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SEPP MARGREITER JAHRGANG 1952

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Er war ein „gestandener“ Tiroler, wie man so sagt, mit beiden Beinen fest im Leben stehend. Sein Traum war es, einmal wie Karl Schranz Skirennläufer zu sein. Er trainierte hart, aber nach ein paar Beinbrüchen war es aus mit der geplanten Karriere und er wurde stattdessen Chef einer Skischule und ein hervorragender Musikant – so feierte Sepp Margreiter schließlich viele Erfolge im In- und Ausland. Bis ihn ein dramatischer Arbeitsunfall jäh aus seinem Leben riss: Der 46-Jährige wurde beim Holzarbeiten von einem Baum beinahe erschlagen und war fortan querschnittgelähmt.

Von schönen Tönen zum Leben erweckt

Ich habe geglaubt, jetzt ist alles vorbei. Wenn ich damals schon gewusst hätte, was im Rollstuhl noch alles möglich ist, dann hätte ich nicht so viel weinen müssen“, sagt der an sich hartgesottene Sepp Margreiter heute über sein Leben, das sich seit dem lebensbedrohlichen Unfall so massiv verändert hat.

Sepp, verheiratet und Vater von drei Söhnen, ist im Mai 1999 mit seinen Kollegen beim Holzarbeiten im Wald. Es ist alles wie immer, die Motorsägen heulen, oberhalb von ihm wird ein Baum gefällt, Sepp Margreiter trägt Helm und Gehörschutz. Doch dann das Unerwartete: Ein Baum ist morsch und fällt in die falsche Richtung. Die Kollegen warnen Sepp noch durch Schreie, doch die kann er nicht hören. Der Baum fällt falsch, und er fällt dem Sepp genau ins Kreuz.

Eine beispiellose Rettungsaktion beginnt: Per Hubschrauber kommt sofort der Notarzt, und er erkennt die akute Lebensgefahr, weil sein Patient dabei ist, innerlich zu verbluten. Der Arzt operiert mitten im Wald, öffnet den Brustkorb und legt Drainagen, damit das Blut abfließen kann. Ein paar Minuten später, und Sepp Margreiter wäre nicht mehr am Leben.

Doch das Bangen bleibt: Sechs Wochen lang liegt Margreiter im Koma, mit sechs gebrochenen Wirbeln, einem praktisch durchtrennten Rückenmark und einem lebensgefährlichen Lungenriss. Monatelang wird er auf der Intensivstation künstlich beatmet, bis endlich Entwarnung gegeben werden kann. Ganz benebelt ist Sepp Margreiter noch von den vielen Schmerzmitteln, als er in der Aufwachphase plötzlich eine ganz zarte Melodie hört, die er aber nicht zuordnen kann. „Das glaubt man nicht, aber ich dachte wirklich, jetzt bin ich tot und im Himmel angekommen“, lacht Sepp Margreiter heute. Doch die Musik ist real, ein Arzt hatte die Idee, den 11-jährigen Sohn von Sepp auf der Intensivstation mit der Ziehharmonika spielen zu lassen. „Er hatte recht, das hat meine Lebensgeister ganz schnell wieder geweckt, das Erlebnis werde ich nie mehr vergessen.“

So wie sich jener Tag einprägt, als der Pfarrer auf der Intensivstation auftaucht und dem Sepp ein Stück Hostie in den Mund schiebt. „Ich habe mich innerlich furchtbar aufgeregt, weil ich geglaubt habe, jetzt geht es mit mir zu Ende und der Pfarrer ist gekommen, um mir die Letzte Ölung zu geben.“ Dabei ist es nur ein normaler Sonntagsbesuch des Pfarrers und Sepp ist mittlerweile klar in Richtung Genesung unterwegs. Die Querschnittlähmung freilich wird ihn sein Leben lang begleiten.

