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Die Entführung

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Die Haustür wurde zugezogen, kratzte dabei hörbar über den Fliesenboden. Sandy verharrte horchend. In ihren Ohren rauschte der rasende Puls. Vorsichtig traute sie sich aus ihrem Unterschlupf. Sie schob den Deckel hoch, einige Kleidungsstücke fielen herab, die ihr Versteck getarnt hatten.

Ungelenk kletterte das Mädchen hinaus. Es spürte die Steifheit der Gliedmaßen, bedingt durch die unbequeme Position im Inneren der Truhe. Sandra schluchzte, trocknete ihr Gesicht notdürftig mit dem T-Shirt und hinterließ dunkle nasse Flecken darauf.

»Mama? Papa?«, hauchte Sandy heiser, obwohl ihr bewusst war, dass beide nicht mehr leben konnten. Ich muss sie sehen, aus nächster Nähe, um es zu begreifen. Langsam bewegte das Mädchen sich vorwärts, der Blutlache entgegen. Es erblickte die Eltern, unnatürlich verdreht am Boden, die Augen starr und voller Qual aufgerissen, als würden sie eine stumme Anklage in die Welt schreien.

Sandra stützte sich zittrig an der Wand ab, versuchte, nicht in die blutige Pfütze hineinzutreten, bis ihre Beine den Dienst versagten und sie auf die Knie sank. Sie krabbelte zu ihrer Mutter hin. Zumachen! Zumachen! Sandy ertrug nicht länger dieses Starren, fuhr mit bebender Hand über die Augenlider, um sie zu schließen.

»Kein … kein Wort wird er … erfahren«, brachte sie stockend hervor.

Ein Schatten hinter dem Fenster ließ sie zusammenzucken. Mist! Sie wollen alles abfackeln!, schoss es ihr. Sandys Blick fiel auf Mutters Medaillon, das unter der Kommode hervorlugte. Bebend griff sie danach. Es war aufgesprungen. Sandra sah in der Herzform ein Foto aus einst glücklichen Tagen: ihre Familie, lächelnd, alle vier … vereint.

Sandy drückte es entschlossen zu, löste ihre eigene Goldkette vom Hals, deren Glieder an einen zierlichen geflochtenen Zopf erinnerten. Sie schaffte es, mit zittrigen Fingern das Medaillon aufzufädeln, das neben dem schlichten goldenen Kreuz Platz fand. Mit der Hand umschloss sie das Herzmedaillon mitsamt dem Anhänger.

»Ihr werdet immer bei mir sein«, flüsterte Sandra. Sie rappelte sich empor, hielt kurz inne, bis die schwarzen Punkte vor ihren Augen verschwanden. »Reiß dich zusammen!« Brandgeruch schob sich in ihre Nase. Ich muss hier raus! Vor dem Fenster stiegen erste Rauchschwaden auf.

Hilfe … Hol Hilfe! Sandra griff instinktiv in die hintere Hosentasche, in der sie zumeist ihr Handy verstaut hatte. Leer – Mist! Wo hab ich es hingetan? Sie konnte sich im Wirrwarr ihrer Gefühle nicht daran erinnern. Sandra rannte in den Vorraum, starrte einen Augenblick benommen auf das heillose Durcheinander. An der Wand lugte ein loses Kabel hervor. Sie hatten das Telefon heraus­gerissen.

Zum Nachbarn! Mario anrufen … Polizei! Sandy lief zur Hintertür, riss sie auf, prallte gegen einen Männerkörper.

»Feuer treibt jegliches Ungeziefer aus. Das ist nach meinem Geschmack, läufst mir direkt in die Arme. Weißt du, ich hätte dich aus der Truhe ziehen können, aber es gibt Umstände im Leben, da sollte man nicht den einfachen Weg verfolgen, sondern mit Strategie vorgehen, um den Reiz zu erhöhen.«

Sandra erschauerte. Im ersten Moment dachte sie, es wäre ihr Vater. Dieser eisige Blick … Sie blieb erstarrt stehen. Hart packte Kurt das Mädchen an der Schulter.

