Читать книгу Mensch, Oma! Ich bin doch schon groß! - Bärbel Kempf-Luley - Страница 8
UMZIEHEN
Оглавление»Mensch, Oma! Ich will aber nicht in das Haus ziehen. Ich will hierbleiben!«
Gerade sind sie in Omas Wohnung angekommen. Oma hat Nora vom Kindergarten abgeholt. Das ganze letzte Jahr über hat Papa die meiste Zeit an diesem Haus gearbeitet und war kaum zu Hause. Damit sie alle: Mama, Papa, Nora und die kleine Schwester Lucy mehr Platz haben. Es ist eng geworden in der alten Wohnung. Und Mama stöhnt manchmal und sagt: »Die Wohnung platzt aus allen Nähten!« Genau weiß Nora nicht, wie Mama das meint. So sehr sie auch schaut und sucht, sie kann nichts Genähtes an den Wänden entdecken.
Die Fahrt vom Kindergarten bis zu Omas Wohnung dauert eine Ewigkeit, findet Nora. Eine halbe Stunde ist keine Ewigkeit, meint Oma, aber es dauert doch ziemlich viele Lieder lang. Denn sie singen auf der Fahrt alle Lieder, die sie kennen, oder bringen sich gegenseitig ein neues bei. Dann dauert die Fahrt nicht so lange.
Bald wird die Fahrerei nicht mehr nötig sein, denn dann wohnen die vier in dem Haus und nah am Kindergarten. Sobald Papa fertig ist, werden sie umziehen.
Umziehen, wegziehen. So genau hat Nora keine Vorstellung, was das bedeutet. Aber so viel weiß sie doch: Es heißt, sie wohnen dann nicht mehr in der Wohnung, in der sie bis jetzt wohnten. In der Wohnung, die sie kennt, seit sie auf der Welt ist und ihre kleine Schwester ebenfalls. Sie werden nicht mehr neben Adele wohnen, ihrer Freundin.
Das ist nur deshalb nicht so schlimm, weil Adele ebenfalls wegzieht.
Aber sie werden auch nicht mehr in der Nähe von Omas Wohnung wohnen. Ausgerechnet jetzt, wo sie den Weg von ihrer Wohnung zu Omas Wohnung so gut kennt.
»Freust du dich denn nicht auf das neue Haus, den Garten, dein schönes Zimmer?«, fragt Oma. Sie zählt alles auf, was schön sein wird. »Schau mal, ihr habt dann ganz viel Platz und einen großen Garten mit Obstbäumen. Du hast es nicht mehr so weit zum Kindergarten und es gibt zwei Zimmer für euch Kinder. Es ist ein schönes Haus geworden. Hat der Papa gut gemacht.« Oma sieht zufrieden aus.
»Jaaa«, sagt Nora gedehnt. »Schon. Aber hier kenne ich alles, und da nicht.«
Das kann Oma gut verstehen. »Ich bin auch nicht so gerne umgezogen. Es ist traurig, wenn etwas Altes zu Ende geht und man sich von vielem verabschieden muss. Zuerst ist alles fremd. Aber jetzt wohne ich sehr gerne in meiner neuen Wohnung.«
Nora nickt. »Ja, Oma, jetzt wohnst du noch viel näher bei uns als vorher.« Dann verfinstert sich ihr Blick. »Aber wenn wir umziehen, dann sind wir sooo weit weg. Wie komm ich dann zu dir?«
Daran muss Oma auch oft denken. »Na ja, aber ihr zieht ja nicht nach Afrika. Ich kann mit dem Auto zu euch fahren. Sogar mit dem Fahrrad.« Sie überlegt, wie lange sie wohl braucht mit dem Fahrrad. Sicher anderthalb Stunden. Oder zwei …
»Au ja, Oma. Dann kommst du, und wir fahren mit dem Fahrrad zu dir.« Jetzt wird’s Oma ein bisschen unbehaglich. Hm. Das ist für Nora wohl doch zu weit.
»Wir schauen mal«, sagt sie vage. Gerade gewöhnt sich Nora an den Gedanken, woanders zu wohnen als Oma, da will sie es nicht gleich wieder verderben.
Nora hat selbst weitergebrütet.
»Aber wenn ich mal ganz dringend zu dir muss, Oma? Und ganz schnell bei dir sein will? Wie finde ich den Weg?«
Die Oma überlegt einen Moment. »Du bist doch bisher auch nie alleine zu mir gekommen. Entweder habe ich dich abgeholt oder Mama hat dich gebracht. Und so wird es dann auch sein.«
Nora schiebt die Unterlippe vor. »Und wenn ich aber will?« Sie blickt die Oma trotzig an. »Oma, ich weiß den Weg ganz alleine.«
Obwohl es richtig ist, was Oma sagt, kommt ihr irgendwas daran ganz falsch vor. Und auch Oma hat das Gefühl, dass es um all das gar nicht geht.
Eine Weile denken beide nach und schweigen.
Ein Weg, den man ganz alleine zu Fuß gehen kann, ist eben anders als einer, den man nur mit dem Auto fahren kann. Wenn man von einem Haus zum anderen nur ein paar Minuten braucht – also falls nicht unterwegs irgendetwas sehr Interessantes unbedingt genau angeschaut werden muss – dann bedeutet das eben, dass Nora den Weg jederzeit gehen KANN, wenn sie das will.
