Читать книгу Im Schatten des Feldmarschalls: Geschichten aus dem Powder-Mage-Universum - Brian McClellan - Страница 6
ОглавлениеCaptain Verundish dachte darüber nach, sich umzubringen.
Die Pistole lag in ihrem Schoß; der Lauf war geladen, der Hahn gespannt und die Pulverpfanne befüllt.
Es würde ein Leichtes sein, den Lauf in den Mund zu nehmen, die Mündung nach oben auf ihr Gehirn zu richten und abzudrücken. Irgendein armer Infanterist würde das Blut und die Knochenstückchen von der Rückwand ihres Zeltes waschen müssen – oder vielleicht würden sie es einfach nur abbauen und verbrennen. Ihre Leiche würde zurück nach Adro überführt werden, wo sie …
Ach, wieso sich darum kümmern, was danach passierte? Nichts davon würde für sie irgendeine Rolle spielen.
Sie legte ihre Finger um den Griff der Pistole, die einst ihrem Großvater gehört hatte. Der Griff hatte eine glatte, abgenutzte Oberfläche, und sie war froh, dass sie so wenige Angehörige zurücklassen würde, die um sie trauerten. Würden sie überhaupt um sie trauern, wenn sie sich für den feigen Ausweg entschied?
Würde Genevie sich an ihre Mutter erinnern?
Ein Brief lag auf dem Tisch neben ihrem Feldbett. Der Absender war ein junger Mann, der sich zwar dem Gesetz nach als ihr Ehemann bezeichnen konnte, aber abgesehen davon keinerlei Anspruch darauf hatte, sich so zu nennen. Verundish wollte den Brief verbrennen und dessen Inhalt vernichten.
Vor ihrem Zelt grüßte eine bekannte Stimme jemanden. Verundish schob die Pistole unter ihr Kissen und klopfte sich gerade noch die letzten Reste Schießpulver aus dem Schoß, als ein Mann die Zelttür aufwarf.
Captain Constaire betrat das Zelt und zog seinen Hut mit einer schwungvollen Bewegung. Er war ein großer, gertenschlanker Mann; sein langes, braunes Haar hatte er über einer Schulter zurückgebunden, und er hatte die schelmischen Augen eines Spaßvogels. Seine dichten Koteletten reichten bis zu seinen Mundwinkeln, und seine Uniform hing locker von seinem drahtigen Körper.
Er kam zu ihr, beugte sich herunter und küsste sie auf den Mund, was ihre Proteste im Keim erstickte. Einen Moment später küsste sie ihn zurück, und nach viel zu kurzer Zeit riss Constaire sich mit einem Grinsen im Gesicht von ihr los. »Liebes«, sagte er, »ich wollte nur kurz vorbeischauen auf meinem Weg zu General Tamas.«
Verundish zog die Augenbrauen hoch. »Die Beförderung?«
»Ich denke schon.« Constaire richtete sich zu seiner vollen Größe auf, wobei sein Kopf die Spitze ihres Zeltes anhob, und tat so, als würde er sich einen Umhang über den Arm werfen. »Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, werde ich Major Constaire sein.«
Verundish lehnte sich auf ihrem Feldbett zurück und betrachtete den Mann.
»Du bist ein Narr.«
»Aber du liebst mich trotzdem.«
»Ich bin keine kluge Frau.«
Er hielt inne, so als spüre er, dass etwas nicht stimmte. »Verie?«
Sie schüttelte leicht den Kopf als eine Warnung, nicht nachzufragen.
Er ignorierte sie.
»Was ist los?«
»Nichts.«
»Sag es mir. Hat er noch einen Brief geschickt?« Seine Augen wanderten zu dem Umschlag auf dem Tisch neben ihrem Feldbett. »Dieser verdammte Mistkerl! Was will er diesmal? Geht es Genevie gut?«
»Es ist nichts«, sagte Verundish leise. Constaire machte es ihr nicht leicht. Es wäre besser, wenn sie keinen Liebhaber hätte, niemanden, der sich ihren Tod zu Herzen nehmen würde. Das würde die Dinge einfacher machen. Sie tat einen tiefen Atemzug und rief sich ins Gedächtnis, dass das hier nur eine Soldatenliebe war. Früher oder später würde der Feldzug enden und sie beide nach Hause zurückkehren. Constaire würde sich eine jüngere Frau suchen, und Verundish würde zurückkehren in ein kaltes Haus mit einem verabscheuungswürdigen Ehemann.
Nun. Sie würde nicht dorthin zurückkehren müssen, wenn sie sich umbrächte.
Constaire ging auf ein Knie. »Lass dich von ihm scheiden«, sagte er. »Heirate mich. Ich werde gleich zum Major ernannt. Wir könnten nach Adopest zurückgehen und Genevie von diesem Monster befreien.«
Oh, dieser Narr. Er streute ihr bloß Salz in die Wunde. »Das meinst du nicht ernst.«
»Doch, tue ich. Todernst.«
Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber das Leben, hatte ihre Mutter ihr immer gesagt, war niemals einfach. »Er wünscht sich eine Scheidung noch mehr als ich«, sagte Verundish.
»Perfekt! Beantrage eine Scheidung und heirate mich.«
»Weißt du, wer mein Vater ist?«
Constaire wirkte verblüfft. »Ich glaube, du hattest gesagt, er sei ein Priester.«
»Ja. Er ist der Priester, der uns getraut hat, und er würde die Papiere unterzeichnen müssen, die meine Scheidung rechtskräftig machen.«
Constaire machte ein langes Gesicht und ließ sich nach hinten sinken, bis er auf dem Boden ihres Zeltes saß. »Und er glaubt nicht an Scheidung. Ist es das?«
»Er denkt, dass es eine Sünde gegen Kresimir ist. Er denkt, dass es besser ist, dass ich diese Ehe durchstehe mit einem Mann, der mich betrügt und klaut und lügt und meiner Tochter Schläge androht, als geschieden zu werden.«
»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, meine Liebe, aber dein Vater ist ein Narr.«
»Ich weiß. Ich habe ihm das bereits ins Gesicht gesagt. Du bist spät dran für dein Treffen mit dem General. Du gehst jetzt besser.« Sie lehnte sich nach vorne und berührte seine Knie, dann strich sie ihm mit dem Daumen über die Wange. »Komm wieder, wenn du durch bist, und dann feiern wir.«
Constaire verließ das Zelt mit den federnden Schritten eines jungen Mannes, dessen Welt rosig aussah. Verundish behielt ihr Lächeln im Gesicht, bis er weg war, dann ließ sie es fallen wie eine abgenutzte Maske.
Sie hob den Brief auf und las den letzten Absatz.
Dein Vater will immer noch nicht in die Scheidung einwilligen. Ich habe die Absicht, meine Geliebte bis Ende des Jahres zu heiraten. Entweder du sorgst dafür, dass wir geschieden werden, oder du bringst dich um. Wenn ich dich nicht innerhalb von drei Monaten los bin, werde ich das Mädchen an einen starländischen Sklavenhändler verkaufen.
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber als sie Constaires Stimme vor ihrem Zelt ihren Namen rufen hörte, starrte Verundish den Brief immer noch an. Sie rührte sich und bemerkte das ferne Donnern der adronischen Artillerie, die auf die gurlische Festung Darjah einhämmerte. Sie konnte den Lärm ihrer Kampfgefährten hören, die sich auf das Abendessen vorbereiteten.
Sie hatte vorgehabt, bei Constaires Rückkehr deutlich weniger anzuhaben. Sie mühte sich zu lächeln. Das war das Mindeste, was sie tun konnte.
Moment. Etwas stimmte nicht. Constaire rief niemals mit ihrem vollen Namen nach ihr. Er war der Einzige in der Armee, der die Frechheit besaß, sie »Verie« zu nennen. Er war der einzige Mann in der Armee, dem sie das durchgehen lassen würde. Und sie konnte sich nicht an das letzte Mal erinnern, dass er gefragt hatte, bevor er ihr Zelt betreten hatte.
»Herein«, sagte sie.
Constaires übliches Lächeln war verschwunden, und seine Augen waren blicklos und gequält, als er hereinkam. Verundish hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck bei Männern gesehen, die bei Kanonenbeschuss eine Gliedmaße verloren hatten oder hatten zusehen müssen, wie ein Freund neben ihnen niedergeschossen wurde.