»Hilfe!«, rief Sandy aus einem Impuls heraus, obwohl der nächstliegende und einzige direkte Nachbar, Herr Schmied, eine Kehre weiter wohnte, die nicht einsehbar war.

Kurt verschloss ihren Mund fest mit seiner Hand, zog sie ein Stück vom Gebäude weg. Zu den Seiten züngelten Flammen hinauf, begleitet von einem Prasseln, Fauchen und Zischen des Feuers.

»Hör auf, dich zu wehren! Oder bist du so dumm, dass du mit Mary und Manfred verbrennen willst?« Kaum hatte er ausgesprochen, fluchte er. »Au, du verdammtes Biest, du hast mich gebissen!«

Er verpasste ihr eine Ohrfeige. Sandras Kopf flog zur Seite. Deutlich blieben Fingerabdrücke auf der Wange zurück. Tränen füllten ihre Augen, vor Wut und Zorn, nackter Panik und Hass. Sie wollte keine Schwäche zeigen, presste ihre Lippen hart aufeinander, unterdrückte jeglichen Laut.

»Du hast mehr von mir, als ich dachte.«

Niemals!

Kurt zerrte Sandra zu der schwarzen Limousine, die am Straßenrand parkte. Er stieß sie in den Fond des Wagens, zog seine Pistole aus der Tasche und zielte auf das Mädchen.

Niemand bemerkte den Mann, der sich im Schutze eines Baumes verbarg. Er hob kurz die Hand und sein Hund setzte sich erwartungsvoll neben ihn. Der Münsterländer visierte sein Herrchen an, wartete auf ein weiteres Kommando.

Die Kerle sind bewaffnet! Und grad heut hab ich mein Jagdgewehr nicht dabei, haderte Herr Schmied. Erschrocken zuckte er zusammen, als er Manfred sah, der seine Tochter zum Auto schleifte. Seit wann ist mein Nachbar derart grob?

Herr Schmied griff zur Brust, hob den Feldstecher empor, der an einer Schnur um den Hals baumelte, um genauer zu sehen. Die Statur passt, das Aussehen auch … Hab ich mich in Manfred so getäuscht? Über all die Jahre? Und diese vornehme Kleidung mitten am Tag! Sonderbar … Irritiert schüttelte er den Kopf. Die dunkle Limousine war ihm fremd. Vorne hatten die schwarz bekleideten Kerle Platz genommen, einer davon war am Arm verletzt. Manfred saß mit Sandra im hinteren Bereich des Wagens.

Die Flammen loderten stärker werdend an der Fassade des Hauses empor. Rasch prägte Herr Schmied sich die Autonummer ein. Er langte in der Innentasche seiner Jacke nach dem Handy, um die Polizei sowie die Feuerwehr zu verständigen. Während der Wagen losfuhr, setzte er den Notruf ab.

Sandy starrte auf die verdunkelte Trennscheibe, die den vorderen Bereich der Limousine vom hinteren abgrenzte, sodass sie nicht hindurchschauen konnte. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, die Fingernägel gruben sich tief in das eigene Fleisch. Sie wollte schreien, weinen, um sich schlagen … Sandra saß wie erstarrt da. Immer wieder schob sich das Bild der toten Eltern in ihre umherwirbelnden Gedanken. Sie lagen inmitten eines blutigen Sees.

Mussten beide wegen der Formel so grausam sterben? Bin ich die Nächste? Hätten die Kerle mich mitgenommen, wenn sie meinen Tod wollen würden? Was haben sie vor? Die Formel aus mir herauspressen? Etwas anderes? – Hast du eine Ahnung, wie viel Geld gewisse Männer mir für eine kleine Jungfrau bieten?, hörte sie Kurts Stimme gedanklich in ihrem Ohr. Sandra schluckte. Das klang bedrohlich, sehr sogar. Wäre da der Tod nicht besser?

