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Geschichte und Kultur der Wikinger

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Die Betrachtung der Kultur und des Zeitalters der Wikinger bedarf vorab einer Begriffserklärung: Das Wort Wikinger leitet sich vermutlich von dem altnordischen „víkingr“ ab und bedeutet soviel wie „rauben“ oder „plündern“ und spiegelt somit das Image der Nordmänner in der europäischen Gesellschaft ihrer Zeit wieder. Andere glauben, der lateinische Begriff „vicus“ für Bucht hätte bei der Namensschöpfung für diese Seefahrer Pate gestanden. Richtig ist, dass der Begriff „Wikinger“ zuerst nur bei den Angelsachsen Verwendung fand. Die osteuropäischen Siedler kannte sie unter der Bezeichnung „Waräger“ oder „Rus“, die Franken sprachen anfangs von den Nordmännern.

Von ihren Zeitgenossen wurden sie oft als brutal und blutrünstig beschrieben, doch bleibt nicht zu vergessen, dass die Wikinger auch hervorragende Händler und große Seefahrer waren. Die uns heute schriftlich überlieferten zeitgemäßen Schilderungen dieser Kultur sind ja in der Regel von schriftgelehrten Mönchen der überfallenen Regionen verfasst und wurden so wohl auch entsprechend politisch und emotional gefärbt.

Ihre herausragenden Eigenschaften bestanden vor allem darin, neue Kolonien in entfernten Ländern zu gründen, Handel über sehr große Entfernungen zu treiben und sich in ihren Eroberungs- und Plünderungsschlachten tapfer zu schlagen. Ihre mittelalterlichen Nachfahren erzählten sich die Heldentaten der Wikinger in romantisierter Form, wodurch die nordischen Sagas entstanden. Berühmt gemacht haben die Wikinger auch ihre Schiffe, vielen geläufig unter dem Begriff Drachenschiffe. Mit diesen Schiffen segelten sie mit Mut und Geschick aus ihrer Heimat in alle Gegenden der nördlichen Halbkugel. So wurde die Wikingerzeit gleichwohl durch ihre Piratenzüge, Invasionen, Handelsreisen und Entdeckungsfahrten geprägt.

Die politische Welt der Wikinger war ein loser Verbund des damaligen skandinavischen Kernlandes und der neu erschlossenen Siedlungsgebieten jenseits der Meere. Um diese Gebiete zu erreichen, nutzten die Wikinger Seewege in der Ostsee, Nordsee und sogar im Atlantik. Damit hatten sie die Möglichkeit, Gebiete von Neufundland bis in die Normandie zu besiedeln. Zudem reichten ihre Handelskontakte bis zu den Arabern.

Ihr Seeräubertum fand seine Anfänge in den letzten Jahrzehnten des achten Jahrhunderts, als erstmals zahlreiche Klöster in Westeuropa überfallen wurden. Diese Angriffe fanden im zehnten Jahrhundert ihren Höhepunkt und verschwanden gegen Ende des elften Jahrhunderts endgültig. Zu diesem Zeitpunkt wurde der christliche Glaube von den einstigen Heiden in Skandinavien angenommen, außerdem wurden Norwegen, Dänemark und Schweden zu Nationalstaaten, wie es im restlichen Europa schon üblich war. In vielen Gegenden hatten sich die wikingischen Siedler mit der einheimischen Bevölkerung vermischt; nur in den eigenständigen Enklaven wie zum Beispiel in Island lebt ihr Wikinger-Erbe bis heute weiter.

