Читать книгу Warum wir sesshaft wurden und uns seither bekriegen - Brenna Hassett - Страница 10
Kapitel 3
What’s New Pussycat?
ОглавлениеMenschen haben Jahrtausende tierischer Evolution manipuliert, um Hähnchen mit mehr Geschmack, Kühe mit mehr Milch und einen Wolf zu erschaffen, den man mit den Kindern spielen lassen kann. Überrascht es da, dass die Veränderungen, die wir an unserer Art der Interaktion mit Tieren vorgenommen haben, sich auch auf uns ausgewirkt haben? Unsere immer engere Beziehung zu Tieren hatte ungewollte Nebenwirkungen, gute wie schlechte. So sind einige Forscher der Meinung, dass die Menschen ohne die Hilfe domestizierter Tiere niemals die heutigen Bevölkerungszahlen erreicht hätten. Andererseits gibt es eindeutige Belege dafür, dass das Leben in nächster Nähe zu Nutztieren den Menschen auch eine Reihe von Problemen beschert hat – Krankheiten, Insekten und Parasiten. Wir können besser verstehen, wie wir die Tiere verändert haben, wenn wir die Knochenreste in frühen menschlichen Behausungen untersuchen, das genetische Erbe unserer Nahrung und Freunde zurückverfolgen oder sogar Karten von den Bewegungen der Tiere in der Welt erstellen. Aber vielen von uns ist vielleicht noch nicht ganz klar, dass auch die Tiere an den Menschen Spuren hinterlassen haben. Das Leben mit Tieren ist uns wortwörtlich in die Knochen gefahren.
Den Juli 2015 verbrachte ich auf der kleinen, abgelegenen griechischen Insel Andikythira. Es ist ein außergewöhnlicher Ort. Etwa 20 Quadratkilometer Felsen am westlichen Rand der Ägäis, etwa auf halbem Wege zwischen der kaum größeren Insel Kythira (erklärter Geburtsort der Aphrodite) und dem westlichsten Zipfel von Kreta (erklärter Geburtsort des Minotauros). Bronzezeitliche Siedler aus dem Minoischen Kreta besetzten es erst und überlegten es sich offenbar später anders. Eine Gruppe kretischer Piraten im späten vierten Jahrhundert vor unserer Zeit unterhielt auf der Insel eine Dependance und überfiel ein wenig zu erfolgreich Schiffe, die durch die berüchtigte Straße von Kythira kamen. Aus den historischen Quellen wird nicht klar ersichtlich, was genau geschah, aber es liegen unbenutzte Metallkugeln für Schleudern in den Ruinen des Forts mit Inschriften wie „von den Phalasarnern“, einer Gruppe verwandter Piraten aus Westkreta, die zwar gewitzt waren, die Insel jedoch nicht vor einer weiteren Zeit der Verlassenheit bewahren konnten, als der römische General Metellus umherzog und das Meer von Piraten säuberte. Bauern kamen und gingen, ebenso koloniale Verwalter; die aktuellen Einwohner können ihre Wurzeln wieder nach Ostkreta im späten 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Im Laufe dieser Jahrtausende hatte das Leben auf der Insel ständige Veränderungen und Phasen erfahren: Manchmal war es eher piratig, zu anderen Zeiten etwas bäuerlicher, aber durch alle Wellen der Abkehr und der Wiederansiedlung zieht sich eine Konstante.
Ziegen
Es ist das erste Mal, dass ich wieder in Andikythira bin, nachdem ich Mitte der 2000er-Jahre drei Feldsaisons lang jeden Zentimeter der struppigen, felsigen Landschaft für ein archäologisches Vermessungsprojekt abgelaufen bin. Diese Erfahrung war anstrengend genug, dass ich sie in meinem Gedächtnis auf unscharfe Eindrücke von Schnitten, Kratzern, einheimischem Wein mit öligem Schimmer auf der Oberfläche und der unvermeidlichen Auswahl zwischen Ziege und Ziege zum Abendessen eingedampft habe. Ziegen waren tatsächlich auch für die Schnitte und Kratzer verantwortlich. Nicht direkt, trotz ihrer unsympathisch eckigen Pupillen und der allgemein bedrohlichen Aura, wenn sie einen langsam von einem Höhenzug von weit oben verfolgen; aber die Blasen werfenden Ausschläge vom Giftefeu, die in Socken, Haut und (beeindruckenderweise) ledernen Springerstiefeln stecken bleibenden Dornen – daran sind diese nimmersatten Allesfresser schuld. Ziegen, wie jeder weiß, fressen wirklich alles. Weniger bekannt ist, dass sie, wenn man sie 5000 Jahre lang auf einer Insel mehr oder weniger allein lässt, die weichen, sympathischen Teile der mediterranen Vegetation an den Rand des Aussterbens bringen können. Was dann noch wächst, sind die zähesten, dornigsten, widerspenstigsten Macchie-Pflanzen: Kermes-Eiche (giftig!), durch Salzwasser verkrüppelte Kiefern und etwas, das wir „Totgeborenes“ nannten (wahrscheinlich Sarcopoterium spinosum, aus dem angeblich Jesus’ Dornenkrone gewunden wurde). Es war eine Qual, auf unseren Vermessungslinien durch dieses dichte, kratzige Gewirr zu stapfen. Als jemand, der nicht viel Fleisch isst, muss ich zugeben, als der örtliche Tavernenbesitzer (gleichzeitig auch Postamtsvorsteher, Hafenkapitän und Eigentümer des Gemischtwarenladens – es ist eine sehr kleine Insel) das übliche Abendessen aus gekochtem Ziegenfleisch servierte, ließ das zarte Aroma der Rache es ein wenig süßer erscheinen.
