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ОглавлениеNun war es Sonntag. Aber Leupold fühlte, daß sein Herr sich nicht in der beruhigten Stimmung befand, wie sonst, wenn Fräulein Hildebrandt erwartet wurde.
Vor dem Klubsessel, dem Audienzstuhl, deckte er den Teetisch. Sonst paßte der Geheimrat sogar auf, ob auch schöne Blumen aus den Treibhäusern heraufgeholt worden waren, denn die Blumen durfte Fräulein Hildebrandt nachher mitnehmen. Ja, er hatte sich wohl schon den Teller mit Kuchen zeigen lassen, um nachzusehen, ob die Cremetörtchen vorhanden seien, die Fräulein Hildebrandt gern zu essen scheine. Leupold machte sich manchmal Gedanken über das starke Interesse seines Herrn an Klara Hildebrandt. Er wußte: die Hildebrandts hatten damals schon ihre zweijährige Tochter mitgebracht – wenn also böswillige Menschen davon munkelten, Klara solle die natürliche Tochter des Geheimrats sein, so war das nur böswilliger Klatsch. Anderseits, wenn er so völlig von ihr umsponnen war, weshalb hatte er sie denn nicht schlankweg zu seiner Frau gemacht? Vor einem Jahr noch war der Geheimrat eine wunderbare, stattliche, fürstliche Erscheinung, und es wäre doch nicht das erste Mal gewesen, daß ein fünfundsechzigjähriger Millionär sich das Vergnügen machte, eine zweiundzwanzigjährige junge Dame zu heiraten.
Leupold beschloß aber solche Betrachtungen immer mit dem bestimmten Wort: Dazu ist er zu klug! Und er war natürlich mit solcher Klugheit sehr zufrieden, denn er sah, ohne sich dessen bewußt zu sein, seinen Herrn einfach als sein Eigentum an. Durch eine Wiederheirat wäre er in den Hintergrund gedrängt worden. Er war seinem Herrn unentbehrlich, und das wollte er bleiben. Diese Empfindung war sein eigentlicher Lebensinhalt.
Heute nun kümmerte der Geheimrat sich um nichts, sah kaum die Rosen an, die Leupold vorwies, und wehrte unwillig ab, als der Kuchenteller zur Begutachtung gezeigt wurde.
»Was er wohl hat,« dachte der Diener. Das Leben seines Herrn lag so durchsichtig vor ihm hingebreitet, daß er sich trotz aller ihm wirklich eigenen Diskretion nicht enthalten konnte, sogleich zu begrübeln, was er gelegentlich an einer Stimmung nicht verstehen konnte.
Die heutige Undurchdringlichkeit der Herrenlaune schien besonders rätselhaft.
Der Geheimrat hatte freilich so viele schwere Gedanken, daß sie ihm wie zyklopische Blöcke im Gemüt lagen. Seine Intelligenz, seine Lebenserfahrung, sein starkes Gefühl versuchten sich an diesen schweren Dingen. Aber ihnen war nicht beizukommen.
Zum erstenmal geschah es ihm, daß er einfach keine Antwort wußte auf die Frage: Wie fang’ ich das an?
Wynfried war noch am Tage jener Unterredung nach Hamburg gereist und hatte mit dem Rechtsanwalt Koppen alle diese trüben Finanzangelegenheiten durchgesprochen. Damit war das erledigt. Es galt nur noch, sobald Koppen alle Forderungen auf Recht und Reinlichkeit geprüft haben würde, einen Scheck mit einer wahrscheinlich sehr großen Zahl auszuschreiben. Heute mittag war er schon wieder zurückgekommen. Der Vater mochte keinen Zeugen beim Essen haben, denn es war ihm peinvoll, wenn er mit einer Hand Vorgeschnittenes aufgabeln mußte. So aß jeder für sich. Wynfried unten im Speisesaal voll schön stilisiertem Prunk. Der Geheimrat in seinem Sessel, der seine Gruft und sein Thron zugleich war. Bei der Begrüßung erschien es aber dem Vater, als sei der Ausdruck seines Sohnes noch nicht ein bißchen heller und freundlicher. Die gleiche vornehme Apathie, die so empörend auf den kraftvollen Riesen wirkte, der sich noch wie ein Koloß an Willen vorkam, trotz der halbseitigen Lähmung, gegen diesen gleichgültigen jungen Mann …
Er hatte gebeten, was nach des Geheimrats Einbildung »bitten« hieß, in der Tat aber einfach immer wie ein Kommando klang, daß Wynfried doch um fünf Uhr zum Tee heraufkommen möge.
»Dann kann ich dich ihr vorstellen.«
Wynfried wußte von selbst, daß damit Klara Hildebrandt gemeint sei. Er verbeugte sich nur gehorsam zustimmend. Seine Gedanken verschwieg er. Sie lauteten ungefähr: Sie werden sagen, der Vater hat ihn mit dem ersten besten Mädchen verheiratet, bloß damit er in Ordnung kommt. »Sie« – seine Genossen der letzten tollen Lebemannsjahre, all diese jungen Männer, die in ihren Vätern vor allem nur die Geldquellen sahen – und andere »Freunde«, die auf seiner Freigebigkeit und Sorglosigkeit schmarotzten. Und all die »Freundinnen«, die ihn zu trösten und anzupumpen suchten und ihn betäuben halfen – Ja, all diese würden sich totlachen und es sich zuschreien: Wißt ihr, Winni hat man zum Standesamt geschleppt … Aber es war egal, was diese spotteten – alles war egal –
Nun saß der Geheimrat da, wuchtig und groß, in der Umrahmung der gelbgrauen Lederlehne, und versuchte vergebens die Frage vom Fleck zu wälzen: Wie fang’ ich das an?
Er fühlte, daß er des Gehorsams Wynfrieds sicher sein konnte und daß dieser pünktlich gegen fünf Uhr eintreten würde.
Sollte er die Zeit vorher benutzen, um Klara vorzubereiten auf seinen Plan und Wunsch? Sollte er hoffen, daß Wynfried, von ihr bezaubert, mit neu erwachendem männlichen Mut darauf ausgehen würde, sich das Mädchen zu erobern? Lag nicht die Gefahr nahe, daß er mit zu offenem Wort das feine herbe Kind kopfscheu machen würde, wie ein scheues Wild von einem ungewohnten Laut vergrämt wird? – War es klüger, zu schweigen oder zu reden? den Dingen ihren Lauf lassen?
Aber wer verbürgte ihm denn, daß ihm Zeit blieb, den Lauf der Dinge abzuwarten? Wußte er so gewiß, daß sein Wille zum Leben siegreicher war als der Dunkle, der neben ihm lauerte?
Und war Wynfried in seiner Schlappheit und blassen Unlust wohl der Mann, dem ein Mädchenherz schnell zufliegen konnte?
Ganz tief in seinem Unterbewußtsein war ja das Gefühl: Sie wird es meinetwegen tun …
Aber dem Gefühl verbot er die Deutlichkeit. – Es sollte doch für sie kein Opfer werden! Sie sollte Aufgaben, Reichtum, Achtung, Zuneigung finden, und damit das Glück …
»Wie fang’ ich es an?«
Er fand keine Antwort.
Und so beschloß er, der sonst die Dinge mit klaren Vorsätzen und starken Händen lenkte, sich zunächst von ihnen lenken zu lassen. Er wollte abwarten, wie weit Gespräch und Stimmung und jenes unwägbare Gefühl für die Gunst oder Ungunst des Augenblicks ihm erlauben würden zu gehen.
Er kam durch diesen Entschluß ein wenig innerlich zur Ruhe. Wunderbar wohl und frisch war ihm zumut, so daß es ihm selbst erstaunlich schien – bei seinem Zustand!
Der Sonntagsfrieden draußen und drinnen hatte für ihn etwas Pastorales. Früher war er nie dazu gekommen, ihn überhaupt zu bemerken.
Sonntäglich war ihm zumut, obschon draußen von pastoralem Frieden keine Rede sein konnte. Düsteres Gewölk flockte sich wie jeden Tag durch den bläulichen Dunst, der die Schornsteine und die düsteren Burgen der Hochöfen und ihrer Genossen, der starren schwarzen Winderhitzer, umspann. Emsig krochen die Erzwagen zwischen dem Gerippe der Schrägaufzüge zur Höhe der Öfen hinan, und die dumpfe Musik von tausend fallenden, zischenden und stoßenden Geräuschen summte durch die Luft.
