Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens 67 – Arztroman - Britta Frey - Страница 3
ОглавлениеDie Stimmung hätte nicht heiterer und fröhlicher sein können. Inka, die jüngere Tochter von Ute und Dr. Klaus Mettner, feierte ihren siebten Geburtstag. Sie hatte ihre besten Freunde und Freundinnen eingeladen. Es waren zwölf Mädchen und Jungen, die zusammen lachten, juchzten und Spiele spielten.
Zur Feier des Tages waren auch die Eltern von Ute Mettner aus dem Rheinland angereist. Sie hatten es so eingerichtet, daß sie zwei Tage bleiben und dann weiter gen Norden fahren wollten, um an der Ostsee Urlaub zu machen.
Wegen des strahlenden Sommerwetters fand die Geburtstagsfeier in dem großen Garten hinter dem Einfamilienhaus der Mettners statt.
Nach der Kuchentafel war Ute Mettner auf die Idee gekommen, das Spiel »Gleich oder Ungleich« zu spielen. Dabei hielt eines der Kinder eine bestimmte Zahl von Perlen in der Hand. Die anderen mußten raten, ob es eine gerade oder eine ungerade Zahl war. Wer sich irrte, mußte ein Pfand abgeben.
Auch Dr. Klaus Mettner und seine Schwiegermutter waren später unter denen, die Pfände einzulösen hatten.
»Omi, du mußt ein Lied singen«, bestimmte das Geburtstagskind und sah mit strahlenden Augen zu seiner Großmutter auf.
Die alte Dame überlegte kurz.
Gleich darauf begann sie mit klarer Stimme zu singen: »Ich bin das ganze Jahr vergnügt, im Frühling wird das Feld gepflügt. Dann steigt die Lerche hoch empor und singt ihr frohes Lied mir vor – und singt ihr frohes Lied mir vor«, wiederholte sie.
Die Kinder klatschten begeistert Beifall. Inka fiel ihrer Omi vor Freude um den Hals. »Omi, das hast du toll gemacht«, rief sie.
»Ich wußte gar nicht, daß du so schön singen kannst, Mutter«, meinte Dr. Klaus Mettner. Er war ein großer, schlanker Mann mit rötlichem Haar und Sommersprossen auf dem Gesicht, der Optimismus und Lebensfreude ausstrahlte.
»Ja, ich habe noch viele unentdeckte Qualitäten, Klaus«, erwiderte seine Schwiegermutter mit feinem Lächeln.
Ramona, die ältere Tochter der Mettners, zog den Schuh hervor, den ihr Vater als Pfand abgegeben hatte. »Papi, du mußt auf dem Kopf stehen«, bestimmte sie. Die anderen Kinder begannen laut zu lachen.
»Papi, ich helfe dir«, bot Inka ihrem Vater an.
»Vielen Dank, mein Schatzilein. Aber das schaffe ich noch ohne Hilfe«, erwiderte der Arzt. Gleich darauf machte er wirklich einen Handstand und wackelte dabei mit den Zehen seines linken Fußes, an dem der Schuh fehlte.
»Papi, es ist toll, wie du das kannst«, rief Inka und machte es ihrem Vater nach. Dabei stülpte sich ihr blaues Röckchen über ihren Kopf, und ihr blauweiß gepunktetes Höschen wurde sichtbar. Als sie und ihr Vater sich wieder auf die Beine stellten, hatten sie ganz rote Köpfe.
Plötzlich war vom Wohnzimmer her das Läuten des Telefons zu hören. »Das ist bestimmt wieder jemand, der mir zum Geburtstag gratulieren will«, meinte Inka und lief über den Rasen und die Terrasse ins Haus.
»Ja, hier Inka Mettner«, meldete sie sich mit ihrer hohen Kinderstimme.
»Inka, hier ist Martin Schriewers von der Kinderklinik Birkenhain«, erklärte am anderen Ende der Leitung ein Mann.
»Ich habe Sie gleich an der Stimme erkannt, Herr Schriewers«, verkündete Inka mit strahlendem Gesicht. Sie war ganz sicher, daß Martin Schriewers anrief, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.
Statt dessen fragte er jedoch: »Inka, ist dein Papi zu Hause?«
»Ja, der ist da. Wir feiern gerade meinen Geburtstag«, berichtete die Kleine aufgeregt.
»Dann gratuliere ich dir ganz herzlich, Inka. Sagst du deinem Papi bitte, daß ich ihn einmal sprechen möchte?« bat Martin Schriewers.
Inka überlegte. »Aber in die Klinik kann mein Papi heute nicht kommen. Er hat mir versprochen, daß er an meinem Geburtstag zu Hause bleibt«, erklärte sie dann.
Für einen kurzen Moment war es am anderen Ende der Leitung still. Dann meinte Martin Schriewers jedoch: »Ruf doch deinen Papi mal bitte ans Telefon, Inka.«
»Ja, das mache ich«, versprach Inka. Sie legte den Telefonhörer neben den Apparat und lief auf die Terrasse. »Papi«, rief sie so laut sie konnte.
»Ja? Was ist denn, Inka?« erkundigte sich Dr. Klaus Mettner.
»Herr Schriewers möchte dich gern sprechen«, berichtete seine Tochter.
»Herr Schriewers«, stieß Dr. Mettner hervor. Er dachte sofort daran, daß in der Kinderklinik Birkenhain etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte, wenn Martin Schriewers, der in der Klinik die Stelle eines Hausmeisters innehatte und in der Aufnahme saß, ihn am Samstag nachmittag zu Hause anrief.