Andikythira ist eine Insel, die von Ziegen geformt wurde. Die Nahrung, die Wirtschaft*, selbst die Landschaft wird stark durch Ziegen bestimmt. Es gibt aktuell mehrere Tausend von ihnen auf der Insel und die Inselbewohner teilen sie in grobe geografische Herden ein, lenken sie aber nicht mehr direkt. Es gibt keine Milchziegen mehr, nur die freiesten aller freilaufenden Tiere, die über schwindelerregende Meeresklippen klettern, in zerfallenden alten Häusern Nickerchen halten und sich auf jedem Höhengrat bedrohlich über den verlassenen, überwucherten Feldern abzeichnen. Die Ziegen, die wir aßen, streiften über die leeren unbefestigten Straßen im alten Dorf des Tavernenbesitzers; Myronas wanderte in seinen Flip-Flops mit dem Hund an der Seite und dem Gewehr über dem Arm den Hügel hinauf und wartete, bis sie zu einer alten eingezäunten Tränke kamen, die er jeden Nachmittag zur selben Zeit öffnete. Dort angekommen, machte er die Tore auf und wartete. Schließlich hörten wir einen lauten Knall oder zwei und am nächsten Abend gab es Ziege zum Abendessen. Myronas konnte sich immer auf Ziegenfleisch für das Abendessen verlassen, selbst wenn das Boot, das den Großteil der Nahrungsmittel für die Insel bringt, wegen der tückischen Ankergründe im nordwärts gelegenen Hafen nicht landete.† Und es sind seine Ziegen, so wie die sorgfältig betreuten Bienenstöcke in einem nahen Feld die Bienenstöcke seiner Schwester sind. Die Ziegen aus Andikythira genießen sogar einen gewissen Ruf unter den Einheimischen – sie gelten als schmackhafter als die stärker betreuten Herden anderer, dichter bevölkerter Inseln. Sie sehen auch ein bisschen anders aus – das Fell ist struppiger und ihre Hörner sind eine Winzigkeit größer.
Aber – und das ist das Interessante – sind es wirklich „wilde“ Ziegen? Ist Myronas mit seinem Gewehr in Sandalen jagen und sammeln gegangen? Wenn wir die Menschheitsgeschichte und unsere Beziehung zu Tieren in ihrer Gesamtheit betrachten, sehen wir meist eine Entwicklung, die irgendwo bei den roten Ockerzeichnungen wilder Auerochsen beginnt und irgendwie bei den umstrittenen Praktiken der modernen industriellen Fleischproduktion endet. Aber die Geschichte der Domestizierung verläuft nicht so linear. Wenn wir verstehen wollen, was Tiere mit uns gemacht haben, dann müssen wir in unserer gemeinsamen Geschichte zurückgehen und verstehen, wie es überhaupt dazu kam, dass wir sie in unserer Nähe hielten.
Was ist ein domestiziertes Tier? Woran erkennt man es? Neben den offensichtlichen Tests (z.B. „Hat es vier Beine und jemand hat ihm ein Pullöverchen angezogen/es in eine Handtasche gesteckt?“) gibt es noch einige subtile Veränderungen, die über die Arten hinweg aufgefallen sind. Darwin selbst griff in Über die Entstehung der Arten einige dieser äußeren Hinweise auf die Domestizierung auf: „Es lässt sich kein domestiziertes Tier nennen, das nicht in irgendeinem Land hängende Ohren hat.“
Nun sind Hängeohren vielleicht nicht das wesentliche Merkmal aller domestizierten Tiere*, aber es gibt eine klare Folge körperlicher Veränderungen, die unsere vielen domestizierten Tiere von ihren wilden Vorfahren unterscheiden.
Zu den weiteren Veränderungen gehören neben strukturellen körperlichen Unterschieden die flüchtigeren Verhaltensabweichungen, die wir mit domestizierten Tieren in Verbindung bringen. „Zahmheit“ als Eigenschaft ist ein interessantes Konzept, das detailliert von dem Genetiker Dmitri Beljajew untersucht wurde, der seine gesamte Forschungskarriere am Institut für Zellbiologie und Genetik im sibirischen Nowosibirsk der experimentellen Domestizierung des Silberfuchses widmete. Die Forscher züchteten Füchse über viele Generationen hinweg (über 50 und die Arbeit wird noch immer fortgesetzt) selektiv nach ihrer Bereitwilligkeit, mit den menschlichen Betreuern zu interagieren. Nach einem halben Jahrhundert sind fast alle dieser selektiv gezüchteten Füchse bereit, Kontakte mit Menschen zu knüpfen, und im Internet finden sich zahlreiche Videobeweise für ihre wedelnden Schwänze und ihr hundeähnliches Wesen.
Für dieses Experiment war die Selektion nach nur einer Eigenschaft nötig – dem Verhalten. Je weniger aggressiv sich ein Fuchs gegenüber einem menschlichen Betreuer zeigte, desto besser wurde er bewertet, und die am besten bewerteten Füchse wurden dann für die Zucht der nächsten Generation ausgewählt. Dieser Prozess wurde in jedem Durchgang des Zuchtprogramms wiederholt. Nach acht Generationen hatte die Selektion nach „Zahmheit“ eine merkliche Auswirkung auf die Persönlichkeit der Füchse. Die Welpen zeigten mit wesentlich höherer Wahrscheinlichkeit eine Zuneigung zu Menschen und suchten ihre Aufmerksamkeit – ein zu erwartendes Ergebnis bei einer Selektion nach einer Verhaltensweise.
Aber ihr Verhalten war nicht das Einzige, was sich veränderte. Es wurden Füchse mit Pigmentverlusten geboren, durch die sie weiße Blessen und Gesichtsmasken wie ein Collie bekamen, mit gestromtem Fell und gerollten Schwänzen. Auch Hängeohren, Darwins Vorboten der Domestizierung, tauchten auf.* Der Domestizierungsprozess hatte nicht nur die grundsätzliche Geselligkeit gegenüber Menschen verändert, sondern auch ihre körperliche Erscheinung. Diese körperlichen Veränderungen waren nicht gesteuert, sondern nur unverhoffte Nebenwirkungen der menschlichen Vorliebe für freundliche Füchse.
Da Belege für Verhalten und Hängeohren im archäologischen Befund nicht sehr beständig sind, werden Haustiere in der Vergangenheit vor allem über Veränderungen an Knochen und Zähnen identifiziert. Die Zooarchäologie widmet sich der Untersuchung von Tieren, die sich neben Belegen für menschliche Aktivitäten finden, und ein großer Teil dieser Forschungen besteht darin, die feinen Unterschiede zwischen den Zähnen und Knochen Tausender vergangener Mahlzeiten zu bestimmen, um zu erklären, was und wie wir aßen. So wird die lange menschliche Geschichte nicht nur des Verzehrs großer Wildtiere erzählt, die wir uns gerne vorstellen, wenn der Begriff „Jagd“ fällt, sondern die Zooarchäologie zeigt uns auch die zarten Knochen einer Taube, die Wirbelsäule eines Fisches und außerdem zahllose andere kleine Tiere; auf einmal präsentiert sich die Vorgeschichte als ein opportunistisches All-you-can-eat-Büfett. Durch die Identifizierung dieser zahllosen Arten können Zooarchäologen jedoch auch einen Blick auf die subtilen Signale für eine Domestizierung werfen. Das kann die Analyse der Knochenform auf der Suche nach Abweichungen vom Wildtyp sein oder komplexere Analysen der Altersverteilung der Tiere an einer Stätte, der isotopischen Belege für das Futter, das sie gefressen haben, und anderer flüchtiger Hinweise auf menschliches Einwirken.