»Was ist los?«, fragte sie und verstaute ihre eigenen Sorgen in ihrem Hinterkopf. Sie würde heute Nacht noch genügend Zeit haben, sich zu erschießen, nachdem Constaire gegangen war.
»Darf ich mich setzen?«, fragte er. Sein Blick wich ihrem aus.
Verundish erinnerte sich an all die Male, in denen er in ihr Zelt gestürmt war und sie hochgehoben hatte und sie dann beide lachend auf ihrem Feldbett gelandet waren. Ihre Sorge vertiefte sich. »Natürlich.« Sie zog die Decken glatt, wobei sie die geladene Pistole unter ihrem Kissen unauffällig in ein besseres Versteck unter ihrem Feldbett legte.
Constaire setzte sich neben sie auf das Feldbett. Sie nahm seine Hand und bemerkte den starken Kontrast zwischen seiner zarten, weißen Haut und ihren dunklen, rauen Fingern. Constaire hatte in seinem ganzen Leben keinen Tag gearbeitet, aber Verundish machte ihm dafür keinen Vorwurf. Es war seine sorglose Art, die ihn für sie überhaupt erst attraktiv gemacht hatte.
»Sie haben mich dazu ausgewählt, das Himmelfahrtskommando gegen Darjah anzuführen«, sagte Constaire.
Verundish stockte der Atem. »Nein. Ich dachte, du warst für eine Beförderung vorgesehen!«
»Falls ich überlebe, werde ich zum Major befördert.« Ein müder Hauch eines Lächelns huschte ihm über die Lippen und verschwand wieder. Er neigte den Kopf nach vorne wie zum Gebet.
Das Himmelfahrtskommando. Die vorderste Stoßtruppe bei einem Sturmangriff auf eine feindliche Festung. Die Ersten, die durch die Bresche gingen und sich aufgepflanzten Bajonetten, Kanonen und Magie stellten. Mitglieder des Himmelfahrtskommandos überlebten nur selten die erste Salve, geschweige denn die Eroberung der Festung.
»Gibt es nichts, was du tun kannst?«, fragte Verundish.
Constaire schüttelte den Kopf. »Der Befehl kam direkt von General Tamas.« Sein Auge zuckte. »Ich glaube, ihm gefällt nicht, dass mein Vater mir diesen Offiziersposten erkauft hat.«
General Tamas war berüchtigt für seine Überzeugung, dass ein Offiziersrang verdient und nicht erkauft sein sollte. Er setzte Adlige häufig gefährlichen Situationen aus, um sie auf die Probe zu stellen. Seine Ansichten kamen den Bürgerlichen unter seinem Kommando zugute, und die Männer liebten ihn dafür. Aber das hier ging zu weit. Constaire würde sterben.
»Wieso ein Himmelfahrtskommando? Wieso jetzt?«
Constaire betrachtete seine Stiefel. »Feldmarschall Beravich hat befohlen, dass die Stadt unverzüglich eingenommen wird. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Druckmittel er gegen General Tamas in der Hand hält.«
»Wann ist es so weit?«, fragte Verundish.
»In drei Tagen. Bis dahin verdoppeln wir den Artilleriebeschuss. Die Privilegierten sagen, dass sie eine Schwachstelle in der Mauer entdeckt haben und sie in der Nacht des Angriffs ausnutzen werden. Sie werden eine Bresche schlagen, die gerade groß genug ist, dass wir in die Festung eindringen können.«
Verundish lehnte sich auf ihrem Feldbett zurück. Es war tatsächlich möglich, dass es die Privilegierten-Magier schaffen könnten, mit ihrer mächtigen Elementarmagie endlich eine Bresche in die Mauer zu schlagen. Dennoch war ein Himmelfahrtskommando eine recht weit verbreitete Taktik. Die Gurlaner würden darauf vorbereitet sein.
»Ich sollte fliehen«, sagte Constaire.
»Dann wirst du zum Feigling erklärt werden.«
»Lieber ein lebender Feigling als ein toter Held.«
Verundish drückte seine Hand. »Du würdest nicht weit kommen. Du weißt, was General Tamas von Deserteuren hält. Er würde dich fangen und hängen, und dann wärst du sowohl ein Feigling als auch tot.«
»Ich kann es schaffen«, sagte Constaire. »Ich habe Freunde …« Er verstummte und schien seine Optionen durchzudenken.
»Tu es nicht«, bat Verundish.
Ein Hauch von Zweifel huschte über Constaires Gesicht.
»Bleib hier heute Nacht«, sagte Verundish. »Und versprich mir, dass du bis morgen nichts Unüberlegtes tust.«
Sie nahm Constaire in ihre Arme und dachte, dass sie vielleicht für beide Probleme eine Lösung hatte.
General Tamas war kein Mann, den man verärgern wollte.
Der Sohn eines Apothekers war der erste Bürgerliche, der jemals den Rang eines Generals der adronischen Armee innehatte. Das Volk liebte ihn, und der König respektierte ihn. Er war sowohl ein Taktiker als auch ein Krieger und der einzige Pulvermagier in den ganzen Neun, der eine so hohe Position bekleidete.
Gerüchten zufolge fürchteten ihn sogar die Privilegierten-Magier des königlichen Kabals.
Und zwar zu recht. Pulvermagier konnten sich gewöhnliches Schießpulver einverleiben und dadurch stärker und schneller werden als normale Menschen. Sie konnten ihre Magie dazu nutzen, eine Kugel über ein ganzes Schlachtfeld fliegen zu lassen und ihr Ziel aus mehr als einer Meile Entfernung zu töten. Sie waren einige der effektivsten und fähigsten Killer in der ganzen Armee.
Es war der Morgen nach Constaires Besuch bei Verundish. Sie stand in Habachtstellung in der Ecke von Tamas’ Kommandozelt, mit den Händen an den Seiten, den Beinen zusammen und durchgestrecktem Rücken. Der General war über einen großen Tisch gebeugt, auf dem er eine Geländekarte von Gurla mit den Händen glatt hielt. Seine Augen überflogen das vergilbte Papier mehrere Minuten lang; seine Lippen bewegten sich leicht, während er etwas im Kopf ausrechnete.
»Diese Karte«, sagte er und durchbrach die Stille, die über fünfzehn Minuten angedauert hatte, »ist fast zweihundert Jahre alt.«
»Sir?«, fragte Verundish.
»Zweihundert Jahre alt, Captain. Wir haben die beste Armee der gesamten Welt, und wir kriegen es nicht hin, eine aktuelle Karte von diesem verdammten Gebiet zu besorgen. Kann ich Ihnen helfen, Captain?«
Verundish öffnete den Mund, doch Tamas unterbrach sie, bevor sie etwas sagen konnte.
»Darjah ist eine der ältesten Festungen in ganz Gurla. Die Mauern sind durchzogen von Schutzmagie, und der Boden um die Festung herum ist voller Schutzzauber, die einen Mann töten können, wenn er darauf tritt.« Tamas stieß sich vom Tisch ab und fing an, an einem Ende des Zeltes auf und ab zu gehen.
»Feldmarschall Beravich hat mir gerade mal eine halbe Brigade und nur vier Privilegierten-Magier gegeben. Hundert Mann könnten Darjah gegen uns halten, und der Schah, der sich dort verschanzt, hat über tausend Mann. Und sieben Privilegierte. Sieben!«
Tamas ließ sich in einer Ecke des Zeltes auf einen Stuhl fallen und drehte den Kopf zu Verundish. »Beravich liebt es, mich versagen zu sehen. Ganz besonders, weil es so selten vorkommt. Es interessiert ihn nicht, wie viele Männer dafür sterben müssen, dass es passiert. Also, warum wollten Sie mich sehen?«
Wieso erzählte Tamas ihr das alles? Die meisten Offiziere würden es als unprofessionell ansehen, mit jemandem von niedrigerem Rang so geradeheraus zu sprechen. Verundish räusperte sich.
