Читать книгу MediCannabis - Borrel Marie - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеIch habe schon immer zu den besonders gesetzestreuen Bürgern gehört. Ich gehe über Zebrastreifen, halte an roten Ampeln und gebe meine Steuererklärung pünktlich ab. Die Gesellschaft hat Regeln, und sie einzuhalten ist wichtig für ein Zusammenleben, bei dem sich alle wohlfühlen. Ganz zu schweigen davon, dass der Gedanke daran, mich über Recht und Gesetz hinwegzusetzen, auch wenn es nur um Lappalien geht, bei mir schwere Schuldgefühle verursacht. 2014 allerdings tat ich monatelang Dinge, die nach dem Gesetz mit einer saftigen Geldstrafe und sogar einer Freiheitsstrafe geahndet werden.
Ich gebe es zu: Ich habe Cannabis konsumiert. Ich tat es, weil ich an Lymphknotenkrebs erkrankt war, gegen den eine aggressive Chemotherapie notwendig war, was bei mir zu schwer erträglichen Nebenwirkungen führte: starke Übelkeit, diffuse Schmerzen, Appetitverlust, Schlaflosigkeit. Die Ärzte verschrieben mir alle möglichen Medikamente, die aber nichts gegen die quälenden Symptome ausrichten konnten. Mir blieb keine andere Wahl, als mich abzukapseln und mich in eine Welt der Erschöpfung und des Leids zurückzuziehen, von ständigen Ängsten begleitet, die meine Genesung ganz klar nur verlangsamen konnten. Doch dann erinnerte ich mich an Artikel über die wohltuenden Eigenschaften von Cannabis in solchen Situationen. Ich bin seit rund 30 Jahren Journalistin und Autorin im Bereich Gesundheit und Wohlbefinden, war also gut aufgestellt, um an Informationen zu kommen, ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen und sie entsprechend einzuordnen. Und genau das tat ich.
Meine Recherchen ergaben, dass es für meine Erkrankung keine Kontraindikationen gegen den Konsum von Cannabis gab. Also beschaffte ich ihn mir und stellte mir meine ganz persönliche Therapie zusammen. Die Wirkung war unglaublich, ja fast magisch. Sofort verging die Übelkeit, die Schmerzen ließen nach, ich konnte wieder schlafen. Mein Appetit kehrte wieder etwas zurück und Erschöpfung und Angst verschwanden. Ich hörte auf, den Cocktail aus Angstlösern, Schlaf- und Schmerzmitteln zu nehmen, der mir verschrieben worden war und kaum anschlug. Ich hatte das Gefühl, ein schwarzes Loch aus Schmerz, Angst und Erschöpfung zu verlassen und mein inneres Licht wiederzufinden. Befreit von den Symptomen, die mich ans Bett gefesselt hatten, fing ich zwischen zwei Chemotherapiebehandlungen wieder an zu leben. Ich schlief, aß ein bisschen und die Tage vergingen für mich unendlich weniger beschwerlich.
Zu meinem Beruf gehört es, Fragen zu stellen und zu versuchen, Antworten darauf zu finden. Ich habe mich für diese Laufbahn entschieden, weil sie meiner Persönlichkeit entspricht. Ich bin neugierig, liebe es, Neues zu erfahren und mit neuen Informationen zu arbeiten. Auch während meiner Erkrankung blieb dieser Mechanismus in mir lebendig. Zumindest sobald ich die Nebenwirkungen der Chemotherapie los war. Naturgemäß fragte ich mich, warum tausenden von Patienten ein wirksames, einfaches Mittel verwehrt wird, das auch noch kostengünstiger ist als viele andere verschriebene Medikamente gegen die Nebenwirkungen der Chemotherapie. Sobald ich wieder auf den Beinen war (die Hodgkin-Krankheit gehört zu den am besten therapierbaren Krebsarten), begab ich mich deshalb auf die Suche. Verwundert stellte ich fest, dass der therapeutische Nutzen von Cannabis noch viel weitreichender war. Von zahlreichen Studien weisen die meisten auf eine Besserung der Symptome vieler Erkrankungen hin, darunter Glaukom, Multiple Sklerose und Schmerzsyndrome.