Dr. Mettner fiel der kleine Jörg Martin ein, der unter Bronchialasthma litt. Ein Sorgenkind war auch die siebenjährige Claudia von Boden, bei der ein Gehirntumor diagnostiziert worden war. Oder ging es vielleicht um den zehnjährigen Peter Schmidt, der mit einem Herzklappenfehler in die Kinderklinik gebracht worden war? überlegte der Arzt, während er quer über den Rasen zur Terrasse ging.
Seine kleine Tochter sah mit großen Augen zu ihm auf. »Papi, ich habe Herr Schriewers schon gesagt, daß du heute nicht in die Klinik kommen kannst. Weil wir doch heute meinen Geburtstag feiern«, erklärte sie.
Ihr Vater strich ihr kurz über das Haar und ging dann ohne ein Wort zu entgegnen ins Wohnzimmer. »Hier Mettner«, sagte er, nachdem er den Hörer aufgenommen hatte.
»Herr Doktor, es tut mir leid, daß ich Sie störe. Ihre Tochter hat mir schon gesagt, daß Sie heute Kindergeburtstag feiern. Es geht aber um einen dringenden Fall. In der Halle steht eine Frau mit ihrem Baby. Das Kind ist von Kopf bis Fuß mit einem Ausschlag bedeckt und leidet anscheinend furchtbare Schmerzen. Auch die Mutter ist ganz verzweifelt«, berichtete der Hausmeister.
»Gut, ich komme sofort«, versprach der Arzt. Er hängte den Hörer ein und ging wieder in den Garten.
Seine Frau spielte mit den Kindern inzwischen »Die Reise nach Jerusalem«. Sein Schwiegervater saß auf einem Korbstuhl, rauchte eine Pfeife und sah den Kindern zu.
Inka nahm ihren Vater an die Hand. »Papi, du sollst auch mitspielen«, bestimmte sie.
»Inka, das geht nicht. Ich muß jetzt gleich in die Klinik«, berichtete Dr. Mettner. Es fiel ihm schwer, das zu sagen. Er wußte, wie enttäuscht seine kleine Tochter sein würde.
Das strahlende Lächeln auf Inkas Gesicht erlosch. »Aber ich habe Herrn Schriewers doch erklärt, daß du nicht kommen kannst, weil wir heute meinen Geburtstag feiern«, rief sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Dr. Mettner hob sie auf seinen Arm. »Inka, ich wäre ja so gern bei euch geblieben. Aber da ist ein kleines Baby, das dringend meine Hilfe braucht. Ich verspreche dir, daß ich so bald wie möglich wiederkomme.«
»Wie bald?« erkundigte sich Inka, während sie schniefte.
»Ich nehme an, daß ich in einer Stunde wieder da bin«, erwiderte der Arzt.
»Eine Stunde ist aber soooo lang, Papi«, erwiderte die Kleine.
»Inka, du willst doch auch nicht, daß dem kleinen Baby etwas passiert. Oder…?« fragte der Arzt.
Seine Tochter schüttelte den Kopf, so daß ihre hellblonden Locken herumwirbelten.
»Na, siehst du. Und jetzt spiel schön, bis ich wiederkomme«, fuhr der Arzt fort. Er gab seiner kleinen Tochter noch einen liebevollen Kuß.
Als er sich aufrichtete, begegnete er dem Blick seiner Frau. Er las darin einen stummen Vorwurf.
»Es tut mir leid, Ute. Aber ich kann es nun einmal nicht ändern«, erklärte er.
Als seine Frau keine Antwort gab, wandte er sich um und ging mit schnellem Schritt weg. Zehn Minuten später erreichte er die Kinderklinik Birkenhain.
Er trat durch das hohe schmiedeeiserne Tor in den großen Klinikpark. Zwischen Kiefern und hohen Birken lag das dreistöckige Klinikgebäude.
Wer nicht wußte, daß es sich um ein Kinderkrankenhaus handelte, mußte es für ein Schlößchen halten. Mit seinen zwei anmutigen Giebeltürmen, der breiten Freitreppe und den vielen Fenstern strahlte das Gebäude ruhige Heiterkeit aus. Und doch verbarg sich hinter seinen Mauern das Leid vieler Kinder.
Ein Team von elf Kinderkrankenschwestern und Ärzten und Ärztinnen gaben ihr bestes, um den Kindern die Gesundheit wiederzugeben oder ihr Leiden zumindest zu lindern.
An der Spitze der Ärzteschaft standen der Chefarzt und Kinderchirurg Dr. Kay Martens und seine Schwester, die Chefärztin und Kinderärztin Dr. Hanna Martens.
Die Geschwister hatten die Kinderklinik vier Jahre zuvor übernommen. Sie hatten nicht nur einen hervorragenden fachlichen Ruf, sondern sie besaßen auch die seltene Gabe, sich in die Seele eines Kindes hineinversetzen zu können.
Dr. Klaus Mettner hatte in der Kinderklinik Birkenhain die Stelle eines Neurologen inne. Sein Verhältnis zum Chef und zur Chefin, wie er Dr. Kay Martens und Dr. Hanna Martens kurz und bündig nannte, könnte nicht besser sein.
Als Dr. Mettner zur Aufnahme kam, sagte er zum Hausmeister Martin Schriewers: »Guten Tag, Herr Schriewers. Da bin ich also. Haben der Chef oder die Chefin das Baby schon gesehen?«
Der Hausmeister schüttelte den Kopf. »Leider war das bisher noch nicht möglich, Herr Dr. Mettner. Der Chef ist beim Operieren. Ein Junge ist vom Baum gefallen und hat sich die Hüfte gebrochen. Die Frau Doktor ist heute nachmittag gar nicht in Ögela, soviel ich weiß. Wenn es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, hätte ich Sie bestimmt nicht angerufen. Es tut mir wirklich leid, daß ich Sie von der Geburtstagsfeier Ihrer kleinen Tochter wegholen mußte«, versicherte der Hausmeister noch einmal.
