Читать книгу Ehemänner und andere Fremde - Brigitte Riebe - Страница 6
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ОглавлениеDie Donatis stammten ursprünglich aus Monza und besaßen Geld, altes Geld, das sie vor allem im Möbel- und Antiquitätenhandel gemacht hatten. Wesentlich später hatte noch eine Schweizer Linie eingeheiratet, wohlhabende Tuchfabrikanten, die nach und nach die passenden Stoffe beigesteuert hatten. Ob aus Monza, Florenz oder Basel, die meisten Donatis waren mit ganzem Herzen Kaufleute, tüchtig, fleißig und rechtschaffen. Aber vereinzelt hatte es immer wieder Familienmitglieder gegeben, die ausgeschert waren, um eigene Wege einzuschlagen: Erfinder, Philatelisten, Kunstsammler oder Ethnologen. Diesen Sonderlingen und Spinnern, vom Rest der Familie zu Lebzeiten belächelt und teilweise sogar befehdet, verdankten die Donatis eine nahezu komplette Auflage ungarischer Briefmarken aus der Zeit von 1921 bis 1939 sowie eine schmale, aber exquisite Sammlung französischer Impressionisten, zu der unter anderem zwei Werke von Berthe Morisot zählten. Von geradezu unschätzbarem Wert war jedoch, was Andrea Donati und sein Neffe Franco um die Jahrhundertwende auf nicht ganz legale Weise aus Nigeria nach Italien gebracht hatten: ein halbes Dutzend Statuen, Köpfe und Torsi der sagenhaften Könige von Ife, Hunderte von Jahren alt, Bronzearbeiten auf höchstem handwerklichem Niveau und von faszinierendem künstlerischem Wert.
Im Lauf der Zeit hatte man gezielt Weinberge und Olivenhaine erworben, gruppiert um vierzehn verstreut liegende Landsitze in ausgesucht schönen Regionen Italiens. Die Familie war schon so lange reich, daß es nicht ganz einfach war, den exakten Überblick über Mobiles und Immobiles zu behalten. Das gelang am besten Tante Chiara. Sie hatte im Januar ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert und lebte in einer erlesen vergammelten Villa unweit von Arezzo, wo sie sich, umgeben von Willy, ihrem sprechenden Beo, kläffenden Hunden und den schönsten Stücken der Africana, ebenso gewitzt wie energisch um die Erhaltung und Vermehrung des Familienvermögens kümmerte.
Sie besaß eine spitze Zunge, schnelle, gletschergraue Augen und einen Gang, der nichts von seiner Elastizität verloren hatte, dazu mehr als einen Hang zu Arroganz. Ganz Dame bis in die gepflegt gebläuten Haarspitzen, war sie gleichzeitig eine Geschäftsfrau, die schon so manchen das Fürchten gelehrt hatte. »Der einzig wahre Kerl der gesamten Sippschaft«, pflegte Max Donati respektvoll von ihr zu sagen, »und ein gutes Stück männlicher, als ich es je sein werde.«
Er hing in zärtlicher Zuneigung an ihr, auch wenn er sich scheute, es nach außen zu zeigen. Im übrigen hätte Tante Chiara »Liebesgesäusel« nicht einmal ansatzweise geduldet. Lieber ging sie auf ihre scherzhafte, bisweilen ruppige Art mit ihm um, was beide herrlich fanden, vielleicht, weil sie in ihm den Sohn sah, den sie nie geboren, und er in ihr die Mutter, die er sich immer gewünscht hatte. Depressionen hatten das Leben seiner wirklichen Mutter schwergemacht; die letzten Jahre ihres Lebens hatte Elisa Donati in einem Schweizer Sanatorium verdämmert. Ihr Tod war für alle eine Erlösung gewesen; Max hatte sich standhaft geweigert, Trauer zu heucheln, auch wenn es von ihm erwartet worden war.
Seine beiden Brüder lebten nicht mehr; Bruno, der jüngere, war den Folgen eines Motorradunfalls erlegen, Filippo, der ältere, mit Anfang Zwanzig im Indischen Ozean ertrunken. Auch sein Vater Leandro, Chiaras Zwillingsbruder, war vor einiger Zeit gestorben. »Ganz beachtliche Menge von Ausfallserscheinungen«, kommentierte Max lakonisch, um schmerzliche Gefühle von vornherein zu ersticken. Vielleicht behandelte er deshalb das Thema Familie – Chiara, seine Frau Liz und den Sohn Jakob ausgenommen – distanziert, am liebsten sogar mit triefendem Spott. Es war ihm peinlich, wenn man ihn auf seine Herkunft ansprach; auf keinen Fall wollte er als fauler reicher Erbe abgestempelt werden. Er tarnte sich durch schlichte, betont unmodische Kleidung, bevorzugte zum Entsetzen seiner Frau klapprige Gebrauchtwagen und schwärmte für Urlaub im Zelt oder Wohnmobil. Auch sein Reihenhaus, das an das der Bastians grenzte, war pures Understatement, trotz aller Umbauten verwinkelt, ungünstig aufgeteilt und mit seinen steilen Treppen nicht gerade komfortabel.
Trotzdem wußte jeder, der ihm begegnete, sehr schnell, woran er war; man konnte den »erstklassigen Stall« geradezu riechen. Massimiliano Anselm Riccardo Donati, wie er mit vollem Namen hieß, hatte ein untrügliches Auge, treffsicheren Geschmack und war in der Lage – kein unerheblicher Vorteil für das expandierende Möbelunternehmen, das er seit einer Reihe von Jahren mit Martin Bastian betrieb –, auf Anhieb Qualität von Minderwertigem zu unterscheiden. Das lag nicht nur an seinem Doktor der Kunstgeschichte oder seinen Lehrjahren in einem feinen britischen Auktionshaus, das lag auch nicht an den Unmengen von Büchern, Fachzeitschriften und Katalogen, die er geradezu manisch erwarb.
Ruth war überzeugt, daß er es im Blut hatte. Ein Hauch von Distinguiertheit umgab ihn, eine Aura vornehmer Zurückhaltung, gegen die Martin wie ein Bauer wirkte. Eine verblüffende Mischung aus Aristokratischem und Animalischem allerdings, denn Max war durchaus fähig aufzubrausen und lautstark auf seinem Recht zu beharren. In solchen Augenblicken erinnerte er Ruth mit seinen vollen schwarzen Haaren und den zornigen Augen an einen Hazienda-Besitzer, dessen hitziges Temperament sich erst durch gezielte Genveredelung in Generationen halbwegs abgeschliffen hatte. Dazu gehörte ebenfalls eine kräftige Prise Ironie, die gelegentlich in herbe Selbstkritik umschlagen konnte.