Aber davon ahnt Sepp Margreiter zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Dass er querschnittgelähmt ist, erfährt er nämlich nicht hochoffiziell, sondern eher zufällig: Als er erkennt, dass er seine Beine nicht mehr bewegen kann, sagt eine Krankenschwester zu ihm, sie kenne einige Querschnittgelähmte, die weiterhin selbständig eine Firma führen. „Da war mir plötzlich klar, dass ich im Rollstuhl sitzen werde. Dieser Satz hat sich in meinem Hirn eingebrannt, ich war total verzweifelt und habe hemmungslos geweint.“

Sepp Margreiter kommt nach dem Krankenhaus in das Rehabilitationszentrum Bad Häring, das auf querschnittgelähmte Patientinnen und Patienten spezialisiert ist. Er wird liegend transportiert und ist so schwach, dass er kaum die Arme heben kann. Aber sein Kampfgeist ist nach vielen Tränen und nach dem ersten Schock schon wiedererwacht. „Bis Dezember muss ich wieder fit sein, denn die Skischule wartet auf mich“, sagt er den Therapeuten, und sein starker Wille, sein Einsatz und sein Durchhaltevermögen machen dieses so hochgesteckte Ziel immer realistischer.

„Mein schönstes Erlebnis in der Therapie war, dass ich mir den Schuh wieder selbständig anziehen konnte“, erinnert sich Sepp Margreiter, „das kann sich kein gesunder Mensch vorstellen, was das für ein unglaublich großer Gipfelsieg ist.“

Erfolge wie dieser stärken Margreiter immer weiter. Längst hat er schon den Entschluss gefasst, im Rollstuhl nicht nur wieder in seiner Skischule zu arbeiten, sondern auch wieder die Posaune zu spielen. Den Ärzten scheint das wegen der schweren Lungenschäden und der jetzt fehlenden Bauchmuskulatur unmöglich, „aber Gott sei dank haben die Ärzte nicht immer recht“, lächelt Sepp Margreiter. Oder sie haben einfach nicht mit seinem unbändigen Kampfgeist gerechnet. Er trainiert seine Lungenflügel heimlich mit dem Mundstück der Posaune und seine Musikantenfreunde halten ihm den Platz in der Gruppe frei. „Das Gefühl, dass sie mich nicht vergessen haben, war so wichtig für mich; das Wichtigste ist natürlich die Familie, die Frau, die mich immer besucht hat, die Söhne, aber die Musik, die hält mich tatsächlich auch am Leben“, sagt Margreiter.

So schafft er unter größten Anstrengungen das Unglaubliche: Pünktlich am 17. Dezember ist er zur Eröffnung der Skischule in Alpbach wieder im Einsatz, mit vielen Abstrichen zwar, aber er ist zurück im Leben, bei seiner Arbeit, seiner Familie – und bei seiner Posaune.

Wenige Tage später, am 24. Dezember, tritt er mit den Alpbacher Bläsern zum ersten Mal wieder vor einer großen Öffentlichkeit auf – bei der „Liabsten Weis“ im Fernsehen. „Als ich damals in den ORF gekommen bin, waren alle Freunde da, und alle hatten feuchte Augen“, erinnert sich Sepp Margreiter.

Er spielt wieder, und er spielt wieder mit den Alpbacher Bläsern genauso wie mit der Alpbacher Kirchtagmusig und der Bundesmusikkapelle Alpbach. Dafür trainiert und übt er täglich hart, damit seine Lunge mitspielt und auch sonst alles passt: „Ich könnte es nicht ertragen, dass sie mich nur aus Mitleid mitnehmen, das wäre etwas vom Schlimmsten für mich.“

Sepp hat sich seinen Platz in der Musikwelt wieder zurückerobert. Und er spielt sogar am Berg, dort, wo andere nur in kräfteraubenden, stundenlangen Fußmärschen hinkommen: „Zweimal haben mich meine Kollegen auf einen Gipfel zur Bergmesse gebracht, einmal mit dem Hubschrauber, einmal mit einem Spezialgefährt zur Holzbringung.“ Fast vier Stunden brauchen sie, um den Sepp mit vereinten Kräften auf den Berg zu befördern, und als oben die ersten Töne erklingen, da rinnen dem Sepp die Tränen über die Wangen. Sein großer Traum ist in Erfüllung gegangen, noch einmal hier oben zu musizieren.