»Ich bin Arzt, und da muß das Privatleben hinter dem Beruf zurückstehen. Anders geht es nicht. Wo ist denn die Dame mit dem Baby?« erkundigte sich Dr. Mettner.
»Schwester Elli hat sie erst einmal in die Notaufnahme gebracht«, berichtete der Hausmeister.
»Gut. Vielen Dank. Dann weiß ich Bescheid«, erwiderte der Arzt. Er durchquerte mit schnellem Schritt die Halle und trat durch eine hohe Glastür in den Medizinischen Trakt der Kinderklinik. Die Notfallaufnahme lag auf der rechten Seite eines Ganges, von dem mehrere Türen abgingen.
Gleich darauf stand Dr. Mettner der Mutter gegenüber, die ihr krankes Baby auf dem Arm hielt. Sie war klein und schmal und hatte ein sehr ausdrucksvolles Gesicht, das von wilden schwarzen Locken umrahmt war. Ihre Augen waren dunkel vor Angst. Auf dem Arm hielt sie einen Säugling, der leise vor sich hin wimmerte.
*
»Guten Tag, mein Name ist Mettner«, stellte sich Dr. Klaus Mettner vor.
»Von Wölfel – Angela von Wölfel! Und das ist mein Sohn Claudius. Schauen Sie nur, wie er aussieht. Seit gestern hat er diesen Ausschlag. Ich dachte, es würde wieder weggehen. Aber es wird immer schlimmer«, berichtete Angela.
»Legen Sie den Kleinen doch bitte dort auf die Unterlage und ziehen Sie ihn aus, damit ich ihn untersuchen kann«, bat der Arzt mit ruhiger und freundlicher Stimme.
Die Frau nickte. Sie zog ihrem Baby erst das Jäckchen und das Hemd aus und befreite es danach von seinen Windeln. Der Arzt merkte, daß ihre Hände dabei zitterten.
»Na, mein Kleiner«, sagte er zu dem Baby, als es nackt auf dem Wickeltisch lag.
Das Kind hörte plötzlich auf zu wimmern und steckte die Finger seiner rechten Hand in den Mund. Dabei sah es mit großen Augen zu dem Arzt auf.
»Na, das tut dir bestimmt weh«, fuhr der Arzt fort, während er die Beinchen des Kindes hochhob. Der ganze Unterleib und Po des Jungen waren mit roten geschuppten Stellen bedruckt. Die gleichen Stellen, wenn auch nicht ausgeprägt, waren auf dem Kopf und der Brust des Babys zu sehen.
»Herr Doktor, mein Sohn ist alles, was ich habe. Er ist mein Leben. Es darf ihm nichts passieren«, flüsterte die Frau.
Der Arzt zog dem Kleinen wieder das Hemdchen über. »Ihr Kind wird bald wieder gesund sein«, versicherte er der Mutter.
»Ist das wahr? Ist das wirklich wahr?« fragte sie.
Gegen seinen Willen mußte Dr. Mettner lächeln. »Ist das auch wirklich wahr?« So fragten ihn oft seine beiden kleinen Töchter, wenn ihnen etwas allzu unwahrscheinlich erschien.
»Ja, es ist wirklich wahr. Ihr Sohn leidet unter einer Hautkrankheit mit dem Namen Dermatitis seborrhoides. Zum Glück ist diese Krankheit weniger schrecklich, als es ihr Name vermuten läßt«, berichtete der Arzt.
Angela von Wölfel starrte Dr. Mettner an. Plötzlich löste sich in ihrem Gesicht die Spannung. In ihren Augen leuchtete es auf. »Es ist also nichts Schlimmes?« meinte sie.
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Dermatitis seborrhoides findet sich recht häufig in den ersten drei Lebensmonaten«, erwiderte er.
»Aber was kann ich dagegen tun?« wollte die junge Mutter wissen.
»Bewährt haben sich Cremes und Pasten mit bestimmten Zusätzen. Ich werde Ihnen einige dieser Präparate mitgeben. Wichtig ist auch eine sachgemäße Körperpflege. Sie sollten darauf achten, daß Ihr Kind nur Kleidung aus Naturfasern trägt und dem Badewasser entzündungshemmende Mixturen zusetzen. Auch davon gebe ich Ihnen gleich ein Präparat mit«, versprach der Arzt.
»Sie sind wirklich nett. Ach, wenn Sie wüßten, wie erleichtert ich bin. Ich habe mir so große Sorgen gemacht«, gestand Angela von Wölfel, während sie ihren Jungen wieder anzog und auf den Arm nahm.
»Wenn mit dem Kleinen wieder einmal etwas sein sollte – was ich nicht hoffe – kommen Sie bitte gleich in die Klinik. Wohnen Sie hier bei uns in Ögela?« erkundigte sich Dr. Mettner unvermittelt.
Angela lächelte und küßte ihr Baby zärtlich auf die Stirn. »Nur vorübergehend. Ich bin Malerin und habe für den Sommer ein kleines Häuschen am Waldrand gemietet. Claudius ist noch in einem Alter, in dem er sehr viel schläft. Während der Zeit male ich. Ich bin ganz verliebt in die Heidelandschaft rund um Ögela und möchte am liebsten alles malen, was ich sehe«, berichtete sie.
»Ja, unsere Lüneburger Heide gehört sicherlich mit zu den schönsten Flecken in ganz Deutschland«, bestätigte Dr. Mettner.
»Stammen Sie denn aus Ögela?« wollte Angela wissen.
»Nein, ich bin in Hamburg aufgewachsen. Meine Eltern leben noch immer dort«, erwiderte der Arzt.