»Irgend etwas ist faul an diesen Donatis! Ihre Kinder sterben zu früh oder überwerfen sich mit den Eltern. Und der Rest haut ab, wandert eines Tages aus oder verschwindet für immer im Busch.«
Er spielte auf eine Nebenlinie der Familie in Sydney an, auf die die Europäer ein bißchen herabsahen: Horden von Cousins und Cousinen, Farmersfrauen und kraftstrotzenden Baumfällertypen – wenn man den bunten, glänzenden Fotos glauben durfte, die sie in unregelmäßigen Abständen schickten –, geradezu darauf versessen, sich fortzupflanzen. Die Zahl ihrer blondschöpfigen und rothaarigen Nachkommen, all jene Bills, Susans und Mikes, die sich explosionsartig zu vermehren schienen, gab Liz Anlaß zu endlosen Sticheleien. Max wünschte sich seit langem ein zweites Kind, sie jedoch wollte sich durch nichts zu einer neuerlichen Schwangerschaft bewegen lassen. Unweigerlich gab es Streit, wann immer dieses Thema zur Sprache kam.
Kurz vor ihrer Abreise nach Santa Fé war Ruth zufällig Zeugin einer dieser Auseinandersetzungen geworden. Die Härte, mit der die Donatis sich gegenseitig die Argumente an den Kopf warfen, erschreckte sie. Sie wartete, bis Max wütend hinausgegangen war. Erst dann besaß sie den Mut, auf dem Sofa ein Stück näher zu rücken und Liz zu fragen, was in aller Welt gegen ein zweites Kind spreche.
Die blaßgrünen Augen weiteten sich. »Weißt du, was passiert, wenn du schwanger wirst? Willst du das wirklich von mir hören? Als erstes wirst du für Männer unsichtbar. Sie schauen dich an, aber sehen dich nicht, so, als ob es dich gar nicht mehr gäbe. Du hörst einfach auf zu existieren, von einem Augenblick zum anderen. Aber das ist erst der Anfang. Während dein Bauch wächst, beginnst du dich mehr und mehr aufzulösen. Dein Ich verschwindet; du bist nichts anderes als ein Tier, das die Pflicht erfüllt, die die Natur allen weiblichen Tieren auferlegt hat. Ganz und gar machtlos. Dir bleibt nichts anderes übrig, als dich deinem Schicksal zu beugen.«
»Ich denke, du bist gern Mutter?«
»Natürlich bin ich gern Mutter.« Liz antwortete in dem sanften, seltsam ausdruckslosen Ton, den sie sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte. Nur wenn man sie sehr gut kannte, hörte man die Ungeduld dahinter. »Das heißt aber doch noch lange nicht, daß ich gleich haufenweise Kinder in die Welt setzen muß, oder? Jakob ist schwierig, viel schwieriger, als ihr alle es wahrhaben wollt. Er braucht meine ungeteilte Aufmerksamkeit, wenn einmal ein halbwegs vernünftiger Mann aus ihm werden soll. Manchmal bin ich so müde und erschöpft, daß ich nur noch weinen könnte. Aber es muß ja weitergehen, nicht wahr?«
Es stimmte, was sie sagte. Sie war ganz und gar für den Kleinen da, beinahe zu viel, wie Ruth inzwischen glaubte, und schirmte ihn gegen die feindliche, gefährliche Welt mit einem Wall aus Fürsorge und Zuwendung regelrecht ab. Ruth kam es vor, als habe Jakob schon längst vor diesem Übermaß resigniert, als versuche er gar nicht mehr, dagegen zu rebellieren. Es fiel ihr schwer, mit Liz darüber zu reden. Deren Reaktion war jedesmal die gleiche.
»So kann nur jemand reden, der selbst keine Kinder hat. Siehst du nicht, wie ungeschickt er ist, wie tolpatschig? Wenn man ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen läßt, stolpert er, fällt hin und tut sich fürchterlich weh.«
Jakob, der ein Stück entfernt auf dem Teppich vor dem großen hölzernen Zweimastschoner saß, den sein Vater für ihn zu Weihnachten gebastelt hatte, ließ zwei Playmobil-Piraten hart aneinander geraten und tat, als ob er taub wäre. In Wirklichkeit aber hörte er aufmerksam zu. Ruth war überzeugt, daß er es haßte, wie von ihm in der dritten Person gesprochen wurde, als sei er unwichtig oder gar nicht anwesend; sie sah es an seinem Gesicht, das sich immer mehr verschloß. Natürlich gab er keinen Ton von sich. Wenn ihm etwas gegen den Strich ging, konnte er stunden-, manchmal sogar tagelang verstummen.
»Ganz der Vater!« behauptete Liz. »Typisch Donati! Wenn nicht alles nach seinem Kopf geht, stellt er sich tot. So lange, bis die restliche Welt ihre Fehler reumütig einsieht.«
So oder ähnlich äußerte sie sich auch, wenn es um die sprachlichen Schwierigkeiten ihres Sohnes ging, in heiterem, fast amüsiertem Ton, als handle es sich um nichts anderes als eine kindliche Marotte, die irgendwann von selbst verschwinden würde. In Wirklichkeit aber, davon war Ruth seit langem überzeugt, lagen die Dinge ganz anders.
Als sie vor zwei Tagen aus Santa Fé bei den Donatis angerufen hatte, war nicht Liz, sondern Jakob am Apparat. Während ihrer Abwesenheit mußte etwas geschehen sein, das ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Er klang wie ein Zweijähriger, stammelte, stotterte und gab seltsame, fast tierhafte Laute von sich. Kein einziges »Rara« brachte er heraus, nicht einen der kleinen Scherze, die nur sie beide verstanden. Bevor Ruth nachfragen konnte, hatte Liz ihm bereits den Hörer abgenommen und Jakob auf ihre aufgesetzt muntere Art zurück zum Spielen geschickt, als sei alles in bester Ordnung.
»Weißt du, wo Martin steckt? Ich versuche seit Tagen, ihn zu erreichen.«
»Martin?« erwiderte Liz. »Keine Ahnung! Hat uns eines Morgens Timmie in den Flur gesetzt, und weg war er. Warte mal ’ne Sekunde, ich geh’ Max fragen.« Ihr Ton veränderte sich. »Wieso rufst du eigentlich erst jetzt an? Hast uns vor lauter Wichtig-Wichtig wohl total vergessen, was?«
»Martin?« sagte Max dann gedehnt. »Der ist doch in Brandenburg unterwegs. Hat ganz geheimnisvoll getan, unentdeckte Designerstücke, wenn ich es richtig verstanden habe. Hat er dir nicht Bescheid gesagt? Na ja, ärgere dich nicht, du weißt doch, wie er ist! Wird übrigens allmählich Zeit, daß du wieder hier eintrudelst. Ich glaube, unserem Junior fehlst du schon mächtig.«
»Wie geht es Jakob? Er war vorher so merkwürdig am Telefon.«
»Natürlich geht es ihm gut. Was für eine Frage!« versicherte Max. »Abgesehen davon, daß er gerade kräftig schmollt. Liegt wohl an der Beule, die er sich heute früh geholt hat. Wieder mal die Kellertreppe zu schnell genommen. Ich schätze, das geht bald vorbei. Die Mieze vom Nachbarn kriegt Junge, eigentlich müßte es jeden Tag soweit sein. Ich hab’ ihm versprochen, daß er ein Katerchen bekommt. Sozusagen als männliche Verstärkung.«
»Prima Idee.« Sie holte noch einmal tief Luft. »Weißt du zufällig, wann Martin zurück sein wollte?«
Hoffentlich hatte es beiläufig genug geklungen. Eine tiefsitzende Scheu hielt sie davon ab, sich Max gegenüber zu öffnen. Er war Martins bester Freund, nicht ihrer.