Aber die Belegschaft, die in Verfolg des automatischen Wechsels der Arbeit jetzt vierundzwanzig Stunden frei hatte, gab sich der Sonntagsfreude oder Ruhe hin. Auf der Landstraße gingen saubere und geputzte Menschen vorbei. Manche blieben stehen, um mit der Fähre nach Schlutup hinüberzufahren, wo es bescheidene Unterhaltungen gab.
Die Sonne schien. Über dem weiten Land lag Helle, und der Fluß glitzerte. Er war belebt von Booten, und weiße Segel wurden vom Winde träge gebläht. Am Himmel zogen Wolken. Ihre Schatten flogen mit und schoben sich über die Felder, goldgrüne Wiesen für eine Weile dunkel fleckend.
Ins Zimmer kamen sie nicht. Das war der Mittelraum des ersten Stockwerkes. Das breite Fenster und der große Erker sahen gegen Osten, auf die Anlagen, das Städtchen und den Fluß und die Landschaft, die drüben hinter dem Städtchen sich weit und breit dehnte. Vom Erker hatte man auch den Blick auf das Werk.
Es hatte den Geheimrat viel gekostet, sich an den Raum zu gewöhnen. Quälende Erinnerungen hingen daran. Es war einst das Zimmer seiner Frau gewesen. Aber es lag so bequem neben seiner Schlafstube, daß man es wohl oder übel hatte als Tagesaufenthalt einrichten müssen, seit seine Lähmung ihn hinderte, die Treppen hinabzukommen. Aber er freute sich doch auf die nächste Woche, dann sollte der Lift fertig sein, der für seinen Gebrauch eingebaut worden war und der ihn und seinen Stuhl hinab in das Erdgeschoß und zugleich in den Park befördern sollte. Diese Aussicht erschien ihm wie das Ende einer Gefangenschaft, und bald vielleicht, bald konnte er sich hinüberfahren lassen aufs Werk – und bald vielleicht auch kam in sein Haus das Glück, und es begann zu blühen – wirklich zu blühen …
O nein, er wollte noch nicht sterben! Und er empfand wieder jenen wunderbar trotzigen Willen zum Leben.
Früher hatte er nie an den Tod gedacht und das Leben als etwas Selbstverständliches hingenommen. Nun war in ihm ein förmlich künstlerisches Verständnis erwacht für das Wunder, das man Leben nennt. Und er wußte, wie klug, dankbar und vorsichtig man damit umgehen muß.
Sein Sohn, der spielte noch frevelhaft damit. So war es seine Vaterpflicht, über diesen Sohn zu verfügen, wie man eben Spieler entmündigen muß. Denn sie sind die Schädlinge, in deren Händen alles zerrinnt. Wohlstand, Ehre, Frieden, Glück. Ganz einerlei, womit sie spielen – welchen Namen ihr Spiel hat: Karten, Börse, Weiber, Pferde – im letzten Grunde ist es immer Spiel mit dem Höchsten, was man hat: dem Leben selbst.
So grübelte dieser Starke, der stark war, weil er sein ganzes Dasein hindurch ein Arbeitender gewesen.
Und da unterbrach ihn die eine, an die er mit väterlicher Zärtlichkeit sein Herz gehängt hatte.
Leupold meldete Fräulein Hildebrandt an, und schon erschien sie in der Tür und eilte mit raschen Schritten auf den Stuhl zu, aus dem sich ihr weit eine Rechte entgegenstreckte.
»Wie sie ihrer Mutter gleicht,« dachte er, jedesmal neu von der Ähnlichkeit ergriffen.
Vielleicht war die in der Tat gar nicht so ungewöhnlich, jede Möglichkeit zu vergleichen fehlte ihm. – Er besaß kein Bild von der längst Dahingeschiedenen. Seine Erinnerung, seine Phantasie waren vielleicht die unzuverlässigsten Maler. Wer wollte entscheiden.
Klara selbst war stolz und glücklich, wenn man ihr sagte, sie gleiche der Mutter. Denn verwaiste Töchter kennen kein schöneres Ideal als die Gestalt einer ihnen früh geraubten Mutter.
Jedenfalls hatte sie die gleiche mittelgroße Gestalt, das braune, reiche, lockere Haar, die tiefen dunkelgrauen Augen und in den feinen Zügen den etwas herben Mund. Ihre dunklen Brauen zeigten eine auffallend gerade Linie; dies vor allem gab dem Gesicht einen Ausdruck der klassischen Strenge und zuweilen des Leides, dem aber ihr unbefangenes Wesen voll gelassener Freundlichkeit zu widersprechen schien. Weil es Sonntag war, hatte sie das schulmeisterliche dunkle Kleid abgelegt, und sie trug zu einer weißen Bluse einen hellgrauen Rock. Hut und Jacke waren unten in der Garderobe geblieben, denn der alte Herr mochte nicht haben, daß sie wie ein Besuch dasaß, der gleich wieder fort muß.
»Also, liebe Klara, ich muß Ihnen ganz etwas Neues erzählen: mein Sohn ist wieder da!«
»Das hat mir Frau Doktor schon erzählt,« sagte Klara, »der junge Herr Severin Lohmann sei bei uns vorbeigefahren, kurz vor Tisch.«
»Hätt’ ich mir denken können. Ihre alte Lamprecht ist der reinste Spion, und wenn wir sie auch die Lamprächtige getauft haben – ’ne kleine alte Klatschbase bleibt sie doch.«
»Ach Gott, so ein beschränktes Altfrauenleben,« sagte Klara und zuckte entschuldigend die Achseln … »Sie meint es doch rührend mit mir.«
»Na, das wollten wir uns auch ausgebeten haben.«
Sie schenkte, als sei sie hier die Haustochter, den Tee in die Tassen und sprach unbefangen weiter: »Schön für Sie, daß Sie nun den Herrn Sohn hier haben. – Er war so lange nicht zu Haus.«
»Mehr als drei Jahre nicht. Das waren keine guten Dinge, die ihn so lange fernhielten. – Liebe Klara – in der Welt draußen haben sie meinen Einzigen tüchtig zerzaust. Er bedarf der Ruhe. – Er muß sich besinnen, daran denken, daß er noch mein Sohn ist. Er muß so gewissermaßen von vorn anfangen. Wo könnte er’s besser als hier. Arbeit und Familie – das ist die Gesundheit.«
»Ach,« dachte Klara, »wie ist dieser Sohn zu beneiden, mit diesem Vater zusammen ein Familienleben zu führen; zu solchen Aufgaben berufen zu sein …«
Sie sagte: »Ich, die ich ohne Elternhaus aufwuchs, und fast ohne Tradition – ich denke es mir herrlich, einem so festgegründeten Haus anzugehören. – So ein Haus bekommt Geschichte. – Wie Sie die Gründung Ihres Vaters weiterführten, so wächst nun Ihr Sohn in all dies hinein.«
»Wer weiß – wenn sein persönliches Geschick die glückliche Wendung nimmt, die ich erhoffe – dann gewiß! Er müßte ja auch zu sehr aus der Art geschlagen sein, wenn er nicht Liebe zum Werk bekäme – wo so das Herzblut und der Angstschweiß von Vater und Großvater daranhängt. – Ein wenig müßt’ ihm doch der Mut des Großvaters und die Zähigkeit des Vaters imponieren. – Wenn ich an meinen Vater denke! Welche Phantasie! Welche Kühnheit! Welche Sorgen! Ich sage Phantasie – denn wissen Sie, liebes Kind, man denkt immer: die ist ein Göttergeschenk des Künstlers – seins allein! Kein Schaffender kann ohne sie schaffen, denn er muß das, was sein Wille und seine Hoffnung vorausschaut als eine große Möglichkeit, das muß er vor sich sehen, kraft seiner Phantasie. Kein Politiker, kein Industrieller, kein großer Handelsherr ohne Phantasie. Hätte Bismarck keine Phantasie gehabt, wären wir kein einiges Deutschland geworden! Mein Vater, der scheinbar so kleine bescheidene Ingenieur, besaß einen ganzen Posten davon – mehr als Geld – das weiß Gott. Aber er besaß die Wunderkraft der Menschen, die an ihr Ziel glauben. Und dann hatte er diese fanatische Heimatsliebe der Hanseaten, die auf so zähen Stolz gebaut ist. Vielleicht sind sie darin den Schweizern noch über, denke ich oft. Und er erkannte: Industrie, große Industrie muß sein – sie allein kann dem alten Stadtstaat wieder Blüte bringen – und dies Landgebiet, das sie an den Ufern der Trave hat, so nahe der Ostsee. – Daß man hier ein Hüttenwerk anlegen könne, das schien fast unglaublich. Die Menschen, die was davon verstanden, die sagten: eines muß doch von Natur aus da sein: Erz oder Kohle – aber beides heranschaffen – das macht ja die Produktion zu teuer. Aber er blieb fest. Er rechnete vor: wenn das Heranschaffen von Erz und Kohle auch große Kosten verursache, dafür habe man den billigen Wasserweg für das fertige Produkt und die Zufuhr von fremden Erzen, die sich schließlich die Binnenlandwerke auch auf weiten Transportwegen heranbringen lassen müssen. Mit was für Engelszungen muß er geredet haben! Wer widerwillige Scheckbücher zum Aufblättern bringt – na, der muß schon was Suggestives an sich haben.«
Klara hörte andächtig zu. Sie hatte ein unersättliches Interesse an allem, was sein Werk und sein Leben und sein Haus betraf.