»In Hamburg!« sagte Angela und war plötzlich ganz lebhaft. »Da komme ich auch her. Ich habe bald in einer Hamburger Kunstgalerie eine große Ausstellung meiner Heidebilder. Sie müssen unbedingt bei der Eröffnung dabei sein«, bestimmte Angela.
Dr. Mettner lachte. »Das kann ich leider nicht versprechen. Nicht nur, weil ich beruflich sehr eingespannt bin. Ich habe auch noch meine Familie hier, meine Frau und meine Kinder«, erklärte er.
Angela ging mit dem Baby auf dem Arm zur Tür. »Ich schicke Ihnen trotzdem eine Einladung. Und vielen Dank noch einmal.«
»Warten Sie, Frau von Wölfel. Ich wollte Ihnen doch noch die Präparate mitgeben«, erinnerte sich der Arzt.
»Wie konnte ich das nur vergessen. Draußen vor der Tür hätte ich es aber bestimmt gemerkt«, versicherte Angela.
Dr. Mettner ging zum Telefon und rief im Schwesternzimmer an. Als sich gleich darauf Schwester Jenny meldete, nannte er ihr die Namen der Medikamente, die sie ihm in die Notfallaufnahme bringen sollte.
Dr. Mettner sah auf seine Armbanduhr. Es war über eine Stunde her, seit er die Geburtstagsfeier seiner Tochter verlassen hatte. Mit weit ausholendem Schritt verließ er den Klinikpark. Nachdem er etwa fünfhundert Meter die Dorfstraße von Ögela hinuntergegangen war, bog er in die schmale Seitenstraße ein, an deren Ende das Haus stand, in dem er mit seiner Familie wohnte.
Er durchquerte den kleinen Vorgarten mit den hübschen Blumenbeeten, ging um das Haus herum und kam in den Obstgarten, wo die Geburtstagsfeier seiner kleinen Tochter stattgefunden hatte.
Zu seiner großen Überraschung war kein Geburtstagsgast mehr da. Auch Inka und Ramona waren nicht zu sehen. Seine Frau war gerade dabei, auf der Terrasse den Tisch abzudecken.
Dr. Mettner ging zu ihr. »So, da bin ich wieder. Wo sind denn die Kinder?« wollte er wissen.
»Die sind gerade nach Hause gegangen«, erwiderte Ute.
»Schade. Ich hätte gern noch ein wenig mit ihnen gespielt«, erklärte der Arzt.
Ute stellte die Schüssel, in der noch zwei Wiener Würstchen lagen, auf den Tisch zurück. »Dann hättest du nicht so lange wegbleiben dürfen, Klaus«, warf sie ihrem Mann vor.
»Aber Ute, ich hatte in der Klinik zu tun«, wehrte sich Dr. Mettner. Er war ganz erschrocken über den Ausbruch seiner Frau. Bisher hatte sie doch immer Verständnis für ihn und seinen Beruf gehabt.
Utes Nasenflügel vibrierten. »Fällt dir eigentlich gar nicht auf, daß du für deine Familie kaum noch Zeit hast?« fragte sie mit nur mühsam unterdrückter Erregung.
Bevor Dr. Mettner eine Antwort geben konnte, ertönte vom ersten Stockwerk des Hauses eine Kinderstimme. »Papi ist wieder da. Inka, Papi ist da!«
Der Arzt hob den Kopf. Er sah, wie sich seine Tochter Ramona zum Fenster hinausneigte. Ihre hellblonden Locken waren verwuschelt, ihre runden Wangen glühten und ihre Augen strahlten.
Gleich darauf erschien auch Inka. »Papi, wo warst du denn nur so lange? Wir haben so auf dich gewartet«, erklärte sie. Dabei beugte sie sich so weit vor, daß der schmale Reif, mit dem sie ihr helles Haar zurückgehalten hatte, hinunterfiel.
Dr. Mettner fing ihn auf. »Lehnt euch nicht zu weit aus dem Fenster, Inka und Ramona. Ich komme zu euch«, rief er seinen Kindern zu.
Zu seiner Frau gewandt meinte er: »Laß uns später in Ruhe über alles sprechen, Ute.« Er lächelte, aber Ute gab das Lächeln nicht zurück. Ihr schönes, klares Gesicht blieb verschlossen.
Dr. Mettner seufzte innerlich tief auf und lief dann die Treppe zum ersten Stockwerk seines Hauses hinauf, wo das Kinderzimmer, das Schlafzimmer der Eltern und ein Raum lagen, der für Gäste vorgesehen war.
Bevor er den obersten Treppenabsatz erreichte, kam Inka angestürmt und fiel ihm um den Hals. »Endlich bist du da, Papi«, sagte sie noch einmal.
Dr. Mettner hob das Geburtstagskind auf seine Arme und trug es ins Kinderzimmer. Dort zog seine Tochter Ramona ihrer Puppe gerade ein frisches Jäckchen an. Seine Schwiegermutter war dabei, die Betten der Kinder aufzuschütteln.
Dr. Mettner stellte Inka auf den Boden. »Guten Tag, Mutter«, sagte er zu seiner Schwiegermutter. Ramona strich er über das Haar. »Hallo, kleine Maus«, grüßte er sie.
»Hallo, Papi«, antwortete Ramona.
Dr. Mettner setzte sich auf einen der beiden Korbstühle, die neben dem Fenster standen. »Seid ihr denn zufrieden mit eurer Geburtstagsfeier?« fragte er seine Kinder.
»Es war ganz toll, Papi. Ich war nur ein bißchen traurig, weil du in die Klinik gehen mußtest«, gestand Inka, während sie sich ihrem Vater auf den Schoß setzte und einen Arm um seinen Hals legte.
»Es tut mir leid, Inka-Liebes«, erwiderte der Arzt.
