Читать книгу Kreuzung ohne Wege - Bozhana Apostolowa - Страница 5

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»Du, ich war sehr verliebt, aber geholfen hat’s nichts, auch wenn ich mich noch so bemühte.«

»Bemüht hast du dich? Liebe ist doch eher so, als würde man einen Krückstock polieren. Wenigstens für die Männer.«

»Ausgerechnet du musst das sagen! Hau bloß nicht so auf den Putz. Kennst du den Spruch von John Updike: ›Die männliche Liebe hält vom Anfang des kleinen Strahls bis zu seinem Ende.‹ Und wenn schon, Iwan und ich machten es zwei, drei Mal am Tag; ja, wirklich, zwei, drei Mal. Und jedes Mal begann unsere Liebe mit neuer Kraft.«

»… oder animalischer Leidenschaft; mit dem Wunsch, ihn in deinem warmen Loch zu versenken und dabei die Kohle deines Vaters zu streicheln.«

»Was ist denn mit dir los, Cecil?! So hast du noch nie geredet! Und was hat mein Vater damit zu tun? Es ist ja gruselig, dir zuzuhören.«

»Aber es zu tun, findest du nicht gruselig. Du hast mir doch selbst von deinen Spielchen erzählt, von deinen geilen Tricks, und davon, wie er ihn an deinen Brustwarzen reibt, und jetzt spielst du die Schamhafte!«

»Hör auf, bitte! Es kommt eben immer der Moment, an dem ich mich vergesse; das Gefühl ist so irre, dass ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Und mit Iwan zusammen spüre ich dazu noch eine Art von Wärme, die mir fast die Luft nimmt. Denn ich liebe ihn … Ich habe dir doch erzählt, wie es angefangen hat – als hätte jemand ein Streichholz angezündet. Daraus ist dann ein richtiges Feuer geworden, und mein Verstand, mein Gott, der hat sich in Rauch aufgelöst.«

»Und während du ihn liebst, vögelst du noch mit zwei anderen rum, stimmt’s?«

»Ja, aber das ist etwas anderes, das kann man nicht vergleichen. Ich ertappe mich oft dabei, dass ich es mag, meinen Körper zu zeigen und die Augen der Männer zu erfreuen – nackt, schön, jung. Sie berühren mich wie eine Skulptur, ich spüre ihre Anbetung und Schwäche in ihren Fingern.«

»Du bist ein kleines Flittchen, meine Liebe. Aber weißt du was, während du mir deine Extravaganzen erzählst und mir dein Herz ausschüttest, sehe ich, wie dein Körper weint, und darum werde ich jetzt endlich einen Brocken ausspucken. Nicht wahr, heute ist es modern zu sagen: ›Das Leben gehört dir, zieh es dir rein!‹ Schön, zieh es dir ruhig rein, doch dreh dich von Zeit zu Zeit um und schau dir an, welchen Mist du gemacht hast. Auch ich liebe Sex und genieße ihn. Auch ich habe gern Spaß und lass mich treiben, doch ich behaupte nicht, nur den Einen zu lieben, während ich jeden Tag einen Andern im Bett habe. Eure Generation ist so …«

»Hör bloß auf mit diesem Generationsgerede, es kotzt mich an! Eure Generation dies, eure Generation das … Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert!«

»Ich weiß, die heutige Zeit ist anders, doch die Seele des Menschen ist etwas Einzigartiges. Sie ist der Maßstab, das Ein und Alles!«

»Du mit deinem ewigen Rumphilosophieren! Du hast mich genug vollgesülzt, lass mich in Ruhe. Wenn ich eins begriffen habe: Bist du schön und hast Geld, ist alles in Ordnung. Woher du das Geld nimmst, ist völlig unwichtig. Wichtig ist, dass du es ausgibst und dir alles leisten kannst, dass du zum Beispiel ein weißes Kamel reiten kannst, wenn dir danach ist!«

»Hoch lebe dein Papa, nicht wahr! Und diese Typen um dich herum.«

»Die Typen … Es stimmt schon, ich gebe das Geld meines Vaters aus, aber das ist ja das Natürlichste von der Welt.«

»Hast du mal daran gedacht, dir dein Geld selbst zu verdienen, so wie ich es tue?«