»Kommt wahrscheinlich ganz drauf an, wie es bei dem alten Ehrgeizling läuft.« Max lachte spöttisch. »Vielleicht kommt ihr ja zur gleichen Zeit nach Hause. Wär’ doch richtig nett, wenn ihr euch vor der Tür in die Arme laufen würdet, oder?«
»Wahnsinnig nett«, sagte Ruth und legte auf.
Martin war nicht da. Sie wußte es schon, als sie aufschloß und die Tür sich knarzend öffnete. Kein Timmie, der sie mit lautem Bellen schwanzwedelnd empfing. Das Haus war leer, kalt, unbelebt. Sie wagte nicht hineinzugehen. Der Alptraum war noch zu gegenwärtig. Ruth war froh, daß der Taxifahrer, beschwingt von ihrem viel zu hohen Trinkgeld, das Gepäck bis an die Schwelle getragen hatte.
»Sie sind ja auf einmal so grün um die Nase. Ist Ihnen nicht gut?« erkundigte er sich anteilnehmend. »Kleiner Schnaps gefällig?« Er machte ein paar Schritte in Richtung Auto.
»Nein, danke, alles in Ordnung«, sagte sie schnell. »Ich war nur viel zu lange unterwegs.«
Er nickte, blieb aber stehen. Ein kalter Wind blies, und es hatte wieder zu nieseln begonnen. Im trüben Nachmittagslicht wirkte das Rot der Fassade fahl und ungesund. »Soll ich die Koffer hineintragen?«
Jetzt wollte sie nur noch, daß er verschwand.
»Danke, mach’ ich schon.« Sie versuchte zu lächeln. »Ich bin viel stärker, als ich aussehe. Den Rest erledigt mein Mann. Auf Wiedersehen und gute Fahrt.«
Sie wartete, bis er losgefahren war. Dann ging sie langsam hinein.
Überall war peinlich aufgeräumt, wie immer, wenn Martin allein war und sich von ihrer »Schlamperei«, wie er es gern nannte, erholen konnte. An der Garderobe hing sein brauner Mantel, aber seine Aktentasche fehlte und der komische Hut, den er den ganzen Winter über getragen hatte. Als sie die Rosen auf der Bauernkommode berührte, zerfielen sie; er mußte schon eine ganze Weile unterwegs sein.
Sofort war die seltsame Beklemmung wieder da. Der flatternde Puls. Das Ziehen im Magen. Die Schwierigkeit beim Schlucken. Ruth hatte wie eine Besessene gearbeitet und das gesamte Team zur Höchstleistung angetrieben, um seelischen Untiefen keine Chance zu lassen. Aber kaum war die Arbeit vorbei, kehrten sie zurück. Zusätzlich hatte ihnen der lange Flug neue, gefährliche Nahrung gegeben. Und nun das Haus. Es war widersinnig, aber sie kam sich in ihrem eigenen Haus wie ein Eindringling vor.
So beherzt wie möglich betrat sie die kleine Gästetoilette, um sich Hände und Gesicht zu waschen. Erst danach wagte sie, Dielenboden und Treppe genauer in Augenschein zu nehmen. Warmes, rötliches Buchenholz, bei näherer Betrachtung allerdings leicht aufgerauht. Verblaßte, weißliche Streifen. Weil die Putzfrau schlampig gearbeitet hatte? Oder weil jemand mit einem scharfen Mittel alle Blutspritzer weggescheuert hatte?
Reiß dich zusammen! befahl sie sich selbst und stieß die Tür zur Küche auf. Behalte bloß den Überblick!
Im Kühlschrank vertrocknete Käsereste. Dazu ein paar Joghurts, zwei ältliche Gurken und eine angebrochene Packung H-Milch. Sie trank einen Schluck und spuckte ihn angewidert in den Ausguß. Plötzlich spürte sie, wie kalt es zu Hause war, viel kälter als in New Mexico. Zu ihrer Überraschung empfand sie beinahe so etwas wie Sehnsucht nach dem weiten Land, das sich ihr so hartnäckig verweigert und erst in den letzten Tagen von seiner besten Seite gezeigt hatte. Blauer Himmel, überspannt von fedrigen Zirruswolken, trockene Erde in der Farbe gebrannten Tons. Und endlich die heiße, kraftvolle Sonne, auf die sie so lange vergeblich gewartet hatten. Unmittelbar vor dem Abflug hatte sie tief am Himmel gestanden und seinen Rand in kräftiges Orangerot gefärbt; die Berge darunter dunkle, mittlerweile fast schon vertraute Schatten.
Aber New Mexico gehörte bereits zur Vergangenheit. Sie war zurück, und es gab wichtige Dinge, die erledigt werden mußten. Ruth fröstelte und vertrieb die verlockende Vorstellung eines heißen Bades. Sie wählte die Nummer jenes Kurierdienstes, mit dem sie die besten Erfahrungen gemacht hatte. Dann rief sie im Fachlabor an, avisierte die Filme und hielt mit Heinz, dem immer hilfsbereiten Faktotum, einen kurzen, freundlichen Begrüßungsschwatz. Erleichtert legte sie wieder auf.
Als der Fahrer klingelte, händigte sie ihm sechs schwarze Filmsafetüten aus. Morgen früh konnte sie die Lieferung zurück erwarten. Erst dann begann die eigentliche Arbeit am Leuchttisch.
Vollmond, eine stille, kühle Nacht. Längst waren alle Lichter in den Häusern ringsum erloschen. Nur die Baumwipfel in den kleinen Vorgärten bewegten sich im Wind. Aber nicht einmal ihr Rauschen drang zu ihr durch: Aus Angst vor dem leeren Bett und den quälenden Gedanken hatte Ruth sich seit Stunden in der Dunkelkammer verschanzt. Zunächst die Heizung aufgedreht, um die klamme Kälte zu vertreiben, und alles gründlich aufgeräumt, abgestandenes Fixierbad weggeschüttet, Entwicklerpapiere nach Größe und Härtegraden aussortiert und neu gestapelt, Wannen geschrubbt und neue Lösungen angesetzt. Schließlich die Schwarzweißfilme aus den Hülsen geholt und in die Entwicklerspiralen gespult.