»Das Kapital war aber viel zu klein, mit dem er anfing – er selbst verstand auch nichts von Hüttenchemie – kann sein, daß er nicht von vorn an die rechten Leute neben sich hatte. Es war ein Tasten und Ringen – ein Sorgen und Arbeiten, und immer die Gefahr des Zusammenbruchs neben sich. Ja: toll! Was für Jahre! Und die Ehrenhaftigkeit meines Vaters, an dem die verzweifelte Angst zehrte, fremdes Geld könne durch ihn verloren gehen … Na, das hat ihn ja auch vor der Zeit aufgerieben. – Als Junge von vierzehn mußte ich schon hinaus – lernen – lernen. – Wenn man so im Sorgendunkel aufwächst, sieht man scharf ins Helle hinaus. – Und ich sah bald, woran es bei uns lag. Ich biß die Zähne zusammen und schwor mir: ich mach’s! Als der Vater starb, war ich ein Jüngling von zwanzig und beim Grafen Stürkgen in Schlesien in Stellung – zwanzig Jahre, und sollte ein verschuldetes Werk übernehmen, das teilweise falsch angelegt war und auch an seiner Kleinheit krankte – gewisse Unternehmungen brauchen von vornherein große Dimensionen.
»Nun, der Graf Stürkgen hatte ja wohl Vertrauen zu mir. Er gab mir seinen Direktor mit – einen Mann von kolossalem Wissen und Können. – Der sah sich alles an, prüfte alles durch. Und Stürkgen wagte es, auf den Bericht hin, mich zu stützen. Da fingen Jahre an! Donnerwetter! Die ersten sieben forderten was … Dann sah man: es kommt! Im zehnten hatt’ ich den Sieg! Und vor fünfzehn Jahren gewann ich mir Thürauf als Mitarbeiter. Er ist der eigentliche Schöpfer all unserer Nebenproduktionen, die unsere Erträge fast verdoppelten …«
Er verlor sich in Nachdenken.
Das junge Mädchen wagte kaum, sich zu rühren.
Sie spürte wohl, dieser Rückblick war nicht leicht. Aller Stolz kann den Sieger nicht vergessen machen, was der Kampf ihn gekostet.
»Ja, das Schicksal hat mich an die rechte Stelle gesetzt,« sprach er dann weiter, »ich hatte gerade die Fäuste, die hier zum Anpacken nötig waren. Eins war bitter … Mein Vater hätte noch erleben müssen, was aus ›Severin Lohmann‹ zu werden begann. Er war keiner von den verblendeten Vätern, die den Söhnen nichts zutrauen. Er schickte mich ja gerade so früh hinaus, weil er mich als Mitarbeiter haben wollte. Bin ihm auch immer dankbar, daß er dem Werk seinen eigenen Namen gab, es nicht nach einem symbolischen Vogelvieh oder nach einem griechischen Gott taufte, was ihm vielleicht nicht ganz fern gelegen hätte. Na, nun sind Werk und Mann eins – auch dem Namen nach – und daß mein Junge den sentimentalen Wynfried vor seinem Severin Lohmann tragen muß, das war eines von den Ärgernissen, in deren Erfindung meine Frau groß gewesen ist.«
»Nun weiß ich doch aus Ihrem eigenen Munde die ungefähre Geschichte von Severin Lohmann,« sagte Klara. »Aber wenn ich so bedenke, wie über alles Maß anderer Menschen hinaus Sie gearbeitet haben, wird es mir immer rätselhafter, daß …«
»Daß was, liebes Kind?«
Sie schlug die Augen zu ihm auf. Sah ihn gerade an. Bat um eine offene Antwort, mit aller Kraft ihrer sprechenden Blicke.
»Daß Sie so viel Zeit, so viel Gedanken und so viel Güte für mich hatten und haben. Darüber habe ich oft nachgedacht. Zahllose drängen sich an Sie mit Bitten um Hilfe. Aus Ihrer Beamtenschaft starb mancher hinweg und hinterließ Witwe und Waisen. Ich weiß es, daß Sie alle mit Geld gestützt haben, solange es Ihnen nötig schien. Keiner Waise haben Sie sich angenommen wie meiner.«
»Aber Kind, wie kommen Sie gerade jetzt darauf, mich das zu fragen?« antwortete er ausweichend und sehr beunruhigt.
Klara stand jetzt neben seinem Stuhl, eine von ihren Händen, die Linke, lag auf der Lehne seines Stuhles. Er schaute unwillkürlich auf diese Hand, die so sehr den edlen beredten Händen der geliebten Toten glich.
»Früher,« sagte sie, »wenn mich ab und zu die Doktorin Lamprecht zu Ihnen schickte, mit dem Vierteljahrszeugnis, zu Neujahr, zu Ihrem Geburtstag, da war ich ein etwas furchtsames Kind – es ist so natürlich, sich vor Ihnen zu fürchten,« schaltete sie ein, – »ich wäre bereit gewesen, mich für Sie totschlagen zu lassen. Aber so geradewegs dreist mit Ihnen sprechen? O nie! Dann kam ich ja zwei Jahre nach Hamburg in Pension und machte mein Examen. Und nachher war ich wohl couragierter und fühlte, wie gütig Sie mich ansahen und wie milde Sie sprachen. – Bitte, Herr Geheimrat, lachen Sie nicht über mich – aber Ihre Stimme ist ganz anders, wenn Sie zu mir sprechen, als zu andern Leuten.«
Er sah sie tief an – und mit einem so rätselhaften Ausdruck, daß es sie etwas befangen machte.
Weniger zutraulich, zögernder fuhr sie fort: »Aber auch dann hatte ich keine Gelegenheit, recht mit Ihnen zu sprechen. Wie wäre mir das zugekommen, Ihre Zeit mehr als für Minuten in Anspruch zu nehmen! Kaum daß ich Ihnen zu danken wagte, daß Sie mir meinen Wunsch erfüllten und mich hier an der Schule anstellten.«
»Jetzt aber, heute kommen Sie mit der Sprache heraus?«
»Seit Sie erkrankten, seit ich mich anbot, Sie zu pflegen, was freilich alles nicht angenommen wurde – aber ich darf doch jeden Sonntag kommen …«
»Ja, und bei dem alten Mann im Krankenzimmer die Zeit verbringen, die gesünder im Freien verbracht würde,« unterbrach er sie ablenkend. Sie aber blieb bei ihrem Wunsch, zu wissen, endlich zu wissen …
»Und da habe ich nach und nach gelernt, mich hier heimisch zu fühlen. – Ihre Güte erlaubte mir das, und nun traue ich mich auch, zu sprechen. Bitte Herr Geheimrat, ich hab’ manchmal gedacht: vielleicht hat Ihnen mein Vater sehr wichtige Dienste geleistet?«
Der alte Mann erschrak, auf solche Auffassung war er nicht vorbereitet gewesen. – Ihr Vater … dem er Treulosigkeit, Schädigung und Selbstmord zu verzeihen gehabt! – Aber sie war ja ahnungslos. Er hatte manchmal gedacht, die Doktorin Lamprecht würde den Befehl, zu schweigen, nicht zu halten imstande sein, wo sie sonst etwas an triebhafter Geschwätzigkeit litt – aber so sind Frauen: schwatzen und klatschen – und können dennoch manchmal völlig schweigen – wo sie lieben und schonen wollen …
Welche Lage! Mußte die Tochter nicht doch einmal die Wahrheit über ihren Vater erfahren? Lüge oder auch nur Unwissenheit läßt sich nicht für immer aufrechterhalten. Die Wahrheit schleicht wie auf einem Nebenweg doch immer schritthaltend mit, und plötzlich gibt eine böswillige Hand oder ein Zufall ihr einen Anstoß, und sie fällt dem Ahnungslosen vor die Füße.