An Hunden lässt sich gut illustrieren, wie die Skelette domestizierter Tiere Aufschluss über ihren Status geben können. Auch wenn wir einen Hund problemlos erkennen, wenn wir ihn auf der Straße sehen, sind sie inzwischen zu so fantastischen Formen gezüchtet worden, dass ihre Schädel und Knochen kaum von derselben Gattung zu stammen scheinen, ganz zu schweigen von derselben Art (Abb. 2).
Viele unserer modischen Hunderassen weisen extreme – und absichtliche – Veränderungen am Skelett auf. Die Form von Kiefer und Schädel, bei Rassen wie Mops und Pekinese sorgfältig selektiert, ist verkleinert und zu einem starken Über- oder Unterbiss verzerrt, was zu falsch ausgerichteten oder sogar fehlenden Zähnen führt. Dies kann bei dem Tier auch zu Atembeschwerden in verschiedenen Schweregraden und begleitenden „niedlichen“ Eigenschaften wie Schnarchen führen. Die Form des Hundeschädels, normalerweise länger als breit, wurde bei mehreren Rassen ins Gegenteil verändert, also zu einem breiteren Schädel hin, was eine Reihe von Auswirkungen auf die Atmung hat und beim Cavalier King Charles Spaniel sogar bedeutet, dass Teile des Gehirns hinten aus dem Schädel quellen, weil zu wenig Platz vorhanden ist.*
Abb. 2: Auswahl von Hundeschädeln.
Wie kommt es zur Domestizierung? Es gibt eine Vielzahl von Theorien zu diesem Thema und es könnte sein, dass Tiere auf verschiedene Weisen zu Haustieren gemacht werden. Die menschliche Angewohnheit, Tiere lebendig nach Hause zu bringen (statt als Kadaver), ist überraschend alt und allgegenwärtig. Es gibt mehrere Gruppen auf der ganzen Welt, die heute noch vom Jagen und Sammeln leben, und Ethnografen haben beobachtet, dass in vielen dieser Kulturen die Tiere häufig als „Haustiere“ mitgenommen werden (auch wenn das für die meisten nicht besonders gut ausgeht).
Die Haustierhaltung, wie wir sie heute kennen – eher eine Form von tierischer Gesellschaft als eine Arbeitsbeziehung –, blieb in der Vergangenheit in vielen Gesellschaften den Eliten vorbehalten,† etwa Chaucers Priorin Madame Eglantine (die kleine Hunde hielt und mit Fleisch und Milch fütterte) oder dem für seine Liebe zu Spaniels bekannten Hof des englischen Königs Karl II. Seine Schoßhunde waren so beliebt, dass sie ständig gestohlen wurden und besondere Appelle veröffentlicht werden mussten, sie zurückzugeben. Unter den allerersten gedruckten Beispielen für eine „Hund-entlaufen“-Anzeige findet sich diese leidenschaftliche Bitte im Namen des Königs:
Wir müssen Euch erneut um einen schwarzen Hund zwischen einem Greyhound und einem Spaniel ersuchen, kein weißes Haar am Leib bis auf einen Streifen auf seiner Brust, der Schwanz leicht abgeknickt. Es handelt sich um einen Hund seiner Majestät persönlich und er wurde zweifellos gestohlen, da er in England weder geboren noch gezüchtet wurde und seinen Herren nie verlassen würde. Wer auch immer ihn findet, benachrichtige jeden beliebigen Menschen in Whitehal, denn der Hund war dem Gericht besser bekannt als diejenigen, die ihn gestohlen haben. Werden sie denn nie aufhören, seine Majestät zu bestehlen! Darf Er keinen Hund halten? Der Platz dieses Hundes (wenn auch besser, als einige sich vorstellen) ist der einzige Platz, den niemand sich erbitten möchte.
Gedruckt am 28. Juni 1660 Mercurius Publicus und veröffentlicht in Notes and Queries, 7. Schriftenreihe, vii. 26.
Hunde könnten tatsächlich die allerersten domestizierten Tiere gewesen sein. Wolfsknochen wurden in der Nähe menschlicher Überreste gefunden und tatsächlich auch in der Nähe unserer früheren Vorfahren. Das ist eigentlich gar nicht so überraschend – Wölfe und Menschen können eine ähnliche ökologische Nische besetzen und ähnliche Arten von Tieren jagen. Daher lässt sich ihre Anwesenheit am selben Ort daraus erklären, dass beide Arten den Zugang zu Wildtieren nutzten oder dass die Wölfe sich sogar an den Resten menschlicher Jagdausflüge gütlich taten. Ab etwa 32.000 Jahren vor unserer Zeit jedoch sehen wir Belege für eine ganz andere Art von Wolf, die zusammen mit dem Menschen zu finden ist. Der fossile Schädel des Caniden aus den Höhlen von Goyet in Belgien hat eine kürzere Schnauze, einen breiteren Schädel und kleinere Reißzähne im Vergleich mit den ältesten und mit heutigen Wölfen. Es handelt sich jedoch nicht um den Urvater des modernen Haushundes. Tatsächlich ist er nicht einmal sehr eng mit den Wölfen verwandt, von denen die meisten Hunde abstammen. Der jüngste gemeinsame Vorfahre des belgischen Hundes und aller heutigen Hunde lebte vor schätzungsweise 80.000 Jahren und ist eine bislang unbekannte Schwestergruppe des Wolfes. Aber es gibt reichlich andere hundeähnliche Überbleibsel aus der Altsteinzeit und auch Spuren der Interaktion zwischen Mensch und Hund, etwa der große Canide, der vor rund 26.000 Jahren in der Grotte Chauvet-Pont d’Arc mit ihren herrlichen Wandmalereien, einer der frühesten Stätten altertümlicher Kunst, seinen Pfotenabdruck neben dem eines Kindes hinterließ.
Mithilfe von Analysen alter Hunde-DNA können wir damit beginnen, die unterschiedlichen Geschichten dieser hundeähnlichen und wolfähnlichen Schädel zu entwirren, die in Höhlenstätten und sogar Grabstätten gefunden wurden, und eine Domestizierung in mehreren Abschnitten entdecken. Das belgische Experiment führte vielleicht nicht zu unseren heutigen Rassen, zeigt aber, dass der Domestizierungsprozess in vielen verschiedenen Zeiträumen an mehreren Orten gleichzeitig stattgefunden haben könnte. Wölfe könnten über eine „kommensale“ Lebensweise domestiziert worden sein, indem sie sich daran anpassten, in den ökologischen Nischen des Menschen und um diese herum zu leben und schließlich ausreichend unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag zu legen, um sich bei uns beliebt zu machen, was sie ökologisch (wenn nicht gar genetisch) von ihrem wilden Urtyp trennte. Ähnlich wie bei Bejajews Füchsen könnte die Domestizierung die Physiologie gefangener Wölfe rasch zu der von Hunden verändert haben.
