Читать книгу Das Atmen der Schatten - Boris Lamour - Страница 4
1. Das Haus
ОглавлениеUnheimliche Stille. Kein Geräusch. Bis auf den dumpfen Aufprall der Murmeln auf dem schweren roten Teppich, der kleine Staubwolken aufwirbelte. Der Junge hatte sich daran gewöhnt. Seine Erinnerung war stockfinster. Ein schwarzes Loch, das bei jeder Annäherung nur noch mehr von seinen Gedanken fraß.
Er lebte allein in diesem Haus, das nach altem Holz roch, ein wenig modrig und feucht. Überall hingen Spinnweben. Die Möbel waren mit weißen Laken abgedeckt, die von einem staubigen Grauschleier überzogen waren. Durch die Fenster, die blind vor Schmutz waren, schien die Sonne und tauchte den Raum in fahles gelbliches Licht. Dem Wohnzimmer, das man als Erstes betrat, verlieh dies die morbide Wärme uralter Fotografien. Die Zeit schien einfach still zu stehen. Es war viel zu leise. Nicht einmal eine Spinne konnte man entdecken. Ein Ort, der kaum existierte. Ein Loch im Fluss der Zeit.
Vom Wohnzimmer führte eine breite Treppe in einem großen Bogen aufwärts. Auch ihr roter Teppich war grau vom Staub. Wie im gesamten Haus konnte man auch hier als einziges Lebenszeichen die Fußabdrücke des Jungen sehen, der Pfade in Staub gelaufen hatten. Niemals wich er von diesen Pfaden ab - der Rest blieb unberührt.
Oben angekommen, führte ein Weg durch den langen Flur mit seiner hohen Decke, an der Stuckarbeiten Würde verbreiteten. Alles war ruhig, aber nichts schien in Ordnung.
Der dicke Teppich dämpfte jeden Schritt. Das wenige, was blieb, schluckte das Haus. Manchmal schienen die Wände ein wenig zusammenzurücken, und es wurde enger. Dann wieder schienen sie langsam und tief zu atmen - zu pulsieren. Nicht mehr steinern, sondern weich und warm wie ein Körper aus Fleisch und Blut. Auch daran hatte sich der Junge gewöhnt, der in dem zweiten Raum in der Zimmermitte hockte und Murmeln über den schweren Teppich rollte. Langsam ließ er sie aus der Hand rieseln, mit starrem Blick irgendwo ins Nirgendwo.
Ein süßlicher Geruch, ein Kinderlachen und ein kurzer Moment von Geborgenheit - das war alles, was er noch hatte. Doch was für eine Geborgenheit? Bei wem? Woher kam der Geruch? Was für Laute? Verboten! Daran zu denken war verboten. Sonst würde es ihm auch das Letzte rauben.
Er durfte überhaupt nicht denken - und so versank er in stumpfer Apathie. Er folgte den Pfaden im Haus, wich nicht ab. Zu groß war die Gefahr, dass er etwas sah, das ihn erinnerte. Denn als Preis dafür würde es die Erinnerung löschen. Und noch etwas Zusätzliches von dem Wenigen, das geblieben war.
So schaute er immer nur vor sich zu Boden, um die letzten Spuren zu bewahren. Keine Erinnerungen, sondern Empfindungen und Eindrücke, die grausam von ihrem Zusammenhang isoliert waren. Eine endlose Leere. In deren Mitte: eine Insel. Dort lebte er und drehte sich im Kreis, so weit in sich zurückgezogen, dass er sich nur noch mechanisch bewegte.
Aß er? Er musste wohl. Aber er wusste nichts. Nichts über all das, was sich nicht auf seiner inneren Insel befand. Trotzdem hatte er manchmal eine leise Ahnung, ein kurzes Aufblitzen von Etwas, das tief in ihm lebte und dachte. Eingeschlossen, sodass es nicht bemerkt und gelöscht wurden konnte. In einer Höhle, so tief im Grund der Insel, dass sein verzweifeltes Schreien ungehört blieb. Wären da nicht diese kurzen Augenblicke gewesen, die der Junge sofort betäubte. Indem er sich in den Arm biss, sodass der Schmerz die Gedanken vertrieb. Dort waren all die Erinnerungen, Gedanken und Gefühle eingekesselt. Würde er sie zulassen, würde er implodieren und innerlich in ein rasendes Chaos stürzen, das brennend und blind in den Abgrund fällt.
Aber darüber dachte er nicht nach. Nur Teile in ihm wussten etwas - isoliert, ohne dass ein Zusammenhang herstellt wurde. Der Junge war bleich. Hatte dunkle Ränder unter den Augen. Aschfahl und mager, mit spitzen Wangenknochen. Der Tod lebte gut damit, dass der Junge ihm seit Jahren so nahe war, ohne wirklich zu sterben. Eine kleine Grausamkeit, die ihm so sehr gefiel, dass er es dabei beließ.
(1995)