Aber er wollte nicht der Grausame sein, dem Kinde zu sagen: Dein Vater war ein Sünder, an allem, was er besaß, an Weib, Kind und Amt …
Nein, er nicht … und gerade jetzt nicht in dieser Stunde.
Er wußte nicht, daß er sich trotz allen Kraftgefühls doch recht verändert hatte seit seinem Schlaganfall und daß er nicht mehr in so eiserner Selbstbeherrschung seine Nerven zu bezwingen vermochte wie früher. Seine Stirn war ganz rot, seine Hände zitterten bemerkbar …
Aber da waren ja diese beredten Blicke, die ihn mit unwiderstehlicher Innigkeit um die Wahrheit baten.
Und er antwortete, während er diesen Blicken auswich: »Ihr Vater? O nein! Wichtige und treue Dienste? O nein!«
Sie schwieg betroffen. Viele viele Herzschläge lang. Seine Röte, – die heisere Stimme, wie Menschen sie haben, die an ihren Worten würgen. – Das sehr starke Zittern seiner ungelähmten Hand, und vor allem sein abgleitender Blick. – Dies Auge wich ihr aus? – Dies gebieterische Herrenauge, das sonst andere bezwang – was bedeutete das?
Ihr Frauengefühl wollte nun erst recht nicht von dem Wunsch ablassen, zu wissen.
»Wegen meiner Mutter?« fragte sie langsam.
Da blitzten die mächtigen Augen sie wieder hell an.
»Ja,« sprach er, »Ihre Mutter – ich habe – sie war – Liebes Kind! Ich habe Ihre Mutter sehr lieb gehabt.«
»Und meine Mutter?« fragte Klara weiter. Ihre Farbe hatte sich verändert, ihr war, als wolle irgend eine dunkle Angst über sie kommen – daß sie mit ihren Fragen an Tragik rührte, die besser ungeweckt und verschleiert bliebe.
Der alte Mann aber sagte mit einer wunderbaren Einfachheit und Gefaßtheit, die das junge Mädchen ergriff: »Ihre Mutter und ich, wir wußten es rasch – wir waren füreinander bestimmt gewesen – sie mein Segen und Trost, ich ihr Halt und Schutz. Aber wir durften es uns kaum gestehen, die Hoffnungslosigkeit war vom ersten Augenblick an mit uns. Meine Frau hätte mich niemals freigegeben – nie – aus kleinlicher Schadenfreude nicht. – Unsere Lage war bitter – sie war gefährlich – aber in unserem Schicksal hatten wir einen wunderbaren Schutz …«
Klara sah ihn wartend an. Da schloß er langsam: »Die Würde deiner Mutter …«
Sie kniete nieder neben seinem Stuhl, etwas zwang sie – und sie küßte seine Hand. Er entzog sie ihr und legte sie auf ihren Scheitel. Unter ihrem schweren Druck richtete sie doch ihr Gesicht ein wenig empor und ihm zu. Sie sah ihn mit grenzenloser Verehrung an.
»Ich wollte, du wärest meine Tochter, oder du würdest es!« sprach er.
Sie lächelte mit Tränen in den Augen.
Sie erhob sich, ganz arglos nahm sie diese Worte.
»Es war immer schon, als wär’ ich’s, wie ein Vater haben Sie an mir gehandelt. Aber nun ist es doch, als sei ich Ihnen noch näher gekommen …«
Ihr Gemüt war ihr nun übervoll. Viel hätte sie wissen mögen – von ihrer Mutter – vom Herzeleid dieser beiden ihr heiligen Menschen – von der Frau, die zwischen dem Manne und ihrer Mutter gestanden. Aber auch ihr eigener, leiblicher Vater mußte ja dazwischen gestanden haben – was war es mit ihm? Weshalb erwähnte der alte Herr nur seine Frau, nicht aber den Gatten ihrer Mutter?
Und in ihr Ohr kam der seltsame Ton zurück, in welchem der Geheimrat gesagt: »Ihr Vater wichtige, treue Dienste? O nein!«
Dies »O nein!« barg eine Ablehnung, so schroff, so wegwerfend, wie sie der Sprecher selbst mit Vorsatz gewiß nicht hatte verraten wollen.
Und plötzlich fiel es ihr noch schwer auf, daß er, der in so starken Worten die Mitarbeiterschaft des Generaldirektors Thürauf rühmte, über die ihres Vaters schweigend hinwegging.
Das hatte irgend einen geheimnisvollen Grund …
»Ich muß wissen,« dachte sie entschlossen. Denn sie war ein mündiger Mensch und brauchte in allen Dingen ihres Innenlebens immer Klarheit.
Aber sie fühlte, daß sie den alten Herrn nicht weiter fragen dürfe – wenigstens nicht in diesem Augenblick. Seine heiße Röte vorhin, das Zittern seiner Hand – das hatte sie erschreckt. Er durfte sich doch nicht aufregen.
Sie hörte, daß die Tür geöffnet wurde. Gottlob, Leupold oder sonst irgend jemand kam, und das half sofort, die Stimmung und das Gespräch in das Alltägliche hinüberzubringen – wie es eben für den noch Schonungsbedürftigen am besten war.
Sie wandte sich um und wußte auf der Stelle: der da herankam, das war Wynfried – der Sohn. Viele Jahre hatte sie ihn nicht gesehen und kaum je wirklich mit ihm gesprochen.
»Hier, Wynfried, ich kann dich nun meinem Pflegetöchterchen vorstellen – Fräulein Klara Hildebrandt.«
Klara reichte ihm freundlich die Hand.
»Wie freue ich mich für Ihren Vater, daß Sie hier sind.«
»Ich weiß nicht, gnädiges Fräulein, ob ich Anspruch auf gemeinsame Kindheitserinnerungen erheben darf,« sagte er.
»Aber nein – garnicht. Solche wollen wir nur nicht konstruieren. Sie waren nicht nur durch die sechs oder acht Jahre, die Sie mehr haben, von mir getrennt. Sie waren immer nur von fern sichtbar, mit dem Hauslehrer oder Ihrer Mutter.«
»Ja – ich durfte mich nie austoben. Mama war so ängstlich mit mir – ich weiß noch: Damals erschien es mir als das Herrlichste von der Welt, nur einmal eine kolossale Prügelei haben zu dürfen.«
»Der sieht freilich aus, als hätte er viel Kummer gehabt,« dachte sie mitleidig, während er sprach. Welche Sorge für den Vater – den einzigen Sohn so seltsam förmlich, so unjung, als wäre er eigentlich lieber nicht hier, zu sehen. Draußen in der Welt hätten sie ihn »zerzaust«, hatte sein Vater vorhin gesagt. Ruhe müsse er haben, sich besinnen. Und ihre natürliche Mädchenneugier fragte sich: Unglückliche Liebe? Das machte ihn ihr doch gleich interessant.
»Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie meinen Vater besuchen und erheitern.«
»Das Dankenmüssen ist ganz auf meiner Seite. Alles, was ich bin, bin ich durch Ihres Vaters Güte. Aber ich komme nicht aus Dankbarkeit. Es ist mein Stolz und mein Glück, daß ich kommen darf.«
Sie sah den alten Herrn mit innigem Blick an, und er nickte ihr zu.
Wynfried hatte ein unbehagliches Gefühl – als sei er hier zwei Verbündeten ausgeliefert. Wußte dies Mädchen um seines Vaters Wünsche? Unmöglich! Dann konnte sie nicht so unbefangen sein.
