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ACH JA, DIE LIEBE!

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Er trug keine Designerklamotten. Formte seinen Body nicht im Fitness-Studio, und er fuhr auch kein heißes Motorrad von Yamaha oder BMW. Er unterwarf sich nicht dem Schönheitsdiktat dieser schnelllebigen Zeit. Er war einfach nur Steven, der nette, junge Mann von nebenan.

Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Bibliothekar in einer Buchhandlung, von der er zwei Straßen entfernt, in der Aralienstraße, mit seinen beiden Perserkatzen, Shiba und Marosa, wohnte. Seine Freizeit verbrachte Steven mit dem Schreiben von Gedichten, die seine tiefe Liebe zur Natur, aber auch seine grenzenlose Einsamkeit, widerspiegelten.

Ja, Steven war einsam!

Einsam wie Millionen andere, vom Computerzeitalter geprägte Menschen mit ihm, die ständig auf der Suche nach was auch immer, geschäftig wie die Ameisen durchs Leben wuselten.

Ständig auf der Suche nach der großen Liebe ihres Lebens erkannten sie diese nicht, so sie ihnen wirklich begegnete, und hasteten ahnungslos an ihr vorüber.

Ach ja, die Liebe, seufzten sie erfüllt von tiefer Sehnsucht. Gewaltig musste sie sein. Sich wie eine Sintflut, alles mit sich reißend, über sie ergießen. Das war ihrer Meinung nach die Liebe.

Dass sich dieses unbeschreibliche, mit nichts zu vergleichende Gefühl oft im Kleinen äußert, vorsichtig hervorlugt, wie die Schneeglöckchen am Ende eines eisigen Winters oder die Krokusse vor Beginn des Frühlings, nein, das ahnten sie zumeist nicht. Es sei denn, man schreibt so zarte, sehnsuchtsvolle Gedichte wie Steven.

Ihr schmales Gesicht war blass, ihr angespannter zarter Körper bildete ein Ausrufungszeichen der Abwehr.

Steven beobachtete sie und den in einer ledernen Motorradkluft steckenden Mann, mit dem fettigen, schwarzen Haar, das von einer massiven Silberspange im Nacken zusammengehalten wurde. Der Langhaarige fuchtelte erregt mit den Händen vor ihrem Gesicht herum und die junge Frau wich erschrocken zurück.

Steven fasste sich ein Herz und betrat das kleine Antiquitätengeschäft. Abgelenkt durch das leise Klingeln des Glöckchenstrangs an der antiken Ladentür, fuhr der Lederbekleidete schnell wie eine Viper herum und musterte den Eintretenden unfreundlich.

Die junge Frau atmete erleichtert auf. Die Blässe wich aus ihrem Gesicht und machte dem ursprünglichen, rosigen Teint Platz.

Der Langhaarige fixierte Steven abschätzend, stufte ihn überheblich als ungefährlich ein und wandte sich erneut dem Objekt seiner Begierde zu.

„Also, was is´ Süße? Ich hol dich nach Ladenschluss hier ab und dann machen wir beiden Hübschen ordentlich einen drauf. Na, das is´ doch ´n Wort, oder ?“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht mit Ihnen ausgehen“, sagte sie abweisend. „Erstens kenne ich Sie nicht, und zweitens wartet mein kranker Bruder zu Hause auf mich.“

„Nich´ SIE, Süße. Ich heiße Karl-Heinz, aber für meine Freunde Tiger, das hab ich dir nun schon tausendmal gesagt“, schwadronierte die Lederjacke.

„Tiger und Lara, Lara und Tiger, das hört sich echt geil an. Du heißt doch Lara? Mein Kumpel Hacke hat das jedenfalls gesagt, der wohnt nur ´n paar Häuser weiter“, laberte Karl-Heinz.

Laras große, veilchenblaue Augen wanderten zu Steven.

Hilf mir! Befreie mich von diesem schrecklichen Kerl! baten sie. Und Steven verstand deren lautloses Flehen.

„Entschuldigen Sie bitte, Frau Lukowsky, aber ich habe nicht viel Zeit, und wir müssen unbedingt noch die Inventurlisten durchgehen“, sagte er zu Lara, die ihn bei der Nennung ihres Familiennamens überrascht ansah.

„Na hör mal, du Pfeife, das ...“

„Bitte nicht“, unterbrach Lara den drohenden Wutausbruch des Lederbekleideten. Und tatsächlich klappte Tiger überrascht den Mund wieder zu. Aber seine vor Wut funkelnden Augen sprachen eine deutliche Sprache.