Fünf Minuten später verwandelten Inka und Ramona das Badezimmer in eine Art Schwimmbad. Ihr Vater versuchte, sie abzuduschen. Sobald sie jedoch der Strahl der Dusche traf, sprangen sie laut juchzend und kreischend aus der Badewanne und hüpften im Badezimmer hin und her.
Schließlich erschien Ute. »Was ist denn hier los?« fragte sie. Entsetzt betrachtete sie die Wasserpfützen auf dem Kachelfußboden. »Papi ist unser Bademeister, und wir wollen uns nicht von ihm abduschen lassen«, erklärte Ramona und hüpfte wieder aus der Dusche.
»Ramona, geh bitte in die Wanne zurück. Und beeilt euch ein bißchen, damit ihr ins Bett kommt«, bestimmte Ute.
Danach ließen sich Inka und Ramona von ihrem Vater nicht nur brav abduschen. Sie standen auch ganz ruhig, als ihr Vater sie mit einem großen Badetuch abruffelte und danach erst Inka und dann Ramona ins Kinderzimmer trug.
Während sie sich dort ihre Schlafanzüge anzogen, wischte der Arzt schnell den Boden des Badezimmers auf. Als er zu seinen Töchtern kam, lagen Inka und Ramona mit rosigen Gesichtern im Bett und sahen ihm erwartungsvoll entgegen.
»Hier ist mein neues Buch, das Omi und Opi mir zum Geburtstag geschenkt haben. Liest du uns daraus vor?« bat Inka und reichte ihrem Vater ein dickes Buch.
Dr. Mettner nahm es. »Ah, Grimms Märchen«, sagte er.
»Am liebsten möchten Inka und ich das Märchen von Rapunzel hören«, erklärte Ramona.
»Also schön, Rapunzel. Seite 175«, erwiderte Dr. Mettner und begann zu lesen. »Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich schon lange vergeblich ein Kind.«
*
Nachdem sie auf den weißlackierten Korbsesseln Platz genommen hatten, wollte sich Utes Vater eine Pfeife anzünden. »Aber Fritz, erst wollen wir doch auf das Wohl unserer Kinder trinken«, mahnte seine Frau.
»Entschuldigung, Da hast du ganz recht, Marga«, erwiderte Utes Vater und legte seine Pfeife beiseite.
Dr. Mettner goß den Wein ein und reichte jedem ein Glas. »Auf die Kinder, und daß wir noch viele glückliche Geburtstage feiern können«, meinte er.
»Das wünsche ich euch auch von ganzem Herzen«, stimmte seine Schwiegermutter zu.
Nachdem sie getrunken hatten, setzte Utes Vater seine Pfeife in Brand. Genüßlich sog er daran und blies dann den Rauch von sich. »Ich wollte dir, liebe Ute, und dir, Klaus, einen Vorschlag machen«, begann er dann.
»Was denn, Papa?« fragte Ute sofort.
»Wie ihr wißt, haben Mutter und ich vor, zwei bis drei Wochen an der Ostsee zu verbringen. Das Hotel, in dem wir uns eingemietet haben, hat noch Zimmer frei. Hättet ihr nicht Lust, ein paar Tage oder auch länger mit uns Urlaub zu machen? Mutter und ich würden euch gern einladen«, erklärte er.
»Papa, das wäre ganz wunderbar«, erwiderte Ute spontan. »Weil Klaus und ich über Ostern mit den Kindern auf Sylt waren, hatte wir eigentlich vor, die Sommerferien zu Hause in der Heide zu verbringen und Ausflüge zu machen. Aber warum sollten wir nicht für ein paar Tage zu euch an die Ostsee kommen? Wir könnten dort zusammen so viele schöne Dinge unternehmen. Außerdem würde die Luftveränderung den Kindern bestimmt guttun.«
»Was meinst du dazu, Klaus?« erkundigte sich Utes Vater bei seinem Schwiegersohn.
»Ich würde gern mitkommen, Vater. Zur Zeit ist mir das aber leider nicht möglich. Wir haben im Augenblick in der Klinik so viel zu tun, daß ich unmöglich verreisen kann. Ich bin aber dafür, daß Ute und die Kinder euch besuchen, nicht nur wegen der Luftveränderung. Wir haben es hier zwar wunderschön in der Heide, aber es tut immer gut, wenn man mal wieder etwas Neues kennenlernt«, gab der Arzt zur Antwort.
Utes Nasenflügel vibrierten. »Du willst also nicht mitkommen?« fragte sie.
»Ich kann nicht, Ute«, bekräftigte Dr. Mettner.
Seine Frau holte tief Luft. Ihr war anzumerken, daß es ihr sehr schwer fiel, äußerlich ruhig und gelassen zu bleiben. »Du kannst also nicht«, meinte sie.
»Nein, ich kann die Klinik zur Zeit nicht verlassen, Ute«, bestätigte ihr Mann.
Ute schluckte. »Es ist schon bald so, daß du mehr mit der Klinik als mit mir verheiratet bist«, stieß sie hervor.
Bevor ihr Mann eine Antwort geben konnte, mischte sich ihr Vater ein. »Entschuldige bitte, daß ich dazwischenfunke, Ute«, sagte er. »Aber ich finde, daß du deinem Mann Unrecht tust.«
Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, rief Ute: »Unrecht? Ich tue Klaus Unrecht?«
Ihr Vater legte ihr eine Hand auf den Arm. »Ute, bitte bleibe ruhig«, bat er.