Tamas hob einen Finger und unterbrach sie wieder. »Ich sollte Ihnen sagen, dass hier den ganzen Morgen lang Soldaten ein- und ausgegangen sind und mich gebeten haben, meinen Befehl zurückzunehmen, dass Captain Constaire das Himmelfahrtskommando anführt. Ich weiß, dass Sie seine Liebhaberin sind. Es ist mir egal, wie beliebt der Mann ist, er wird den Angriff anführen. Jeder hier muss irgendwann sein Leben riskieren. Sind Sie deswegen hier? Um meine Zeit zu verschwenden?«
Das Letzte, was Verundish wollte, war, Tamas’ ohnehin schon schlechte Laune noch zu verschlimmern. Sie zwang sich, keinen Streit mit ihm anzufangen. »Ganz im Gegenteil, Sir. Ich bin hier, um mich als Ersatz für Constaire anzubieten.«
Der Stuhl knarzte, als Tamas sich zurücklehnte und nachdenklich über seinen schwarzen Schnurrbart strich. Einen Moment lang meinte Verundish, sehen zu können, wie sich Tamas’ Gedanken hinter seinen strengen braunen Augen neu formierten, als er sie einzuschätzen versuchte.
»Interessant«, sagte er und erhob sich. »Sie sind eine intelligente, mutige, junge Offizierin. Wenn Sie sich in den kommenden Jahren beweisen, stehen Ihnen wahrscheinlich mehrere Beförderungen bevor. Constaire hingegen ist ein Fatzke. Er hat keinen Wert für mich. Wieso zur Grube sollte ich zulassen, dass Sie an seiner Stelle sterben?«
»Jung« hatte er sie genannt, obwohl Tamas, ein Mann in seinen Vierzigern, nicht mehr als ein Jahrzehnt älter sein konnte als sie.
»Weil ich mich freiwillig gemeldet habe«, sagte Verundish. »Und Sie wissen, dass ein Sturmangriff effektiver ist, wenn er von einem Freiwilligen angeführt wird.«
»Höre ich da aus Ihrer Stimme einen herausfordernden Ton heraus, Captain?«, fragte Tamas. »Nein, beantworten Sie das nicht. Ich habe es immer gehasst, wenn ein vorgesetzter Offizier mich dazu gezwungen hat, mich zwischen meinem Stolz und Unaufrichtigkeit zu entscheiden. Das werde ich Ihnen nicht antun.« Er hielt inne, um etwas Schwarzpulver unter seinen Nägeln zu entfernen. »Vielleicht habe ich die Anweisung von meinen Vorgesetzten, dass Constaire den Angriff anführen soll.«
Verundish spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller schlug. So eine Anweisung könnte nur von Feldmarschall Beravich oder dem König persönlich kommen. War Constaire in irgendeine Art von Verschwörung verstrickt? Oder war er ein Bauernopfer in den Ränkespielen irgendeines Adligen?
»Die habe ich aber natürlich nicht«, sagte Tamas und wischte den Gedanken mit einem Lächeln fort. »Darf ich fragen, warum Sie Ihr Leben für Constaire opfern würden? Abgesehen von Ihrer deplatzierten Zuneigung für diesen Narren?«
»Manchmal ist der Angriff erfolgreich, Sir. Und wenn er das sein sollte, steht mir eine sofortige Beförderung zu. Ich wäre eine Heldin, Sir.«
»Das ist verdammt optimistisch von Ihnen«, murmelte Tamas. Er stand auf und gab ihr zu verstehen, dass das Treffen beendet war. »Ich werde darüber nachdenken, Captain«, sagte er. »Sie werden heute Abend Ihre Antwort bekommen.«
Den Rest des Tages fühlte Verundish sich wie benebelt.
Sie hatte einen Ausweg. In zwei Tagen würde sie ein Himmelfahrtskommando durch die Bresche hinein in das Feuer der Musketen und die Magie der Privilegierten führen und fast augenblicklich fallen. Sie würde einen Heldentod sterben und ein Heldenbegräbnis bekommen, und Genevie könnte stolz sein auf ihre Mutter, die sie kaum kannte.
Ihr verhasster Ehemann würde Genevie in die Obhut von Verundishs Vater und Mutter übergeben, und sie würde den Rest ihres Lebens von Verundishs großzügiger Pension leben können.
Falls General Tamas es ihr gestattete, den Angriff anzuführen.
Sie ging gerade durch das Lager und inspizierte ihre Kompanie, als Constaire sie fand.
Ohne ein Wort zu sagen, packte er sie fest am Arm und führte sie hinter den Pavillon eines Obersten, wo sie einigermaßen unter sich waren.
»Was hast du vor?«, forderte sie und schüttelte sich aus seinem Griff los.
»Nein«, zischte er, »was hast du vor?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«
Constaires Gesicht war rot vor Wut. In den vier Jahren, in denen sie jetzt gemeinsam auf Feldzug waren, hatte sie ihn noch nie so wütend gesehen. »Ich wurde gerade von General Tamas darüber informiert, dass du dich freiwillig dazu gemeldet hast, meinen Platz in dem Himmelfahrtskommando einzunehmen. Das werde ich nicht erlauben!«
»Es gibt nichts, das du mir nicht erlauben kannst«, sagte sie.
»Hältst du mich für einen Feigling?« Constaire stampfte mit dem Fuß auf. Es war unheimlich kindisch, und Verundish fragte sich, ob er vielleicht etwas Übung darin brauchte, wütend zu sein. »Meinst du etwa, ich schaffe es nicht? Wieso tust du so etwas?«
Sie dachte an all die Gründe, die sie ihm aufzählen könnte, und legte ihm ihren Finger auf die Lippen. Er war ein Feigling, aber jetzt war nicht der richtige Moment, das auszusprechen.
»Ich halte dich nicht für einen Feigling«, sagte sie. »Aber ich weiß, dass du es nicht schaffen wirst.«
»Du würdest an meiner Stelle sterben?«
Sein Gesicht wirkte in diesem Moment so verletzlich, dass Verundish sich fragte, ob er es doch tatsächlich ernst gemeint hatte, als er ihr angeboten hatte, sie zu heiraten. Sie hatte angenommen, dass es einfach nur eine ungestüme Liebeserklärung gewesen war, hinter der keine Substanz gesteckt hatte. Soldaten heirateten nicht untereinander.
»Das würde ich«, sagte sie. Sie erzählte ihm nicht, dass sie sich sicherlich selbst das Leben nehmen würde, wenn es die Gurlaner nicht schaffen sollten.
»Nein. Das kann ich nicht zulassen. Ich mag zwar ein Feigling sein, Verie, aber ich bin nicht feige genug, um dich meinen Platz einnehmen zu lassen.«
»Du hast keine Wahl. Anscheinend hat der General seine Entscheidung getroffen.« Sie war überrascht, dass Constaire vor ihr davon gehört hatte.
Constaire strich seine Uniform glatt. »Ich werde auf der Stelle zum General gehen und fordern, dass er mich den Angriff anführen lässt. Das ist mein Recht!«
»Niemand fordert irgendetwas von Tamas«, sagte sie.
»Ich schon!«
Sie nahm ihn am Arm und legte ihm eine Hand auf die Brust. »Tu das nicht, du Narr. Das Einzige, was du vom General bekommen wirst, ist eine Rüge.« Sie legte ihm wieder einen Finger auf die Lippen. »Ich muss jetzt erst mal meine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Komm mich heute Nacht besuchen. Wenn ich in zwei Tagen sterben sollte … nun, dann will ich die Zeit bis dahin genießen.«
Am Morgen vor dem Angriff wurde Verundish noch einmal zu General Tamas bestellt.
Als sie sich seinem Zelt näherte, wurde sie von der Furcht ergriffen, dass er sich dazu entschieden hatte, ihrer Bitte nicht nachzukommen. Dass Constaire doch den Angriff anführen würde und sie sich eine Kugel in den Kopf jagen müsste, um Genevie zu retten.
Als sie ankam, wirkten die beiden Wachen vor dem Zelt des Generals nachdenklich und verschlossen. Einer der beiden kündigte sie an, und sie wurde durchgewinkt.
Sie betrat das Zelt; der Protest, der ihr auf den Lippen lag, erstarb, während sie den Innenraum betrachtete.