»Klar könnte ich das, aber wozu soll ich mich quälen, wenn ich’s doch habe. Es macht mir Spaß, es zu verschwenden! Du dagegen bist gezwungen zu arbeiten und deine Tochter durchzufüttern.«

»Ich habe eben keinen reichen Papa. Aber lass bloß Diana aus dem Spiel.«

»Und du, lass meinen Vater in Ruhe, er ist ein Heiliger.«

»Pass mal auf, meine Liebe, Heilige gibt es nur im Himmel. Hier auf der Erde rackern wir uns durch, solche wie du und ich, mit unseren zwei Beinen und zwei Händen. Leider werden wir oft kräftig durchgeschüttelt, und greift dann einer wie dein Vater dir unter die Arme, dann finde ich das schrecklich. Obendrein füttert er auch noch kräftig deine Illusionen: ›Papas Schöne‹, ›Zuckerschnütchen‹, ›meine Klügste‹, der kleine Schatz, der alles bekommt, was er will! Ein Wink und Papi greift nur kurz in die Tasche und gibt, und gibt …«

»Ja und, ich bin doch seine Tochter.«

»Ich weiß. Trotzdem. Der Vater ist nicht nur dafür da, Kohle rüber zu reichen. Familie ist etwas Großartiges, Maria.«

»Ich habe alles, was ich will. Das andere ist leeres Geschwätz – ›etwas Großes‹, ›die Seele‹. Was soll das, wozu führst du dich so auf? Komm mal wieder runter! Ich kenn dich doch.«

»Ich bin schon lange auf der Erde und ich wate mehrmals am Tag in ihrem Schlamm herum. Noch bevor ich zum Studieren nach Sofia kam, war ich schon ganz unten gelandet. Und dabei hatte ich mir das Leben so schön vorgestellt. Wovon ich alles geträumt habe: Designerin werden, eine von Gott Auserwählte, die Schönes kreiert. Doch dann an der Kunstakademie … Ach lassen wir das! Sie kann mich mal, die Akademie!«

»Aber du hast goldene Hände, sonst wärst du doch nie meine Designerin geworden.«

»Sei bloß still, du bist noch keine zwanzig und willst mir was von hohen Ansprüchen erzählen! Wie eine dieser reichen Tussen, die sich zu mir schleppen und mir für ein bescheuertes Outfit die Tausender hinblättern. Du unterscheidest dich in nichts von ihnen. Ihr alle seid blöde Ziegen auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit. Während ihr glaubt, ihr hättet den Herrgott am Kragen, geht ihm das alles am Arsch vorbei, und er amüsiert sich über eure Beschränktheit. Wir sind eine Gesellschaft von unersättlichen Geiern. Wenn wir es könnten, würden wir uns gegenseitig auffressen. Wir wollen nur immer noch mehr, stopfen gierig alles in uns hinein, schlingen alles runter … Und was haben wir zu geben?«

»Was geht mich das an, was wir geben! Jeder was er kann und mag. Mein Vater zum Beispiel …«

»Dein Vater holt sich, was er kriegen kann!«

»Ich will nicht, dass du meinen Vater beleidigst! Er verdient sein Geld mit ehrlicher Arbeit, genau wie du.«

»Wir alle verdienen es mit Arbeit, nur mit was für einer? Meine kennst du. Ich rackere mich ab wie eine Idiotin, und was hab ich davon? Ich meine jetzt nicht das Geld, sondern das, was du nicht verstehst, weil du es nicht kennst – ich möchte mich als Mensch verwirklichen, als Designerin. Ich will das machen, was ich gelernt habe, und dabei will ich mein Talent und meinen Verstand einbringen und euch nicht immer nur bedienen. Aber ich bin an dem Punkt, dass ich mich mit allen möglichen verrückten Tussen und abgewrackten reichen Schickimikiweibern arrangieren muss. So ist es doch! Erst ein Kompromiss, dann noch einer … Und immer muss ich ihnen gefällig sein, weil sie die Kohle haben und ihnen schmeicheln. Es ist so weit gekommen, dass ich schon keine Selbstachtung mehr habe. Ich hasse mich!«