»Papa, du weißt ja gar nicht, wie es bei uns zugeht«, brach es aus Ute hervor. »In den letzten Wochen habe ich meinen Mann kaum noch zu Gesicht bekommen. Wir können uns gar nichts vornehmen, weil Klaus doch nie Zeit hat. Heute hatte er Inka zum Beispiel fest versprochen, daß er wenigstens an ihrem Geburtstag zu Hause bleibt. Und dann ist er doch wieder in die Klinik gerufen worden.«
Der alte Herr sog kurz an seiner Pfeife und nahm sie dann aus dem Mund. »Ute«, fuhr er fort, »du hast keinen Beamten geheiratet, wie ich einer bin. Als Lehrer weiß ich immer ganz genau, wann ich Unterricht und wann ich Ferien habe.«
»Aber Papa«, wollte Ute ihren Vater unterbrechen.
»Laß mich bitte zu Ende sprechen«, entgegnete der jedoch auf seine ruhige und zugleich bestimmte Art. »Ich als Lehrer kann Pläne machen. Bei einem Arzt ist das etwas anderes. Ein Arzt kann nie genau planen. Er muß da sein, wenn seine Patienten ihn brauchen. Das wußtest du, als du deinen Mann geheiratet hast, Ute. Jetzt darfst du dich auch nicht beschweren«, ermahnte der alte Herr seine Tochter.
Ute seufzte tief auf, bevor sie antwortete. »Ich habe ja auch immer sehr viel Verständnis aufgebracht, Papa. Aber was zuviel ist, ist einfach zuviel. Es gibt doch nicht nur die Klinik. Inka, Ramona und ich sind auch noch da.«
»Ute, du tust gerade so, als ob ich meine Familie vernachlässigen würde«, wehrte sich Dr. Mettner.
»Manchmal habe ich tatsächlich den Eindruck, daß die Klinik dir wichtiger ist als deine Familie«, erwiderte seine Frau.
»Jetzt bist du aber wirklich sehr ungerecht, Ute. Ich gebe zu, daß ich während der vergangenen Wochen sehr eingespannt war. Aber meinen Kollegen und Kolleginnen ging es nicht anders als mir. Die schwierigen Fälle häuften sich in letzter Zeit. Dazu kam, daß Dr. Küsters im Urlaub war und Dr. Olegra wegen einer Virusinfektion ausfiel. Aber es dauert doch nicht mehr lange, bis sich alles wieder normalisiert«, versicherte Dr. Mettner seiner Frau.
»Siehst du, Ute«, sagte seine Schwiegermutter, »habe noch ein wenig Geduld. Bald wirst du wieder mehr von deinem Mann haben.«
Ute seufzte tief auf. »Hoffentlich«, antwortete sie, aber ihr Gesichtsausdruck blieb skeptisch.
Ihr Vater klopfte seine Pfeife in einem großen gläsernen Aschenbecher aus, der auf dem Gartentisch stand. Dann meinte er: »Es ist also so, daß Klaus nicht mit an die Ostsee kommen kann. Daran läßt sich leider nichts ändern. Ich schlage vor, daß du uns trotzdem mit den Kindern für ein paar Tage besuchst, Ute.«
Ute blickte auf ihren Mann. »Was meinst du dazu, Klaus?« erkundigte sie sich.
»Ich bin ganz dafür«, erwiderte der Arzt.
Ute wandte sich wieder ihrem Vater zu.
»Also gut, Papa. Dein Vorschlag ist angenommen.«
»Das freut mich aber, Ute«, rief ihre Mutter ganz spontan aus. »Wir werden bestimmt eine herrliche Zeit zusammen haben. Im Grunde könnten wir doch gleich morgen früh fahren. Soviel ich weiß, bist du morgen in der Klinik, nicht wahr, Klaus?«
»Ja, Mutter. Ich habe morgen Sonntagsdienst«, bestätigte Dr. Mettner.
»Also gut, dann machen wir uns doch nach dem Frühstück auf den Weg«, entgegnete seine Schwiegermutter.
Am nächsten Morgen frühstückte die Familie auf der Terrasse. Inka und Ramona bekamen Kakao. Die Erwachsenen tranken Kaffee. Ute hatte Brötchen aufgebacken, deren Duft verführerisch in die Nasen stieg. Dazu gab es Kuchen, der von der Geburtstagstafel übrig geblieben war.
»Was ist denn mit dir los, Inkalein? Du ißt ja gar nichts«, meinte Utes Vater, als er sah, daß seine Enkelin den Kuchen, der auf ihrem Teller lag, unberührt ließ.
»Ich habe heute überhaupt keinen Hunger, Opi«, antwortete Inka und schob ihren Teller ein wenig zurück.
»Du bist doch wohl nicht etwa krank, Inka?« sorgte sich ihre Großmutter und legte ihr sogleich eine Hand auf die Stirn. »Fieber hast du zumindest nicht«, stellte sie fest.
»Das ist bestimmt die Aufregung vor der Reise«, meinte ihr Mann.
»Aber das Kind muß doch etwas frühstücken«, wandte Ute ein. Sie strich ihrer kleinen Tochter über das Haar. »Iß wenigstens das kleine Stückchen Kuchen auf deinem Teller auf, Inka. Oder möchtest du lieber ein Brötchen haben?« erkundigte sie sich.
»Nein, kein Brötchen«, antwortete Inka. Sie biß ein winziges Stückchen von dem Kuchen ab und erklärte dann: »Ich habe wirklich überhaupt keinen Hunger.« Ihre Stimme klang auf einmal seltsam weinerlich.
»Vielleicht ist sie wirklich krank«, sagte Ute zu ihrem Mann.
»Komm mal her, kleine Maus«, forderte der Arzt seine Tochter auf.
Inka sprang von ihrem Stuhl auf und setzte sich ihm auf den Schoß. »Tut dein Hals weh, wenn du schluckst?« erkundigte sich Dr. Mettner.
Sein Töchterchen schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht, Papi«, erwiderte sie.