Auf einmal war es wie von selbst gelaufen. Hände und Kopf erinnerten sich an die altvertraute Routine; Ruth arbeitete schnell, geschickt und beinahe ohne Unterbrechung. Sie genoß die Dunkelheit, die sie schützend umhüllte, und war froh um das schwache, rote Licht, das die Welt draußen aussperrte. Mittlerweile waren die Filme entwickelt, fixiert, gewässert und mit Wäscheklammern aufgehängt. Sie wollte nicht warten und fönte sie trocken. Ihre Nervosität stieg. Sie wählte hochempfindliches Papier, legte einen Film in die Maske und stellte das Vergrößerungsgerät ein. Sie war viel zu neugierig, um erst verschiedene Belichtungszeiten auszuprobieren. Ohnehin dauerte ihr auf einmal alles zu lang. Angespannt bewegte sie das erste Bild im Entwicklerbad hin und her und zog es schließlich mit der Zange heraus. Ihre Ungeduld rächte sich. An einer Stelle war es entschieden zu hell. Sie hauchte es an und rieb mit dem warmen Daumen an ihm herum, damit es schneller nachdunkelte. Kein ideales Ergebnis, wie Ruth selbstkritisch fand, aber immerhin war zu erkennen, worauf es unter optimalen Bedingungen hinauslaufen könnte.
Da waren sie, die Gesichter der kleinen Indianermädchen, ernst, fast erwachsen, aber sehr lebendig trotz der Ruhe, die sie ausstrahlten. Ungewöhnliche Porträts, ehrlich, ausdrucksstark, auf verblüffende Weise unprätentiös. Ganz anders als alles, was sie in letzter Zeit fotografiert hatte, aber erfreulich aufregend, mit einer geheimnisvollen, sehr individuellen Sprache. Auf einmal war die Stimmung jenes verrückten Tages in Santa Fé wieder ganz präsent.
Sie machte weiter, euphorisiert, wie berauscht, vergaß die Zeit, ihre Müdigkeit, den Hunger, vergaß sogar von dem Bordeaux zu trinken, den sie irgendwo abgestellt hatte. Experimentierte mit Papiersorten, probierte die unterschiedlichsten Belichtungszeiten aus, um Licht- und Schattenkontraste stärker herauszuarbeiten, und wagte sich an immer größere Ausschnitte. Mit jedem weiteren Experiment veränderte sich die Bildaussage; es war, als komme erst damit die eigentliche Botschaft zutage, die bislang noch im verborgenen geblieben war, so kraftvoll und zeitlos, daß sie selbst fasziniert war. Unwillkürlich kam ihr dabei der Ausspruch von Kertész in den Sinn, den sie sich zu Beginn ihrer Studienzeit als eine Art Motto über das Bett gepinnt hatte: »Die Kamera ist mein Werkzeug. Mit ihrer Hilfe mache ich alles um mich herum erst sinnvoll.« Wie lange hatte sie das vergessen gehabt? Wie es überhaupt jemals vergessen können?
Sie erschrak, als plötzlich die Tür aufging. Licht fiel vom Flur herein. Das teure Papier, das offen herumlag, die vielversprechenden Bilder im Entwicklerbad, alles im Eimer! Welcher hirnrissige Idiot stürmte hier einfach rein, ohne anzuklopfen?
»Martin?« fragte sie aufgebracht. »Bist du das?«
Wie oft schon hatte sie ihm erklärt, daß die Dunkelkammer absolut tabu war! Hatte er sich nach all den Jahren immer noch nicht daran gewöhnt, daß er sein Leben mit einer Fotografin teilte?
Keine Antwort. Alles blieb still.
»Martin?« wiederholte sie leise, aber scharf. Ihr war glühend heiß. Gleichzeitig fror sie. Wer in aller Welt konnte es sonst sein, jetzt, lange nach Mitternacht?
Noch immer nichts.
Langsam ging sie zur Tür und stieß sie ganz auf. Jakob stand vor ihr, barfuß, in einem seiner knallbunten Schlauchnachthemdchen, die er so liebte, daß er sie nicht einmal in der Badewanne ausziehen wollte. Seinen kleinen, weißen Plüschdelphin hatte er fest an die Brust gepreßt. Weit geöffnete Augen starrten durch Ruth hindurch. Er atmete wie in Trance, tief und regelmäßig.
»Mein Gott, du bist wieder als Schlafwandler unterwegs!«
Bislang war Ruth immer ein bißchen skeptisch gewesen, wenn Liz erzählt hatte, wie sie den Kleinen unansprechbar im Garten aufgelesen oder mitten im Winter halbnackt vom Garagendach geholt hatten. Nun erlebte sie es selbst. Sie berührte seinen Arm. Er zuckte leicht zusammen, rührte sich aber nicht.
»Jakob?« sagte sie vorsichtig, »Jacco, hörst du mich? Ich bin’s, Rara!«
Sein Mund verzog sich leicht, die Lider flatterten, aber er blieb stumm. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, daß man Schlafwandler niemals wecken darf. Erst neulich hatte sie das gelesen, in einem Buch über Traumdeutung, das Fee ihr empfohlen hatte. Auf einmal erinnerte sie sich ganz genau: Es unterbricht ihre Reise, und sie finden nicht mehr zurück.
Impulsiv zog sie die Tür hinter sich zu und hob ihn hoch. Er wog schwer in ihren Armen, schwerer, als sie es in Erinnerung hatte, obwohl sie durch den dünnen Stoff alle Rippen spürte und erbärmlich dünne Beinchen unter dem hochgerutschten Trikot hervorschauten, von Schrammen übersät, Zeugnissen zahlloser tränenreicher Stürze. Seine Füße starrten vor Schmutz.
Sie trug ihn ins Schlafzimmer und legte ihn auf Martins Seite ins Bett. Beim Zudecken berührte sie seinen harten, geblähten Bauch, und sein Mund verzog sich schmerzlich. Tapferer kleiner Kämpfer, dachte sie zärtlich, immer und überall in Abwehrhaltung – gegen die Sprache, die lästigen Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft und nun sogar gegen den Schlaf.
Sie steckte ihre Nase in sein Haar und sog den warmen Kinderduft ein. Dann breitete sie sehr sanft die Decke über ihn. Er stöhnte leise und rollte sich auf der linken Seite zusammen. Schließlich schob er den Daumen in den Mund und begann lautlos zu nuckeln.