Der Schreibtisch des Generals war umgeworfen worden, und der Boden und die Wand des Zeltes waren voller Tinte, Papiere und verstreutem Schießpulver. Der massive Eichentisch, auf dem seine zweihundert Jahre alte Karte gelegen hatte, war in der Mitte durchgebrochen, und ein eiserner Kerzenhalter, der auf seinem Schreibtisch gestanden hatte, war nur noch ein Haufen verbogenes Metall.
General Tamas saß mit überkreuzten Beinen auf einem Stuhl in der Ecke – dem einzigen unzerstörten Möbelstück im Zelt – und betrachtete die Zerstörung mit saurer Miene.
»Sir?«, fragte Verundish.
Er schaute einen Moment hoch, dann wieder zu seinem Schreibtisch. Der Schreibtisch war riesig. Es brauchte bestimmt vier Männer, um ihn zu tragen, und mindestens zwei, um ihn umzuwerfen. Aber Tamas war alleine.
Der General stand auf und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Captain«, sagte er. »Danke, dass Sie da sind. Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit dem Privilegierten Zakary, dem neuen Bannwart des königlichen Kabals.«
Es war kein Geheimnis, dass nur der König selbst Tamas und den königlichen Kabal davon abhielt, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen, aber Zakarys Besuch erklärte nicht den kaputten Tisch.
»Hat er das getan, Sir?«, fragte Verundish. Diese Respektlosigkeit machte sie wütend. Niemand hatte das Recht, in Tamas’ Zelt zu kommen und ihn so zu erniedrigen. Er war ein General. Ihr General!
»Was?« Tamas wirkte einen Moment lang aufrichtig verwirrt, als er ihrem Blick zu dem Chaos folgte. »Oh. Nein, das ist erst passiert, als er weg war. Bald wird jemand kommen und das aufräumen. Zakary hat mich besucht, um mir mitzuteilen, dass kein Privilegierter an dem Himmelfahrtskommando auf Darjah heute Nacht teilnehmen wird. Sie werden nur aus der Entfernung Unterstützung leisten.«
Verundish spürte, wie ihr der Atem stockte. Keine Privilegierten? Kein einziger? Bei einem Himmelfahrtskommando war immer ein Privilegierter dabei – normalerweise ein junger und dummer oder ein krankhaft ehrgeiziger, aber immerhin ein Privilegierter. Ohne eigenen Privilegierten würde das Himmelfahrtskommando nichts haben, was sie der gurlischen Magie entgegensetzen konnten, die von den Mauern auf sie herabregnen würde.
Verundish atmete einmal angestrengt durch. Sie würde heute Nacht sterben. Es führte kein Weg daran vorbei. Das war es, was sie wollte. Aber so klar zu wissen, dass ihr Tod sinnlos sein würde …
»Außerdem hat mir Feldmarschall Beravich verboten, am Angriff teilzunehmen«, fuhr Tamas fort. »Normalerweise halte ich mich etwa eine Meile hinter der Front auf, bei der Artillerie, und schieße auf die feindlichen Privilegierten, wenn sie bei der Verteidigung gegen das Himmelfahrtskommando aus der Deckung gehen. Aber es hat ganz den Anschein, als würde selbst das mir verboten werden.«
Tamas blies die Nasenflügel auf, und seine Stimme wurde lauter, während er sprach. »Die verfluchten Idioten wollen mir bloß beim Scheitern zusehen. Sie schicken Männer in den Tod – gute Männer –, nur um mir eins auszuwischen! Diese verdammten Hunde. Wenn ich die Macht hätte, jeden Privilegierten in Adro zu töten, würde ich es augenblicklich tun.«
Verundishs Herz schlug schneller, und sie hatte Angst. Nicht um sich selbst. Nein, ihr Leben war verwirkt. Aber General Tamas war einer der wenigen Generäle in der Armee, der sich aufrichtig um seine Männer zu sorgen schien. Er hatte die Loyalität von Soldaten jedes Dienstgrades und hatte dafür gesorgt, dass die Soldaten unter seinem Kommando Beförderungen nach Verdienst erhalten konnten.
Wenn der königliche Kabal jemals erfahren sollte, dass er solche Dinge sagte, würden sie ihn augenblicklich töten, selbst wenn er in der Gunst des Königs stand.
Tamas schüttelte den Kopf. »Captain, Sinn und Zweck eines Himmelfahrtskommandos ist es, eine Festung mit einem Überraschungsangriff einzunehmen. Es funktioniert nicht häufig, aber es hat schon funktioniert. Aber nicht ohne Privilegierte. Ohne einen Privilegierten schicke ich einfach nur eine ganze Kompanie in den Tod. Fehlschlag garantiert. Aber ich habe meine Befehle.«
»Jawohl, Sir.«
»Und das ist in Ordnung für Sie?«
»Ich werde meine Befehle befolgen, Sir.«
»Ich gebe Ihnen hier die Gelegenheit, es sich noch einmal zu überlegen, Captain.«
»Ich werde den Angriff anführen, Sir.«
Tamas verengte die Augen. »Wieso?«
Wenn die Gurlaner mich nicht töten, muss ich es selbst tun, deswegen. »Das würde ich lieber für mich behalten, Sir.«
»Selbst wenn ich es Ihnen befehle?«
Verundish versteifte sich. »Sie haben die Privatangelegenheiten Ihrer Männer immer respektiert, Sir.«
»Ja. Das habe ich.« Tamas wandte sich ab, um das Chaos zu betrachten, das einmal sein Schreibtisch und Kartentisch gewesen war, und stieß einen langen Seufzer aus. »Sie dürfen wegtreten, Captain. Das Himmelfahrtskommando wird sich bei Sonnenuntergang sammeln und um Mitternacht angreifen. Falls Sie sich noch nicht um Ihre Angelegenheiten gekümmert haben sollten, tun Sie das jetzt.«
»Jawohl, Sir. Vielen Dank, Sir.«
Verundish hielt in der Zelttür inne und wandte sich wieder zu General Tamas. »Sir?«
»Hmmm?«
»Würden Sie mir eine Bitte erfüllen, Sir?«
»Wenn sie im Rahmen bleibt.«
»Sorgen Sie dafür, dass meine Pension nicht an meinen Mann geht. Sorgen Sie dafür, dass sie an meine Tochter geht.«
Tamas dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er. »Schreiben Sie das auf und geben Sie den Brief meiner Sekretärin. Ich werde sicherstellen, dass es erledigt wird.«
»Vielen Dank, Sir.«
Die Kompanie, die das Himmelfahrtskommando bilden sollte, versammelte sich, als die Sonne über dem westlichen Rand der Wüste unterging.
Es war ein trauriger Haufen. Die Hälfte der Anwesenden bestand aus Querulanten – Männer und Frauen, die sonst womöglich am Galgen oder jahrelang im Gefängnis gelandet wären, wenn sie sich nicht freiwillig gemeldet hätten. Die andere Hälfte bestand aus ehrgeizigen jungen Soldaten, die entweder dumm oder verzweifelt genug waren, um zu hoffen, dass sie die Nacht überleben und nach der Einnahme der Festung eine Beförderung erhalten würden.
Verundish fragte sich, ob irgendeiner von ihnen wie sie eine zweite Chance erhalten hatte, es sich noch mal zu überlegen.
General Tamas war bereits da, als sie sich sammelten. Er betrachtete sie alle mit hinter dem Rücken verschränkten Händen, den Stoßdegen an der Hüfte und die Pistole im Gürtel. Seine Miene war versteinert und undurchdringlich, doch als der Privilegierte Zakary wenig später vorbeikam, war im Schein der Fackeln deutlich zu erkennen, mit welcher offenen Feindseligkeit Tamas den Privilegierten anschaute.
Zwei Stunden vor Mitternacht betete ein Kresim-Priester für den Erfolg der Angreifer, und den Männern war es gestattet, sich von ihren Freunden und Kameraden zu verabschieden.
Constaire fand Verundish in der Menge. Er trug seine volle Uniform und eine Muskete in der einen Hand. Sein Degen war an seinem Gürtel festgeschnallt.
»Wo zur Grube willst du hin?«, fragte Verundish.
»Noch ist Zeit«, antwortete Constaire. »Du musst es nur sagen, und ich führe den Angriff an.«
»Nein.«
Constaire schüttelte den Kopf. »Bitte, Verie. Tu’s nicht.«
»Ich muss.«
»Nein«, sagte Constaire. »Du musst nicht.« Er hielt etwas hoch, damit sie es sehen konnte. Es war der Brief, den sie vor drei Tagen von ihrem Ehemann erhalten hatte.