Während dieser drei Jahrhunderte gab es in der Gesellschaft der Wikingern die unterschiedlichste Aufgaben zu erfüllen. Sie waren nicht alle Krieger und Seefahrer sondern auch Jäger, Fischer, Bauern, Schmiede oder Bootsbauer und natürlich Händler. Die archäologischen Erkenntnisse vor allem aus der Ausgrabung prunkvoller Schiffsgräber belegt die Existenz einer sozialen Oberschicht; zahlreiche Gräber mit spärlicheren Beigaben deuten zudem aber auch auf sozial niedrigere Gesellschaftsschichten hin. Alle anderen Abstufungen dazwischen sind für uns nur aus schriftlichen Quellen abzuleiten. Auch die unterschiedlichen räumlichen Ausdehnungen von Siedlungsanlagen lassen differenzierte Gesellschaftsklassen als Grabungsergebnis zu. So liefert sich uns das Bild einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft.

Die Gesellschaftsstruktur der Wikinger war nach unseren Erkenntnissen also in verschiedene Klassen unterteilt. Mächtige Sippen hatten einen klaren Anführer, den „Jarl“. Die frühe Wikingerzeit kannte zwar keinen König, doch die mächtigsten und tapfersten Jarle wurden zu einer Art Häuptling gewählt. Jarl blieb aber nur derjenige, der sich politisch und wirtschaftlich unter den anderen behaupten konnte.

An der Spitze jeder Gesellschaft standen Häuptlinge, deren Macht vor allem auf der Basis von Landbesitz und materiellem Reichtum fußte. Ihre Macht bedurfte aber auch der Zustimmung der breiten Mittelschicht, der freien Männer, der „Karle“. Hierzu zählten alle Männer, die Waffen tragen durften, egal, ob es sich um Bauern, Seeleute oder Kaufleute handelte. Diese Klasse dürfte die größten gesellschaftlichen Differenzierungen aufgewiesen haben. Sie machte den größten Teil der Gesellschaft aus, und ihren Mitgliedern gehörten oft eigene Ländereien und es stand ihnen zu, Handwerksarbeiten zu erledigen.

Wurden diese Karle von ihren Fürsten eingeladen, mit auf Entdeckungs- oder Eroberungsreise zu gehen, übernahmen in ihrer Abwesenheit die Frauen die Geschäfte. Im Gegensatz zu anderen Gesellschaftsstrukturen der damaligen Zeit hatten die Frauen bei den Wikingern hier bereits einen hohen Stellenwert. Die skandinavische Gesellschaft wurde von den Männern dominiert, doch die freie Frau hatte durchaus ihren respektierten Raum.

In der Frühphase der Wikingerzeit kannten die Bewohner des Nordens noch keine Staaten. Organisiert waren sie in Sippen und Familienverbänden. Die eigene Familie war heilig, sie stellte die entscheidende Schutzmacht für das Individuum dar. Ohne das Band der Sippe galt der Einzelne nichts. Bei den Wikingern gab es einen hohen Familienehrenkodex, die Ehre musste unter allen Umständen gewahrt und verteidigt werden. Auch die Rangordnung in den Sippen war bedeutend. Die Gemeinschaft der Familie und der Dorfbewohner war sehr wichtig, innerhalb einer Gruppe gab man sich gegenseitig Schutz vor Angreifern oder anderen Gefahren. Daher lebten die Wikinger in kleineren Dörfern zusammen, oft in Form einer Festung mit mehreren Häusern. Wer aus der Gesellschaft ausgestoßen wurde, war vogelfrei, geächtet und oft dem Untergang geweiht.

Große Städte gab es zu dieser Zeit im Norden noch nicht. Die Häuser waren aus Holz und wurden von schweren Pfosten gehalten. Die bekannteste Form der Wikingerhäuser ist das so genannte Langhaus, das bis zu 30 Meter lang sein konnte und ein tief bis fast auf den Boden heruntergezogenes Dach hatte. Wie die Häuser der Wikinger aussahen, kann man heute ungefähr abschätzen, weil bei Ausgrabungen vielerorts Überreste der tragenden Holzpfosten gefunden worden sind. Diese klassische Form des Wikingerhauses war aus dem eisenzeitlichen Hallenhaus hervorgegangen. In einem lang gestreckten Zentralraum lebten Menschen und Tiere zusammen. Als das Vieh dann endlich in Ställen ausquartiert war, blieb es bei der Nutzung des einen Raumes für Schlaf-, Wohn- und Arbeitszwecke.