»Endlich sind wir vereint: Vater und Tochter.«

»Mein Papa ist Manfred Berger.«

»Er war ein lausiger Vater, ein viel größerer Narr, konnte nicht einmal seine Familie beschützen.«

»Auf so ein Stück Scheiße, wie du es bist, kann jede Familie verzichten«, wisperte Sandy.

Kurts Hand schnellte vor, quetschte ihre Wangen schmerzhaft zusammen. Seine Augen glitzerten kalt. »Du wirst noch lernen, vor mir Respekt zu haben!«

»Bring mich doch um«, presste Sandy hervor.

»Das kann warten. Stattdessen darfst du dich auf meinen Freund Diego freuen. Der ist ganz vernarrt in hübsche, junge Dinger. Da ich nicht die abnorme Leidenschaft meines Vaters – deines Großvaters – teile, wird er dich bändigen müssen. Dabei bleibe ich im Hintergrund, beobachte und genieße, wie er aus dir ein zahmes Lämmchen macht. Und später wirst du in Marys Fußstapfen treten, die einstigen Kunden in London haben ihren Weggang nach Österreich bestimmt bedauert. Bedanken kannst du dich bei deinem V a t e r! Hätte er sich nicht so geziert, würdet ihr alle noch leben.« Er ließ sie los.

Sandy hielt unbewusst den Atem an. Ein eisiges Beben kroch durch ihren Körper, sie schlang schützend die Arme um sich.

»Manfred meinte, die Formel wäre in der Nähe von eurem Haus? Weißt du davon?« Sein Blick war lauernd.

Kein Wort wird er von mir erfahren! Sandra antwortete nicht, sondern drückte sich tiefer in die Ecke der hinteren Sitzbank.

»Glaub mir Kleine, es kommt der Zeitpunkt, da wirst du zwitschern wie ein Vögelchen. Als Mister Night bin ich der Herrscher über die Abgründe der Menschheit«, höhnte Kurt.

Das Mädchen drehte den Kopf zur Seite. Es blickte zum Seitenfenster hinaus. Die Augen waren auf den Mittelstreifen, einen durchgehenden weißen Strich, der Straße geheftet. In Sandys Kehle steckte ein dicker Kloß, der sie kaum atmen ließ.

»Willst du eigentlich wissen, wo ich dich hinbringe?«

Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. Spielt das eine Rolle?

»Sieh mich an!« Erst, als er die Waffe in ihre Seite drückte, kam sie seinem Befehl nach.

»Du begleitest mich nach Kanada. Mir wird momentan dieses Pflaster hier zu heiß.«

Sandra versteifte sich unwillkürlich. Nein! Nein! Nein!

»Dein Pass fiel mir sozusagen vor die Füße. Es schien, als hätte er gewartet, von mir gefunden zu werden«, raunte er ihr ins Ohr. Während sein Lachen stetig lauter wurde, schloss sie gequält die Lider und ihr Körper wurde von stummen Schluchzern gebeutelt.

Kurt betrat mit dem Mädchen das riesige Foyer des Grazer Flughafens. Sandy stoppte, starrte auf die monströsen Glasfronten. Zahlreiche Menschen tummelten sich in der Halle. Sie hätte sich im Augenblick nicht verlorener fühlen können. Der verletzte Kerl war beim Auto geblieben, der andere kümmerte sich um das Gepäck seines Bosses. Kurt umfasste hart Sandras Handgelenk. »Sei brav!«, zischte er ihr zu, »ansonsten knöpfe ich mir deinen Bruder vor.«

Mario darf nichts zustoßen! Weiß er, dass ihr Bruder in Graz ist, hier studiert? Sandra gab keinen Mucks von sich. Fordernd schob Kurt sie weiter. Ihr Kampfgeist hatte sich, irgendwo zwischen ihrem Zuhause und dem Flugplatz, in Luft aufgelöst. Sandy war versucht, ihre Kette zu berühren. Sie unterließ es, spürte die fremde Last des Herzmedaillons, das mit dem feinen Kreuz ihre Haut sanft streichelte. Aber nichts konnte darüber hinwegtäuschen, dass sie bald nicht mehr in Österreich sein würde.