»Aber wir respektieren dich doch!«

»Sei still, du verstehst gar nichts. Weißt du, wie meine Tage aussehen? Ich werde ganz krumm vor lauter Schufterei! Und das schon seit dem Studium – am Tag habe ich gelernt und die ganze Nacht über genäht. Ich habe Diana allein groß gezogen. Und wofür das alles? Die Arbeit, die ich im Moment mache, befriedigt mich überhaupt nicht, denn Leute wie du legen keinen Wert auf das Schöpferische in mir. Sie picken sich irgendwelche abgedrehten Ideen aus irgendeinem Hochglanzblättchen und zwingen mir überheblich ihren Blödsinn auf. Aber wie man so sagt: Der Kunde ist König, und ich habe überhaupt keine Wahl. Ich muss es tun, sonst geht Dianas Ausbildung den Bach runter, und irgendwie leben muss ich ja auch!«

»Warum bist du auf einmal so kleinlich! Mach doch einfach so weiter, dann fließt das Geld, und du wirst so reich wie wir. Warum machst du dir Gedanken?«

»Weil es in meiner Seele anders aussieht.«

»In deiner Seele … Immer suchst du unter dem Bullen nach einem Kälbchen. Wann kapierst du endlich, dass das so nicht klappt! Entweder du bist reich oder …«

» … oder ich mache es so wie du und setze meinen Haufen dorthin, wo es mir gerade einfällt. Egal, ob gedreht oder gelockt, es ist und bleibt Scheiße.«

»Du bist unmöglich!«

»Was heißt hier unmöglich, denk lieber mal nach. Wenn ich nicht schöpferisch tätig sein kann, habe ich keine Freude. Aber ich will diese Freude, ich will sie! Ich arbeite, weil ich die Kohle brauche, ich schlängele mich den ganzen Tag durch einen Wald von Problemen, und schlage mir die Stirn blutig. Mache ich es der einen Kundin recht, ist schon die nächste mit einem Problem da. Und so geht das immer weiter, bis sich mir alles dreht. Immer muss ich heucheln, mich anbiedern, verdammt noch mal! Und wenn am Ende das Problem gelöst ist, dann nur durch einen beschissenen Kompromiss. Und um mich rum drängelt sich die ganze Zeit ein Haufen Leute, von denen sich jeder für den Wichtigsten hält. Es steht mir bis zum Hals. Manchmal hätte ich Lust zu schreien: ›Ich bin genau so ein Stück Scheiße wie ihr – fette, stinkende Scheiße!‹ Aber wenn in diesem Moment eine Kundin zur Tür hereinkommt, muss ich ganz brav sein: ›Was kann ich für sie tun, meine Liebe? Zu Diensten, Gnädigste.‹«

»Na klar, was denn sonst?!«

»Was anderes eben! Es gibt sicher Möglichkeiten, aber dafür musst du einen Arsch in der Hose haben. Mein Arsch scheint sich nur auf dem Klo anzustrengen. Da kannst du mal sehen, worin wir beide uns ähneln.«

»Wie grässlich, hör auf! Hau am besten ab! Ich dachte, du stehst mir nahe, doch jetzt kommt raus, du bist nur gemein, neidisch und obendrein noch schwächlich. Immerhin bist du die Mutter meiner besten Freundin.«

»Du irrst, meine Kleine. Ich bin eine Melkerin. Ich greife mir eure Zitzen und massiere die warme Milch heraus. Dabei sollte ich auf euch scheißen.«

»Kannst du nicht endlich damit aufhören! Du siehst doch, dass ich nicht mehr zuhöre. Und tu nicht so, als seist du Coco Chanel – wir leben in Bulgarien! Außerdem war die in Wirklichkeit ein Ungeheuer. Dabei habe ich mich dir nahe gefühlt, habe dich für eine Heilige gehalten, die ihre Tochter allein großgezogen hat, für meine Freundin! Auch wenn du fast ein Vierteljahrhundert älter bist als ich, bist du doch meine Freundin geworden. ›Ich bin Ihre Designerin, speziell für Sie habe ich dieses Modell geschaffen! Oh, liebe Maria, wie dieses Kleid deine Individualität unterstreicht, sowas kann nur ich, die große Cecil. Und ich rate dir, vergiss diese Markenlappen, du verplemperst nur Papas Geld. Du brauchst einen eigenen, individuellen Stil, der den aktuellsten modischen Trends entspricht.‹ Cecil, angeblich die Top-Designerin. Die große Cecil! Aber das bist du gar nicht, du bist und bleibst die kleine Sija aus dem Dorf Golemo Butschino. Hau bloß ab, ich will dich nicht mehr sehen!«