Hunde sind kommensale Tiere, wie die allgegenwärtige Stadttaube oder die Laus. Sie brauchen einen menschlichen Lebensraum zum Überleben. Die Hausmaus ist eine weitere kommensale Art; wenig überraschend taucht sie im archäologischen Befund im Zusammenhang mit Menschen etwa um die Zeit auf, in der wir beginnen, uns niederzulassen und unsere Nahrung an einem Ort aufzubewahren – einem Haus. Auch Katzen sind kommensal*, aber aus einer Vielzahl von Gründen haben sie sich nicht die Palette an menschenzentrierten Verhaltensweisen zu eigen gemacht, die Hunde an den Tag legen. Der früheste Beleg für die Domestizierung der Katze, soweit vorhanden, ist erst etwa 9500 Jahre alt und besteht in der gemeinsamen Beisetzung einer Katze und eines Menschen auf Zypern. Vielleicht waren die ökologischen Nischen des Menschen für Katzen nicht von besonderem Interesse, bevor wir so viele Mäuse anzogen; außerdem haben Katzen ihre Unabhängigkeit durch ständiges Kreuzen mit dem Wildtyp bewahrt. Zwar wird bei einer schnellen Durchsicht von Popkultur, Internet-Memes und Instagram-Accounts sofort deutlich, dass viele unserer seit Langem kommensalen Tiere eine beträchtliche Auswirkung auf die menschliche Psyche haben, aber man kann schwerlich behaupten, dass unsere lange Tradition des Zusammenlebens mit Hunden sich entscheidend auf die menschliche Gesundheit ausgewirkt hat. Die Krankheiten, die Hunde auf uns übertragen können, sind eher selten, und obwohl der Hund in einigen Teilen der Welt als schmutzige Keimschleuder verschrien ist, hat das Aufnehmen von Hunden in unser Leben uns offenbar nicht alle umgebracht. Interessanterweise scheinen Katzen trotz ihrer Allgegenwärtigkeit in unserem modernen digitalen Leben in Form einer Million Bilder mit witzigen Sprüchen abgesehen von der drohenden Übertragung der Toxoplasmose ebenfalls nur eine sehr geringe Auswirkung auf die menschliche Gesundheit zu haben. Einige Forscher vermuten, dass Toxoplasma gondii, der normalerweise in Katzenwirten lebt, sich auch unterschwellig auf das Verhalten auswirkt, indem er zum Beispiel infizierten Ratten die Angst vor Katzen nimmt (und sie damit zu Katzenfutter macht). Jaroslav Flegr, der die Bakterien erforscht, äußerte sogar den Verdacht, dass eine Toxoplasmose-Infektion ebenso wie die Tollwut beim Hund ähnliche unterschwellige Auswirkungen auf den Menschen haben könnte – das sogenannte „Crazy Cat Lady Syndrome“. Aber diese Krankheiten löschen für sich genommen nicht große Mengen an Menschen aus und genauso wenig tragen unsere Hunde und Katzen notwendigerweise so zu unserem Überleben bei (mit Ausnahme von Lassie) wie unsere anderen, essbareren Haustiere. Vielmehr sind die Tiere, die den größten Einfluss auf unser Leben hatten, natürlich diejenigen, die wir essen. Es sind die Beutetiere, die wir daran angepasst haben, in unserer Gesellschaft zu leben, die „Mahlzeiten auf Hufen“, die gewaltig zu unserem kalorischen Wohlbefinden beigetragen haben.
In Aşıklı Höyük, von dem im letzten Kapitel schon die Rede war, ist die frühe Besiedlung der Stätte mit einer Vielzahl unterschiedlicher Tiere durchsetzt – großer, kleiner, gefiederter, bepelzter, stacheliger und gepanzerter –, die das unglaublich breite Spektrum der echten „Paläo-Ernährung“ zeigen. In den späteren Schichten von Aşıklı jedoch (vor etwa 6000 Jahren) werden die tierischen Überreste von einer einzigen Gruppe beherrscht: Schafen und Ziegen. Darüber hinaus verraten uns die Knochen dieser Tiere, dass die Männchen in jüngerem Alter verzehrt wurden, während die Weibchen sich weitervermehren durften – unter den wachsamen Augen der Bewohner. Einige Überreste von Schaf- und Ziegenföten von der Stätte belegen die aktive Kontrolle dieser Nahrungsquelle. Es finden sich dort keine neugeborenen Auerochsen oder Pferde, wohl aber neugeborene Ziegen, was darauf hindeutet, dass die Bewohner im Laufe der langen Geschichte von Aşıklı damit begannen, Schafe und Ziegen nicht nur zu nutzen, sondern tatsächlich zu domestizieren. Das geht über die Strategien des Tiermanagements verschiedener Jäger-und-Sammler-Gruppen hinaus, die zum Beispiel nur männliche Tiere jagen, um die Bestandgröße zu erhalten. Das Vorhandensein neugeborener Tiere innerhalb der Siedlung und der mikrochemische Nachweis von Tierkothaufen in Aşıklı zeichnen ein klares Bild von Tieren, die „gehalten“ werden – im Stall – und für die es eine bewusste Managementstrategie gab, zu der möglicherweise die Kontrolle der Fütterung und der Fortpflanzung von Schafen und Ziegen gehörte.