Diese Häuser hatten keine Fenster, sondern nur einen Rauchabzug im Dach. Für die Beleuchtung sorgten Öllampen, für Kochzwecke und als Heizung diente ein Feuer, das in einem Graben im Boden längs der Hausmitte brannte. An den Seitenwänden waren über die gesamte Länge Holzbänke errichtet, auf denen man saß oder schlief. Die Hauskonstruktionen variierten je nach Region. Wo ausreichende Holzvorräte vorhanden waren, errichtete man die Häuser ganz aus Holz, in waldärmeren Gegenden ersetzte man die Bretterwände durch Flechtwerk, das mit Lehm beworfen wurde.

Auf den nordatlantischen Inseln wurden die Häuser fast vollständig aus Steinen und Grasoden errichtet, Holz blieb ausschließlich für die Dachkonstruktion und die Tragpfeiler reserviert. Dem Langhaus konnten sich später auch weitere Gebäude anschließen, meist der Abort, Ställe und Vorratshäuser, oft auch eine Schmiede oder eine Molkerei.

Auch zwischen den Geschlechtern waren die gesellschaftlichen Aufgaben und Rollen klar verteilt. Handwerkliche Tätigkeiten waren Männeraufgaben. Männer bewirtschafteten den Acker, betrieben Fischfang, bauten Häuser und produzierten Waffen und Schmuck. Sie trieben Handel, führten Kriege und sorgten für den Schutz der Familie. Die Frau kümmerte sich um das Haus, den Hof, den Haushalt. Sie versorgte das Vieh, erzog die Kinder und befehligte die Sklaven.

Tatsächlich wissen wir von den Frauen der Oberschicht, dass sie sogar das Recht hatten, sich scheiden zu lassen, wenn der Ehemann seinen Pflichten nicht nachkam, die Familie nicht ernähren konnte oder die Frau schlecht behandelte. Dann konnte die Frau mit Hilfe ihrer Sippe den Ehemann unter Druck setzen. Die Ehe war damals auch bei den Wikingern keine Liebesheirat, Ehen waren Zweckbündnisse und politische Instrumente. Ehen dienten dazu, Frieden zwischen Sippen zu schließen oder zu garantieren und den Besitz einer Sippe zu mehren.

Die Kleidung der Wikinger wurde von den Frauen selbst angefertigt. Sie war zu allererst einmal zweckmäßig, wenn auch neuer Untersuchungen ergeben haben, dass sowohl die Kleidung der Männer als auch vor allem die Kleidung der Frauen sehr wohl modische Attribute trug, die wie alle Moden mit der Zeit Veränderungen unterworfen waren. Wikingische Kleidung war aus Stoff gefertigt. Die Männer trugen lange, weite Hosen. Auch Pumphosen oder Kniebundhosen existierten bereits. Den Oberkörper bedeckte eine Tunika, die bis hinunter zu den Oberschenkeln reichte. Möglich war auch ein Hemd mit viereckigem Halsausschnitt und langen Ärmeln. Knöpfe waren aus Horn, auch Schnüre wurden benutzt. Den Kopf schützte eine Kappe aus Filz oder Leder oder auch eine Kapuze, deren Unterteil über die Schulter fiel.

Die Schuhe waren aus Leder gefertigt und bisweilen durch eine Sohle verstärkt, eine durch Schlaufen geführte Kordel oder eine Lederschnur hielt sie über dem Knöchel zusammen. Mäntel im heutigen Sinne gab es nicht, dafür Umhänge aus einer einzigen Stoffbahn, die mit ovalen Broschen zusammengehalten wurde. Im Winter fanden auch Fellwesten oder Umhänge aus Fellen Verwendung. Auch ein Daunenfutter wurde bereits verwendet. Winterkleidung wurde aus doppelten Stoffbahnen gefertigt, zwischen die eine Füllung aus Daunen und Federn eingelegt war.