Ruth erwachte, als neben ihr das Telefon klingelte. Das Zimmer lag im Zwielicht der Morgendämmerung. Neben ihr schnarchte Jacco mit leicht geöffnetem Mund. Schon seit langem schliefen die Bastians in einem Bett aus gewachstem Rosenholz, bequem, vor allen Dingen jedoch breit genug, um sich sogar im Traum aus dem Weg zu gehen. Monas Hochzeitsgeschenk, das Ungetüm mit dem Baldachin, hatte Martin naserümpfend als Kitsch ausrangiert. Großmutter Wilma und Isolde waren hocherfreut über das massige Geschenk.
Bevor sie noch nach dem Hörer angeln konnte, verstummte das Läuten. Sie schloß wieder die Augen. Ihre Nackenmuskeln waren hart; jeder Knochen ihres Körpers tat auf unterschiedliche Weise weh. Ruth versuchte, sich zu entspannen, streckte und dehnte sich, bewegte den Kopf langsam auf dem Kissen hin und her. Irgendwann mußte sie noch einmal eingenickt sein; als sie richtig wach wurde, war es heller Morgen. Durch die weißen Vorhänge schien eine blasse, friedliche Wintersonne. Staubflocken lagen auf der großen Buddhastatue, die sie aus Thailand mitgebracht hatte, auf den chinesischen Lacktischchen, eigentlich überall. Als hätte seit Wochen niemand mehr hier gelebt.
Neben ihr, auf dem Bettrand, saß Martin und schaute sie unverwandt an.
»Hallo«, sagte sie überrascht. Ihr ganzer Zorn war verflogen. Sie war erleichtert, daß er wieder da war, und zugleich auf merkwürdige Weise über seine Anwesenheit berührt. »Hast du wenigstens ein einziges Mal an mich gedacht, all die lange Zeit?«
»Nein«, sagte er rauh, »natürlich nicht. Wer warst du gleich noch mal?«
Obwohl er lächelte, sah er müde und grau aus. Seine Haare waren zu lang, was ihm etwas ungewohnt Bohemienhaftes gab. Er hatte tiefe Ringe unter den Augen wie nach einer durchzechten Nacht. Oder einer endlosen, strapaziösen Reise. Aber wo zum Teufel war er gewesen? Bei wem? Ruth erschrak über den bitteren Zug um seinen Mund.
Er berührte ihre Nase, ihre Stirn, ihr Haar, sehr zart, als könne er sie verletzen, aber gleichzeitig neugierig, als müsse er sich eigenhändig überzeugen, daß sie wirklich aus Fleisch und Blut war. Schließlich beugte er sich nach vorn und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Er küßte sie nicht, sondern ließ seine Finger über ihre Haut gleiten, ein Blinder, der tastend zu begreifen sucht.
»Was ist los?« fragte Ruth, irritiert durch diese seltsame Art der Begrüßung. »Wo hast du die ganze Zeit gesteckt? Ich hab’ bestimmt hundertmal versucht, dich anzurufen.«
»Ich bin ein Mensch«, sagte Martin leise und zog seine Hände zurück, »der ohne Vorwarnung in Stücke zerfallen ist. Eines Tages war es plötzlich soweit. Bitte verzeih mir, wenn du kannst.«
»Was ist passiert?« Sie fuhr in die Höhe und preßte die Bettdecke schützend vor ihre Brust. »Was soll das heißen? Wovon redest du überhaupt?«
Er machte eine vage Handbewegung und schwieg. Erst da fiel ihr auf, daß er noch immer in seiner Lammfelljacke steckte. Es war warm im Raum, beinahe stickig. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen.
»Martin!« Sie hätte ihn rütteln mögen. »Mach gefälligst den Mund auf!«
»Später«, sagte er gepreßt, »wenn wir allein sind. Jakob ist wach und hört jedes Wort.«
Der Junge starrte sie aus großen Augen an.
»Guten Morgen! Wie geht es dir? Hast du schön geträumt?«
»Rara«, sagte er schwach. Dann klammerte er sich an sie wie ein verlassenes Äffchen. »Rara, Traum nein! Traum nein!«
Er begann zu weinen. Er zitterte in ihren Armen.
»Schon gut«, flüsterte Ruth und wiegte ihn hin und her. »Ist ja gut, Jacco! Die Nacht ist doch vorbei. Draußen scheint die Sonne, und wir machen uns gleich ein feines Frühstück. Mit Kakao und Marmeladenpfannkuchen, wie du es am liebsten magst.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Weißt du noch, was du geträumt hast? Willst du es mir vielleicht erzählen?«
Nicken. Heftiges Kopfschütteln. Abermals Nicken. Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.
»Kannst du bitte mal schnell drüben anrufen und sagen, daß er hier ist? Ich möchte nicht, daß sie sich unnötig Sorgen machen.«
»Was soll das heißen?« Martin war aufgestanden und schaute sie verdrießlich an. »Leihst du dir inzwischen schon das Kind aus, ohne sie zu fragen?«
»Quatsch!« erwiderte sie scharf und ärgerte sich über die Röte, die ihr ins Gesicht schoß. Wahrscheinlich sah sie jetzt schuldbewußt aus, obwohl es wahrhaft keinen Grund dafür gab. Nicht einmal, wenn man ihre kleinen Geheimnisse in Rechnung stellte: den hinter der großen Holzkiste im Keller wohlverwahrten Kinderwagen, die frischen Garnituren Babywäsche ganz oben im Schrank.
»Er hat mich beim Schlafwandeln in der Dunkelkammer aufgestöbert. Da hab’ ich alles hegen- und stehenlassen und ihn gleich hier ins Bett gepackt. Hätte ich Liz und Max vielleicht mitten in der Nacht aus den Federn klingeln sollen?« Sie wußte selbst, wie aggressiv sie auf einmal klang.
»Und wie ist er ins Haus gekommen?« fragte Martin spöttisch. Immerhin hatte er inzwischen die Jacke ausgezogen. »Mit einem kleinen Extraschlüssel für alle Fälle?«
»Keine Ahnung.« Sie war froh, daß ihr Ton wieder ruhiger war. »Wirklich nicht! Am besten fragen wir ihn selbst.«
Jakob sprang aus dem Bett. »Weißnich«, summte er vor sich hin. Keine Spur mehr von Tränen. Er grinste verschmitzt. Seine Augen strahlten. »Sagnich. Weißnich. Sag…«
»Okay, okay«, unterbrach ihn Martin, hob ihn hoch und schwenkte ihn ein paarmal durch die Luft. Lautes, vergnügtes Quietschen. Kräftiges Strampeln. »Dann eben nicht. Wir kriegen es auch so raus. Wollen wir wetten?«
»Fanga!« Ein glucksendes Lachen, von ganz tief unten aus dem Bauch. Tanzende Beine, fliegende Haare. Ein winziger, ausgelassener Troll. »Krieganich, krieganich!«
»Das werden wir ja sehen!« Martin begann übertrieben drohend zu knurren.
Jakob rannte kreischend aus dem Zimmer.