Die klaren und unverbindlichen Antworten, die sie ihm gab, machten es ihm schwer, weiter mit ihr zu sprechen. Er sah wohl, daß sie sehr schön war und denselben Zauber der Weiblichkeit hatte, wie einst ihre Mutter ihn besaß. Das drückte sich so erkennbar in jeder leisen Bewegung, im Klang der sanften Stimme aus.
Diese Art von Schönheit, deren eigenster Reiz die Verbindung von strengen Linien mit weicher Anmut war, hatte ihn nie zu fesseln vermocht.
Aber er war sozusagen mit allen Interessen und Nerven auf Frauen eingestellt – die alte Gewohnheit, auf jede einzugehen, ihr angenehm sein zu wollen, wurde unbewußt wach in ihm. Dazu kam das neugierige Wissen, daß dies die Frau sei, die sein Vater für ihn bestimmt hatte – und der halbklare Wunsch, seinem Vater guten Willen zu zeigen.
Er holte sich einen Stuhl und setzte sich Klara gegenüber an den Tisch, der neben dem Krankheitsthron stand.
»Ich sehe, Leupold hat für drei aufgedeckt. Es ist also vorgesehen, daß Sie mir auch gütigst eine Tasse Tee gönnen sollen.«
Während Klara ihn bediente, meinte sie: »Wenn Ihr Vater jetzt auch Sie hat – überflüssig komme ich mir doch nicht vor. Männer, die die ganze Woche von der Arbeit zusammen sprechen, würden es auch noch Sonntagnachmittags tun, wenn da nicht jemand wäre, der sehr wenig davon versteht.«
»Ah, Sie wissen, daß ich hier bleiben werde?«
»Ist es ein Staatsgeheimnis? Ich habe es Fräulein Hildebrandt erzählt,« warf der Geheimrat ein.
Wynfried verbeugte sich im Sitzen leicht gegen Klara, als wolle er sagen, daß er sich keine willkommenere Mitwisserin seiner Angelegenheiten denken könne.
»Und Sie haben die Geduld und den Mut, gnädiges Fräulein, die Kinder der Arbeiterschaft zu unterrichten?«
»Nun, irgend etwas mußte ich doch tun, um meine Kräfte zu brauchen und mein Brot zu verdienen,« sprach sie ruhig.
»Aber gab es nicht reizvollere Beschäftigungen, die Ihnen mehr Freude gebracht hätten? Etwa der Posten einer Gesellschaftsdame in einem großen Hause, wo viele Menschen verkehren, wo man reist, Kunst genießt, tanzt – Vater mit seinen Beziehungen hätte Ihnen doch leicht dergleichen verschaffen können.«
Der Geheimrat wartete mit Vorfreude auf die Antwort – diese ganze Szene unterhielt ihn überhaupt auf das Spannendste. Er selbst war ja der Mann der ersten Eindrücke, der raschen Entschlüsse. Er fühlte, oder vielmehr er bildete sich ein: man wird schon heute sehen, ob es geht mit den beiden!
Klara schüttelte nur leise den Kopf.
»Hier kam ich her, als ich zwei Jahre alt war, so weit reichen meine Erinnerungen natürlich nicht zurück. So ist es mir, als sei ich hier geboren. Hier bin ich aufgewachsen – inmitten des Werks habe ich meine ersten Eindrücke gehabt – später hab’ ich an seinen Grenzen gelebt, immer in der Umwelt, die durch das Werk Verdienst, Wohlstand und Inhalt hatte. Meinen Unterhalt, seit ich Waise war, verdanke ich Ihrem Vater, ihm meine Ausbildung und daß ich nun auf eigenen Füßen stehe und selbstverdientes Brot essen kann. Nie hab’ ich etwas anderes im Gefühl gehabt, vor mir gesehen als dies eine, daß auch ich für ›Severin Lohmann‹ tätig sein müsse. Wie sollt’ ich’s? Als Buchhalterin? Stenographin? So im Bureau sitzen? Ach nein, das wäre nicht mein Fall gewesen – dabei wäre ich mir nur wie ein Instrument vorgekommen. Ich mag erziehen – auf andere ein wenig wirken können, Entwicklung zu sehen macht doch Freude. So drängte es sich auf, daß ich Lehrerin werden mußte. Ich könnte in der Stadt an der höheren Töchterschule unterrichten. Aber da hätte ich keinen Teil gehabt an ›Severin Lohmann‹. Indem ich die Kinder von Severinshof unterrichte, kommt’s mir vor, als ob ich ein wenig, ein ganz klein wenig und sehr von fern für Ihren Vater und in seinem Sinn arbeite. Konnte es wohl anders sein?«
»Nein, liebe Klara, anders konnte es nicht sein,« sprach der Geheimrat. »Sie sind mit mir, mit uns, mit dem Werk für immer verbunden …«
Er mußte sich Mühe geben, nicht mehr zu sagen.
Wynfried horchte ein Weilchen stumm ihren Worten nach … Er fühlte so beklemmend, daß er, der Sohn und Erbe, seinem Vater und dem Ganzen hier ferner und fremder war als dieses Mädchen, das mit allem unlöslich verwachsen schien … Er bekam eine Ahnung, daß seines Vaters Wunsch noch in anderen Dingen wurzelte als in dem Verlangen, des Sohnes Leben in Ordnung zu bringen und gleichzeitig die Tochter einer vielleicht einst geliebten Frau zu versorgen …
Klara blieb heute länger als sonst. Sie war gewohnt, zu warten, bis der alte Herr durch irgend ein Wort ihr das Gefühl gab, sie dürfe gehen. Heute, wenn das mühsam sich hinschleppende Gespräch ganz verstummen wollte, suchte er es im Gegenteil immer neu zu beleben.
Sie war zu arglos, um es auffallend zu finden, daß seine Fragen sie nötigten, viel von sich zu sprechen. Von ihren Jugendjahren bei der sehr zärtlichen, unentschlossenen, umständlichen und zum Erziehen eigentlich gar nicht berufenen Doktorin Lamprecht, die ihr auch heute noch eine treue Mama, aber in gar keiner Hinsicht strenge und autoritativ sei, erzählte sie mit einem leisen Humor. Von ihren durch ihren Beruf geregelten Tagen mußte sie berichten, und von den bescheidenen kleinen Zerstreuungen. Man hörte wohl heraus: wenn alte Damen zu Kartenspiel und Kaffeeschwelgereien zusammenkamen, saß sie still dabei mit einer Handarbeit und hatte ihre Gedanken für sich. Es gab mal ein paar Vorträge im Winter, einen Kasinoball und ein Sommerfest, die man mitmachte, denn der Geheimrat hatte selbst für die Doktorin Lamprecht und ihre Pensionärin die Mitgliedschaft bei der von ihm unterstützten Kasinogesellschaft erwirkt und bezahlte für die Damen den Beitrag. Und Klara sagte, es gebe da immer einige, die sie fühlen ließen, daß sie als Volksschullehrerin nicht recht unter die Honoratioren gehöre – und man spürte, daß ihr derlei nicht verletzend, sondern nur ein lustiges Pröbchen von Dummheit war.
Wynfried sah so in ein Mädchenleben hinein, das ihn wie eine Legende anmutete. Das gab es? In solchen Beschränkungen konnte ein weibliches Wesen es aushalten? Und sie schien zufrieden? Ganz und gar. Das fühlte er durchaus.
Und dies am meisten, diese Klarheit und Wunschlosigkeit in der Begrenzung machte ihn betroffen.
Aus welchen Quellen kam das empor, so erstaunlich wohltuend und beruhigend?
Sein Herz war in schwülen Feuern verbrannt – vielleicht für immer. Seine Phantasie war ermattet, im atemlosen Rausch immer neuer Vergnügungen an immer wechselnden Schauplätzen.