Auch bei der Frauenkleidung dominierte weitgehend die Nützlichkeit, Farben wurden aber nach Möglichkeit eingesetzt und kombiniert. Wichtigstes Kleidungsstück der Frau war ein knöchellanges Gewand, dass sich über beiden Brüsten öffnen ließ.

Über diesem Gewand trug die Frau eine Art Schürze, ein quadratisches Stück Stoff, das bei entsprechender Breite um den ganzen Körper geschlungen wurde. Als Haartracht wählte die Wikingerfrau den "Pferdeschwanz" oder einen Knoten. Die Haare waren, bei verheirateten Frauen, mit einer Art Kopftuch bedeckt. Um die Schultern ließ sich ein Schal legen, dessen Enden über der Brust mit einer Brosche oder Fibel zusammengeheftet waren. Männer- wie Frauenkleidung war selbst gefertigt. Spinnen, Weben, Schneidern waren Tätigkeiten, die zu Hause ausgeübt wurden. Man verstand sich auch darauf, Textilien durch Walken wind- und wasserabweisend zu. So fand auch Filz Einzug in die modische Verarbeitung. Frauen waren es dann auch, die sich mit Ringen, Armreifen und üppig ausgestalteten Broschen schmückten.

Die Vertreter der wikingischen Oberschicht differenzierten sich wie in allen anderen Kulturen gerne über ihre Kleidung. Wer konnte, hüllte sich in prächtigere Gewänder. Ein Hang zum Luxus war den wohlhabenderen Wikingern eigen. Zu der kostbaren Ausstattung mussten auch Importe herhalten, Samt, Seide, und edle Pelze wurden über das Meer von Händlern beschafft.

Eine wichtige Rolle im Alltag der Wikinger spielte die Ernährung. Fleisch von Schweinen, Rindern, seltener auch von Schafen, Ziegen und Hühnern war zwar Bestandteil der Nahrung in der Wikingerzeit, bildeten aber nicht die Hauptsache. Es blieb auf die Reichen der Oberschicht beschränkt und erschien bei den übrigen nur zu Festtagen oder als Beilage im Gemüseeintopf. So gab es denn auch wenig Masttierhaltung – bei Kühen und Ziegen war wichtiger, dass sie Milch, bei Hühnern, dass sie Eier, und bei Schafen, dass sie Wolle lieferten. Geschlachtet wurden sie erst im hohen Alter.

Häufiger standen Fluss- und Meerfische auf dem Speiseplan, unter anderem vor allem der Kabeljau, den man durch Trocknung an der Luft haltbar machen konnte. Er verlor dabei vier Fünftel seines Gewichtes und nahm eine holzähnliche Konsistenz an, behielt aber seinen Nährwert – unentbehrlich als Proviant auf langen Reisen. Als erste Mahlzeit am Tag – und vielleicht auch noch öfter – gab es eine Grütze auf der Grundlage von Getreide, vergleichbar dem noch heute in England gebräuchlichen Porridge.

Auch Brot wurde gereicht, das aus Gerstenmehl und Kleie gebacken war. Das Mehl enthielt, wie bei Grabungsfunden festgestellt wurde, schwerverdauliche Mahlrückstände wie Steinstaub und kleine Kiesel, die den Zähnen erheblich zusetzten und sie im Lauf der Jahre stark abschliffen.

Die Butter, mit der man das Brot bestrich, war zur besseren Haltbarkeit gesalzen; in Kübel oder Kästen abgefüllt, wurde sie auf Seefahrten mitgenommen. Weitere Milchprodukte waren Dickmilch, die, gesalzen und gesäuert, einen ganzen Winter lang genießbar blieb, Molke und Ziegenkäse. Das Angebot an Gemüse war nicht besonders reichhaltig und umfasste kaum mehr als Zwiebeln, Lauch, Kohlrabi und Erbsen. Die Kultivierung von Obst war wenig entwickelt, so dass man seinen Vorrat in der Wildnis sammeln musste: Schlehen, Wildkirschen, Wildäpfel, Holunderbeeren, Waldbeeren, Himbeeren und die Früchte von Weißdorn und Eberesche. Haselnüsse und Bucheckern, in großem Stil gesammelt, deckten einen wesentlichen Teil des Bedarfs an pflanzlichem Fett.