Voller Stolz trug er seine neue Türkiskette mit dem Bärenamulett, und die Federpuppe hielt er fest im Arm. Er hatte Unmengen von Pfannkuchen vertilgt, hatte sich allerdings auch an diesem Morgen mit Händen und Füßen gegen ein Bad und frische Kleider gewehrt. Nach langem Kampf resignierte Ruth schließlich, nicht zum erstenmal, wie sie sich eingestehen mußte. Jakob konnte stur sein; wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er wahrscheinlich nie Pullis und lange Hosen, sondern Tag und Nacht sein Schlabberzeug getragen. Aber schließlich war es Aufgabe seiner Mutter, nicht ihre, sich darum zu kümmern, daß er warm genug angezogen war und saubere Ohren hatte.
Am liebsten hätte Ruth ihn einfach zu Hause abgegeben und wäre gleich wieder zurück ins Wohnzimmer gegangen, wo Martin schweigend hinter seiner Zeitung saß. Aber sie wußte genau, daß ihre Chancen gering waren.
Als sie Hand in Hand mit Jakob ankam, stand Liz in der Tür, in einem verschlissenen, grünsilbernen Morgenmantel, den nur jemand wie sie tragen konnte, ohne wie eine Wasserleiche auszusehen. Sie hatte schmale Augen von einem unbestimmten, sehr hellen Jadeton, schulterlanges, mondblondes Haar und war kaum größer als ein Kind. Ihre großen, festen Brüste, die sie ungeniert zur Schau stellte und durch Gürtel und enganliegende Oberteile zusätzlich betonte, ließen die meisten Männer schwach werden und Frauen neidisch erblassen. Wenn sie in der richtigen Stimmung war, konnte Liz Weiblichkeit pur ausstrahlen; dann kam sich Ruth daneben plump und reizlos vor.
Timmie stimmte ein lautes Begrüßungsgebell an und sprang immer wieder an seinem Frauchen hoch. Nur mit Mühe konnte sie das goldbraune Energiebündel davon abhalten, ihr Gesicht abzulecken.
»Ach, du bist es«, sagte Liz schleppend und verzichtete darauf, ihr wie sonst leicht gönnerhaft die Wange zum Kuß hinzuhalten. »Komm rein! Und du auch, Sohnemann – weiß der Himmel, was ich da für ein Kind geboren habe! Natürlich barfuß, hab’ ich mir fast gedacht. Ganz prima, mitten im Winter! Macht richtig Spaß, seine alten Eltern in Angst und Schrecken zu versetzen, was?« Sie gab ihm einen kräftigen Knuff, was Jakob überhaupt nicht zu interessieren schien.
»Baba?« Sein Blick glitt suchend an ihr vorbei. »Baba da? Baba nein?« Seine Mundwinkel begannen verräterisch zu zucken.
»Glück gehabt, Schlawiner. Er hat extra gewartet, bis du zurückkommst.«
Jakob rannte strahlend los. Liz und Ruth folgten ihm.
»Eine Tasse Kaffee, schöne Nachbarin?«
Max schob Jakob von seinem Schoß, um sich zu erheben und Ruth auf beide Wangen zu können. Er roch intensiv, ganz anders als Liz, aber nicht weniger durchdringend. Beide waren entschiedene Gegner von Parfums, Deos oder Duftölen. Raubtiergeruch, dachte Ruth, Raubtiersex. Wahrscheinlich kamen sie direkt aus dem Bett. Im Freundeskreis wurde es als offenes Geheimnis gehandelt, daß die Donatis aufeinander scharf waren wie am allerersten Tag. »Liz muß im Bett eine Bombe sein«, hatte Friedemann Ratz, Anwalt und Freund beider Familien, Ruth erst vor kurzem während einer Vernissage zugezischt, »ein Vulkan, was man so hört. Damit hält sie ihn, das ist doch klar. Und mit dem Kind, dem künftigen Erben. Oder glaubst du, ein Donati würde sonst bei einer Frau bleiben, die keinen Pfennig mit in die Ehe gebracht hat?«
»Wir beide haben soeben um einiges mehr gefrühstückt, als uns vermutlich guttun wird.« Ruth entwand sich Max geschickt. »Außerdem muß ich gleich wieder rüber. Ich warte auf einen Kurier, der jeden Moment mit den Dias kommt.«
»Na ja, ein paar Minuten wirst du schon für uns erübrigen! Vielen Dank, daß du unseren Streuner aufgelesen hast! War kein schlechter Schock, als Liz vorhin vor seinem leeren Bett stand. Zum Glück kam im nächsten Augenblick Martins Anruf. Er ist also wieder zurück, der große Meister. Hat er schon was über seine Reise erzählt? Neue Goldgruben aufgetan oder ähnliches in der Richtung?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und sonst? Alles in Ordnung?«
Sein Blick bekam etwas Bohrendes. Er hatte buschige, schwarze Brauen, die über dem Nasenrücken zusammenwuchsen, und weitauseinanderstehende Augen, bei denen es schwer zu entscheiden war, ob sie blau oder grau waren.
Jakob zog die Schultern hoch und verzog sich in sein Zimmer. Nach Möglichkeit wich er selbst der kleinsten Spannung aus. Seine Mutter folgte ihm wie ein geschmeidiger Schatten.
»Ja, ja«, sagte Ruth schnell, »eigentlich schon. Sogar der Jet-lag hält sich bislang in Grenzen. Sag mal, wollt ihr eigentlich nicht langsam etwas gegen Jakobs Schlafwandeln unternehmen? Er könnte sich doch einmal ernsthaft verletzen. Ich war jedenfalls ganz schön fertig, als er plötzlich in der Dunkelkammer stand.«
»Liz sagt immer, das ist nur eine vorübergehende Phase, die bei vielen Kindern auftritt. Am besten macht man davon so wenig Aufhebens wie möglich, dann geht es schnell wieder vorbei. Und sie ist ja schließlich vom Fach und muß es eigentlich wissen, meinst du nicht?«
»Wahrscheinlich.« Ruth klang nicht gerade überzeugt. »Wir rätseln nur, wie er eigentlich reingekommen ist.«
»Man muß Kindern ihre kleinen Eigenheiten und Geheimnisse lassen«, sagte Liz, die soeben wieder den Raum betreten hatte, »sonst stellen sie noch schlimmere Dinge an.«
Das Wohnzimmer der Donatis sah aus, als wären ganze Völkerscharen durchgezogen. Auf dem Boden Spielzeug, aufgeschlagene Bücher, Zeitschriften, Teller mit Obstresten. Kleider lagen überall herum: auf den beiden schwarzen Sofas, den Sesseln, sogar den Eßtischstühlen. Der große, ovale Rosenholztisch war mit Flecken und Wachsspritzern übersät.