Welch ein Gegensatz zwischen der Welt, in der er seine ersten Jünglings- und Mannesjahre vertan, und diesem Idyll. Ihm war, als sehe er vor seinem geistigen Auge dicht neben einem glitzernden Durcheinander von Seidenglanz, funkelnden Steinen, flatterndem Chiffon, dunkelummalten Augen, roten Haaren, rosigen Wangen, wippenden Federn ein stilles, grünes Stückchen Wald …
Und das Mädchen bäumte sich nicht einmal auf? Empörte sich nicht, daß Schönheit und Jugend in Gefahr war, unbemerkt zu verblühen, daß die Möglichkeit vorlag, ihr ganzes Leben in der Enge versanden zu sehen? – Seine Mama fiel ihm ein. In welch schneidender Mißlaune sie immer gewesen war während der wenigen Monate im Jahr, die sie neben der Arbeitsstätte ihres Gatten verbringen mußte – wie sie floh, sobald sie konnte. Und damals erschien ihm seine Mama immer als ein Opfer …
Er sah: diese Klara gab keine Rolle. Die freundlich-ruhige Stimmung war ihr wirklicher Seelenzustand! So unglaubhaft es ihm schien, er fühlte sich dennoch gezwungen, zu glauben.
Er wurde nach und nach sehr schweigsam.
Und Klara fing an, bedenklich zu werden: blieb sie nicht unbescheiden lange? Warum gab der Geheimrat nicht wie sonst ein Zeichen? Und die Doktorin Lamprecht, die es nicht kannte, daß ihr Schützling nicht mit uhrenmäßiger Pünktlichkeit heimkam …
Sie stand auf.
»Darf ich jetzt gehen? Tante Lamprecht ängstigt sich sonst.«
»Wynfried bringt Sie nach Haus,« bestimmte der alte Herr.
»O nein – danke sehr – nein –,« lehnte Klara ab.
Er verneigte sich höflich, sich widerspruchslos in die Ablehnung ergebend …
»Klara, liebes Kind, ich habe einen Wunsch,« sagte der alte Herr, ihre Hand in seiner Rechten haltend. »Sie wissen, ich mag keinen Tischgenossen an meiner Krankentafel – Wynfried muß unten allein essen – kommen Sie doch diese nächsten Tage – bis er etwas eingelebt ist – etwa diese ganze Woche, und essen mit ihm. Ihr Weg führt Sie ja doch vorbei, Leupold soll eins von den Fremdenzimmern für Sie als Tagesquartier einrichten. Nachmittags bekomm’ ich dann auch mein Stündchen, als wäre alle Tage Sonntag.«
Wynfried fand diesen Vorschlag »faustdick«. Er meinte, sie müsse merken, was sein Vater wünsche … Er stellte auch fest, so gebieterisch sich auch noch die alte Wucht und Größe seines Vaters aufzurecken vermochte, so ungebrochen auch durch die Krankheit sein Wesen noch schien: wurden nicht neue, weichere, ein wenig greisenhaft kindliche Züge zuweilen bemerkbar?
Eine schwache Neugier auf ihre Antwort wollte sich in ihm regen. Aber er war ja eigentlich sicher, daß sie beseligt zugreifen würde. Und er konnte dann bei diesen Diners zu zweien (an was für andere Diners zu zweien war er gewöhnt, fast ironisch huschte es durch sein Gedächtnis) weitere Betrachtungen darüber anstellen, welche Figur er künftig abgeben werde, als Gatte dieser offenbar beinahe vollkommenen jungen Dame, die der Aufgabe, ihn zu einem Tugendbold zu erziehen, ja schon von Berufs wegen so gewachsen sein würde.
Um seine Lippen zuckte es. Er wollte spotten.
Aber in ihm war zugleich so viel Unsicherheit – so überflüssig erschien er sich neben diesem Mädchen und seinem Vater.
Klara war wohl etwas erstaunt über diese Einladung, doch vor allen Dingen verlegen, weil sich eine derartige Einrichtung, auch nur eine Woche lang, nicht mit ihren Pflichten vereinbaren ließ.
»Ja, wenn Ferien wären! So kann ich es aber nur am Mittwoch,« sagte sie kurzweg.
Der Vater sah hierbei zum Sohn hinüber. Fast ein wenig triumphierend. Hatte er nicht prophezeit: du wirst dich dazu halten müssen, angenommen zu werden.
Als Klara gegangen war, kam erst Leupold, den Tisch abzuräumen. Und Leupold konnte sich wieder Gedanken machen, denn zwischen Vater und Sohn herrschte vollkommenes Schweigen. Sonst wurden keine Gespräche wegen dieser Dienerohren unterbrochen, nicht einmal die Geheimrätin hatte früher ihrer scharfen Rede Zügel angelegt, während er die Schüsseln anbot. Und ungeachtet seiner Anwesenheit und Zeugenschaft warf der Geheimrat bisweilen den spitzen Reden ein Donnerwort entgegen, daß sie dann stumm sich hinter zusammengekniffenen Lippen zurückhielten.
Somit stand es für Leupold fest: wenn in seiner Gegenwart geschwiegen wurde, gab es Dinge von höchster Ärgerlichkeit oder geheimnisvollster Wichtigkeit. –
Der Geheimrat wartete nur, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, um zu fragen: »Nun?«
»Was – nun? Forderst du von mir, daß ich, nach dem Zusammensein von einer Stunde, mich schon bereit erkläre, das Mädchen zu heiraten?«
»Nein,« sagte der Vater, »da sei Gott vor. Aber den Eindruck möchte ich wissen.«
»Wohltuend – ganz und gar – ja. Aber ich muß sie doch erst ein wenig näher kennen lernen – muß mich erst einmal in Ruhe fragen, ob ich so etwas wagen kann, darf. Junge Mädchen träumen von einer großen Liebe – wie sollt’ ich die vorlügen und vorheucheln können! Ich werde mich nicht in sie verlieben. – Ich? – Nach allem: nein! Und sie? Glaub mir, ich habe keinen Eindruck auf sie gemacht.«
»Man lernt sich in der Ehe lieben,« sagte sein Vater.
»Oder hassen,« setzte der Sohn hinzu, und er dachte an seine Mutter, die seinen Vater gehaßt hatte.
»Heiraten, das ist ein Entschluß von großer Tragweite,« sprach er weiter.
Es schien dem Alten trotz der seinen Wünschen günstigen ersten Worte, als höre er nur Lauheit, Energielosigkeit, Ablehnung.
»Eine Heirat allein kann deinem Dasein neuen Inhalt und Richtung geben. Was solltest du sonst anfangen mit deinem Leben?« fragte er schweren Tones – der grollte gleichwie aufkochender Zorn.
»Ich weiß es nicht, Vater,« sagte der Sohn zerquält. –
Klara aber schritt mit eiligen Füßen über die Straße dahin, auf die Treppe zu, um hinunter zur Fähre zu kommen. Aber sie konnte nicht ohne Aufenthalt vorwärts kommen. Eine Arbeiterfamilie begegnete ihr. Die Kinder drängten sich an sie und wollten »Fräulein« durchaus die Anemonen schenken, deren Stengel in den kleinen Fäusten schon warm geworden waren. Und die Mutter erzählte schmeichlerisch, daß die Kinder immer nur von Fräulein und Fräulein schwärmten, und wollte wissen, ob Artur und Lieschen auch artig seien.
Sie hielt freundlich stand.
Und doch brannte in ihr eine große Ungeduld. Sie dachte nicht mehr an Wynfried, der doch nun eine neue Gestalt im hiesigen Leben war. Sie dachte nur an den einen einzigen Augenblick, in dem der Geheimrat mit ausweichendem Blick, feindseligem Ton und zitternder Hand von ihrem Vater sagte: »Treue, wichtige Dienste – o nein!«
An der Fährbrücke unten an der Treppe mußte sie noch warten, der Kahn kam erst vom anderen Ufer heran. Vier, fünf junge Männer saßen auf der umlaufenden Bank. Im Hutband trugen sie einen kleinen Buchenzweig oder ein paar Primeln. Halbverwelkt hing der Schmuck auf die Filzränder der Hüte herab. Aber die jungen Männer hatten sich doch den Frühling anheften wollen, wie ein Zeichen. Der Fährmann stand aufrecht im Kahn und trieb mit starkem Ruderschlag seinen Kahn scheinbar zu weit oberhalb des Anlegesteges auf die Uferböschung zu, der sachtfließende schmale Strom drückte aber so sehr gegen den Kahn, daß die endliche Landung genau an der Stufe der Brücke erfolgte. Die Männer stiegen aus, und Klara stieg ein. Und wieder hinüber ging die Fahrt auf den hellen Hang zu, dessen weißsandige Wand von dem roten Städtchen überkrönt war. Dies Hin und Her von Ufer zu Ufer war sonst immer für Klara voll Reiz. Das dunkle tiefe Wasser glänzte, der Ruderschlag rauschte leise … es war so viel Ruhe darin und ein wenig von der Romantik alter Zeiten.