Zum Süßen von Speisen und Getränken war man auf den Honig der Wildbienen angewiesen. Standartgetränk war neben Wasser und Milch das Bier. Es wurde aus Malz und vergorener Gerste gewonnen, dazu kamen als Stabilisator wilder Hopfen oder andere Würzmittel. Der viel gerühmte Met, ein Honigwein, versetzt mit Hefe und Gewürzen, blieb festlichen Gelegenheiten vorbehalten. In der Mythologie ist er das Getränk, das Dichtergabe und Weisheit, den Göttern auch Unsterblichkeit bringt. Wein, wenn er denn überhaupt einmal auf den Tisch kam, stammte aus Beutezügen oder wurde als Handelsware importiert.

Jeder der Nordmänner hatte seine gesellschaftlichen Aufgaben. Eine entscheidende Rolle in den Wikingergesellschaften spielte auch das Heer der Rechtlosen, die Sklaven. Sklaven waren völlig rechtlose Menschen, Besitz der freien Wikinger, denen sie gehörten. Auf ihren Raubzügen nahmen die Wikinger gerne Sklaven jeden Alters und Geschlechts gefangen. Vor allem in der Landwirtschaft wurden oft Sklaven eingesetzt, die auf Raubzügen in Gefangenschaft gerieten. Auch wurde mit Sklaven ein intensiver Handel betrieben, bis in die arabischen Länder wurden diese wie Handelsware verkauft.

Auch zu den bevorzugten Handelsgütern der Wikinger auf der Ost-West-Route zwischen dem europäischen Russland und der Rheinmündung gehörten diese Sklaven. Die Wikinger beteiligten sich seit dem 9. Jahrhundert am Handel mit der Ware Mensch. Sie fanden Sklaven vor allem in den baltischen Gebieten. Umschlagplätze des Sklavenhandels waren Birka und Haithabu, später auch Gotland und Kiew. Zum Verkauf standen auf solchen Märkten zumeist Sklaven für den häuslichen Bedarf. Die Sklaven wurden in Karawanen nach Süden geführt und schließlich in Italien oder im muslimischen Spanien verkauft. Zum Teil blieben sie aber auch in Skandinavien als billige Arbeitskräfte in den bäuerlichen Betrieben. Sklaven standen außerhalb des Rechtsystems. Der Sklavenstatus wurde vererbt, jedoch konnten Sklaven in die Freiheit entlassen werden oder sich freikaufen.

Tatsächlich stellten die von uns heute als Seeräuber betrachteten seefahrenden Wikingern nur einen sehr kleinen Teil der damaligen skandinavischen Bevölkerung dar. Dabei können selbst diese nochmals in zwei unterschiedliche Gruppen getrennt werden. Die eine Gruppe betrieb die Seefahrt und den damit einhergehenden Raub nur zeitweise und in einem frühen Lebensabschnitt. Es waren junge Männer, die aus der heimatlichen Gebundenheit ausbrachen und Ruhm und Reichtum in der Ferne suchten. Später ließen sie sich aber wie ihre Vorfahren nieder, gründeten auch neue Kolonien und betrieben die üblichen Geschäfte wie den Handel. Von diesen Wikingern berichten auch die Sagas und die Runensteine.

Für die andere Gruppe aber wurden Seeräuberei, Plünderung und Sklavenhandel zum einzigen Lebensinhalt. Ihnen begegnet man auch in den fränkischen und angelsächsischen Chroniken. Diese Wikinger kehrten bald auch nicht mehr in ihre Heimat zurück. Sie waren in die heimatliche Gesellschaft auch nicht mehr integrierbar und wurden dort später geächtet und sogar als Verbrecher bekämpft.