»So ist das eben, wenn man Kinder hat.« Ruths taxierende Blicke waren Liz nicht entgangen. Sie zuckte mit den Achseln; der Morgenmantel glitt ein wenig zur Seite und enthüllte mehr von ihrem aufregenden Dekolleté. Sie machte keine Anstalten, sich wieder zu bedecken. »Lohnt sich nicht, vernünftige Möbel anzuschaffen, bevor er aus dem Gröbsten raus ist. Geht ohnehin alles früher oder später den Bach runter.«
»Es sei denn, man besitzt ganz zufällig ein Möbelgeschäft. Oder besser noch zwei.« Ruths Lächeln war leicht gekünstelt. Sie kannte Jakob als ausgesprochen ordentliches Kind, das eher bestürzt reagierte, wenn es etwas verschüttete oder kaputtmachte. Bei ihr zumindest benahm er sich verblüffend manierlich.
»Und wie war die große Welt?« wollte Max wissen. »Tolle Kerle? Affären? Abenteuer?«
»Ganz im Gegenteil. Kalt und ziemlich anstrengend. Gräßliches Wetter, zu weiche Betten und ein Haufen unerzogener Gören, von denen jede täglich ein neues Wehwehchen hatte. Ganz zu schweigen von einer Niete als Assistent. Ich glaube, ich werd’ langsam zu alt für dergleichen.«
»Heißt das, du könntest dich wirklich damit zufriedengeben, schlicht und einfach nur noch Frau Bastian zu sein?« frotzelte er zurück.
Ein kritisches Thema – für beide. Max konnte es nicht lassen, immer wieder unpassende Bemerkungen über ihre Arbeit zu machen, vordergründig meist als Scherz getarnt, aber ganz schön bissig, wenn man genauer hinhörte. Und sie tat ihm meistens den Gefallen, darauf einzusteigen. Warum machte er das? Um sie wie Liz ins Hausfrauendasein zu katapultieren? Oder weil es ihn trotz aller gegenteiliger Beteuerungen insgeheim doch ärgerte, daß seine Frau für ein paar schlechtbezahlte Stunden im Bücherbus aushalf, anstatt in ihrem Beruf als Sozialpädagogin zu arbeiten?
»Das bin ich schon«, sagte Ruth sehr ruhig, »stell dir vor!«
»Laß sie doch zufrieden, Max!« leistete Liz unvermutet Schützenhilfe. »Mußt du immer wieder mit dem gleichen Unsinn anfangen? Ich find’s toll, daß sie so viel von der Welt sieht. Ändert sich ohnehin, wenn sie mal Kinder hat.« Sie biß sich auf die Lippe. Leichte Röte ließ ihre Augen grüner erscheinen, und sie wirkte hilflos und sehr reizvoll.
Ruth fixierte den schmutzigen Teppichboden. Alle drei schwiegen.
»Tut mir leid«, sagte Liz schließlich. »Ich wollte dich wirklich nicht …«
Wie so oft ließ sie den Satz verwehen. Auf diese Weise behielt sie das letzte Wort, ohne es wirklich aussprechen zu müssen.
»Schon in Ordnung.« Ruth stand auf. »Vielleicht schaut ihr mal abends auf eine Flasche Wein zu uns rüber. Ich hab’ auf dem Indianermarkt von Santa Fé ein bißchen mit Schwarzweißfilmen experimentiert. Sieht so aus, als könnte was Brauchbares dabei sein.«
»Super! Das find’ ich ja total großartig!« Liz war aufgesprungen und umarmte sie spontan.
Ruth wich unwillkürlich leicht zurück. Es machte sie jedesmal verlegen, wenn Liz so exaltiert reagierte.
»Na ja, keine übertriebenen Erwartungen! Es sind bloß Versuche«, wehrte sie ab. »Ich muß mich auf dem Gebiet erst wieder richtig einarbeiten. Es geht ja so schnell, daß man Dinge vergißt, die man früher im Schlaf beherrscht hat.«
»Wem sagst du das!« murmelte Liz so wehmütig, daß Max spöttisch die Stirn kräuselte. »Manchmal muß ich mich kneifen, um mich daran zu erinnern, wer ich vor ein paar Jahren noch war: eine selbständige, intelligente Frau mit spannendem Beruf und eigenem Einkommen. Tatsachen, die man nur allzu leicht zwischen Bergen von Wäsche und schmutzigem Geschirr vergißt, zwischen vollen Einkaufswagen und einem Kind, das partout nicht essen will, was man stundenlang gekocht hat.«
»Mir kommen gleich die Tränen!« Max küßte sie auf die Nasenspitze. »Bis heute abend, mein allerärmster, ausgebeuteter Schatz!« Er ging hinaus in die Diele.
»Mir auch!« schrie Liz ihm nach. »Esel, machomäßiger! Könntest mich zur Abwechslung wirklich mal ernst nehmen!« Sie schien richtig ärgerlich zu sein.
»Warte einen Moment!« rief sie Ruth hinterher, die ebenfalls zur Tür gegangen war. »Hätte ich um ein Haar vergessen.« Sie streckte ihr ein flaches, ziemlich unhandliches Paket entgegen. »Für Martin. Liegt schon ein paar Tage bei uns herum.«
»Danke.« Das Paket wog schwer in ihrer Hand. Timmie begann laut zu bellen. Er hatte offenbar genug von seinem Exil und wollte auf der Stelle nach Hause. »Hast du was ausgelegt?«
»Nein.« Liz war wieder ruhiger, und ihre Augen funkelten übermütig. Lange schon hatte Ruth sie nicht mehr so gelöst gesehen. »Sieht fast nach Versandhaus aus. Meinst du, er bestellt jetzt heimlich Katalogmode, um dich durch sein gutes Beispiel zum Sparen zu animieren?«
Beide lachten.
»Schon möglich«, sagte Ruth. »Ich rechne immer mit allem und schließe nichts aus. Bei diesem Mann fahre ich entschieden besser damit.«
»Martin?«
Keine Antwort.
»Martin, wo steckst du? Ich bin wieder da!«
Sie hörte undeutliche Geräusche aus dem Badezimmer und ging hinauf. Vor der Tür überfiel sie eine plötzliche Scheu. Sie blieb stehen, preßte ihre Stirn an den Rahmen. Wie sehr hatte sie die Intimität der ersten Jahre geliebt, diese Morgen zwischen rauschendem Badewasser, Rasierschaum und Zahnpasta! Nach der Überwindung, einem anderen Menschen bei der Verrichtung urpersönlicher Dinge so nah zu sein, hätte sie stundenlang zuschauen können, wie er seinen Körper sorgsam einseifte, abtrocknete und anschließend mindestens ebenso gewissenhaft eincremte. Alles an ihm liebte sie: die weiche, helle Haut, seine Sommersprossen den ganzen Rücken hinunter, besonders aber Martins Schulterblätter, spitz und vorwitzig wie bei einem kleinen Jungen.