»Ich bin tatsächlich, nicht angeblich, die führende Modedesignerin im Land. Solche Nervensägen wie du sind nur ein Haufen Scheiße, nicht mehr und nicht weniger. Und weißt du was, ihr alle werdet weiter zu mir kommen, ihr werdet weiter überhöhte Preise zahlen, nur um etwas zu haben, was ihr über eure rosaroten Tangas ziehen könnt.«

»Mensch Cecil, du bist heute völlig durchgeknallt. Ich habe deine Sprüche satt – das Schöpferische, die Seele, die Selbstverwirklichung. Hau jetzt endlich ab, sag ich dir. Verschwinde!«

Im Treppenhaus hallte das Krachen der ins Schloss gefallenen Tür. Mehrere Stufen auf einmal nehmend rannte Cecil los. Das Klappern der Absätze bohrte sich in ihr Hirn. Ihr Kopf war zum Platzen gespannt. Sie spürte, wie es ihr hochkam. Was sich in ihrem Inneren angestaut hatte, wollte wie ein Geysir hervorbrechen, doch sie drängte es zurück. Durch lautes Zählen versuchte sie sich abzulenken: eins, zwei, drei … Doch plötzlich begann sie zu taumeln, sie blieb stehen und spuckte auf den glänzend polierten Marmor.

Die Begegnung mit Maria ging ihr nicht aus dem Kopf. Was zum Teufel sollte diese ganze Szene, was hatte sie in Marias gestyltem Wohnzimmer demonstrieren wollen, wem wollte sie was beweisen? Warum hatte sie ihr Herz vor diesem Dummchen, das so alt war wie ihre Tochter, ausgeschüttet? Und was sollte dieser Irrsinn, eine Stunde lang Dreck zusammenzukehren, um ihn dann über sich selbst auszuschütten. Hoffentlich erfuhr Diana nichts davon. Und schließlich war Maria, dieser kleine süße Hintern, eine Kundin, die Achtung und Komplimente verdiente. Sicher war sie launisch und kapriziös, aber auch großzügig, sehr sogar, und dann musste sie das Mädchen mit Moralpredigten volllabern. Und was erreichte sie damit? Dass Maria es mit der Angst zu tun bekam und wie viele Menschen, die Probleme mit dem Denken haben, ihr den Laufpass gab und womöglich noch andere Kundinnen mitzog. Sie waren doch alle aus demselben Holz geschnitzt. »Was bin ich nur für eine dumme Gans!«

Plötzlich tauchte buchstäblich vor ihrer Nase eine weiße Wand auf – sie war im Dachgeschoss gelandet; anstatt hinunter zur Haustür war sie in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich umzudrehen und die Treppe wieder hinunterzusteigen.

Als die Wohnungstür ins Schloss krachte, wusste Maria, dass sie allein war. Diese frigide Zicke. Eine totale Masochistin, die wollte sich doch nur selbst kaputtmachen und ihren blöden Designerfummel. Redete nur Quatsch. Mich zum Nachdenken bewegen will sie. Wer braucht schon ihren Rat? Es gibt nur ein Leben und ich werde es leben, wie es mir gefällt. Und jede Menge Spaß haben!