Aber sie war bei dieser heutigen Heimfahrt zu erregt, um die Stimmung zu genießen. Ganz verworrene und plötzlich beängstigend werdende Erinnerungen tauchten auf – sahen nun, da sie vor dem Auge einer Gereiften erschienen, ganz anders aus, als die Tatsachen sich einst dem Kind dargestellt hatten. – Die Zehnjährige hatte nur an einem Morgen voll unaussprechlicher Ängste erfahren, daß ihr Vater über Nacht einem Herzschlag erlegen sei. Das Grauen vor der Nähe des Todes, der stumme Jammer der Mutter – ein seltsames Hasten und eine scheue Angst im Haus – dazwischen dann die Gestalt des Geheimrats – düster und beherrschend. – Und daß niemand, niemand den Toten hatte sehen dürfen. – Am selben Tag noch wurde der Sarg geschlossen – die Schrauben knirschten so – man hörte sie. – Die Mutter bebte nebenan und preßte ihre Tochter heftig an sich. – Damals dachte Klara, das sei immer so, wenn ein Mensch sterbe – all diese Einzelheiten. – Heute mit einem Male wußte sie: da war etwas zu verstecken gewesen …
Es gibt jähe Erkenntnisse, nach Jahren kommen sie, es ist, als griffe eine Hand nach einem und risse eine Binde von unseren Augen.
Und so, gejagt von dem Vorsatz, die Wahrheit zu wissen, vom angstvollen Wahn sich sogleich heilen zu lassen oder auch dem Traurigsten ins Gesicht zu sehen – so kam sie in der kleinen Wohnung an …
Das Häuschen der alten Frau Lamprecht lag am Kirchplatz. Es hatte über dem Erdgeschoß nur ein Stockwerk, und vom Ziegeldach sah noch ein Giebelfenster hinüber nach den Linden, die die Backsteinmauer der Kirche umstanden. Das erste Stockwerk war an den Hauptmann von Likowski vermietet. Seine beiden Pferde hatte er im Stalle auf dem Hofe, wo einst das Doktorwägelchen stand, wenn es durch die Toröffnung neben dem Hause hereingefahren.
Vier überraschend geräumige Zimmer gaben den Frauen Behaglichkeit genug. Die Küche lag hinter der Treppe mit den Fenstern nach dem Durchgang zum Stall. Seit Klara nach bestandenem Examen zurückgekommen und alsbald angestellt worden war, hatte sie ihr Wohnzimmer für sich. Damit war sie von ihrer Pflegmutter als selbständiger Mensch anerkannt worden.
Es hatte der alten Dame viele Erwägungen und umständliche Besprechungen gekostet, bis ihre Sachen auf den Boden gebracht wurden und dafür Klaras Einrichtung, die von der verstorbenen Mutter stammte, heruntergeholt werden konnte.
Diese Einrichtung war Klaras einziges Erbe, und sie wußte es, daß sie den Besitz nur dem Geheimrat verdankte. Ganz vollständig war alles beisammen geblieben, so wie es einst im Wohnzimmer der Mutter gewesen: der Sekretär, der halbhohe Teeschrank, die Kommode, Sofa und Stühle von dunkelblankem Mahagoni, mit den graublauen Stoffen von dickem Seidendamast; die Bücher, die Uhr mit dem gelbbronzenen Zifferblatt zwischen kleinen Alabastersäulen, die auf ihren Kapitälen einen Steg von Alabaster trugen, auf dem fiedelnd ein Amor entlang zu tänzeln schien – der Schöpfer dieser Uhr hatte sicher den anmutigen Gedanken gehabt, daß demjenigen, für den die Stunden schlugen, die Liebe heiteren Inhalt geigen möge.
Und Klara dachte oft, mit welch schweren Empfindungen ihre Mutter das heitere kleine Bilderwerk oberhalb der Zeiger betrachtet haben möge.
Denn sie ahnte immer, daß ihre Mutter nicht glücklich gewesen sei.
Heute war aus der Ahnung eine Gewißheit geworden.
Klaras Zimmer lagen nach hinten. Ihre Straßenaussicht hätte die alte Frau keinem Menschen geopfert, und sie sagte, Klara wäre es ja doch einerlei, ob sie auf den Hof oder auf den Kirchplatz hinaussähe. Jetzt lauerte die Doktorin schon lange hinter den Scheiben, und der graue Kopf bog sich alle paar Sekunden sehr schräg nah an das Glas hin, um die Stelle zu erspähen, wo die Straße in den Platz einmündete und wo Klara zuerst sichtbar werden mußte. Kaum erschien sie in Blickweite, so deuteten ihr auch schon lebhafte Gesten an, daß sie mit Unruhe erwartet wurde, und das erste Wort, das sie hörte, war das erwartete: »Wo bleibst du, ich ängstigte mich.«
Und zugleich nahm sie schon ihren Kneifer ab und legte ihn auf den Nähtisch vor sich, was immer eine Art von Zurüstung auf ein ausführliches Gespräch bei ihr bedeutete.
»Es kam mir so vor, als wünsche der Geheimrat, mich länger dazubehalten. Ich wußte nicht recht, was ich sollte.«
»Hast du den Sohn kennen gelernt? Wie war er?« fragte sie in brennender Neugier.
Denn in dem Städtchen liefen allerlei Gerüchte herum – auf sachten, aber sehr emsigen Füßen, von Haus zu Haus. Und sie hatten ihren stillen bösen Gang begonnen damals, als Wynfried nicht am Lager seines Vaters erschien …
»Doch. Flüchtig. Er war sehr höflich,« sagte Klara. Sie wußte längst, daß Zurückhaltung gegenüber der alten Frau geboten sei. Sie kannte es schon, welchen Genuß und welche Genugtuung es der Doktorin bereitete, bei ihrer Skatpartie die zu sein, die am genauesten über die Vorgänge im Hause des Geheimrats unterrichtet war.
Aber Neugier spürt nicht so leicht das Ausweichen eines anderen. Und die Fragen klangen auch noch minutenlang durch das Zimmer. Wie sah er aus? Sehr verlebt? Schienen Vater und Sohn gespannt? Will er hier bleiben? Wird er gleich offiziell Teilhaber? Kam es dir vor, als ob er gern hier sei?
Klara antwortete auf alles sehr beruhigend, und als sie sagte, das Verhältnis zwischen Vater und Sohn sei ihr ganz natürlich und herzlich vorgekommen, war die Doktorin zufrieden. So hatte sie doch etwas als ganz »wahr und wahrhaftig« weiterzuerzählen. Ihr unruhiges kleines Gehirnchen war dann schon wieder bei ganz anderen Wichtigkeiten.
»Denke dir, die Heimdorfs hatte schon wieder ein neues Frühjahrskostüm an, sie ging vorhin vorbei. Wie der Mann das gut macht, all den Luxus. – Und denke dir, weißt du, wen ich gesehen habe? Den neuen Oberleutnant, den Freiherrn von Marning. Eine Erscheinung! Vornehm, sag’ ich dir! Er besuchte den Hauptmann. Sie gingen in den Stall. Als ich sie treppab kommen hörte, lief ich in dein Zimmer und paßte hinter den Gardinen auf. Er ist noch oben, gleich geht er – horch – wir wollen achtgeben, du sollst sehen: eine schöne Männererscheinung …«
Und sie rückte schon ein wenig, um sich besser hinter den Mullfalten der Vorhänge zu verbergen.
Klara fühlte sich ja manchmal gequält von dem eifrigen Teilnehmen an den Gleichgültigkeiten rundum.
Aber ihre Dankbarkeit zwang sie zur Geduld und zu freundlichem Eingehen, wenn auch mit noch so flüchtigem Wort. Heute aber war sie auf dem Punkt, sich davon ermattet zu fühlen.
»Was geht mich der Freiherr von Marning an?« sagte sie.
Und plötzlich brach es aus ihr heraus.
»Ich bitte dich – laß die fremden Leute – komm – ich muß mit dir sprechen, dich etwas fragen –«
Sie legte den Arm um die Erschrockene und zwang sie vom Fenster fort.