»Gib das her«, zischte sie und schnappte danach. »Du hast kein Recht, meine privaten Briefe zu lesen.«
Er zog den Brief weg. »Ich musste wissen, warum du das hier tust. Ich weiß, dass du mich nicht zurück liebst, Verie. Ich wusste, dass es einen Grund geben musste für diese Selbstmordaktion.«
Sie verpasste ihm eine Ohrfeige. Sie hatte es nicht gewollt, aber einen Moment später hielt er sich die Wange und starrte sie an wie ein verletzter Welpe.
Sie rieb sich die Hand. »Tut mir leid.«
»Das habe ich verdient.«
Ja, hatte er. »Es wird alles in Ordnung kommen«, sagte sie. »Ich muss das hier tun.«
»Ich werde deinen Mann zu einem Duell herausfordern.«
»Er würde dich abschlachten.«
»Sei dir da nicht so sicher.«
»Das würde er. Er ist ein hervorragender Schwertkämpfer. Es müsste schon jemand wie … wie General Tamas ankommen, um ihn zu besiegen.«
Constaire verstummte, und Verundish fühlte sich genötigt, einen Schritt nach vorne zu machen und ihn zu umarmen. »Wieso zur Grube tröste ich dich, du Idiot?«, fragte sie, als sie seine Tränen an ihrem Handrücken spürte. »Ich bin diejenige, die ihrem Tod entgegengeht.«
»Ich bin derjenige, der ohne dich weiterleben muss.«
Verundish schüttelte den Kopf. »Geh zurück in dein Zelt.«
»Nein. Ich habe mich freiwillig gemeldet, die zweite Angriffswelle anzuführen. Wenn es dir gelingt, die Bresche einzunehmen, werde ich direkt hinter dir sein. Wir werden uns gemeinsam durch die Festung kämpfen.«
»Zur Grube. Du bist wirklich ein Narr.«
Ein Raunen ging durch die Reihen, dass sich das Himmelfahrtskommando auf den Angriff vorbereiten solle. Verundish drückte ihre Lippen auf die von Constaire und machte sich ohne einen Blick zurück auf den Weg an die Front.
General Tamas wartete bei der Artillerie, die ihren Angriff einleiten würde. Hinter ihm standen vier Privilegierte, deren weiße Handschuhe mit blutroten Runen verziert waren, die im matten Fackellicht schimmerten. Sie betrachteten das Himmelfahrtskommando skeptisch.
Als sich das Himmelfahrtskommando formiert hatte, sprach Tamas zu ihnen.
»Dort drüben«, sagte er und zeigte auf die Festung, die eine Meile hinter ihm lag, »ist unser Feind. Sie sitzen in ihren Türmen, wiegen sich in Sicherheit und stoßen an auf einen weiteren Tag, an dem wir versagt haben. Sie danken ihrem heidnischen Gott, dass wir nicht den Mumm haben, ihre Mauern mit Leitern anzugreifen.
Das wird sich heute Nacht ändern. Heute Nacht werden wir eine Bresche schlagen. Wir werden ihre Festung stürmen und ihren Shah und ihre Privilegierten über die Klinge springen lassen.«
Den Privilegierten hinter Tamas war es sichtlich unangenehm, als er davon sprach, ihre gurlischen Gegenüber zu töten.
»Die Eroberung von Darjah wird das Selbstbewusstsein der Gurlaner zerstören, wodurch wir dem Ende dieses verdammten Krieges einen Schritt näherkommen. Und dann, meine Freunde, werden wir alle nach Hause gehen.« Tamas wirkte plötzlich erschöpft und weitaus älter als seine vierzig Jahre. Er lächelte. »Ich habe dieses verdammte, staubige Land satt. Ich will nach Hause und meinen Jungen auf meinen Knien reiten lassen und dann meine Frau mit nach oben nehmen, um sie auf meinen Knien reiten zu lassen.«
Ein Glucksen ging durch die Reihen.
»Bringt diese Belagerung zu Ende, Männer«, sagte Tamas. »Geht da rein und macht ihnen ein für alle Mal den Garaus, und im Morgengrauen wird jeder Einzelne von euch, egal ob lebendig oder tot, ein Held sein.«
Ein leiser Jubelruf ertönte aus der Kompanie, und Tamas hob die Hände, um Ruhe zu haben. »Ich würde mit euch kommen, wenn der König es mir erlauben würde. Bei Kresimir, das würde ich.«
Aus dem Mund von jedem anderen General wäre das eine Lüge gewesen, aber Verundish wusste, dass es die Wahrheit war.
Tamas fuhr fort: »Captain Verundish wird euch anführen. Folgt ihr, als würdet ihr mir folgen.« Dann trat er beiseite und machte eine Geste in Richtung Verundish.
Verundish hob ihren Säbel über ihren Kopf. »Kein Licht. Kein einziges Wort. Wir werden im Schutz der Dunkelheit bis unter die Mauern vorrücken und auf den Donner warten. Wenn die Mauer fällt, greifen wir an.« Sie wartete das Nicken ihrer Männer ab, dann senkte sie den Arm. »Und los.«
Verundish durchquerte das zerklüftete Gelände zwischen dem adronischen Lager und der Festung Darjah.
Ihr Weg wurde nur beleuchtet vom fahlen Mondlicht und den Sternen über ihr, die glitzerten wie die Lagerfeuer einer Armee, die sich über das Himmelszelt erstreckte.
Seit Monaten lagerten sie jetzt schon hier und tauschten Artilleriebeschuss mit der Festung aus, aber abgesehen von zwei Angriffen war die Landschaft unberührt geblieben. Schakale jagten im hohen Wüstengras, wo sich Hasen und Füchse vor den adronischen Soldaten versteckten.
Von irgendwo in der Nähe ertönten die Rufe einer Wüsteneule.
Sie führte ihre Kompanie durch mehrere kleine Rinnen und dann in eine Senke, die bis hin zum Fuß der Festungsmauer führte. Man hatte ihr erzählt, dass die Senke ein Abfluss für den Festungsschacht war, über den die gurlischen Bäder in die Wüste entleert wurden.
Niemand hatte ihr erzählt, dass so auch Fäkalien abgeleitet wurden.
Ein Soldat musste bei dem Gestank anhalten, um sich lautstark zu übergeben, sodass sich die gesamte Kompanie in den Dreck kauerte aus Angst vor einem Alarm. Auf den Mauern waren die Umrisse der gurlischen Wachposten im Fackelschein zu erkennen. Keiner von ihnen schlug Alarm, und Verundish befahl ihrer Kompanie mit einem leisen Flüstern, vorzurücken.
Sie erreichten den Fuß der Mauer und hockten sich hin, um zu warten. Verundish knöpfte sich die Vorderseite ihrer Uniform auf, um es sich bequemer zu machen. Hier draußen würde sie niemand wegen fehlender Disziplin tadeln.
Sie schätzte, dass sie etwa fünfzehn Minuten Zeit hatten, bevor es losging.
Es dauerte nicht lange, bis Verundish hörte, wie einer ihrer Männer die Reihen entlang zu ihr gekrochen kam. Sie kniff die Augen zusammen und starrte in die nächtliche Dunkelheit, um herauszufinden, wer es war.
»Sir«, flüsterte er und schob sein Gesicht nah an ihres heran. Dem Klang seiner Stimme und dem Zwiebelgeruch in seinem Atem nach handelte es sich um Grenatio, einen Soldaten, der vor die Wahl zwischen dem Himmelfahrtskommando und einer Erschießung gestellt worden war, nachdem er von einer einheimischen Familie gestohlen hatte.
»Was ist?«
»Sir, als Sie gesagt haben, dass wir auf den Donner warten …?«
»Die Artillerie.«
»Oh.« Es gab eine Pause. »Das ergibt Sinn.« Grenatio war anscheinend nicht der Hellste.
»Sir?«
Verundish unterdrückte einen Seufzer. »Ja?«
»Ich habe Angst.«
»Das ist ganz natürlich.«
»Geht das weg?«
»Das wird es.« Wenn dir ein Privilegierter mit magischem Feuer das Fleisch von den Knochen schmilzt.