Sie senkte den Kopf, zog die Brauen hoch, wie Cecil es immer tat, und reckte sich. Stille. Sie ging zur Kochnische hinüber und toastete sich eine Scheibe Brot, wie immer, wenn sie nervös war. Eilig schmierte sie Butter drauf und belegte sie mit Räucherlachs. Nachdem sie hastig gegessen hatte, begann sie ziellos durch das Wohnzimmer zu laufen. Der mit edlen Dingen bestückte Raum auf ihrer Etage der dreistöckigen luxuriösen Familienvilla beruhigte sie allmählich. Maria leistete ungern Widerstand, nur wenn es sich nicht umgehen ließ, und dann tat sie es halbherzig. Sie war zart und schön und nahm das Leben wie einen Kuss. Die Dramen anderer Leute mochte sie gar nicht, sie ging Unannehmlichkeiten lieber aus dem Weg, um sich an dem Schönen zu erfreuen. Sie versuchte das Unbehagen hinunterzuschlucken, ein wenig mühsam, wie ein Bulgare, der zum ersten Mal in einem guten Restaurant Weinbergschnecken schlürft. Sie wollte das Vorgefallene abschütteln, Cecils Unzufriedenheit. Sie legte keinen Wert darauf, sich über die Dinge klar zu werden. Sie nahm sie so, wie sie waren, basta. Das Einzige, was sie verstanden hatte, war, dass sie nichts verstand, genauso wie im Unterricht. Sie grübelte nie über etwas nach, sie paukte die Lektionen und betete sie an der Tafel herunter. Sie tat es mit einem gewissen Gefühl von Überlegenheit, und wenn die Lehrerin kurz davor war, sie auf den Boden der Realität zu holen, senkte Maria intuitiv den Blick, und der Schulmeisterin blieb nichts anderes übrig, als zustimmend zu nicken. Maria hatte ein sehr gutes Gedächtnis, so dass sie in kürzester Zeit ganze Passagen auswendig lernen konnte. Auch Bücher, die nur zur Lektüre empfohlen waren und die ihre Mutter anhand der Liste kaufte, ohne einen Blick hineinzuwerfen, las Maria aufmerksam durch. So konnte sie die meisten Gedichte bereits zu Anfang des Schuljahres auswendig. Ihr ausgezeichnetes Gedächtnis kam ihr aber auch sonst zugute, immer wieder flocht sie in Gesprächen wie zufällig Zitate ein und vergaß dabei nicht, den Namen des Autors und den Titel des Werkes zu erwähnen – ein erprobter Trick, mit dem sie ihre Zuhörer oft verblüffte. Doch irgendwann war es ihr über geworden. Seit mehr als zwei Jahren las sie nichts mehr. Nicht einmal die Zeitung. Wenn sie zu Hause war, sah sie fern oder chattete.

Den Computer kannte sie wie ihren Körper. Seitdem sie zehn war, hing sie ganze Tage davor, wenn ihre Eltern nicht da waren, auch einen Teil der Nacht. Und ihre Eltern waren oft nicht da, besonders als das Geschäft anlief. Sie tischten ihr jeden Morgen einen Zwanziger auf, wie Maria es nannte, küssten sie, meist während sie noch schlief, zum Abschied und schrieben mit großen Buchstaben auf ein Blatt Papier »Lerne mehr und sitz nicht so viel vor dem Computer!« Dann lehnten sie das Blatt an die Vase, damit sie es sofort sah, wenn sie aufwachte, und stürzten aus dem Haus.

Maria wartete nur darauf. Bevor sie sich das Gesicht gewaschen hatte, ja praktisch noch beim Aufstehen griff sie zur Maus und begann zu spielen. Gierig dirigierte sie ihren Helden, sie nutzte die verschiedensten, manchmal auch unerlaubten Tricks und lavierte sich durch Kollisionen und schaurige Gemetzel. Der Bildschirm lief mit Blut voll, doch das schreckte sie nicht – sie war daran gewöhnt. Wichtig war zu gewinnen. Und sie gewann. Natürlich vergaß sie dabei nicht, den Zwanziger einzustecken, noch bevor sie ihre Lektionen lernte. Es ging zum Glück schnell, dank ihres guten Gedächtnisses.

Maria wickelte auch ihre Lehrer ohne große Anstrengungen um den Finger. Die allgemeine Anarchie hatte auch ihre Schule erfasst und die meisten Mitschüler schwänzten. Die wenigen, die doch kamen, feilschten um Zensuren, stritten mit den Lehrern, pinkelten vor ihnen in die Waschbecken und drohten, sich bei ihren Eltern zu beschweren. Dieses skandalöse Auftreten führte oft dazu, dass die Lehrer es nicht schafften, den Lehrstoff zu vermitteln. Überhaupt die Lehrer. Weder damals noch heute verstand Maria ihre Nachgiebigkeit. Aber sie interessierte sich sowieso nur für das, was sie persönlich betraf. Und in jenen Jahren war das der Zwanziger ihres Vaters. Warum auch nicht? Der Zwanziger ermöglichte es ihr, sich von der Masse ihrer Mitschüler abzuheben, die mit einem Lew fürs Frühstück in die Schule kamen. Ganz zu schweigen von denen, die ihr Frühstück von zu Hause mitbrachten und die nicht eine Stotinka in der Tasche hatten. Und ohne sich dessen bewusst zu sein, gab Maria vor den anderen an – am Kiosk kaufte sie sich alles, was ihr Herz begehrte. Einfach so, vor den Augen ihrer Mitschüler. Es war etwas anderes, die Tochter reicher Eltern zu sein, alle starrten einen an. Sie scharwenzelten um einen herum, schmeichelten. Iwan aus der Clique zog sie oft damit auf: »Mach dir nichts draus, du kannst sowieso nicht mitreden. Du lebst in einer anderen Wirklichkeit.«