»Du hast mich lieb. In zehn Jahren, seit ich bei dir lebe, hast du es mir bewiesen. Sag liebe, liebe Lamprächtige, würdest du mich belügen, wenn ich dich etwas fragte?«
»Aber Kind!« Das war ja die alte Frau gar nicht gewohnt, daß Klara so starke Töne anschlug. – Sie war doch fast nie zärtlich, und nie aufgeregt. Und brauchte nun gar die scherzhafte Benennung, die der Geheimrat aufgebracht hatte, in so leidenschaftlicher Weise.
»Wie sollt’ ich dich wohl belügen wollen! Was ist denn?«
»Sage mir, was war mein Vater für ein Mann? Und an was starb er in so frühen Jahren?«
Wie strenge Klara aussah – die geraden Brauen schoben sich näher zusammen, ihre Augen brannten.
Welche Frage! Mein Gott, hatte sie nicht immer gefürchtet, daß das arme Kind irgendwann einmal den alten Geschichten nachfrage!
Und wenn Klara etwas so durchaus wollte! Die kleine gute Alte hatte wohl eine dumpfe Erkenntnis davon, daß sie dem Mädchen nicht gewachsen war. In Klara war irgend etwas Starkes. Man spürte es selten. Aber dann war man ganz klein davor …
»Kind, Liebling, frag mich nicht. Ich muß schweigen.«
»Ah –« Klara beugte sich näher zu ihr, förmlich Angst bekam die alte Frau. – So drang schon diese Bewegung auf sie ein …
»Ah – also es ist etwas zu verschweigen …«
»Ich habe es doch dem Geheimrat versprochen,« klagte sie. »Wäre das nicht wie ein Hochverrat, wenn man ein Versprechen bräche, das dem Manne gegeben worden war?«
»Er soll es nie erfahren, nie, daß du mir die Wahrheit sagtest. Wenn du sie mir nicht sagst, gehe ich zum Pastor, oder zum Standesamt, von Mann zu Mann, bis ich den finde, der weiß …« drohte Klara. Sie war nun völlig außer sich.
Also es gab Schmachvolles zu verbergen!
»Niemand weiß etwas Genaues,« sprach die Alte ängstlich. »Man flüsterte wohl damals … Aber der Geheimrat – du kennst ihn ja. – Er wollte alles versteckt lassen. Und wenn er was will! Dann ist es ja egal, was es kostet. Und er zwingt alle Menschen. Es gelang, alles zu vertuschen.«
Diese Art, von den Dingen zu sprechen und sie nicht zu nennen, wurde für Klara zur Folter.
»Sag doch endlich, was denn – was denn …«
»Nun in Gottes Namen, da du mir gar keine Ruhe läßt, und wenn du mir versprichst, mich nie zu verraten …«
»Ich verspreche es,« sagte Klara hart und fest.
Und da Schwätzer immer fest auf die Verschwiegenheit anderer Leute bauen, nahm sie dies Versprechen für einen Schwur.
Ganz erschöpft war sie, und dennoch im tiefsten Innern vielleicht wie erlöst, daß ihr endlich die Last des Schweigens abgezwungen wurde.
»Ja,« sagte sie, »dein Vater wollte wohl eins, zwei, drei reich werden. Großes Gehalt, Tantieme. – Das schaffte nicht genug, – woher ihm diese Gier nach Geld kam, weiß ich nicht. Es hieß, er fahre oft nach Berlin, und habe da … Aber nein … na genug, sehr treu war er seiner Frau wohl nicht. – Und er spekulierte. – Obwohl sein Kontrakt es ihm verbot, machte er private Geschäfte, waghalsige Sachen mit Tendenz sogar gegen des Geheimrats Unternehmungen – oder unter Benutzung von ihm bekannten Chancen, die ›Severin Lohmann‹ hätten zugute kommen müssen. – Und so derlei. – Und dann kam ein Tag, wo alles zusammenbrach. So was hat immer kurze Beine und läuft nicht lange. Eines Morgens wurde mein Lamprecht, der ja Arzt bei ›Severin Lohmann‹ und allen Beamten war, aus dem Bett geholt, und es hieß, den Generaldirektor Hildebrandt hat der Schlag gerührt. – Deine Mutter hat eine fabelhafte Geistesgegenwart bewiesen. – Sie ließ keinen von den Dienstboten in das Zimmer, und mein Lamprecht dachte ja gleich: so ein Tod hat böse Gründe. Er ging sofort zum Geheimrat. – Und der nahm alles in seine Hand – die Hand kennen wir – stark, sicher! Noch am selben Tag wurde dein Vater eingesargt und auf Befehl vom Geheimrat mußte mein Lamprecht dabei sein, wie der Deckel geschlossen wurde – damit die Männer nicht das Taschentuch lüfteten, das dem Toten über die zerschossene Stirn gelegt worden war.«
Klara stand regungslos.
Nun war der Mund einmal in Bewegung, nun floß die Rede und trug weiter, und die alte Frau legte sich keine Hemmung an.
»Mein Lamprecht sagte mir, daß wir unverbrüchlich schweigen müßten, der Geheimrat habe es ihm befohlen – später befahl er selbst es auch noch mir, als du zu mir kamst. – Solchem Befehl zu widerhandeln, hätte meinem Mann die Stellung und mir später vielleicht das bißchen Pension gekostet – und dich hätte er mir nicht gelassen. – Das Finanzielle nahm der Geheimrat alles in die Hand. Es muß ihn ziemlich was gekostet haben. Und deine Mutter bekam obendrein noch Pension. Na, und wie er für dich sorgte, weißt du selbst am besten. Mein Lamprecht glaubte immer: das sei alles wegen deiner Mutter – die hätte er wie ’ne Heilige verehrt. Gerade so große Männer haben ja manchmal irgend einen geheimen Idealismus – und in jenen Tagen ist es ihm auch mal so entfahren, er hat zu meinem Lamprecht gesagt: ohne die Frau wär’ ich ’n rauher Autokrat geworden. – Ja Kind – nun weißt du es! Aber – o Gott, wenn du mich an ihn verrätst!« jammerte sie.
»Ich habe versprochen, zu schweigen,« sprach Klara, »nimm das für einen Schwur.«
Die alte Frau hörte die tonlosen Worte – aber zugleich blitzte durch ihre Erregung ihr kleines Altweiberinteresse am Nebenmenschen.
Sie hörte nämlich Schritte treppab kommen und sich durch den Flur der Haustür nähern.
Mechanisch – es trieb sie – war sie, husch, wieder am Fenster.
»Der Freiherr von Marning!« flüsterte sie wichtig.
Da ging Klara hinaus. In ihrem Zimmer stand sie noch minutenlang …
Sie starrte ins Unbestimmte, sah nicht draußen den Hof mit dem zu hoch aufgeschossenen Lindenbaum und seiner sperrigen Krone, darin der Abendschein Goldglanz entzündet hatte, während unten der schwarze Stamm und die rotbraun gestrichene Stalltür, die seine Linie überschnitt, in melancholischem Schatten lagen …
Sie sah ein mächtiges graues Haupt und blitzende Herrenaugen …
Sie wandte sich, blickte im Zimmer umher – ihre Augen blieben an der Uhr hängen – die gelbbronzene kleine Pendelscheibe, eine starke Handbreit unter der größeren gelbbronzenen Zeigerscheibe, ging hin und her und her und hin zwischen den Alabastersäulen, und der kleine Amor von weißem schimmernden Stein fiedelte sein fröhliches stummes Liebeslied …
Nun schlug die Uhr siebenmal, hell und klingend.
Es war, als habe der letzte Ton Klaras Haltung getroffen und zerschlagen …
Sie legte die Hände vors Gesicht und weinte – weinte.
Was hatte er alles getan – für sie und ihre Mutter!
Wie ihm jemals genug danken!
»Wenn ich doch sterben könnte, um ihm damit Gesundheit zu erkaufen!«
Aber sie wußte wohl, auf solchen Austausch läßt sich das Schicksal nicht ein.
Wie ihm jemals genug danken?
Ein Leben reichte dazu nicht aus. – Mit welch heißer Freude würde sie es für ihn hingeben.
Ihr ganzes Wesen war wie durchglüht von der Begierde, sich für ihn opfern zu dürfen.