Einige Minuten lang herrschte Stille, und Verundish schaute hoch zur Mauer. Immer noch kein Alarm. Das war ein gutes Zeichen.
»Wann geht es los, Sir?«
»Bald.«
»Wie bald?«
Verdammte Grube … »Jeden Augenblick. Zurück auf Ihre Position.«
Der Soldat machte sich wieder auf den Weg die Reihen entlang, wobei er genügend Lärm machte, um die adronischen Soldaten in ihrem Lager zu wecken.
Es ertönte immer noch kein Alarm.
Verundish schaute hoch zu dem schwarzen Stein der Festungsmauer und fragte sich, ob sie es wirklich schaffen würden, eine Bresche zu schlagen. Diese Mauern waren drei Meter dick und verstärkt von Privilegierten-Magie, die Hunderte von Jahren alt war. Die adronischen Kanonen schossen schon seit Monaten auf sie ein, ohne auch nur einen Kratzer anzurichten.
Die adronischen Privilegierten hatten gesagt, sie würden die Mauern heute Nacht durchbrechen können. Was passierte, wenn die Mauern nicht fielen?
Sie hörte ein leises Pfeifen und drehte sich um, um ihre Männer zum Schweigen zu bringen, als die erste Kanonenkugel in der Festungsmauer über ihnen einschlug. Der Einschlag brachte sie ins Straucheln, und sie musste sich mit einer Hand an der Seite der Senke abfangen.
Es hatte begonnen.
Kanonenkugeln und Artilleriegeschosse erschütterten die Festung und den Erdboden, sodass die Seiten der Senke, in der das Himmelfahrtskommando hockte, zitterten und Sand abrutschte.
Dem physischen Bombardement schloss sich schon bald das Getöse von Magie an. Feuer entzündete den Nachthimmel, und Eisstangen so groß wie eine Kutsche prallten gegen die Mauer, sodass diese durch die abwechselnde Hitze und Kälte weiter geschwächt wurde.
Verundish schirmte ihr Gesicht mit ihrem Jackenaufschlag ab, um es vor den Stücken aus Fels, Eis und Eisen zu schützen, die auf ihr Versteck herabregneten.
Gurlisches Geschrei verriet ihr, dass der Feind Alarm geschlagen hatte. Männer rannten auf die Mauern und wedelten mit Fackeln und brüllten gegen den Lärm an. Einer von ihnen lehnte sich vor, warf eine Fackel über die Mauer und schaute zu, wie sie auf den Boden fiel. Sie landete nicht weit entfernt von der Senke, in der sich das Himmelfahrtskommando befand.
Die Gurlaner versuchten herauszufinden, von wo der Angriff kommen würde.
Verundish wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis sie sie fanden. Und wenn sie das taten, würden ein paar Dutzend Musketiere ausreichen, um Verundishs Männer mit wenig Aufwand der Reihe nach zu erschießen.
Sie betete, dass die Mauer fiel.
Sie schaute zurück zu ihren Männern. Einer von ihnen hob seine Muskete und zielte auf die Männer auf der Mauer.
»Runter, Sie Narr«, zischte sie.
Der Artilleriebeschuss klang gefährlich nahe. Verundish verfluchte ihre Situation und schaute hilflos zu, wie eine Rakete über der Festung emporstieg und explodierte und so die Wüste erleuchtete, als sei es helllichter Tag.
Das Licht umriss ihre Männer, die mit grimmiger Miene nach oben schauten. Weiter hinten in der Rinne, wo diese sich zur Wüste öffnete, konnte sie in hundert Metern Entfernung sehen, wo sich die zweite Angriffswelle – drei ganze Kompanien – bereithielt für den Fall, dass das Himmelfahrtskommando erfolgreich sein sollte.
Sie wurden vom Licht der gurlischen Leuchtrakete verraten. Und jetzt war alles verloren.
Ein gewaltiges Getöse ließ den Erdboden erzittern, ein Ächzen, das klang, als hätten sich die tiefsten Abgründe der Grube aufgetan, um ihre Dämonen auszuspeien. Zu Verundishs Überraschung gab die Mauer unter dem vernichtenden Bombardement nach; sie stürzte nach innen ein und schleuderte die gurlischen Soldaten durch die Luft.
»In die Bresche, ihr Bastarde!«, schrie Verundish und sprang auf die Füße.
Sie rannte den Ablauf hoch auf den Fuß der Mauer zu, wo ihr ein Berg an Schutt Halt bot, um zu der Bresche hinaufzuklettern.
Um sie herum kreischten die Kanonenkugeln und die Magie, die die Bresche mit jedem Treffer breiter und breiter schlugen.
Hört auf mit dem Bombardement, verdammt noch mal! Verundish stellte sich vor, wie sie durch die Bresche stürmte, nur um von Artilleriefeuer und Magie aus ihrem eigenen Lager getötet zu werden.
Plötzlich legte sich Stille über die Welt. Das gezielte Bombardement verebbte, während die Artillerie neu ausgerichtet wurde, dann ging es plötzlich weiter mit einem neuen Ziel entlang der Mauer.
Die Bresche war frei.
Verundish stolperte und fiel der Länge nach in den Schutt, der eben noch die Festungsmauer gewesen war. Um sie herum stürmten adronische Soldaten nach vorne, und sie wurde plötzlich am Gürtel wieder auf die Füße gezogen und ihr Säbel ihr wieder in die Hand gedrückt.
Sie hatte keine Zeit, sich zu schämen. Gurlische Soldaten tauchten in der Bresche auf, und die ersten Adroner stürmten mit aufgepflanzten Bajonetten auf sie zu; beide Seiten hackten mit wildem Kriegsgeschrei aufeinander ein.
»Vorwärts!«, schrie Verundish. Sie mussten die Bresche sichern. Sie mussten einen Korridor schaffen, der breit genug war, damit die zweite Angriffswelle hindurch konnte. Wenn ihnen das nicht gelang, wäre alles umsonst gewesen.
Ein gurlischer Soldat sprang auf sie zu und schwang den Kolben seiner Muskete wie eine Keule. Sie wehrte den Hieb mit ihrem Säbel ab und schlug dem Mann ins Gesicht, dann schlitzte sie ihm die Kehle auf.
Die Gurlaner hatten ihre Bajonette nicht aufgepflanzt. Sie waren auf diesen Angriff nicht vorbereitet gewesen. So unmöglich es schien, das Himmelfahrtskommando hatte plötzlich einen Vorteil.
»Macht sie nieder, Jungs«, drängte Verundish, während sie mit einem gurlischen Offizier die Klingen kreuzte. Der Mann war um einiges schneller als sie. Sie schaffte es, zweimal zu parieren, bevor er ihre Verteidigung überwunden hatte und ihren linken Arm der Länge nach aufschnitt.
Der Mann spuckte plötzlich Blut und fiel; ein adronisches Bajonett ragte aus seinen Eingeweiden. Verundish warf die Leiche beiseite und schaffte es nicht, ein Wort des Dankes loszuwerden, bevor Grenatio bereits weitergestürmt war. Der Mann mit dem Zwiebelatem drehte sich, um ihr etwas über die Schulter hinweg zuzurufen.
»Sie hatten recht, Captain! Die Angst ist weg!«
Sie waren jetzt innerhalb der Mauern und kämpften um den Innenhof. Ohne aufgepflanzte Bajonette wurden die Gurlaner von den adronischen Soldaten abgeschlachtet wie Vieh. Verundish hielt inne, um die Wunde entlang ihres linken Arms abzubinden, und versuchte, das Blut wegzuwischen.
Sie konnten siegen. Sie konnten tatsächlich siegen. Die zweite Angriffswelle würde ihnen durch die Bresche folgen und helfen, den Innenhof zu sichern, und dann würde General Tamas den Rest der Brigade hinterherschicken.
Plötzlich wollte Verundish nicht mehr sterben.
Ein Lichtblitz blendete sie, und sie stolperte rückwärts; sie blinzelte, um wieder klar sehen zu können, und schaute mit an, wie Grenatio auf sie zurannte, in Flammen gesetzt vom Feuer eines Privilegierten.