Mit ihren Kommilitonen war es dasselbe. Auch sie schmeichelten ihr, obwohl der Großteil von ihnen zwei Jobs hatte, um sich das Studium an der dämlichen Uni leisten zu können. Maria fand es abstoßend, wie die anderen sich beim Hüten fremder Kinder, beim Putzen fremder Häuser und bei der Pflege einsamer alter Leute abrackerten. Die ständige Müdigkeit ihrer Mitstudenten nervte sie; einige schliefen sogar während der Vorlesungen auf den Bänken ein. Und sie waren immer in Eile – sie rannten von der Uni zur Arbeit und von der Arbeit zur Uni. Nie hatten sie Zeit. Sogar ihre Einladungen ins Café, ins Kino, zu abgefahrenen Feten und coolen Partys schlugen sie aus, auch wenn Maria noch so sehr betonte: »Ich zahle.«

Im Unterschied zu den anderen nutzte Maria jeden Abend, um ihren neugierigen kleinen Hintern auszuführen. So hatte sie zum Beispiel ihre Schulfreundin Dafina zu ihrer Begleiterin auserkoren und mit in eine Lesbenbar geschleppt. Anfangs hatte Dafina sich mächtig gesträubt:

»Was sollen wir denn in einer Lesbenbar? Was soll das bringen?«

»Wir werden sie uns einfach mal ansehen. Mal gucken, was da los ist.«

»Es interessiert mich nicht. Ich finde das doof. Geh allein.«

»Oh nein, das geht nicht, Dafi. Ich habe mich erkundigt. Es werden nur Pärchen reingelassen. Du wirst also mein Kavalier sein.« Und sie lachte dabei.

»Wie kommst du bloß auf so etwas? Ich verabscheue Perverse. Sie stören mich zwar nicht, aber sie sind mir zuwider.«

»Aber das ist doch spannend! Wir hängen ein bisschen ab, trinken was, und wenn es uns über wird, hauen wir wieder ab.«

»Nein, ich finde deine Idee alles andere als prickelnd.«

»Aber nicht etwa wegen der Kohle? Du weißt doch – ich zahle.«

»Nein, es ist nicht wegen des Geldes. Es ist mir widerlich. Was soll ich mir da angucken, wie sie sich ablecken? Zu den Punkern bin ich ja mitgekommen, aber da waren wir auch erst fünfzehn. Und das war etwas anderes – Männer, Sex …«

»Ach ja,« – Maria schlug sich gegen die Stirn –, »die Punker hatte ich ganz vergessen. Und was haben wir denn damals schon über Sex gewusst. Und von wegen Männer – Jüngelchen waren das, in unserem Alter. Und dann war da dieser verflixte Wunsch, es zu probieren, uns groß zu fühlen, obwohl wir uns schämten und Angst hatten …«

»Vor dem Sex, genau. Doch dann …«

»Hmm, ich habe es dort zum ersten Mal gemacht. Direkt auf der Erde. Mit einem Punker.. Wie hieß der noch? Ach, ich hab’s vergessen. Ist ja auch egal.«

»Erzähl doch mal! Stimmt das wirklich?«

»Warum sollte ich dir was vorflunkern? Du weißt doch, dass das bei den Punkern ein fester Programmpunkt war. Und wir waren die Neuen. Ich hatte erst Angst, sie würden mich für völlig verklemmt halten und zurückweisen. Außerdem machten es alle um uns herum, einfach so – für die Idee der Freiheit. Und es war unwichtig mit wem. Hast du damals nicht auch …«