Kurt besorgte die Bordkarten. Nach einer gefühlten ewigen Wartezeit, die sie schweigend verbrachten, begaben sie sich zum Gate 9. »Mach keine Faxen!«, drohte er mit Nachdruck.

Nur mit Mühe konnte Sandra ihre Tränen verbergen. Ich will tapfer sein, ich muss tapfer sein, für Mario. Vielleicht rettet der überhastete Aufbruch das Leben meines Bruders. Bitte. Nichts wünsche ich mir sehnlicher. Außer, lass mich aus diesem Albtraum erwachen! Es war kein Traum. Ihre Hand schmerzte, da Kurt sie wie in einem Schraub­stock hielt.

Der Kontrollabschnitt des Tickets wurde an der Perforierung abgerissen. Ein Mitarbeiter der Fluggesellschaft wünschte einen angenehmen Flug. Sandra sah weder nach links noch nach rechts. Sie ließ sich mitziehen, willenlos, unabhängig davon, in welche Richtung er marschierte.

»Na, mein kleines Fräulein, was möchtest du trinken?«

Verwirrt schaute Sandra auf. Vor ihr stand eine Stewardess in blauer Uniform und lächelte sie an. Bei einem Seitenblick aus dem Fenster bemerkte das Mädchen, dass der Flieger bereits abgehoben hatte. Unter ihnen lag ein Wolkenmeer, ausgebreitet wie ein weißgrauer Teppich. Sie fand in diesem Anblick keinen Trost, denn mit jeder Sekunde entfernte sie sich mit der Boeing weiter von ihrer Heimat.

»Hast du Durst?«, hakte die Frau nochmals nach.

»Ein Wasser«, wisperte Sandy. »Bitte.«

»Ein stilles Wasser oder lieber Soda?«

»Still«, mischte sich Kurt ein. »Sie fliegt heute zum ersten Mal«, erklärte er.

»Ach, da bist du wohl etwas nervös?« Die Frau zwinkerte ihr aufmunternd zu, reichte ihr das gewünschte Getränk.

»Danke«, erwiderte Sandra, doch die Stewardess hatte sich bereits umgedreht, widmete sich den Wünschen der weiteren Fluggäste.

Sandy nippte am Wasser, ehe sie es vor sich in die Halterung stellte. Sie rutschte unruhig auf dem Sitz hin und her. Ob ich jemandem sagen kann, dass man mich grade entführt? »Ich muss aufs Klo«, fragte sie unsicher.

Mahnend raunte Kurt ihr zu: »Rede ja mit niemandem, falls dir das Leben deines Bruders etwas bedeutet. Wir sind zwar nicht mehr in Österreich, aber glaub mir, ich habe Kontakte.« Sein spöttisches Grinsen unterstrich das eben Gesagte.

Kann er Gedanken lesen?, dachte Sandra verdattert. »Ich muss aufs Klo«, wiederholte sie trotzig und frustriert.

»Ich werde dich besser begleiten.«

Beide erhoben sich. Kurt postierte sich vor der Toilettentür, während Sandra dahinter verschwand. Mit unverminderter Wucht brachen heiße Tränen hervor. Sie hielt bebend ihre fein­gliedrigen Finger unter den Wasserhahn, kühlte damit die Hände und schließlich das Gesicht. Sandy schaute auf. Fassungslos starrte sie ihr Spiegelbild an, strich ungelenk eine Haarsträhne hinters Ohr. Bisher habe ich gedacht, ich würde Paps ähneln. Die rundliche Nasenspitze, doch diese kühlen grauen Augen sind von Kurt … Ich ähnle einem Mörder, einem Monster!