Recht und Gesetz waren in der Gesellschaft der Wikinger respektierte Werte. Das wichtigste uns überlieferte Gremium für gesellschaftliche Entscheidungen war das Thing. Das Thing war eine öffentliche Versammlung der freien Männer. Alle freien Männer hatten das Recht, am Thing, der regionalen Versammlung nach alter germanischer Tradition, teilzunehmen und zu sprechen.

Es tagte regelmäßig zu festgelegten Zeiten unter freiem Himmel. Das Thing beriet über politische Angelegenheiten, beschloss Gesetze und sprach Recht. Die Alten der Wikinger hatten bei wichtigen Entscheidungen und Abstimmungen besonders viel Einfluss.

Bei vielen Streitigkeiten und kleineren Verbrechen wurden die Fälle aber zunächst persönlich und innerhalb der Familien geregelt, ohne dass das Thing angerufen werden musste. Ein Mord etwa zog unweigerlich die Blutrache nach sich. Urteile fällte das Thing nur dann, wenn ein Rechtsstreit der Versammlung vorgetragen wurde. Für minderschwere Verbrechen wurden zum Beispiel Geldbußen verhängt. Wenn ein freier Mann zu einer Geldbuße verurteilt wurde, reichte meist bereits der allgemeine gesellschaftliche Druck aus, damit er seine Strafe auf sich nahm.

Bei schweren Verbrechen konnte der Ausschluss aus der Gesellschaft, die Verbannung, drohen. Verbannung war gleichbedeutend mit der totalen Rechtlosigkeit; der Wikinger verlor seine Rechte als freier Mann und musste um Leib und Leben fürchten, da er von jedermann ungestraft beraubt und getötet werden konnte.

Die Motivation der Wikinger-Raubzüge ging schon relativ früh wenigstens teilweise von den einfachen Plünderfahrten in reguläre Kriegszüge mit politischem Hintergrund über. Das politische Ziel der Herrschaftsausweitung setzte sich so bei den Raubzügen allmählich als Hauptziel durch. Reine Beutelust bei den einfachen Kriegern und politische Ziele bei den Anführern überschnitten sich noch lange Zeit, weshalb die Einordnung eines Angriffes zum einfachen Raubzug oder zu einem Eroberungskrieg oft höchst problematisch ist.

Das Ende der Raubzüge fällt nicht erst mit dem Ende des Zeitraums zusammen, den man Wikingerzeit nennt - dem Jahr 1066 und der Schlacht bei Hastings. Denn schon deutlich vorher hatten die Raubzüge ihr Ende gefunden. Die ersten Ansiedlungen und Landzuweisungen führten zwar noch keineswegs zu einem Ende der Raubzüge. Die Quellen berichten auch nach den Landzuweisungen von blutigen Kämpfen. Vielmehr ist eine allgemeine Erschöpfung und Überalterung der teilnehmenden Kämpfer wahrscheinlich.

Die Verluste bei den Kämpfen konnten allmählich nicht mehr aus der ursprünglichen Heimat aufgefüllt werden, da sich dort die negative Bewertung der raubenden Brandschatzung und ihre Ächtung im Zuge der zunehmenden Königsmacht immer mehr durchsetzte. Hinzu kam die allmählich erstarkende Abwehr in den betroffenen Gebieten, die die vorher mehr oder weniger gefahrlosen Raubzüge immer mehr zum unkalkulierbaren Risiko werden ließ.

So ist der Übergang zu nach damaligen Maßstäben zivilisiertem Verhalten zum einen dem biologischen Generationenwechsel zuzuschreiben. Zum anderen ist es aber wohl auch den Frauen zu verdanken, die sich ja zum weitaus größten Teil aus der Bevölkerung vor Ort rekrutierten und daher ihre Kultur der nachfolgenden Generation vermittelten, während die marodierenden Wikingerbanden keine beständige Kultur mehr hatten, die sie hätten tradieren können.


Das Buch der Wikinger

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