»Nein, obwohl, versucht hatte ich es schon, ich bin mit einem von ihnen abgezogen … Aber es ging nicht. Ich habe Angst gekriegt. Und dann wollte ich auch nicht wie alle anderen sein.«

»Ich dachte, du hättest damals auch… Na ja, wie auch immer. Aber wann hattest du denn dann dein erstes Mal? Das hast du mir nie erzählt.«

Dafina biss sich auf die Lippen und starrte schweigend auf Marias Schuhe, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres. Doch Maria ließ nicht locker:

»Sag’s mir schon, wir sind doch Freundinnen!«

»Ich war schon ziemlich alt, achtzehn. Ich hab’s mit Wassil getan – ich glaubte damals, ich sei verliebt in ihn«.

»Sag bloß! Echt? Wassil?« Maria versuchte sich zu erinnern. »Wassil … war das nicht so ein Trottel?«

»Ach, lassen wir das.«

»Komm, lass uns gehen.«

»Wohin denn?«

»Wie wohin – zu den Lesben!«

»Dieses Mal will ich wirklich nicht. Was haben wir denn bei den Lesben verloren? Es wird mich anwidern – genau wie bei den Ritzern.«

»Wow! Richtig, bei denen haben wir ja auch schon reingeschaut.«

»Genau! Und was ich damals für einen Horror durchlebt hab …«

»Was war denn daran so schlimm?«

»Also bitte! Es war doch wirklich gruselig. Wie sie sich selbst wehgetan haben! Gestochen haben sie sich, geschnitten, mit Rasierklingen haben sie sich geritzt und die Zähen mit Messern. Ich habe mich echt gewundert wie sie diese Schmerzen aushielten. Und zum Schluss haben sie mir erklärt, das sei ihr Protest gegen die Gefühlskälte der Gesellschaft. Piercings hatten sie auch. Meist an den schmerzempfindlichsten Stellen. Der Eine wollte mir unbedingt seine zeigen – er hatte an seinem besten Stück zwei, ganz oben an der Spitze.«

»Hast du sie gesehen?«

»Quatsch! Mir hat es gereicht, ihren Irrsinn und die Schminke zu sehen. Echt grotesk das Schwarz um die Augen, schwarzer Lippenstift, schwarzer Nagellack, schwarze …«

»Nun hör schon auf! Ich war doch dabei! Jedenfalls ist bei ihnen der Größte, wer die meisten Narben hat. Und jetzt auf zu den Lesben! Dort werden wir mehr über das Leben erfahren.«

»Das soll das das Leben sein, Maria?«

»Jedenfalls gehört’s dazu. Was kann denn schon passieren, wir schauen sie doch bloß an. Komm, hör auf herumzuquatschen.«

Der Lesbenbar war in einem Keller etwa dreihundert Meter vom Kulturministerium entfernt. Es war stockdunkel. Sie blieben am Eingang stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, und setzten sich dann in eine Nische neben der Tür, die mit frechem, gelb-grün gemusterten Plüsch ausgeschlagen war.

In der Mitte des Raums war die Bar, dort standen, vom kärglichen Licht beleuchtet, schemenhafte Figuren. Es war eindeutig, dass sie sich kannten und nicht vorhatten, sich mit zufällig Hereingeschneiten abzugeben. Sie legten Wert darauf, unter sich zu sein. Mit demonstrativem Desinteresse gingen sie am Tisch von Maria und Dafina vorbei. Die beiden Studentinnen waren Luft für sie. Pärchen hielten Händchen und knutschten ausgiebig, bevor sie betont langsam zu den an der Bar stehenden Frauen hinüberschlenderten. Andere Paare, die in den Club kamen, wurden herzlich und hemmungslos begrüßt.

So vollkommen ignoriert zu werden, ärgerte Maria. Sie stand auf, pfiff mit den Fingern und begann zu tanzen, genauer gesagt schob sie ihren attraktiven Körper mit rhythmischen Bewegungen direkt auf die an der Bar stehende Gruppe zu. Ihre Figur, ihr wiegender Po, ihr verführerisches Lächeln gaben ihr eine Aura von Lüsternheit. Ihre Botschaft war klar: Ich bin zu haben. Doch die Lesben, die eben noch so eng zusammenstanden, wichen mit gleichgültigen Mienen zurück und umarmten ihre Partnerinnen noch leidenschaftlicher. Marias Selbstbewusstsein geriet ins Wanken, doch bald hatte sie sich wieder in der Gewalt. Abrupt warf sie den Kopf in den Nacken und fuhr mit funkelnden Augen und einem provozierend geringschätzigen Gesichtsausdruck fort, sinnlich im Rhythmus der dröhnenden Musik zu tanzen – als habe sie immer nur das tun wollen.