Und jetzt will Nora! Damit die Oma sieht, dass sie schon groß ist und das schafft. Und dass es deshalb doof ist, von hier wegzuziehen.
Und schon trompetet sie laut: »Ich geh jetzt allein nach Hause, du wirst schon sehen, Oma!« Und schon öffnet sie die Türe und stapft ins Treppenhaus. Sie wollten sowieso gleich zusammen zu Nora nach Hause. Dann kann sie auch sehr gut alleine gehen.
»Nora!«, ruft Oma und geht Nora hinterher.
Aber Nora steigt fest entschlossen die Treppe hinunter. Da werden Omas Schritte länger und schneller und sie packt Nora an den Schultern und dreht sie zu sich um. »Omaaa! Lass mich!«, brüllt Nora.
Oma lässt los. »Ich lasse dich und du kannst alleine gehen. Probier es aus. Aber nicht ohne Jacke, und deinen Rucksack nimmst du auch mit!«
»Kannst du ihn nicht nehmen, Oma?«, fragt Nora hoffnungsvoll.
Oma schüttelt den Kopf. »Nein! Wenn du alleine gehen willst, musst du auch deine Sachen selbst nehmen.« Oma sieht jetzt richtig streng aus. »Und eins noch: Wenn du über eine Straße gehen musst …«
»… dann bleib ich stehen und schau nach rechts und nach links und gehe rüber, wenn kein Auto kommt«, ergänzt Nora. »Das weiß ich doch, Oma!«
Oma schaut ihr in die Augen. »Versprochen?«
»Versprochen, Oma!«, nickt Nora.
»Na gut. Dann geh los.«
Oma hört Noras Schritte auf der Treppe und wartet, bis sie unten angelangt ist. Dann zieht sie die Türe zu und folgt ihr.
Nora geht zügig die Einfahrt entlang bis zum Bürgersteig. Dann bleibt sie stehen und schaut sich um. Sie geht nach links. Zum Zebrastreifen. Sie bleibt stehen und schaut. Ein Auto kommt. Es wird langsamer und hält an. Nora dreht sich zu Oma um, und als die nickt, geht sie über den Zebrastreifen zur anderen Seite. Stolz dreht sie sich um und winkt. Oma winkt zurück.
Sie wartet ein bisschen und dann folgt sie Nora in großem Abstand. Die stapft weiter, immer am Gehweg entlang, und bleibt bei jeder Querstraße stehen. Dort schaut sie so lange nach rechts und links, bis tatsächlich ein Auto kommt, das sie vorüberfahren lässt. Manchmal dauert es lange, bis endlich eines vorbeifährt. Ab und zu wartet sie auch noch ein zweites ab.
Bei der dritten Querstraße überlegt sie lange. Sie biegt ein, bleibt stehen, wippt ein bisschen mit dem Fuß, hebt einen interessanten Stein auf, schaut die Straße entlang, dann dreht sie sich um. Ganz alleine steht sie da, auf ihrem Heimweg. Den sie genau kennt. Und den sie ganz alleine gehen kann. Ohne Oma. Oma? Keine Oma in Sicht. Nora verzieht das Gesicht. Da kommt die Oma hinter einem Busch hervor und winkt.
Nora fällt ein Stein vom Herzen. Sie winkt erleichtert zurück, und dann wartet sie, bis ein Auto kommt. Das Auto hält an und will sie über die Straße gehen lassen. Aber Nora schüttelt den Kopf und bleibt beharrlich stehen, bis die Straße frei ist.
In die nächste Straße biegt sie tatsächlich ein, hüpft ein bisschen, betrachtet eine Blume, die sich durchs Pflaster gebohrt hat, dann geht sie weiter. Sie nähert sich der großen Hauptstraße, bleibt stehen und dreht sich wieder suchend um.
Diesmal sieht sie die Oma gleich. Nora winkt und ruft: »Oma! Komm!« Die kommt auch prompt, und Nora greift nach ihrer Hand und sagt: »Oma, jetzt kommt die große Straße, da darfst du nicht alleine rübergehen!«
Oma nickt und sieht es ein. Und so stehen sie an der großen Straße und warten viele, viele Autos ab. Erst als die Straße wirklich für einen Augenblick ruhig ist, marschieren sie auf die andere Seite. Und schon ist Noras Zuhause in Sicht. Mama hockt gerade auf dem Mäuerchen vor dem Haus und genießt die Sonne. Lucy schläft auf ihrem Schoß.
Nora lässt Omas Hand los und rennt auf Mama zu.
»Mamaaaa! Ich bin ganz alleine von der Oma nach Hause gelaufen und ich weiß nämlich den Weg und ich hab immer nach den Autos geschaut und ich kann ganz alleine die Oma besuchen und ich hab der Oma geholfen, über die Straße zu gehen, weil auf der großen Straße darf man nicht alleine gehen und …« und sie plappert und plappert, und Mama schaut die Oma fragend an.
»Ja, Nora weiß den Weg tatsächlich ganz alleine.« Und dann beugt sie sich zu Nora und flüstert ihr etwas ins Ohr. Noras Augen leuchten auf. Sie nickt.
Und was hat Oma ihr ins Ohr geflüstert?
»Du bist ein richtig großes Mädchen. Und eines Tages kommst du mich ganz alleine von Wattenham aus besuchen. Vielleicht mit dem Fahrrad, vielleicht mit dem Bus. Und bis dahin wirst du, wenn es ganz dringend ist, dass du kommst, anrufen. Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, Oma.«