Plötzlich war es totenstill. Tigers ausgeprägter Adamsapfel hüpfte vor unterdrücktem Zorn wie ein Ping-Pong-Ball auf und ab. Er scharrte mit seinem Stiefel wie ein Pferd vorm Start und starrte Steven wütend an.

„Hau ab, Mann“, stieß er endlich hervor.

„Weshalb sollte ich?“, fragte Steven kühl. Er war zwar kein Muskelprotz, aber auch keineswegs schwächlich und feige schon gar nicht. Er hatte sich mit harter Arbeit sein Studium erkämpft und war dabei kräftig und sehnig geworden. Seine schlaksige Gestalt täuschte über diese Tatsache hinweg und hatte schon so manchen aggressiven Angreifer überrascht.

„Steck dir deine Inventurlisten sonst wohin und verschwinde“, zischte Lederjacke.

„Frau Lukowsky und ich haben zu tun, also würde ich vorschlagen, dass Sie sich verabschieden und uns nicht länger von der Arbeit abhalten“, sagte Steven gelassen.

Tiger starrte ihn verblüfft an. Ich glaub das einfach nicht. Du Memme wagst es, dich mit mir anzulegen? drückte seine Miene aus. „Ich mach dich alle! Wenn du nich´ auf der Stelle verschwindest, hau ich dich zu Mus“, knurrte er.

Lara wich bis an die Regale hinter sich zurück. Ihre großen Augen huschten ängstlich zwischen den beiden Männern hin und her.

„Wohl kaum“, sagte Steven ruhig. Die letzte Silbe hing noch im Raum, da wurde Tiger aktiv.

Seine geballte Faust schoss auf Stevens Gesicht zu. Dieser reagierte unglaublich schnell. Blitzschnell tauchte er unter dem Schlag weg, richtete sich hinter dem Angreifer auf und ging zum Gegenangriff über. Bevor Tiger es sich versah, zappelte er in einem Spezialgriff. Seine Rückenwirbel knirschten bedrohlich, und der ausstrahlende Schmerz zwang ihn auf die Knie.

„Lass mich los, du Mistkerl“, stöhnte er gequält.

„Sofort, wenn du versprichst, Frau Lukowsky künftig in Ruhe zu lassen“, verlangte Steven.

„Leck mich“, zischte Tiger uneinsichtig.

Steven drückte stärker zu.

„Auuaaah“, stöhnte Lederjacke und Tränen des Schmerzes und der Wut rannen über sein Gesicht.

„Also?“

„I-ich versprech´s“, winselte Tiger.

„Also gut, aber ich rate dir, an Rache nicht einmal zu denken“, warnte Steven. „Beim nächsten Mal mache ich nämlich ernst und dann kannst du deinen Rücken und das Motorradfahren vergessen“, drohte er und ließ den stöhnenden Mann los.

Noch ein hasserfüllter Blick. Die Ladentür schlug zu. Eine schwere Maschine heulte gequält auf. Und dann Stille. Zusammen mit Tiger schwand auch der Hauch von Gewalt.

„Danke“, flüsterte Lara. „Aber woher kennen Sie meinen Familiennamen?“

Steven wurde vor Verlegenheit erst rot und dann blass. Was nun? Er konnte ihr doch nicht sagen, dass er sie jeden Tag, während seiner Mittagspause, durch die seitliche Schaufensterscheibe beobachtete. Ein paar Mal war er ihr sogar nach Ladenschluss zu ihrer Wohnung gefolgt. Daher kannte er auch ihren Namen und wusste, dass sie mit ihrem querschnittgelähmten Bruder zusammenlebte.

„Von Ihrem Chef“, schwindelte er verlegen. Und zum Glück beließ sie es dabei. Sie sahen sich an, und das Schweigen legte sich wie eine Decke über sie.

Er ist nett, dachte Lara. So schüchtern und zurückhaltend, aber wirklich sehr, sehr nett.

Sie ist so zart, so schutzbedürftig und so wunderschön, schwärmte Steven insgeheim. „Lara, was für ein wunderschöner Name. Aber Sie sind noch viel, viel schöner, als die Lara aus Doktor Schiwago“, entfuhr es ihm.

„Doktor Schiwago war der Lieblingsfilm meiner Mutter“, sagte Lara verlegen. Sie senkte den Kopf und ihre langen, blonden Haare fielen wie ein Schleier über ihr Gesicht, verbargen es vor seinem zärtlichen Blick.