»Zeige mir trotzdem mal deine Zunge«, bat der Arzt.
Inka machte den Mund auf und streckte ihre Zunge hervor.
Ihr Vater sah ihr in den Mund. »Da kann ich nichts feststellen, Inka. Aber wie ist es, wenn ich hier drücke?« fuhr Dr. Mettner fort, während er vorsichtig auf Inkas kleinen Bauch drückte.
»Das tut auch nicht weh, Papi«, verkündete Inka.
»Fieber hast du auch nicht, wie die Omi schon festgestellt hat. Dein Hals und dein Bäuchlein sind in Ordnung. Wahrscheinlich hast du einfach keinen Appetit. Ist es das?« fragte Dr. Mettner seine kleine Tochter.
Inka nickte. »Ja, Papi«, bestätigte sie.
Ihr Vater gab ihr einen kleinen zärtlichen Klaps. »Dann setz dich wieder auf deinen Stuhl, kleine Maus«, bat er.
Inka sprang von seinem Schoß und nahm wieder auf ihrem Stuhl Platz. Dr. Mettner blickte auf seine Frau. »Es ist tatsächlich nur die Aufregung. Mach dir keine Sorgen, Ute.«
»Na gut. Ich streiche für Inka ein Brötchen. Das kann sie dann unterwegs essen«, erklärte Ute.
Eine halbe Stunde später beendete die Familie das Frühstück. Ute wollte danach den Tisch abräumen. »Laß nur, das mache ich schon«, meinte ihr Mann jedoch.
»Aber du mußt doch in die Klinik, Klaus«, entgegnete Ute.
»Mein Dienst fängt erst um zehn Uhr an. Oder traust du mir nicht zu, daß ich die Sachen ordentlich wegräume?« fragte Dr. Mettner lächelnd.
»Ich weiß doch, was für einen guten Hausmann du zur Not abgibst, Klaus«, antwortete Ute.
Ihr Mann küßte sie auf die Stirn. »Jetzt bringe ich erst einmal das Gepäck ins Auto«, erklärte er.
Als er jedoch gleich darauf sah, was seine Töchter alles mitnehmen wollten, protestierte er. »Inka, Ramona, ihr könnt doch nicht alle Puppen samt Kleidung mit an die Ostsee schleppen.«
»Unsere Puppen brauchen aber auch Luftveränderung, Papi«, erklärte Ramona.
»Und die Puppenbetten wollt ihr auch mitnehmen?« rief der Arzt.
»Wo sollen unsere Puppen denn sonst schlafen, Papi?« fragte Ramona.
Dr. Mettner gab es auf und verstaute alles so gut, wie es ging, in dem großen Auto seines Schwiegervaters, Um Punkt neun Uhr war seine Familie bereit zur Abreise. Dr. Mettner verabschiedete sich zuerst von seinen Schwiegereltern, küßte dann seine Kinder und schloß schließlich seine Frau zärtlich in die Arme.
»Paßt gut auf euch auf«, bat er mit leiser Stimme.
»Das verspreche ich dir. Und du besuchst uns wirklich am Wochenende?« fragte Ute noch einmal.
»Ganz bestimmt.«
Ute stieg in den Wagen. Sie setzte sich zwischen ihre Kinder auf die Rücksitze.
»Ist es euch auch nicht zu eng?« erkundigte sich Dr. Mettner besorgt.
»Es ist gerade noch auszuhalten. Das Auto ist ja groß, und bis zur Ostsee ist es nicht allzu weit«, erwiderte Ute.
Gleich darauf ließ ihr Vater den Motor an. Der Wagen rollte die Straße hinunter. Dr. Mettner wartete, bis er auf die Dorfstraße eingebogen und nicht mehr zu sehen war.
Danach machte er sich daran, den Frühstückstisch abzuräumen. Als er das Stück Kuchen auf dem Teller seiner kleinen Tochter sah, kam es ihm doch seltsam vor, daß Inka nichts essen wollte. Sie litt sonst nicht unter Appetitmangel. Ob sie vielleicht doch nicht ganz gesund ist? überlegte der Arzt. Vielleicht hätte er sie gründlicher untersuchen sollen.
Gleich darauf schob er den Gedanken beiseite. Es war bestimmt die Aufregung vor der Reise gewesen, weshalb Inka keinen Hunger gehabt hatte, beruhigte er sich.
Kurz darauf verließ er sein Haus.
Die Sonntagsglocken läuteten, als er sich auf den Weg zur Kinderklinik Birkenhain machte. Vor der Kirche begegnete er Anne Buschen, der Inhaberin der Familienpension »Haus Daheim«. Sie hielt ein Gesangbuch in der Hand und grüßte fröhlich: »Einen schönen guten Morgen, Herr Doktor.«
»Guten Tag, Frau Buschen. Geht es Ihnen gut?« erkundigte sich Dr. Mettner mit freundlichem Lächeln.
»Es könnte gar nicht besser sein«, war die Antwort.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Sonntag«, erwiderte der Arzt.
»Das wünsche ich Ihnen auch, Herr Doktor«, rief Anne Buschen, dann verschwand sie in der alten, schönen Dorfkirche von Ögela.
Fünf Minuten später erreichte Dr. Mettner die Kinderklinik. Im gleichen Moment, als er in die große Eingangshalle trat, kam Dr. Hanna Martens die Treppe vom ersten Stockwerk herunter.
Die Chefärztin der Kinderklinik Birkenhain war schon von ihrer äußeren Erscheinung her eine sehr bemerkenswerte Frau. Ohne den weißen Arztkittel und in anderer Umgebung hätte man sie für ein Mannequin halten können.
