Читать книгу Im Bann von Moral - Brigitte Griehl - Страница 5

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----Der Totenschein----


Bevor sie die Unterlagen mitnahmen, war bei Laura Solbach alles immer im gleichen Trott gelaufen.

Sie hatte als Pflegekraft in diversen privaten Haushalten gearbeitet. Stets bemüht um das Wohlergehen der Hilfsbedürftigen. Sie war bei allen beliebt, ihre Fürsorge geschätzt.

Sie hatte sich um ihren strukturierten Tagesablauf gekümmert. Nichts hatte im Haushalt gefehlt.

Jede Ausgabe hatte sie in einem Haushaltsbuch aufgelistet.

Penibel genau.

Blauäugig hatten sie ihr eine Generalvollmacht ausgestellt, und als ehemalige Bankkauffrau hatte sie mühelos verdeckte Transaktionen auf den Konten durchführen können. Mit den Überweisungen war sie monatlich auf etwa 10.000 Euro gekommen. Über fünf Jahre. Eine stattliche Summe.

An ihrem freien Tag, um 11 Uhr vormittags, kamen sie. Herr Ludewig von der Staatsanwaltschaft. Begleitet von seinem Assessor.

Laura Solbachs kantiges Kinn bebte.

Zittrig fuhr sie mit ihrer schweißigen Hand durch ihre blonden langen Haare.

Sie durchsuchten ihre Wohnung, packten alle Bankunterlagen ein.

Die Verschlüsse ihrer Aktentaschen schnappten zu.

Eine vorläufige Festnahme war nicht erforderlich, da die Behörden keine begründete Fluchtgefahr sahen.

Sie konnte einen festen Wohnsitz vorweisen.

Einen Arbeitsplatz.

Hatte keine Auslandskontakte.

Ihre Konten waren eingefroren.

Aber ihr Barvermögen blieb unentdeckt.

Zu einem Gerichtsverfahren würde es in Kürze kommen.

Um sich dem zu entziehen, musste sie sich frühzeitig absetzen.

Thailand war ihr Ziel.

Ein internationaler Haftbefehl wurde ausgeschrieben.

Schon bald ging bei den deutschen Behörden ein Totenschein ein, beglaubigt durch die Botschaft in Bangkok, mit Stempel und Unterschrift.

Laura Solbach war bei der Fütterung von Krokodilen über die Brüstung gestürzt.

Der Totenschein, abgeheftet in „erledigte Fälle“.

Der Glaube an amtliche Dokumente, unerschütterlich.

Akte geschlossen.

Staatsanwalt Ludewig stößt die Tür auf zu einem stark frequentierten Restaurant. Ein Spezialitätenrestaurant in Bangkoks bester Lage. Sein braungebranntes Gesicht strahlt, jede einzelne pomadisierte Haarsträhne sitzt. Er trägt einen perfekt sitzenden beigen Safarianzug, ein rosafarbenes Hemd mit einer mitternachtsblauen Seidenkrawatte.

Auf der Suche nach einem freien Tisch erregt eine Frau sei-

ne Aufmerksamkeit. Die Frau am Fenstertisch. Sie hat zwar dunkle Haare zu einem Bubikopf geschnitten. Aber das kan-

tige Kinn in dem schmalen langen Gesicht macht ihn stutzig.

Zielstrebig steuert er auf sie zu, beugt sich zu ihr hinunter und mustert sie mit raubtierartigem Blick. „Das Tote so gut

aussehen, wusste ich gar nicht.“

Sie hat das Gefühl, als würde sich der Fußboden neigen und sie würde samt Stuhl und Tisch langsam auf die andere Seite des Raumes rutschen. Wie konnte das passieren? Ich war mir so sicher untertauchen zu können. In der Anonymität der Millionenstadt. Tausende Kilometer von Deutschland entfernt.

„Reiß dich zusammen!“, mahnt ihre innere Stimme. „Du hast schon viel schwierigere Situationen gemeistert.“

„Verlassen Sie sofort meinen Tisch!“ Grell klingt ihre Stimme.