Es ist bemerkenswert, dass von der Vielzahl von Arten, die Menschen zu ihrer Beute machen, nur ein paar sehr wenige domestiziert wurden.* Es wurden verschiedene Gründe vorgetragen, warum etwa das Zebra nie erfolgreich domestiziert wurde, obwohl das beim eng verwandten Pferd und Esel der Fall war. Jared Diamond stellte zur Diskussion, dass es einen angeborenen Unterschied im Wesen der Tiere gebe, eine „Zähmbarkeit“, die entweder vorhanden ist oder nicht; im Fall des Zebras berichtet er: „Zebras sind unverbesserlich bösartig und haben die schlechte Angewohnheit, ihre Betreuer zu beißen und nicht loszulassen, bis der Betreuer tot ist, und verletzen damit jedes Jahr mehr Tierpfleger als Tiger.“ Die richtige Lösung wird wohl irgendwo zwischen dieser extremen Position und der Vielzahl von ökologischen Nischen liegen, die Tiere und Menschen besetzen. So teilen sich Hund und Mensch beispielsweise ähnliche Lebensräume und die Domestizierung lässt sich als ein vernünftiges Ergebnis einer beträchtlichen Überlappung von Aasfressern und Großwildjägern wie unseren altsteinzeitlichen Vorfahren betrachten. Die Domestizierung unserer Beutetiere wie Schafe und Ziegen jedoch scheint von der Notwendigkeit motiviert gewesen zu sein, das Wo unserer Fleischversorgung zu kontrollieren, als sich das Vertrauen in die Kultivierung in einem begrenzten Gebiet durchzusetzen begann. Die Überreste von Tieren, die von den Natufien-Gruppen vor 12.000 Jahren verzehrt wurden, zeigen noch, dass diese jagten und sammelten. Aber unter der Menge an Gazellenknochen befinden sich die kleineren Knochen neuer Gruppen essbarer Tiere: kleinerer Säugetiere, Vögel und anderer, arbeitsintensiverer Beutetiere. Viele haben dies als Zeichen dafür gedeutet, dass der Verbleib an einem Ort die örtlichen Nahrungsressourcen immer stärker unter Druck setzte und eine Art Nouvelle Cuisine notwendig machte. Rinder und Schweine wurden im Nahen Osten und möglicherweise in Asien ebenfalls bereits vor 10.000 Jahren domestiziert. Die einzige Ausnahme in dem Muster von Sesshaftwerdung und Domestizierung bildet tatsächlich das Rentier: Rentierhirten im äußersten Norden Europas leben größtenteils nomadisch und ihre betreuten Herden bestehen parallel zum Wildtyp, was einige Forscher zu der Annahme geführt hat, dass Rentiere in Wirklichkeit nur semidomestiziert sind.
Die Nutzung von Tieren als Nahrung hat eine lange Tradition in unserer Spezies. Tatsächlich ist sie so alt, dass beträchtliche Uneinigkeit darüber herrscht, welche unserer Vorfahren Fleisch aßen und wann. Die Kiefer und Zähne moderner Menschen sind an eine omnivore Ernährung angepasst: Vorne haben wir Zähne, die abbeißen und reißen können, hinten kräftigere zum Zermalmen und Mahlen. Sieht man sich dagegen den klaffenden Schlund eines typischen Fleischfressers an, etwa des Weißen Hais, erkennt man sofort, dass die Form von Zähnen durch ihre Funktion bestimmt wird. Wie alle Primaten haben wir eine Mischung aus Beiß- und Mahlwerkzeugen im Mund. Doch das Verhältnis zwischen Zahnform und Nahrungsform ist nicht immer ganz ausgewogen, daher suchten Paläoanthropologen nach direkteren Belegen für den Fleischkonsum bei unseren Vorfahren. Es gibt noch eine andere Dimension in der Mensch-Tier-Beziehung, die über den kalorischen Nutzen des Fleischverzehrs hinausgeht und die wir im archäologischen Befund identifizieren können: die unangenehmen Krankheiten, die Tiere auf uns übertragen können. Solche Erkrankungen werden als „Zoonosen“ bezeichnet und sind ein integraler Bestandteil unserer biologischen Geschichte.
2009 verkündeten Forscher aus Italien, sie hätten endlich die Erkrankung identifiziert, die für die verkrümmte Wirbelsäule des 2,5 Millionen Jahre alten fossilen Australopithecus africanus namens „St2 431“ aus Sterkfontein in Südafrika verantwortlich war. Vor zweieinhalb Millionen Jahren könnte dieser kleine hominide Urahn sich mit einer gramnegativen Bakterienart der Gattung Brucella infiziert haben. Dies hätte zunächst einmal zu den üblichen Symptomen geführt: Fieber, Schüttelfrost, Appetitverlust, Kopfschmerzen, Erschöpfung, Muskelschmerzen – aber mit Verbreitung der Bakterien in andere Gewebesysteme wäre es zu verheerenderen Veränderungen gekommen. Bei einem Teil der Infektionen greift die Brucellose auf Knochen und Gelenke des Wirts über und zerstört die kritischen mechanischen Verbindungen zwischen Becken und Wirbelsäule. Die begleitende Entzündung – die Reaktion auf den Bakterienangriff – führt gleichzeitig zu einer eigenen Reaktionskaskade in den Knochen. Im unteren Rücken entstehen an den ordentlich gestapelten garnrollenförmigen Wirbeln Läsionen, die zu einer Erosion des stützenden Knochens führen, sodass die Bandscheiben eher aussehen wie ein Weichkäse an einem heißen Tag und weniger wie solide Abstandhalter zwischen den benachbarten Wirbeln. Das Camembert-Bild ist eigentlich kein schlechter Anfang; wenn die Entzündung einen Teil der Wirbelknochen wegfrisst, bildet sich nämlich als Reaktion darauf neues Knochenmaterial. Wenn Sie sich die Wirbelsäule als einen Stapel Camemberts vorstellen, die eine Weile in der Sonne stehen gelassen wurden und dann wieder erhärtet sind, haben Sie eine ziemlich unappetitliche Vorstellung davon, was eine Brucellose anrichten kann.
Während das für den verstorbenen Stw 431 eine unglückliche Erfahrung war, erkennt man vielleicht nicht auf den ersten Blick, wieso eine Infektion mehr oder weniger eine große Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Evolution haben kann. Aber die Brucellose ist keine Menschenkrankheit, sondern eine recht ausgewiesene Tierkrankheit. Es gibt mehrere Arten von Brucellen, die jeweils vorzugsweise in unterschiedlichen Säugetierwirten leben. Aber wenn sich die Gelegenheit ergibt – über Kontakt mit Körperflüssigkeiten, kontaminierten Milchprodukten oder Fleisch –, können die Bakterien auch auf einen menschlichen Wirt übergehen. Die Brucellen, die bei Kühen (Brucella abortus), Schafen und Ziegen (Brucella melitensis) sowie Schweinen (Brucella suis) vorkommen, sind beim Menschen besonders virulent und verursachen Fieber und andere grippeähnliche Symptome, bevor sie möglicherweise noch die Gelenke und das Skelett angreifen. Die Centers for Disease Control and Prevention in den USA (CDC) warnen vor einem besonders erhöhten Risiko für Schlachthofmitarbeiter sowie für Tierärzte und Jäger, die alle durch kontaminiertes Blut oder Fleisch in Kontakt mit den Bakterien kommen können. Und kontaminiertes Blut oder Fleisch ist genau das, was im Falle des Australophithecus von Sterkfontein eine Rolle gespielt haben könnte. Vor zweieinhalb Millionen Jahren steckte dieser schimpansengroße Hominide sich irgendwie mit Brucellose an, vermutlich durch den Verzehr von infiziertem Fleisch. Wenn die Diagnose stimmt, ist das ein wichtiger Beleg für die lange Tradition des Fleischkonsums in unserem hominiden Stammbaum – und zeigt, wie lange für uns schon die Gefahr bestand, uns mit den Krankheiten der Tiere zu infizieren, die wir essen.
