlich machen; niemand. Dazu kommt noch die schlechte Luft in der Kammer.

Eine gespannte Stellung hat sich ergeben. In meinem Blickfeld jetzt, auf dem Boden, eine aufgeschlagene Fernsehzeitung. Heute ist Donnerstag, der siebenundzwanzigste März. Abba! Abba! heißt die Sendung um einundzwanzig Uhr fünfzehn im Ersten. Viertel vor zwölf kommt Basketball-Europapokal. Ich senke den Kopf, bis zwischen ihrem Bein und meinen Augen kaum noch ein handbreiter Raum bleibt. Im Dritten gibt es einen Spielfilm; auf ihrer Haut fast keinen Hinweis. Nur durch den Mund atmend, zeichne ich Rauten. Und schon wieder diese Furcht vor einer Infektion, womit auch immer. Für einen kurzen Zeitraum hinterläßt der Fingernagel Spuren. Zuerst einen hellen Streifen, dann einen rötlich gefärbten, wenn Blut in die Druckstellen nachfließt. Plötzlich bewegt sich ihr Fuß. Ich fahre die Strecke noch einmal ab, bis an den Punkt, an dem ihr wieder etwas durch und durch geht – das gleiche wie eben, vielleicht auch dasselbe, nicht zu entscheiden –, und wende mich um. Ich sehe, daß sie zur Wand schaut, in einen Spiegel, der dort hängt. Und der Drang, ihr etwas zuzufügen, wächst.

Auf dem vorgeschriebenen Weg, vom Innenknie bis an die Falte zwischen Oberschenkel und Gesäßansatz, geht mein Blick nun hin und her. Rosalia.

Sie sieht mich an, ihre Pupillen haben sich verändert. Das Spähende ist weg oder ist nunmehr nach innen gerichtet, in den Schädel hinein; zu mir schaut nur die empfängliche Seite. Ein schöner Name – und noch während ich das sage, schließe ich die Augen, setze sie dem eine Zeitlang aus, öffne sie dann kurz und wiederhole das Spiel. Beim vierten Nachsehen hält sie ihre Augen auch geschlossen, aber blinzelt noch. Was sie danach macht, kann ich nur ahnen; ich wende mich wieder ab, ihr Schenkel ist das nächste, was ich sehe. Die vertraute Anordnung zweier Leberflecken, darunter ein Haar, darunter eine winzige Narbe, sonst nichts von Bedeutung; zwar ließe sich schon eine Karte anlegen von diesem Gebiet, doch nahezu weiß. Stück für Stück bewege ich mich auf der unsichtbaren Bahn, und ihre Beine geben weiter nach, jetzt weder ihr noch mir zuliebe, denke ich und mache einen Sprung.

Sicher kommt sie vom Land, aus einer gottverlassenen Gegend, und wahrscheinlich hat sie dort schon Kontakte gehabt, wenige Übergriffe, die aber zählen. Keine großen Geschichten. Was anschließend kam, war spätestens nach dem Waschen aus dem Gedächtnis. Ich spreize meine Finger, damit sich die Handfläche etwas breiter anfühlt, grabe die Kuppen ein Stück ein und lege noch einmal empfindlich die Spur, entlang einer Grenze zum Schmerz, bei deren Überschreitung für sie der Eindruck entstehen könnte, ich sei nicht ganz richtig im Kopf, und dabei stelle ich weitere Fragen, im Grunde eine Ermittlung in eigener Sache. Wo bist du geboren? Wo lebst du in Portugal? Wo zu Hause.

Beja! ruft sie.

In Beja, aha. Also doch in einer gottverlassenen Gegend. Ein Schweißtropfen löst sich von meiner Nase, fällt auf ihre Haut und gleitet die rechte Schrittfalte runter. Auf einem ausgedehnten Weg, der mich bis an ihren Schamhaarrand führt, nehme ich ihn wieder zu mir.

Du Beja kennen?

O ja, sage ich, heiß dort, heiß.

Beja liegt weit im Süden. Das Umland ist flach. Viele Ortschaften haben nur eine einzige Straße, die vor allem den Hunden gehört. Die meisten liegen schlafend herum und lassen ihren Hunger damit hinter sich. In manchen dieser Dörfer gibt es, jeweils am Ende der Straße, eine Discotheca, die nur am Samstagabend aufhat. Und oft beginnt dahinter das Feld, und nur die Sträucher auf den aufgegebenen Äckern bieten Paaren eine Deckung. Wer auch hingegriffen hat bei ihr, er konnte es sowenig genießen wie sie, denke ich. Eine einfache Überlegung, die erste seit langem, und ich stelle gleich noch eine weitere an: Beja, Lisboa, Frankfurt?

Sie stimmt mir zu. Jemand könnte sie also hierhergelockt haben. Oder auch nicht; vielleicht gefällt ihr Frankfurt sogar besser als ihr Dorf, es wäre ja möglich.

Die freien Flächen zwischen den einzelnen Haaren sind heller als andere Partien. Ich mache mir eine Schneise, bis an den Übergang zu den äußeren Merkmalen. Ein schmaler, kerbenreicher Kamm, auf den ich meinen Mittelfinger schiebe.

Frankfurt gut? lenke ich sie ab – oder nicht gut?

Wiederum der A-Laut, langgezogen diesmal. Also wohl eher nicht so gut; bei fremden Leuten muß man immer raten. Unter dem vorderen Glied meines Fingers teilt sich die Haut, und ihr Körper kommt mir noch einmal entgegen, mit einer eigenen ruhigen Bewegung, als könne der Unterleib atmen und holte gerade tief Luft. Und ich drücke meinen Mund auf ihr Geschlecht.

Die Bewegung in der Lichtorgel ist schwächer geworden. Die kleinen bunten Plättchen drehen sich wie von selbst, ich schließe die Augen. Milliarden von Bakterien haben ihren Wirt gewechselt und nisten sich in einer neuen Flora ein. Ich fürchte mich nicht mehr; wir kennen uns ja jetzt etwas: Sie könnte viel fremder sein, denke ich, eine Namenlose.

Zu einem Abschluß ist es nicht gekommen. Ich habe ihr statt dessen eine Frage gestellt, wann sie wieder nach Hause fährt, mich umgedreht und ihre Augen gesehen. Sie hat die Frage nicht verstanden beziehungsweise verkehrt und mich noch einmal angefaßt. Ich habe ihr gesagt: kaputt. Und bin dann aufgestanden und habe sie hinter meinem Rücken gehört, wie sie mich bedauert hat, mit ihrem ewigen A-Laut. Und während ich mich angezogen habe, ist sie vor die Waschgelegenheit getreten und hat sich zwischen den Beinen gespült.

Einem Händedruck zum Abschied ging ich aus dem Weg. Ich lief hinunter und hinaus und kühlte mein Gesicht an der Luft. In der Main-Pension in der Elbestraße bekam ich ein preiswertes Zimmer.

Jetzt putze ich mir gerade die Zähne und will mich nicht weiter erinnern. Morgen werde ich auf die Beerdigung meiner Mutter gehen und übermorgen vielleicht schon ihre Räume bezogen haben.

Die Einsamkeit der Haut

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