„Ein wunderbarer Film“, murmelte Steven.

„Ja, fast so schön wie ein Gedicht. Ich liebe Gedichte“, flüsterte sie.

„Ich auch. In meiner Freizeit schreibe ich welche“, verriet Steven impulsiv sein Geheimnis.

„Ja?! Wie schön“, kam es begeistert über ihre Lippen. Sie hob den Kopf. Ihre veilchenblauen Augen versanken in seinen braunen. Die Welt hielt für einen Moment den Atem an und die Zeit blieb einfach stehen. Zwei Seelen taumelten wie Schmetterlinge aufeinander zu; suchten hoffnungsvoll; erkannten einander und knüpften das Band, aus dem ALLES entstehen kann.

War es Liebe? Wahre Liebe? Die Zukunft wusste es bereits, und Lara und Steven würden es bald erfahren.

„Ich heiße Steven“, flüsterte er.

„Ja“, sagte sie, und er nahm ihre Hand.

Heute war es soweit. Lara würde ihm ihren Bruder Ray vorstellen. Steven eilte aufgeregt durch seine Wohnung, ordnete hier noch ein paar Bücher in den raumhohen Regalen. Er rückte zum hundertsten Mal die Tassen auf dem hübsch gedeckten Kaffeetisch zurecht, hastete nervös an seinen erschrocken unters Sofa huschenden Perserkatzen vorbei.

Steven warf einen Blick auf seine Armbanduhr und seufzte. Noch immer dreißig Minuten bis zu ihrem Treffen. Er trat ans Fenster. Zwei kleine Mädchen spielten auf dem Fußweg Himmel und Hölle. Ihr vergnügtes Lachen drang bis zu ihm empor und glättete die Wogen der in ihm tobenden Unruhe.

Er fürchtete sich vor der ersten Begegnung mit Laras Bruder. Was, wenn sie einander nicht mochten? Ray gehörte zu Lara wie die Luft zum Atmen. Wenn er sie heiraten wollte, und das wollte er mehr als alles andere auf der Welt, dann bedeutete das auch ein Zusammenleben mit Ray, denn Lara würde ihren Bruder niemals verlassen.

Seit ihrer Begegnung vor drei Monaten, als er Lara vor der Lederjacke beschützte, hatten sie sich fast jeden Tag gesehen. Ihre Liebe zueinander war erblüht wie eine Rose und mit jedem Tag schöner und inniger geworden. Sie waren füreinander geschaffen und nichts und niemand konnte sie trennen.

Außer Ray! Denn Ray war die andere Liebe in Laras Leben. Er war ihr großer Bruder, achtundzwanzig Jahre alt, also sechs Jahre älter als seine Schwester und ein lebenswichtiger Bestandteil ihres Daseins. Nach dem Unfalltod ihrer Eltern hatte Ray für sie gesorgt, war immer für sie dagewesen und hatte Hindernisse aus ihrem Weg geräumt, wann immer es ihm möglich war.

Bis zu dem Tag, als ein betrunkener Autofahrer Ray einfach übersah und mitsamt seinem Motorroller überfuhr.

Querschnittgelähmt! sagten die Ärzte. Und die Zukunftspläne des jungen Grafikers zerstoben wie Blütenstaub im Wind. Querschnittgelähmt! Und Ray fiel in ein schwarzes, bodenloses Loch tiefster Depression.

Seine, nach außen hin so zarte Schwester wuchs über sich selbst hinaus. Sie bestand darauf, dass Ray zu ihr zog. Sie brach ihr Studium der Kunstgeschichte ab und bekam durch Vermittlung ihres Professors den Posten als Geschäftsführerin des zwar kleinen, jedoch äußerst angesehenen Antiquitätengeschäftes in der Nähe ihrer Wohnung, so dass sie sich mittags um ihren Bruder kümmern konnte.

Ihre Liebe und Geduld zog Ray aus dem Abgrund seiner Depression heraus und gab ihn dem Leben zurück. Seine schlummernde, wiedererwachende Liebe zur Kunst vertrieb endgültig seine Niedergeschlagenheit. Ray entdeckte sein Interesse an Cartoons, ergriff diesen Rettungsanker mit beiden Händen, und stürzte sich Hals über Kopf in diese neue Welt.