Danach gibt es nur noch äußerst schwache und seltene Belege für Brucellose im archäologischen Befund, trotz der charakteristischen Veränderungen der Wirbelsäule, anhand derer Archäologen die Infektion recht einfach identifizieren können. Durch das permanente Wettrüsten zwischen unserem Immunsystem und der Evolution der Infektionserreger treffen viele Krankheiten unsere Spezies ziemlich hart, solange sie neu sind, bevor sowohl unser Immunsystem als auch die Erkrankungen selbst sich langsam zu einem profitableren Wirt-Parasit-Arrangement hin weiterentwickeln, bei dem der Wirt nicht unbedingt getötet wird, ehe die Infektion sich weiterverbreiten konnte. So sehen wir im Laufe der Zeit meist weniger Fälle einer immer weniger virulenten Infektion. Vor 5000 Jahren jedoch taucht die Brucellose in einem Skelett aus der frühen Bronzezeit in Jericho im heutigen Israel wieder auf, einer der wohl am besten untersuchten frühen Städte der Welt. Heute ist die Brucellose immer noch eine gefährliche Erkrankung – siehe die Warnung der CDC –, aber die größte Gefahr geht von unpasteurisierter Milch und ihren Käseprodukten aus. Diese werden von viel mehr Menschen konsumiert, als es Menschen mit direktem Kontakt zu Tierkadavern gibt, und das war auch schon in der Vergangenheit so. Etwa 17 Prozent der Skelette der Menschen, die beim Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 am Strand von Herculaneum umkamen, zeigten Anzeichen einer Brucellose, und obwohl wir wissen, dass zur römischen Küche viele frische Milchprodukte gehörten, ist der Schuldige in diesem Fall tatsächlich gerösteter Käse. Ein dort gefundener Käse wies nämlich Bakterienformen auf, die eine auffällige Ähnlichkeit mit Brucella-Arten hatten.
Einerseits bekommen wir also nützliche Kalorien von unseren „wandelnden Speisekammern“ – den Haustieren, die auftauchen, als die Menschen sich an einem Ort niederlassen und die Tiere in ihrer Umgebung zu betreuen beginnen. Andererseits begeben wir uns durch den engen Kontakt mit vierbeinigen Krankheitsvektoren ins Visier einer Reihe opportunistischer artübergreifender Infektionen. Der Befall mit äußeren und inneren Tierparasiten (Zecken, Flöhen, Läusen bzw. Würmern) ist in der Nähe von Tieren weitaus wahrscheinlicher. Während die Mehrheit der Zoonosen endemisch* ist, haben Tiere auch immer wieder epidemische Infektionskrankheiten mit deutlich katastrophaleren Folgen für unsere Spezies übertragen. Epidemien entstehen jedoch nur unter bestimmten Umständen, also werden wir uns in späteren Kapiteln dieses Buches mit ihnen beschäftigen, wenn die Menschheit die Bestandsgröße erreicht hat, die für eine ernsthafte bakteriologische Kriegsführung notwendig ist. Im Großen und Ganzen scheint sich die Einführung von Haustieren in menschliche Siedlungen nicht negativ auf die Gesamtbevölkerungszahlen ausgewirkt oder auch nur viele Belege für Pathologien geliefert zu haben – Erkrankungen wie die Brucellose tauchen tatsächlich sehr selten im archäologischen Befund auf. Der Vorteil der Domestizierung, nämlich der erleichterte Zugang zu Kalorien, ist dagegen deutlicher zu erkennen. Die verringerte Mobilität, die mit der Landwirtschaft einhergeht, ist ein Impuls für die Domestizierung; es ist sehr schwierig, wandernden Herden zu folgen und den Garten zu bestellen. Als der Mensch sich niederließ, wurde die Tierbetreuung ein deutlich komplexerer, verwurzelterer Teil der Gesellschaft als die freiere Beziehung etwa zwischen unserer Spezies und Hunden. Wir sehen an den Belegen in Aşıklı Höyük, dass frühe Nutztiere innerhalb einer Siedlung gehalten wurden und dass die Demografie der vorhandenen Tiere stark von menschlichen Vorlieben geprägt war. Aber erwartungsgemäß konnten wir Homo sapiens das häusliche Gleichgewicht nicht einfach so belassen.
In vielen Gegenden der Welt gibt es Belege für eine neue Art der Lebensführung, die neue Gebiete der Erde der Besiedlung durch Menschen erschloss – und neue Pfade der Erkrankungen in uns. Man bezeichnet dieses Phänomen auch als die „Secondary Products Revolution“. Das klingt zwar nach etwas, das man spätnachts im Fernsehen angepriesen bekommt, ist aber tatsächlich eine der bahnbrechendsten Innovationen in der Geschichte der Menschheit, auf der gleichen Stufe mit der Landwirtschaft oder der Domestizierung von Tieren wegen ihres Fleisches. Die Secondary Products Revolution ist eine weiche Bezeichnung für die Ausweitung von tierischen Produkten, die Menschen nutzen, überwiegend von Säugetieren. Menschliche Spezies haben zwar ihren Stammbaum betrachtend schon früh Tiere gejagt, aber ein erjagtes Tier ist eine relativ kurze Freude. Es liefert Kalorien, man kann Haut und Sehnen für Kleidung oder Nutzgegenstände verwenden und natürlich Zähne und Hörner für Schmuck und Dekorationen. Jedes Tier lässt sich jedoch nur einmal verwenden; will man eine weitere Mahlzeit oder Kleidungsschicht, muss man die Zeit und Mühe einer neuerlichen Jagd aufwenden. Doch was wäre, wenn man die Tiere einfach in der Nähe hielte und nicht sofort umbrächte? Abgesehen davon, dass die eigentliche Jagd damit überflüssig würde, hätte man Zugang zu Tiermilch, einem ständig nachwachsenden Vorrat an Tierhaaren und vier kräftigen Beinen, die beim Tragen helfen.