Ich beschloss, meine persönlichen Erfahrungen und die Ergebnisse meiner Nachforschungen öffentlich zu machen. Ganz klar möchte ich an dieser Stelle sagen: Hier soll es nicht um die Frage der Entkriminalisierung oder Legalisierung von Cannabis als Genussmittel gehen. Es ist eine sehr komplexe Thematik, die viele sensible gesellschaftliche Fragen berührt und in verschiedenste Bereiche wie Wirtschaft, Politik und Moral hineinreicht. Meine analytischen Fähigkeiten sind nicht solide genug, um in allen diesen sich mitunter überlagernden und widersprechenden Bereichen meine Meinung abzugeben. Ganz klar möchte ich aber die Frage nach der therapeutischen Nutzung von Cannabis in einem von Medizinern streng kontrollierten Rahmen stellen, denen hoffentlich mehr an den wissenschaftlichen Erkenntnissen und am Wohlbefinden der Patienten gelegen ist als an einer moralischen oder ideologischen Positionierung, die ich in diesem Kontext eher zweitrangig finde.
Zweifellos bin ich nicht die Einzige, die schon einmal das Gesetz in dieser Weise umgangen hat. Aber ich habe nie einen Hehl daraus gemacht. Ich habe mit Ärzten, Krankenschwestern, Pflegern und Patienten, die ich bei der Chemotherapie kennenlernte, über meine Entscheidung gesprochen. Niemand hat versucht, mich davon abzubringen. Niemand kam mir mit gesetzlichen oder moralischen Einwänden. Als würden sich, wenn es um Schmerz und Leid geht, solche Einwände von vornherein erübrigen. Ich lernte Patienten kennen, die dieselbe Entscheidung getroffen hatten wie ich und denselben Erfolg damit hatten. Ich erfuhr sogar, dass der berühmte amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould, weltweit bekannt für sein Lebenswerk und sein kommunikatives Talent, leidenschaftlicher Verfechter der therapeutischen Nutzung von Cannabis war und ihn selbst verwendete, um die Nebenwirkungen einer aggressiven Chemotherapie ertragen zu können, nachdem bei ihm 1982 ein Peritonealmesotheliom diagnostiziert worden war.
Unter anderem erklärte er: “Nichts ist auch für Optimisten entmutigender als die schweren Nebenwirkungen vieler medizinischer Behandlungen. Wenn die eintreten, verringern sich die Chancen, dass der Erkrankte sich wieder besser fühlt und wieder mehr Lebenslust verspürt, denn die Behandlung kommt ihm schlimmer vor als die Krankheit selbst. Cannabis hat perfekt funktioniert. Ich bin mir sicher, dass er eine große Rolle bei meiner Heilung gespielt hat.” Und er kam zu dem Schluss: “Ich begreife einfach nicht – und ich halte mich für jemanden, der sehr vieles begreift –, wie jemand, der auch nur einigermaßen human ist, Menschen eine so nützliche Substanz mit dem sinnlosen Vorwand verweigern kann, andere würden sie ja zu anderen Zwecken benutzen.” Stephen Jay Gould überlebte 20 Jahre lang seine Erkrankung, was außergewöhnlich ist für einen Krebs, der nach damaligem Wissensstand lebensgefährlich war und rasch zum Tod führte.
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Genau in diesem Sinne möchte ich die Frage nach der therapeutischen Nutzung von Cannabis stellen, ein heikles Thema für alle, die in erster Linie ein moralisches Problem daraus machen. Zahllose Argumente sprechen für diese Art der Verwendung dort, wo sie etwas bewirken kann.
Ich lade Sie gerne ein, sie hier einmal kennenzulernen.