„Sie sind ja eine wahre Verwandlungskünstlerin!“ Um seinen Mund zuckt ein verächtliches Lächeln.

„Ich weiß gar nicht, wovon sie sprechen!“

„Frau Solbach, wie heißen Sie denn heute?“

Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück und schlägt die Beine übereinander. „Sie müssen mich verwechseln!“

Die Situation auf der Khao San Road in Bangkok spult sich vor ihren Augen ab. Ein Paradies von gefälschten Markenartikeln. Mit fröhlichem Singsang winkt sie ein Verkäufer zu sich und innerhalb von wenigen Minuten stellt er ihr einen Totenschein aus und einen Pass.

Gute Arbeit für wenig Geld.

Laura Solbach ist tot.

Maria Geese ist geboren.

„Ihre Straftat ist noch nicht verjährt!“

Seine Drohung gleitet an ihr ab und sie rutscht auf dem Stuhl wieder nach vorne.

Jetzt ist sie seinen Augen ganz nah.

„Ich wiederhole mich. Sie irren sich in mir. Ich leite hier die renommierte Seniorenresidenz ‚Freedom‘. Für Senioren aus Europa, für ihren humanen Lebensabend“, erwidert sie mit einer Fröhlichkeit, die ihr selbst falsch in den Ohren klingt.

In dem Augenblick, als sie ihre Visitenkarte auf den Tisch schiebt, vibriert sein Handy. Hektisch zieht er es aus seiner Sakkotasche, es gleitet ihm aus der Hand, kurz bevor es auf den Boden schlägt, fängt er es auf. Ein rascher Blick auf das Display und er nimmt das Gespräch an. „Ich komme sofort!“ Er nickt ihr flüchtig zu. „Wir sehen uns wieder!“ Seine weißen Lackschuhe klackern auf den Fliesen, als er federnden Schrittes das Lokal verlässt.

Maria Geese muss sich zwingen, nicht schallend zu jubilieren.

Sie greift eine Zeitung vom Zeitungsständer, will sich dem

Leitartikel „Baby commercial“ widmen. Aber ihre Augen fliegen unkonzentriert über die Zeilen, während sie ihrer inneren Stimme lauscht, die in einer Endlosschleife jubiliert: „Du hast die Bewährungsprobe bravourös gemeistert!“

Beschwingt erhebt sie sich und als sie den Stuhl zurück-

schrammt, tritt sie auf etwas Befremdliches. Ihr Blick fällt auf eine schwarze Brieftasche, kaum erkennbar auf den dunklen Bodenfliesen. Sie stutzt, bückt sich und nimmt sie in die Hand. Dabei rutschen drei Fotos heraus. Auf jedem Foto Herr Ludewig mit einem Baby auf dem Arm.

Sie dreht die Bilder herum:

Sydney, Übergabe, 8.000 Dollar bar erhalten

Tokio, Übergabe, 11.000 Dollar überwiesen, Stichwort DD

Bangkok, Übergabe, 5.000 Dollar überwiesen, Stichwort 09.

Maria Geese läuft ein Schauder über den Rücken. Vor ihrem geistigen Auge sieht sie die jungen Mütter, gezeichnet durch die Strapazen der Geburt. Hört die ersten Schreie der Babys. Sieht die fremden Hände, die den Müttern ihre Kinder entreißen.

Fieberhaft streift sie ihre Schuhe ab und hastet mit ausladenden Schritten auf den Bürgersteig. Rucksacktouristen mit hoch aufgetürmtem Gepäck, gekrönt von Schlafsack und Isomatte versperren ihr die Sicht. Kurz vor der abbiegenden Seitenstraße entdeckt sie ihn. „Sie haben etwas verloren!“

Außer Atem überreicht sie ihm seine Brieftasche.

Er steckt sie in seine Sakkotasche.

Kommentarlos.

Sie fixiert ihn mit stechendem Blick.

Sein linkes Auge zuckt.

Dann fächert sie genussvoll die Fotos auf und hält sie hoch wie eine Trophäe.

Im Bann von Moral

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