Andrew Sherratt, der den Begriff „Secondary Products Revolution“ prägte, behauptete, dass es eine untrennbare Verbindung zwischen diesem erweiterten Vorrat an Nahrung und anderen nützlichen Produkten und den sozialen und ökonomischen Mechanismen gab, die erforderlich waren, um neue, handelbare Güter zu verwalten. Zusätzliche Ressourcen fördern eine wachsende Komplexität und, um seine Erklärung hier einmal zu umschreiben, neue Nahrung braucht neue Formen des Schlemmens. Es dauert mehrere Jahre, bis Zugtiere ihre volle Stärke erreicht haben, und selbst Tiere, die wegen ihrer Wolle oder Milch gehalten werden, erfordern beträchtliche Investitionen. Ebenso ist in diesem Modell die erforderliche Fertigkeit zur Betreuung von Herden, die wegen ihrer Milch, Wolle oder anderer Produkte gehalten werden, ausreichend spezialisiert, um das Hirtenleben zu ermöglichen. Spezialisierte Hirten in Gebieten, die weniger für die Bepflanzung geeignet sind, gehen wirtschaftliche Beziehungen von wechselseitiger Abhängigkeit mit Gemeinschaften von Landwirten ein und es könnte sein, dass diese Art von Arbeitsteilung teilweise die Entwicklung der ersten „echten“ urbanen Zentren anregt. Es wurde argumentiert, dass diese Art von Investition in spezialisierte Produktion nur mit einer bestimmten Konzentration von Menschen möglich ist und möglicherweise einer entsprechenden Elite, die die Arbeit und die Zeit anderer manipulieren kann, um diese anspruchsvolleren Güter zu nutzen.
Wann begann die Secondary Products Revolution? Und vor allem, was machte sie mit uns? Bei der Beantwortung der zweiten Frage kann uns die Archäologie helfen; sie gibt uns auch eine ungefähre Vorstellung von der Antwort auf die erste. Richtige Darstellungen des Melkens, Pflügens und anderer deutlicher Anzeichen für die Secondary Products Revolution tauchen erst vor rund 4500 Jahren in Mesopotamien auf, aber dauerte der Übergang vom Snacken zum Scheren wirklich 5000 Jahre? Wie beim Prozess der Tierdomestikation können Zooarchäologen auch hier Veränderungen in der Altersstruktur domestizierter Arten feststellen, die eine Nutzungsstrategie im Wandel begleiten könnten. Eine größere Anzahl älterer Tiere an einer Stätte könnte darauf hindeuten, dass Tiere wegen ihrer Sekundärprodukte gehalten wurden*, und ein Zuwachs bei den sehr jungen Tieren könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Menschen die Tiermütter absichtlich dazu brachten, weiterhin Milch zu produzieren. Unsere Belege für diese Muster des Tiermanagements sind lückenhaft über Zeit und Raum verteilt und haben zu erheblichen Diskussionen geführt, also taten die Archäologen, was sie immer tun, und bedienten sich einer anderen wissenschaftlichen Disziplin, um das Problem zu lösen. Bei der„organic residue analysis“, also der Analyse organischer Rückstände, werden die winzigen Mengen von Spurenelementen extrahiert, die im archäologischen Befund zurückbleiben, zum Beispiel am Boden von Keramiktöpfen. Durch die Analyse von Lipiden – Molekülen, die in vielen Fetten und anderen natürlichen Quellen zu finden sind – kann eine Unterscheidung zwischen den Rückständen eines Milchfetts und den Spuren getroffen werden, die das Fett aus Tierfleisch hinterlässt. Und am Boden verschiedener 8000 Jahre alter Töpfe von Stätten um das Marmarameer finden wir Spuren von Milch, die ihr Haltbarkeitsdatum deutlich überschritten hat.
Die Fähigkeit, bis ins Erwachsenenalter Milch zu verdauen, ist eine relativ einzigartige menschliche Anpassung und nur etwa 35 Prozent aller Erwachsenen auf der Welt können heute Milchprodukte wie Eiscreme ohne eine Reihe unangenehmer Folgen für die Verdauung genießen. Die Milchtoleranz – oder vielmehr die Fähigkeit, Milch mithilfe des Verdauungsenzyms Lactase zu zersetzen – ist ebenfalls ein sehr junger Evolutionssprung in unserer Spezies. Die Gene, die Erwachsene Lactase produzieren lassen, fehlen in der DNA von Proben aus der europäischen Jung- und Mittelsteinzeit und Schätzungen auf der Grundlage von DNA zufolge fand die Verschiebung in Richtung „Lactase-Persistenz“ oder Milchkonsum im Erwachsenenalter erst vor etwa 7500 Jahren statt. Die Mutation findet sich deutlich häufiger bei Europäern (und nahezu überhaupt nicht in großen Teilen Asiens), was darauf hindeutet, dass in einigen Regionen stark danach selektiert wurde, in anderen dagegen nicht. Jüngere genetische Forschungen haben gezeigt, dass ein unterschiedlicher Typ der Lactase-Persistenz unabhängig davon in Teilen von Afrika entstand, wo Rinder die Lebensgrundlage sind – ein weiteres Argument dafür, dass die Mutation sehr stark mit positiver Selektion verknüpft ist, dass in bestimmten Situationen also tatsächlich gilt: Die Milch macht’s.
Milch scheint für bestimmte Gruppen früher Bauern eine sehr große Bedeutung gehabt zu haben. Die Milchwirtschaft und vermutlich die Fähigkeit, Milchprodukte zu konsumieren, hat sich offenbar etwa um dieselbe Zeit nach Europa ausgebreitet wie die übrigen jungsteinzeitlichen Erfindungen wie Tierdomestikation und Landwirtschaft. Der Zugang zur Milch bedeutete Zugang zu mehr Kalorien oder die Möglichkeit, frische Milch oder gelagerten Käse als Reservenahrung zur Verfügung zu haben, falls die Ernte schlecht ausfiel. Ebenso darf man die potenzielle Arbeitsersparnis durch die Nutzung von Zugtieren (zum Ziehen von Pflügen oder Schlitten und später sogar von Karren) nicht unterschätzen, selbst wenn unsere Belege für die Ursprünge von tierischer Arbeitskraft derzeit weniger deutlich ausfallen als die für Milchprodukte. Ganz eindeutig ist jedoch, dass in den frühesten der dauerhaften Menschendörfer Tiere in die neue sesshafte Lebensweise mit einbezogen wurden und dass die Sesshaftigkeit sich im Widerspruch zur Wortbedeutung rasch über große Bereiche der Welt ausbreitete. Die meisten Tiere (mit den Schweinen als möglicher Ausnahme) scheinen einmal domestiziert und dann immer wieder mit Wildtypen gekreuzt worden zu sein, was zu einem verwirrenden Durcheinander genetischer Spuren führte, aus denen die Experten für alte DNA ausreichend viele Theorien aufstellen konnten, um für die absehbare Zukunft mit dem Debattieren beschäftigt zu sein. Wie das sehr frühe Tiermanagement scheint auch hier ein Nettonutzen für die Menschheit darin gelegen zu haben, in der Domestizierung einen Schritt weiter zu gehen und Tiere als Lieferanten für Milch, Wolle und Zugkraft zu nutzen. Aber wie bei jeder anderen unserer fantastischen Erfindungen galt es auch hier, einen Preis zu zahlen.