Verundish suchte nach der Magiequelle. Ein einzelner Privilegierter konnte ihre gesamte Kompanie vernichten. Vielleicht sogar auch die zweite Angriffswelle. Es war Wahnsinn zu versuchen, ihn zu töten, aber es war die einzige Chance, die sie hatte.
Das Feuer walzte durch ihre Männer, steckte ihre Uniformen in Brand und verbreitete Chaos. Dort hinten, wo der Innenhof in einer Straße mündete: Ein Privilegierter stand dort in der Öffnung, die behandschuhten Hände in Flammen, und schickte mit zuckenden Fingern die adronischen Soldaten reihenweise in den Tod.
Ihre Männer rannten schreiend in Deckung. Niemand von ihnen konnte es mit einem Privilegierten aufnehmen. Niemand konnte das. Es gab nichts, was man gegen einen Privilegierten tun konnte, außer wegzurennen.
Verundish verfluchte das Blut, das ihren Arm herunterlief und ihre Schwerthand glitschig machte, und nahm ihren Säbel in die andere Hand. Sie warf sich auf eine Seite des Innenhofs.
Mit dem Rücken zur Mauer schlich sie sich so schnell sie es sich traute auf den Privilegierten zu. Sie hatte eine geladene Pistole in ihrem Gürtel – eine Chance auf einen Treffer, und sie würde nah genug herankommen müssen, um sicherzugehen, dass der Schuss saß.
Der Privilegierte schleuderte weiter mit Feuer um sich. Er war kein mächtiger Privilegierter; wenn er gut darin gewesen wäre, mehrere Zauber gleichzeitig zu wirken, hätte er die gesamte Kompanie auf einen Schlag niedergebrannt. Verundish stellte ihren Säbel an der Mauer ab und zog ihre Pistole.
Der Schuss traf den Privilegierten in die Seite. Er zuckte und fiel mit einem überraschten Gesichtsausdruck auf ein Knie. Dann wandte er seinen Blick zu Verundish.
Sie hob ihren Säbel auf und stürmte auf ihn los. Er richtete eine Hand auf sie. Magische Hitze umspülte ihr Gesicht, und Verundish fühlte einen ziehenden Schmerz an ihrem Oberschenkel, als Feuer wie geschmolzenes Glas sie hart genug traf, um sie herumzuwirbeln. Sie stolperte vorwärts.
Ihr Säbel schnitt drei Finger von der rechten Hand des Privilegierten ab. Er schrie, und sie schlug mit voller Kraft zu. Die Klinge traf den Privilegierten an der Schulter, und er wurde von der Wucht des Hiebs umgeworfen. Mit einem Ruck riss sie die Klinge los, dann stach sie ihm damit durch das Herz.
Sie stolperte wieder und fiel fast hin. Der Schmerz an ihrem Oberschenkel war unerträglich. Vor ihrem inneren Auge konnte sie die verbrannte und verkohlte Haut und das entstellte Fleisch sehen. Sie wagte es nicht, sich die Wunde anzusehen, aus Angst, ihren Kampfgeist zu verlieren.
Als sie zurückschaute, sah sie, wie Constaire in der Bresche auftauchte. Hinter ihm stürmte die zweite Angriffswelle mit aufgepflanzten Bajonetten in die Festung, vorbei an den Toten und Verwundeten, um den Innenhof zu sichern und den Weg zur Straße frei zu kämpfen.
Constaire fing sie just in dem Moment, als sie fiel. Er starrte erst sie an, dann die Leiche zu ihren Füßen.
»Du hast einen Privilegierten getötet!«
»Ich …« Verundish wusste nicht, was sie sagen sollte. Anscheinend hatte sie versagt in ihrem Vorhaben, zu sterben. Sie wusste, dass sie nicht mehr sterben wollte, aber wie konnte sie ihr kleines Mädchen retten?
Sie bemerkte etwas aus dem Augenwinkel und schaute hoch. Die Gurlaner waren wieder auf den Mauern über ihnen, auf beiden Seiten der Bresche. Sie hatten den Höhenvorteil, und während sie zuschaute, eröffneten sie das Feuer auf die zweite Angriffswelle der Adroner.
»Runter!«, sagte sie zu Constaire.
»Wir wehren sie ab. Zu den Treppen, Männer!« Er entfernte sich von ihr und zog sein Schwert.
Verdammter Narr. Du wirst tot sein, bevor du die Treppen erreichst.
Ein Lichtblitz oben auf der Mauer machte Verundish auf eine weitere Privilegierte aufmerksam. Verundish hustete ein Lachen. Es war alles so unnütz. Diese verdammte Magierin würde das gesamte Himmelfahrtskommando und die zweite Angriffswelle auslöschen.
Die Privilegierte erhob ihre behandschuhten Hände.
Ihr Kopf explodierte in einer Blutfontäne. Es war so brutal, dass Verundish zusammenzuckte, obwohl es gute dreißig Schritt entfernt von ihr passierte. Der Körper der Privilegierten sackte zusammen, und von den Gurlanern auf den Mauern ertönten entsetzte Schreie.
Aus den Reihen der adronischen Soldaten kam eine Gestalt mit einer rauchenden Pistole in der Hand hervorgerannt. Sie erklomm den Schutt, der nach oben auf die Mauer führte, beinahe ohne an Tempo einzubüßen. Der Degen der Gestalt blitzte auf, als sie sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf die gurlischen Soldaten stürzte.
Verundish konnte ihren Augen kaum trauen. War das ein Dämon aus der Grube? Ein Engel, den Kresimir geschickt hatte?
Die Gestalt machte eine Geste mit einer Hand; plötzlich explodierten die Pulverhörner von einem Dutzend gurlischer Infanteristen und töteten ihre Besitzer.
Bei der plötzlichen Erkenntnis kamen ihr die Tränen: Das war kein Engel oder Dämon.
Das war ein Pulvermagier.
General Tamas hatte seine Befehle ignoriert und sich mit in die Schlacht gestürzt.
Endlich übermannte sie der Schmerz, und Verundish ließ ihren Kopf auf die kühlen Steinplatten des Innenhofs sinken.
Verundish erwachte in einem ihr fremden Zimmer.
Nichts kam ihr bekannt vor. Der Putz an den Wänden bröckelte, und aus einem hohen Fenster kam Licht. Das Zimmer war nicht viel größer als eine Gefängniszelle, und sie fragte sich, ob es vielleicht eine Zelle war.
War das Himmelfahrtskommando am Ende doch nicht erfolgreich gewesen? War die zweite Angriffswelle abgeschlachtet und zurückgedrängt worden? Sie meinte sich daran zu erinnern, dass sie gesehen hätte, wie General Tamas mitkämpfte. Vielleicht war er gefallen. Immerhin waren in der Festung fünf weitere Privilegierte gewesen. War sie jetzt in Darjah gefangen?
Die Gurlaner hätten sie doch mit Sicherheit einfach umgebracht.
Verundish fragte sich, wie viel Zeit seit dem Angriff vergangen war. Sie erinnerte sich daran, geschrien zu haben, bis ihr Hals wund gewesen war, und dass Ärzte ihr eine Malapfeife in den Mund gesteckt und ihr den Rauch in den Mund geblasen hatten. Der Schmerz hatte langsam nachgelassen, und die Feldchirurgen hatten angefangen, ihren Oberschenkel mit ihren Skalpellen zu bearbeiten und den blutigen Schnitt an ihrem Arm zu nähen.
Sie versuchte, ihren Kopf zu drehen – mit wenig Erfolg. Durch den Schmerz entfuhr ihr ein unfreiwilliges Wimmern.
Wieso tat alles so furchtbar weh? Sie fühlte sich, als sei jeder Knochen in ihrem Leib gebrochen.
Die Tür zu ihrem Zimmer wurde mit einem Knarren geöffnet. »Ah, Frau Oberst, Sie sind wach«, sagte eine weibliche Stimme. »Ich habe wundervolle Neuigkeiten. Der Feldmarschall wird Sie sehen wollen.«
Oberst? Sie mussten sie mit jemandem verwechselt haben. Panik kam in ihr auf, und sie versuchte, sich zu bewegen.