„Ich bin weicher geworden durch den Unfall, der hat mich regelrecht aufgeweicht, und das ist gut so, denn wir sind alle so hart aufgewachsen, viel zu hart eigentlich. Heute betrachte ich es als Stärke, solche Gefühle zu zeigen, früher hätte ich es als Schwäche gesehen und oft wird man heute noch als Schwächling gesehen deshalb“, sagt Margreiter. „Die Gefühle rauszulassen ist heilend, das könnte ich durchaus auch empfehlen. Ich würde sagen, dass es manchen Menschen psychisch besser gehen würde, wenn sie ihre Gefühle mehr zeigen würden, das ist meine Erfahrung durch den Unfall.“

Körperliche Fitness ist für Rollstuhlfahrer mindestens ebenso wichtig wie für Menschen, die auf zwei Beinen durchs Leben gehen. Sepp Margreiter bleibt deshalb nicht nur im Skischulbüro, sondern lernt im zweiten Jahr schon Monoskifahren. Er unterrichtet dann selbst behinderte Menschen – und wird auch darin schnell über die Grenzen hinaus bekannt. Zwei, drei Stunden trainiert Margreiter täglich im eigenen Fitnessraum. Und sobald es das Wetter zulässt, schwingt er sich in sein Handbike und ist auf und davon. Für seinen Ehrgeiz und seine Zähigkeit ist Sepp Margreiter seit jeher bekannt – und der Unfall hat diese Eigenschaften eher noch verstärkt. Bis heute ist er mehr als 80.000 Kilometer mit seinen Händen geradelt und hat dabei über 600.000 Höhenmeter bewältigt. Sein größter Erfolg: Er befuhr mit 61 Jahren mit dem Handbike und ohne Motor die Großglockner-Hochalpenstraße – beobachtet von staunenden Radfahrern, die wesentlich jünger sind als der Sepp, die mit zwei gesunden Beinen radeln und oftmals trotzdem scheitern. „Ja, zumindest in meinem Alter wird es eher keinen geben, der das geschafft hat“, sagt Sepp Margreiter ganz bescheiden zu der Leistung, die andere als wahre Sensation werten.

Sepp Margreiter war schon vor seinem Unfall mit vollem Einsatz bei der Sache. Als staatlich geprüfter Skilehrer trainierte er damals sogar den englischen Skinachwuchs und das britische Armeeteam. Freundschaften aus dieser Zeit führten ihn nach seinem Unfall sogar zum Tee mit Prinz Charles auf dessen Landsitz in Highgrove. „Meine Frau und ich sind behandelt worden wie die Könige, das war ein wirklich unvergessliches Erlebnis“, schmunzelt Sepp Margreiter, der als einer von ganz wenigen Österreichern persönliche Beziehungen zum Prinzen haben dürfte. „Ich habe ihm dann auch zur Hochzeit mit Camilla gratuliert, und er hat mir persönlich geantwortet.“

Das Leben von Sepp Margreiter ist voller schöner Erinnerungen – und es ist ein lebenswertes Leben geblieben. Das erzählt er auch immer wieder Schulklassen und auch frisch verunfallten Menschen an der Innsbrucker Klinik. „Wenn ich denen sage, es gibt ein Leben danach, es ist noch so viel möglich, ich bin heute selber mit dem Auto hier, ich fahre Rad, ich fahre Ski, dann beginnen die ausdruckslosen Augen plötzlich zu leuchten“, erzählt Sepp Margreiter. Er schaut selbst auf ein Leben in Bewegung, das nur kurz einmal stillgestanden ist: „Ich kann heute alles wieder machen, außer gehen.“

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