Aber diese Zeit war vorbei. Seine Gewohnheiten hatten sich subtil verändert, seit langem schon. Er absolvierte sein Pflegeprogramm lustloser, beinahe gehetzt, obwohl er mindestens zweimal am Tag duschte, manchmal auch öfter. Außerdem benutzte er plötzlich Körperpuder im Übermaß, was sie nicht ausstehen konnte. Martin war immer eitel gewesen, jetzt aber ertappte Ruth ihn dabei, wie er sich auch unterwegs in Schaufenstern und Spiegeln musterte. Im Bett allerdings drehte er ihr den Rücken zu, verschanzte sich hinter kleineren Unpäßlichkeiten oder zog das Schlafengehen absichtlich in die Länge, bis er sicher sein konnte, daß sie nicht mehr wach war. Er verschloß sich ihrem Mund, ihren sehnsüchtigen Händen, eigentlich so gut wie jeder Berührung. Obwohl sie sich verzweifelt dagegen zu wehren versuchte, geriet Ruth in einen Zustand dauernder Verletztheit. Sprach sie ihn jedoch darauf an, tat Martin alles als Hirngespinst ab.
»Ich bin einfach müde, zuviel Ärger, zuviel Arbeit, nichts weiter. Ist doch ganz normal, daß man ab und zu seine Ruhe braucht, findest du nicht?«
Heute gab es kein Ausweichen, Ruth würde mit ihm reden. Sie ging langsam ins Schlafzimmer, das Paket noch immer unterm Arm, und setzte sich auf das Bett. Martins Schrank stand halb offen. Sie hatte alles im Blick. Er konnte ihr nicht entwischen.
Kurze Zeit darauf kam er herein, natürlich im Bademantel, ebenfalls eine neue Angewohnheit der letzten Monate. So, als sei sie gar nicht anwesend, suchte er Unterwäsche heraus, ein Hemd, Hose und Jackett, Socken, die passende Krawatte. Timmie lag zu seinen Füßen.
»Du warst gar nicht in Brandenburg«, sagte sie schließlich in seinen Rücken hinein. Es fing nicht gut an, sie merkte es, kaum, daß sie die Worte ausgesprochen hatte. Aber die Zeit für Diplomatie war vorbei.
»Doch«, erwiderte er leise.
»Aber nicht beim Möbelkaufen.«
»Unter anderem auch beim Möbelkaufen.« Seine Stimme klang flach.
»Unter anderem? Was meinst du damit?«
»Kann ich nicht ab und zu nur was für mich tun? Etwas, was ausschließlich mir guttut?«
Er hatte sich umgedreht und starrte sie mit einem Gesichtsausdruck an, der ihr angst machte. Seine Zähne waren leicht entblößt, in seinen Augen glühte Haß.
»Wie lange geht das schon?« fragte sie tonlos.
»Lange«, erwiderte er gepreßt. »Viel zu lange.« Er schaute an ihr vorbei zum Fenster.
»Und wer ist sie?«
»Es gibt keine Sie.«
Hatte er tatsächlich erstickt gelacht?
»Du lügst!«
»Nein. Dieses Mal nicht.«
»Wer ist es dann? Ein Mann etwa?«
Schweigen.
»Kinder?«
Er blieb stumm.
»Was machst du, verdammt noch mal?«
Keine Antwort. Er starrte durch sie hindurch.
Ruth begann zu weinen. »Willst du mich eigentlich um den Verstand bringen? Ist es das, was du vorhast?«
Martin machte einen Schritt auf sie zu, blieb aber dann mit hängenden Armen vor ihr stehen. Er sah aus, als friere er.
»Ich«, begann er zögernd, »ich … ich kann nicht darüber reden. Nicht jetzt. Nicht so.«
»Doch, du kannst!« Sie sprang ihn beinahe an, packte seinen Arm und begann ihn heftig zu schütteln. »Und du wirst! Ich hab’ es nämlich satt, dir jedes Wort einzeln aus der Nase zu ziehen, nachdem du mich durch deine seltsamen Andeutungen vollkommen durcheinandergebracht hast. Ich bin deine Frau, Martin, nur für den Fall, daß du es vergessen haben solltest! Ich hab’ ein Recht zu erfahren, was du hinter meinem Rücken treibst.«
Er schüttelte den Kopf und sah sie lange an. Dann nahm er seine Sachen über den Arm und wollte aus dem Zimmer.
Ruth versperrte ihm den Weg. »Du bleibst so lange hier drin, bis du geredet hast!« sagte sie heiser. »Das schwöre ich dir!«
»Hör doch endlich auf mit deinem Drama!« zischte er. »Das ist ja kaum noch auszuhalten!«
»Was ist los mit dir, Martin? Bitte!« Sie sah ihn flehentlich an.
»Ich kann nicht. Kapierst du nicht?«
Unsanft schob er sie zur Seite. Ruth hörte, wie er sich im Bad einriegelte. Timmie, der ihm nachgerannt war, begann zu kläffen.
Ihre Wut war so groß, daß ihr beinahe schwindelig wurde. »Scheißkerl!« flüsterte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Scheißkerl – dir werd’ ich’s zeigen!«
Sie rannte zum Bad und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. »Komm raus, du Feigling!« Ihre Hände begannen zu schmerzen. Jetzt schluchzte sie so, daß das Atmen schwierig wurde. »Komm raus und stell dich!«
Erst nach einer Weile begriff sie, was geschehen war. Die kleine Tür, die auf der anderen Seite des Bades zum Gästezimmer führte! Er war klammheimlich abgehauen.
Unten sprang sein Peugeot an.
Langsam ging Ruth ins Schlafzimmer zurück, warf sich auf das Bett und rollte sich schluchzend zusammen.
Als das Weinen versiegt war, breitete sich kalte, glasklare Ruhe in ihr aus. Ihr Blick fiel auf das Paket. Langsam löste sie die Schnur, öffnete die Verpackung. Obenauf lagen ein paar Tuben.
»LGS-Neuheit«, las sie stirnrunzelnd. »Macht die Haut weich und geschmeidig. Absolut untoxisch. Geschmacksund geruchsneutral. Antiallergisch. Minimale Dosierung ausreichend.«
Ungeduldig entfernte sie mehrere Papierlagen und stutzte, als ihre Finger etwas Weiches, merkwürdig Vertrautes berührten. Nach und nach packte sie alles aus, was Martin offensichtlich bestellt hatte, und breitete es vor sich auf der gesteppten Überdecke aus. Herrenunterwäsche aus Gummi. Ein überweites Latexcape in stumpfem Schwarz mit angearbeiteter Kopfmaske.
Am meisten erschrak sie über das, was sie ganz zuunterst fand: breite, schwarze Gummibandagen, stark genug, um einen Menschen wirkungsvoll zu fesseln.