»Holen Sie den Feldmarschall«, rief die Stimme in den Flur. Sie erkannte die Stimme wieder aus ihrer fiebrigen Erinnerung an die Operation. Sie gehörte einer der Ärztinnen. »Na, na. Bewegen Sie sich lieber nicht«, sagte die Ärztin. »Ihr Körper ist steif und ihre Muskeln schwach, weil Sie sie so lange nicht benutzt haben. Sie waren lange Zeit bewusstlos.«
»Wie …« Verundishs Stimme brach ab, und die Ärztin kam in ihr Sichtfeld. Es war eine ältere Frau in einer adronischen Uniform, über der sie einen weißen Kittel trug. Sie lehnte sich über Verundish und gab ihr Wasser.
Verundish musste husten, schaffte es aber, ein wenig herunterzuschlucken. Als die Ärztin von ihr wegtrat, fragte sie: »Wie lange?«
Die Ärztin legte Verundish sanft eine Hand auf die Schulter. »Der Angriff auf Darjah war vor vier Wochen.«
»Vier Wochen?« Verundish konnte die Dringlichkeit in ihrer Stimme nicht verbergen. Der Brief von ihrem Ehemann, der vor dem Himmelfahrtskommando angekommen war, war bereits fünf Wochen alt gewesen. Genevie würde in weniger als einem Monat an die Sklavenhändler verkauft werden. Verundish bemühte sich, aufzustehen. Ihr ganzer Körper zitterte.
Die Ärztin zwang sie sanft zurück ins Bett. »Warten Sie, Frau Oberst. Bitte beruhigen Sie sich.«
»Ich muss aufstehen.«
»Der Feldmarschall wird jeden Moment hier sein, Frau Oberst.«
Feldmarschall Beravich war auf dem Weg, um sie zu sehen? Warum um alles in der Welt wollte er sie sehen?
»Verundish. Ich bin Captain Verundish.«
»Da liegen Sie leider falsch«, sagte eine männliche Stimme von der Tür. »Frau Doktor, würden Sie uns einen Moment alleine lassen?« Die Ärztin nickte und verschwand von Verundishs Seite, wo General Tamas ihren Platz einnahm. »Guten Morgen, Frau Oberst.« Tamas setzte sich neben ihr Bett.
»Sir?«, fragte sie schwach.
»Sie sind jetzt Oberstleutnant, Verundish. Die erforderlichen Papiere wurden schon vor drei Wochen ausgefüllt, aber ich werde erst Ihre Genesung abwarten, bevor ich Ihnen ein Bataillon zuweise.«
Das war unmöglich. Sie konnte es nicht glauben. Sie war zwei volle Ränge befördert worden. Mit Sicherheit hatte sie das nicht verdient, nicht mal nachdem sie ein Himmelfahrtskommando angeführt hatte. »Ich … vielen Dank, Sir.«
Tamas wischte ihre Worte mit einer Hand beiseite.
»Sir, war ich wirklich vier Wochen lang ohnmächtig?«
»Die meiste Zeit über waren Sie in einem Malarausch, um die Schmerzen zu betäuben. Wenn man so wie Sie von Privilegierten-Feuer verbrannt wird, fügt das einer gewöhnlichen Person großen physischen und mentalen Schaden zu.«
»Ich verstehe.«
Tamas nickte. Seine Gedanken waren eindeutig woanders.
»Feldmarschall Beravich?«
Tamas’ Mundwinkel zuckte nach oben. »Was soll mit ihm sein?«
»War er auf dem Weg hierher?«
»Ich fürchte, Beravich ist tot. Zwei Tage nachdem wir Darjah eingenommen hatten, wurden seine eigenen Streitkräfte von gurlischen Partisanen überrannt. Ich kann Ihnen versichern, dass sein Tod gerächt wurde.«
»Oh.« Verundish brauchte ein paar Momente, um die Nachricht zu verarbeiten und ihre Bedeutung nachzuvollziehen. »Glückwunsch, Sir.«
Feldmarschall Tamas senkte den Kopf zu einer bescheidenen Verbeugung.
Er stand auf, streckte sich und schaute zu dem Lichtstrahl hoch, der durch das Fenster über ihnen hereinschien. »Jetzt, wo Sie wieder bei Sinnen sind, verschaffen wir Ihnen ein ordentliches Zimmer. Sie werden langsam vom Mala loskommen müssen. Mir wurde gesagt, dass es mehrere Monate dauern wird, bis Sie bereit sind, Ihr Kommando anzutreten.«
Verundish bemühte sich, sich aufzusetzen, schaffte es aber nicht. Die Anstrengung ermüdete sie. Mehrere Monate? Sie musste sofort zurück nach Adro. Sie musste zurück, bevor ihr Ehemann seine Drohung wahrmachen konnte. Selbst das schnellste Schiff würde es womöglich nicht schaffen, sie rechtzeitig nach Hause zu bringen.
Tamas beobachtet ihre Bemühungen mit hochgezogener Augenbraue. »Wollen Sie irgendwo hin, Oberst?«
»Sir.« Verundish versuchte, nicht verzweifelt zu klingen. »Ich muss nach Adro zurückkehren. Um mich um persönliche Angelegenheiten zu kümmern.«
»Das kann ich leider nicht erlauben«, sagte Tamas. »Sie werden gebraucht. Ich habe vor, diesen verdammten Krieg bis zum Winter zu beenden, und dann können wir alle nach Hause.«
Bis dahin würde Genevie nicht mehr da sein. Sie würde weg sein, verkauft in die Sklaverei, und benutzt wie eine … Verundish drückte ihre Augen zu in dem Versuch, die Tränen zurückzuhalten.
»Oberst?«
»Sir?«
»Gibt es irgendwas, was Sie mir sagen wollen, Oberst?«
»Nein, Sir.«
Einige Momente lang herrschte Stille; Tamas schaute weiterhin nicht zu ihr, sondern hoch zu dem Fenster. »Stolz«, sagte er, »ist schon etwas Seltsames.«
»Sir?«
»Wir lassen zu, dass wir und die Menschen, die wir lieben, so viel Leid erfahren, nur um dieses Gefühl in unserer Magengrube zu besänftigen. Manchmal beneide ich die Menschen, die sich ihr Urteilsvermögen nicht von ihrem Stolz trüben lassen.«
Verundish traute es sich selbst nicht zu, etwas zu sagen.
Tamas fuhr fort. »Der Erzdiözel von Adro schuldet mir einen Gefallen. Ihre Scheidungspapiere sollten in etwa«, er hielt inne, so als müsse er über das genaue Datum nachdenken, »ein bis zwei Wochen genehmigt werden. Ihre Tochter wird bis zu Ihrer Rückkehr in der Obhut Ihrer Eltern bleiben. Wenn ich jetzt in Adro wäre, würde ich Ihren Ehemann selbst zum Duell herausfordern und töten. Meiner Meinung nach sollten Kinder nicht unter den kleinlichen Streitigkeiten von Erwachsenen leiden müssen.«
Verundish spürte, wie die Anspannung von ihrem Körper abfiel und sie die Tränen nicht länger im Zaum halten konnte. »Da stimme ich Ihnen zu, Sir. Vielen Dank.«
Tamas tat einen tiefen Atemzug. »Normalerweise mische ich mich in solche Dinge nicht ein, aber wie Sie vielleicht wissen, habe ich selbst einen Sohn, der gerade mal zwei Jahre alt ist. So etwas nehme ich … persönlich.«
»Wenn ich fragen darf, Sir, wie haben Sie es herausgefunden?«
»Können Sie sich das nicht denken?«
Constaire. Natürlich. Ein Mann ohne Stolz. Der dämliche Narr hatte ihr gerade das Leben gerettet. Irgendetwas regte sich in Verundish.
»Oh«, fügte Tamas hinzu, als er die Tür öffnete, um zu gehen. »Major Constaire hat mich darum gebeten, Sie beide zu verheiraten. Wenn Sie das ebenfalls wünschen, könnten wir uns darum kümmern, sobald Ihre Scheidung offiziell ist.«
Major Constaire. Er hatte seine Beförderung dafür erhalten, dass er die zweite Angriffswelle gegen Darjah angeführt hatte.
Verundish konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Es wäre mir eine Ehre.«
»Gut.« Ein Lächeln huschte über Tamas’ ernstes Gesicht, und dann war er verschwunden.