Am anderen Ende des Zeitstrahls, Mitte des 19. Jahrhunderts, nahm die kleine Mittelmeernation Malta Tausende von Soldaten auf, die im Krimkrieg gekämpft hatten. Die kleine Insel, eine Kolonie der britischen Krone, wurde plötzlich von jungen Nordeuropäern überschwemmt und die Krankenhäuser meldeten bald eine neuartige Erkrankung: das „Mittelmeerfieber“, das sich durch Schübe von Schüttelfrost und Schweißausbrüchen auszeichnete, auf die viel später eine geheimnisvolle Art von Rheumatismus folgte und das unverhältnismäßig viele Soldaten zu befallen schien. Der britische Medizinbetrieb wurde auf diese neue Bedrohung für ihre Soldaten aufmerksam und in den 1880er-Jahren hatte man den Infektionserreger – das Brucellose-Bakterium Brucella melitensis – identifiziert. Es dauerte jedoch weitere 25 Jahre, bis der Vektor für die menschliche Infektion bekannt war: Etwa eine von zehn Milchziegen auf der Insel trug die Brucellose-Erreger in sich und gab sie fröhlich über Ziegenmilch, Ziegenkäse und sogar Eiscreme aus Ziegenmilch, wie sie auf Malta traditionell verzehrt wurden, an die Soldaten weiter. Daraufhin wurde der Verzehr frischer Milchprodukte verboten und ultrahocherhitzte Milch oder Milchpulver für die Soldaten eingeführt, was die Erkrankungsfälle drastisch reduzierte, die Erkrankung jedoch keineswegs ausrottete – die Soldaten schlichen sich immer wieder davon, um sich echte Eiscreme zu beschaffen. Die Pasteurisierung beseitigte schließlich die Bedrohung wie auch anderswo auf der Welt: In den USA gingen die Brucellose-Infektionen stark zurück, als nach dem Zweiten Weltkrieg die Pasteurisierung eingeführt wurde.
Auf Andikythira bin ich heute relativ sicher vor Brucellose. Der Brucellen-Typ, der in Ziegen und Schafen lebt, wird in der Regel durch Milchprodukte übertragen und auf der Insel gibt es keine Milchherden mehr. Stattdessen haben wir hier die unglaublich zuckersüße Kondensmilch der Marke „NOUNOU“ für den Kaffee. Für Myronas besteht vielleicht immer noch die Gefahr, sich über Ziegenkadaver zu infizieren, aber er jagt und verarbeitet schon sein ganzes Leben lang Ziegen und zeigt bisher keine Krankheitssymptome. Vielleicht ist das die wichtigste Lektion aus Andikythira. Während die Bevölkerung zwischen einigen Hundert zähen Bauern in kleinen Dörfern und den heutigen weiter verstreuten letzten Rentnern fluktuierte, hat sich ihr Verhältnis zu ihren Tieren verändert. Weil heute nicht mehr genügend Menschen auf Andikythira leben, als dass es sich lohnen würde, Zeit und Mühe für eine Milchherde aufzuwenden, sank das Risiko, sich mit dem „Mittelmeerfieber“ anzustecken, drastisch. Der Zusammenbruch eines so wichtigen Teils der traditionellen mediterranen Ernährung auf Andikythira würde mich mehr stören, wenn ich nicht trotz meiner – wenigstens nach Auskunft meiner Familie – überwiegend europäischen Wurzeln offenbar Laktose nicht besonders gut verdauen kann.* Ich werde jedoch das allgemeine Gefühl nicht los, dass diese Ziegen sich irgendwann rächen werden – von oben oder vom Teller aus.
* Als es noch welche gab – die Insel ist heute nahezu verlassen, nur noch rund 40 unerschrockene Seelen wohnen das ganze Jahr über dort.
† Das geschieht mit alarmierender Regelmäßigkeit – es ist selbst in der heutigen Zeit sehr gut möglich, auf Andikythira festzusitzen. Während ich dieses Kapitel schreibe, befindet sich ein niederländisch-türkisches Paar hier, das sein Segelboot nicht aus dem Hafen bekommt, bis der Wind dreht, was die nächsten Tage wohl nicht geschehen wird. 2005 gelang einer unerschrockenen Projektmitarbeiterin namens Ismini Papakirillou eine schneidige Flucht in der Morgendämmerung, indem sie in ein Schnellboot unbekannter Herkunft sprang, das nach Kreta fuhr.
* Zum Beispiel habe ich noch nie welche an einem Huhn gesehen.
* Weitere Einzelheiten finden sich in Ludmila Truts 1999 im American Scientist erschienener Arbeit „Early Canid Domestication: The Farm-Fox Experiment“.
* Dieser Zustand heißt Syringomyelie, führt zur Entkräftung und zum Tod des Tieres und ist darüber hinaus ein gutes Argument für eine verantwortungsvolle Hundezucht.
† Die Geschichte ist randvoll mit faszinierenden Haustiergeschichten der Eliten im Alten Griechenland, Rom und anderen Kulturen; dazu gehört auch die vollkommen unerwartete Tradition der römischen Oberschicht, Steinbutte als Haustiere zu halten und sie gelegentlich mit goldenen Ringen zu schmücken.
* Obwohl sie das wahrscheinlich nicht zugeben würden.
* Die Zahl könnte allerdings noch ansteigen; beispielsweise wurden domestizierungsbedingte Veränderungen beim Hamster beobachtet, wie es aufgrund seiner Beliebtheit als Haustier zu erwarten ist, aber auch bei der Forelle, bei der man das nicht unbedingt vermuten würde.
* Erkrankungen mit durchgehend geringer Befallsrate, die häufig für den Menschen nicht tödlich sind.
* Denn zum Essen hätten sie sich sicherlich nicht annähernd so gut geeignet.
* Man kann auf viele verschiedene Arten Schwierigkeiten mit der Laktoseverdauung haben; viele Menschen ohne das Lactase-Persistenz-Gen können trotzdem Milchprodukte ohne besonders unangenehme Auswirkungen konsumieren, andere wiederum vertragen keine Milch oder Eiscreme, dafür aber Käse oder Joghurt. Ich persönlich esse all diese Dinge unklugerweise trotzdem.