Kein Zweifel, Maria beherrschte die Situation. Sie hatte es auch dieses Mal geschafft zu siegen … über sich selbst. Aber der Zugang zur Gesellschaft der Lesben blieb ihr verwehrt und so etwas passierte ihr zum ersten Mal.

Ja, das gibt es. In solchen Situation hilft auch das Geld meines Vaters nichts, dachte sie, und ging selbstbewusst, oder eher selbstverliebt, zu ihrer Freundin zurück.

»Dafi, was für verklemmte Weiber! Ätzende Zicken.« Maria konnte sich gar nicht beruhigen. »Lassen mich einfach links liegen. Mich! Sie müssten sich mal sehen! Eine hat mehr Komplexe als die andere! Blöde Weiber mit ihren sportlichen Lappen und hässlichen Körpern.«

»Hör auf, du wolltest doch unbedingt hier hin. Ich hab dir gesagt, es wird eklig werden. Komm, wir gehen.«

»Warte, lass mich noch etwas zugucken. Schau dir mal die da an! Iiiiiie, was für eine Zunge! Ist die etwa gespalten? Und wie sie sie hin und her dreht. Ach, Dafi, ich kriege regelrecht Gänsehaut!«

»Bist du bescheuert! Es ist so abstoßend! Wenn du willst, bleib hier, ich gehe.«

Maria hatte festgestellt, dass ihr Körper selbst bei der kleinsten Anspielung auf Sex reagierte. Sie erschauerte, ihr Blut floss schneller, in ihrem Kopf wurden die verschiedensten Gelüste wach, die schnell andere Organe erreichten. Ihre Genitalien schwollen an, wurden feucht, und ein wohliges Gefühl wuchs in ihr, es breitete sich aus, machte sie wahnsinnig. Wenn sie an die Lesbe mit der gespaltenen Zunge dachte, bebte ihr Körper, und sie bekam eine Gänsehaut. In Marias Vorstellung hatten Gefühle eine Zunge, Hände, Lippen … und da sie sich nicht gern selbst quälte, sondern lieber die süßen Dinge des Lebens genoss, stand sie auf, schaltete den Computer ein, legte die Hände auf die Tastatur und klickte sich in SkypeMe ein. Erst kürzlich hatte sie dieses geniale Portal entdeckt und schnell erfasst, dass sie hier mit allen möglichen abgefahrenen Usern kommunizieren konnte. Sie gab als ihren Namen »Violeta Petrowa« ein und klickte einen dieser Überdrehten an, mit dem sie vor ein paar Tagen in Kontakt getreten war.

»Hallo. Bist du da?«

Ein dickes, erigiertes männliches Glied füllte den Bildschirm aus, obendrein war es schwarz.

»Bist du bereit, mein geiler Hengst?«

»Siehst du das denn nicht, Schnecke? Ohhhhhhhhh … Ich will, dass du es dir selbst machst.«

»OK! Halt ihn noch eine Weile.«

»Los, komm schon, Püppchen. Leg Hand an dich!«

Maria lehnte sich zurück und stellte die Kamera so ein, dass der Mann auf der anderen Seite besser sehen konnte. Sie öffnete die Beine und streichelte lasziv mit der einen Hand ihre geschwollene Klitoris, die andere führte sie zu ihrem Mund. Sie leckte langsam jeden einzelnen Finger ab, steckte ihn in den Mund, zog ihn heraus und schob ihn erneut hinein.

»Wie geht’s dir, mein geiler Hengst?«

»Mmm, gut, ja, genau so … Mach weiter, meine Schöne … ochchchchch … ein Wahnsinnsgefühl … los, du auch … reib sie dir, deine süße kleine Muschi … kräftiger, kräftiger … oh ja … och … ochchchch … ochchchchchchchchchchchchch…«

Kreuzung ohne Wege

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