Sandra wurde schlecht, sie erbrach sich ins Waschbecken. »Mist!« Sie würgte einige Male, aber ihr Magen war leer. Zurück blieben ein ekelhafter saurer Nachgeschmack und ein Brennen hinter dem Brustkorb, dessen Ursache nicht allein an der ätzenden Magensäure lag.

Es klopfte fordernd gegen die Tür. »Bist du endlich fertig, oder willst du da drinnen übernachten?«, zischte Kurt scharf.

Rasch spülte Sandra das Erbrochene weg. Sie ließ sich Wasser durch ihren Mund laufen. Wirklich besser fühlte sie sich dadurch nicht. Mit einem Stück Papier, das normalerweise zum Händeabtrocknen gedacht war, tupfte sie sich die Tropfen aus dem Gesicht.

Erneut pochte ihr Onkel an die WC-Tür. Sie hatte keine andere Wahl, als ihm entgegenzutreten. Er lachte boshaft, als er sie sah. Sandy wusste, dass es an ihrem jämmerlichen Aussehen liegen musste. »Ach, ist dir etwas übel, das tut mir leid«, spottete er.

Sie antwortete nicht. Wie kann es Menschen geben, die sich am Schmerz eines anderen erfreuen? Sie schwankte. Du wirst büßen, für alles! Bei der nächsten Gelegenheit fliehe ich, versprach sie sich. Niemals will ich bei Kurt oder diesem Diego enden! Das halte ich nicht aus! Mit zittrigen Knien ging sie Richtung Sitzplatz zurück, deutlich spürte sie den Onkel im Rücken. Meine Eltern dürfen nicht umsonst gestorben sein …

Der Flug nach Nordamerika dauerte Stunden. Kurt warf Sandra einen prüfenden Seitenblick zu. Eigentlich hatte er ein eingeschüchtertes Mädchen erwartet. Aber die Kleine saß aufrecht neben ihm, knabberte an einem Schinken-Käse-Brötchen. Dir wird dein Hochmut vergehen! Sein Mund verzog sich zu einem hämischen Grinsen. Spätestens dann, wenn Diego dich zähmt.

Trotzdem fühlte er sich im Inneren sonderbar aufgewühlt. Das verdammte alte Haus mit all den Erinnerungen! Es war mittlerweile eine halbe Ewigkeit her, in der er sich geschworen hatte, jeden Einzelnen der familiären Sippe auszulöschen. Obwohl die nächtlichen Übergriffe des Vaters seit Kurts zwölften Lebensjahr ausgeblieben waren, ertrug er ihn nicht länger.

Ständig meckerte der Alte, betitelte ihn mit den widerwärtigsten Schimpfwörtern, kommandierte ihn wie ein Oberfeldwebel herum, der er tatsächlich früher in Kriegszeiten war. Die Anweisungen des Vaters konnte er ohnehin nie zu dessen Zufriedenheit ausführen. Jeder Tag wuchs der Hass auf ihn ein Stückchen mehr. Im Kopf nahmen die Gedanken konkrete Formen an, wie er sich ihm entledigen könnte.

Die Manipulation am Auto der Eltern war ein Leichtes gewesen. Er hatte das Bremsseil angeritzt, sodass es kontinuierlich an Flüssigkeit verlor. Die Alten waren mit dem Wagen über einen Abhang hinabgestürzt, dürften auf der Stelle tot gewesen sein. Dass sein Erzeuger einen rasanten Fahrstil besaß, wusste jeder im Ort. Die Nachforschungen konnten ein Selbstverschulden nicht ausschließen, so wurde es als tragischer Unfall abgehakt. Damals war Manfred zwölf Jahre alt und er knapp vierzehn gewesen. Sie blieben in der Obhut der Großeltern zurück.