Das aufdringliche Summen der Gegensprechanlage riss Steven aus seinen Gedanken. Es war soweit! Sie waren da! Er eilte in den Flur und drückte auf den Summer. Mit angehaltenem Atem verfolgte er das Rattern des vorsintflutlichen Fahrstuhls, lauschte dem unverwechselbaren Geräusch des sich knarrend öffnenden Scherengitters. Er öffnete die Wohnungstür.

Kluge, veilchenblaue Augen, Laras Augen, sahen ihm bis auf den Grund seiner Seele.

„Ich bin Ray“, sagte der junge Mann im Rollstuhl und reichte Steven lächelnd die Hand.

Er könnte der Bruder für mich sein, den ich so gern gehabt hätte, dachte Steven.

Sie mögen sich! Laras Herzschlag beruhigte sich. Glücklich schob sie Rays Rollstuhl in den Flur.

„Hallo! Wer bist denn du?“, fragte Ray entzückt, und im selben Moment landete Marosa mit einem eleganten Satz auf seinem Schoß und rollte sich schnurrend zusammen. Die misstrauisch um die Ecke lugende, rabenschwarze Perserkatze Shiba hob stolz den Kopf und schritt hoheitsvoll davon.

„Sie ist sehr eigen“, lachte Lara, bevor sie in der Küche verschwand.

„Deine Cartoons sind wundervoll, Ray. Du solltest sie den Zeitschriftverlagen anbieten“, meinte Steven begeistert.

Seit Rays Besuch in Stevens Wohnung waren zwei Monate vergangen, in denen aus ihrer Sympathie herzliche Zuneigung und Freundschaft geworden war.

„Ach, ich weiß nicht“, murmelte der junge Mann verlegen.

„Doch, Ray, sie sind wirklich Klasse“, beteuerte Steven.

„Steven, kommst du mal“, rief Lara aus der Küche.

Er ging zu ihr.

„Er hat Angst vor einer Enttäuschung“, flüsterte Lara. „Eine Absage würde ihn erneut in Depressionen stürzen.“

„Meinst du wirklich?“

„Ja. Seitdem ihm der Rollstuhl seine Beine ersetzen muss, ist das Zeichnen zu seinem Lebensinhalt geworden. Er liebt die seiner Phantasie entsprungenen Geschichten und Figuren. Eine Ablehnung würde ihn zutiefst verletzen. Was seine Arbeit anbelangt ist Ray übersensibel“, erklärte Lara.

„Und wenn wir die Cartoons ohne sein Wissen den Verlagen anbieten?“ fragte Steven. „Erhalten wir Absagen, behalten wir dieses Wissen für uns. Werden seine Arbeiten jedoch angenommen, erfährt er es sofort“, schlug Steven vor.

„Das wäre eine Möglichkeit. Ich denke darüber nach“, versprach Lara.

Als Ray mit einer schlimmen Erkältung das Bett hüten musste, machten sie ihr Vorhaben wahr.

Der Erfolg war überwältigend!

Rays außergewöhnliche, brillant gezeichnete Arbeiten kamen gerade zur rechten Zeit und stießen in eine Marktlücke. Innerhalb kurzer Zeit gewann er mehrere Preise und wurde wohlhabend.

Eines Tages lud er Lara und seinen Schwager in spe zu einem Ausflug ein, den er perfekt organisiert hatte.

Vor der Tür wartete ein Mietwagen mit Fahrer, der sie nach Marmstorf, in die Nähe des Harburger Stadtparks, chauffierte. Vor einem rot gedeckten und weiß gekalkten Haus, inmitten eines mit alten Bäumen bewachsenen Grundstücks, endete die Fahrt.

„Mein Hochzeitsgeschenk für die beiden liebsten Menschen auf diesem Planeten“, sagte Ray lächelnd. „Und dort hinten“, er zeigte auf ein pavillonähnliches, kleines Haus im Hintergrund, „ist mein Zuhause“, fügte er hinzu.

Lara und Steven starrten ihn sprachlos an, und dann fing Lara vor Glück an zu weinen.

Ein Jahr später eröffnete der inzwischen verheiratete Steven im Zentrum Harburgs eine Buchhandlung und Lara hatte mit den Zwillingen Julia und Melissa alle Hände voll zu tun.

Die beiden Perserkatzen Shiba und Marosa flüchteten vor der Unruhe im Haus und zogen zu Ray in den Künstlerpavillon. Eines Tages tauchten sie lautlos bei ihm auf, sprangen fast synchron auf seinen Schoß und blieben bei ihm.

Ach ja, die Liebe!

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