Eigentlich hätte Manfred im Unfallwagen sein sollen! Zu einem der seltenen Besuche in der Stadt, bei denen es Eis oder Kuchen gab. Solche Ausflüge standen ausschließlich dem Lieblingskind zu. Ob er die Manipulation am Auto mitangesehen hat? Offensichtlich, sonst hätte er unmöglich davon wissen können! Warum warnte er damals die Eltern nicht? Hat Manfred mich geschützt? – Was für ein absurder Gedanke! Kurts Mund fühlte sich sonderbar trocken an. Keine Schwäche zeigen!, mahnte er sich stumm.

Der Großvater kam wenige Wochen nach dem Unglück in eine Pflegeeinrichtung. Der Tod des eigenen Sohnes und der Schwiegertochter führten bei ihm zu einem starken, psychotischen Schub. Eine Obsorge zu Hause konnte nicht mehr gewährleistet werden. Und Großmutter musste sich um uns, um zwei pubertierende Teenager, kümmern. Wie traumatisiert wir Brüder waren, das überspielte die alte Dame gekonnt. Doch sie ebenfalls aus dem Weg zu räumen, hätte uns jemand Außenstehenden als Vormund eingehandelt. Ein unkalkulierbares Risiko, das ich nicht bereit war, einzugehen.

Kurt lugte zu Sandy. Das verdammte Elternhaus ist zerstört! Nun ist das zu Ende gebracht, was ich einst begonnen habe. Niemals mehr werde ich einen Fuß hineinsetzen müssen. Dorthin, wo selbst die Wände ihm mit Vaters Stimme zuflüsterten, dass er ein Niemand sei. Es musste weg, wie alles, was mich an die Vergangenheit erinnert! Er unterdrückte ein Ächzen. Kurt hatte erwartet, dass er erleichtert wäre, aber dieses Gefühl wollte sich nicht einstellen. Ob es am Mädchen liegt? Kurt schüttelte widerwillig den Kopf. Ich bin zwar genetisch gesehen dein Erzeuger, deshalb hasse ich dich nicht weniger als den Rest der Sippe! Du, ja du, wirst mich für all die Jahre entschädigen, die mir mein Vater geraubt hat!

Sandra war verdammt zum Stillsein. Sie rührte sich kaum, streckte manchmal die steifen Glieder etwas aus. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Noch wehrte sich die Sonne mit ihrer Kraft. Sandy spähte hinaus. Der blutrote Horizont ließ die Ereignisse der letzten Stunden hochlodern. Die leblosen Augen ihrer Mutter, der seltsam verdrehte Kopf vom Vater, das viele Blut, Rauch, Flammen …

Das Mädchen presste die Lippen aufeinander, um die zitternden Schluchzer nicht hervorzulassen. Sandy krallte ihre Finger tief in die Oberschenkel. Minute um Minute wurde das Licht schwächer, verblasste, ein letztes Aufflackern, ehe die Umgebung in ein dunkles Grau überging.

Die Geräusche im Flugzeug hatten an Intensität verloren. Sandy konnte Kurts Atem hören. Ob alles abgebrannt ist? Werde ich auch für totgehalten, umgekommen im Feuer? Und Mario? Sucht einer von Kurts Komplizen nach ihm? Lebt er oder spielt mein Onkel mit mir, damit ich mich ruhig verhalte? Sie stieß einen gequälten Seufzer aus. Denk an etwas anderes. Sonst wirst du verrückt …

Sandy schloss die Augen, spürte neuerlich ihre Kette auf der Haut. Vater unser im Himmel, formten ihre Gedanken das Gebet. In dieser Aussichtslosigkeit erkannte Sandy den wahren Grund, weshalb das Leben ihrer Eltern mit Religiosität ausgefüllt war, der sonntägliche Kirchenbesuch zur Pflicht gehörte. Sie suchten Hoffnung, Ruhe, Zuspruch, Kraft bei Gott sowie in der Gemeinschaft.

geheiligt werde dein Name …

Das Gebet schenkte ihr ein kleines Stück Vertrautheit.

Sandy - Entwurzelt zwischen den Kontinenten

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