Blonde, bis auf die Schultern fallende Locken umgaben ein schmales und zartes Gesicht. Der schöngeschnittene Mund, die großen blauen Augen und die hohe klare Stirn waren von klassischer Schönheit. Ihre Figur hatte etwas Mädchenhaftes.
Wie so oft schon wunderte sich Dr. Mettner, daß ausgerechnet Dr. Hanna Martens noch immer nicht verheiratet war. Seiner festen Überzeugung nach war sie wie geschaffen dafür, mit einem Mann glücklich und Kindern eine gute Mutter zu sein.
Gewiß, schoß es dem Arzt durch den Kopf, der Beruf als Chefärztin einer angesehenen Kinderklinik, ließ sich kaum mit der Rolle als Ehefrau und Mutter vereinbaren. Dr. Hanna Martens hatte sich für den Beruf entschieden. Aber das, sagte sich Dr. Mettner in diesem Moment, konnte sich ja noch ändern. Es mußte nur der Richtige auftauchen.
»Guten Morgen, Herr Doktor Mettner«, grüßte Hanna und reichte ihrem Kollegen die Hand.
»Guten Tag, Chefin«, erwiderte der Arzt.
»Sie sollen nicht immer Chefin zu mir sagen«, entgegnete Hanna lächelnd.
»Aber Sie sind nun einmal meine Chefin. Zum Glück bin ich als Mann so emanzipiert, daß es mir nichts ausmacht, eine Frau als Chefin zu haben«, erklärte Dr. Mettner.
»Ich sehe, Sie lassen sich nicht davon abbringen. Übrigens… ich habe etwas für Sie«, sagte Hanna, während sie mit Dr. Mettner durch die Glastür trat, die in den Medizinischen Trakt der Klinik führte.
»Für mich? Was denn?« wunderte sich der Arzt.
»Das zeige ich Ihnen gleich«, gab Hanna zur Antwort und öffnete die Tür zum Arztzimmer. Dr. Mettner folgte ihr in den lichtdurchfluteten Raum, von dem aus man einen herrlichen Blick in den großen Klinikpark hatte.
»Das hat vorhin eine junge Frau für Sie abgegeben«, berichtete Hanna. Sie reichte ihrem Kollegen ein ungerahmtes Bild, auf dem eine Heidelandschaft zu sehen war. Im Hintergrund war der behäbige Glockenturm der Kirche von Ögela zu erkennen.
»Das sieht ja sehr hübsch aus. Aber wie komme ich dazu? Ich kenne niemanden, der mir ein Bild schenken könnte«, erklärte Dr. Mettner der Chefärztin.
»Der Name der Dame ist… warten Sie mal, ich habe ihn hier aufgeschrieben«, sagte Hanna. Sie nahm einen kleinen Zettel von ihrem Schreibtisch und warf einen Blick darauf. »Angela von Wölfel. Sie war gestern, wie sie mir erzählte, mit ihrem kleinen Sohn hier. Wenn ich Frau von Wölfel richtig verstanden habe, litt das Baby unter Dermatitis seborrhoides«, fuhr Hanna fort.
»Jetzt weiß ich«, rief Dr. Mettner aus. »Stimmt ja. Frau von Wölfel hat mir gesagt, daß sie Malerin ist.«
»Die Medikamente, die Sie Frau von Wölfel mitgegeben haben, müssen ihrer Aussage nach Wunder gewirkt haben«, berichtete Hanna.
»Es handelt sich um Cremes und Pasten mit Glukokortikosteroiden und antimikrobiellen Zusätzen«, erklärte Dr. Mettner.
»Dem Kleinen scheint es auf jeden Fall wieder sehr viel besser als gestern zu gehen. Mit dem Bild möchte sich seine Mama bei Ihnen bedanken«, erwiderte Hanna.
Dr. Mettner betrachtete es noch einmal kritisch. »Ich glaube, es wird meiner Frau gefallen. Ich muß es nur noch schön rahmen lassen«, meinte er.
Dr. Mettner nahm das Bild, brachte es ins Ärztezimmer und nahm das Buch zur Hand, in dem Schwester Regine die Vorkommnisse der Nacht aufgezeichnet hatte. Es war nichts Außergewöhnliches geschehen. Wäre es anders gewesen, überlegte der Arzt, hätte die Chefin ihm das auch bereits mitgeteilt.
Dr. Mettner beschloß, einen Gang durch die Station zu machen. Er stieg die Treppe zur ersten Etage der Klink hinauf, wo die Krankenzimmer lagen.
Im vorderen Zimmer auf der linken Seite waren der zehnjährige Jörg Bartels und der neunjährige Christoph Mechthold untergebracht. Beiden Jungen war der Blinddarm entfernt worden, und jetzt stritten sie sich darüber, wessen Blinddarm größer und damit gefährlicher gewesen war.
»Herr Doktor, mein Blinddarm war doch so groß wie eine Hand, nicht wahr?« wollte Jörg von Dr. Mettner wissen.
»Meiner war noch viel größer. Nämlich so groß wie mein Fuß«, rief Christoph und streckte seinen linken Fuß unter der Bettdecke hervor.
Dr. Mettner mußte lachen.
»Schade, daß ich eure Wurmfortsätze nicht aufbewahrt habe. Sonst könntet ihr euch selbst davon überzeugen, daß ihr beide ganz maßlos übertreibt«, antwortete er den Kindern.
»Wurmfortsätze? Welche Wurmfortsätze?« fragte Jörg ganz entsetzt.
Der Arzt setzte sich neben ihn auf den Bettrand. »Es war nicht der Blinddarm, den Dr. Martens euch rausgenommen hat, sondern der Wurmfortsatz des Blinddarms. Das ist ein kleines Zipfelchen, das am Blinddarm dranhängt«, erklärte er.
»Ach so«, meinte Christoph ganz enttäuscht. Er berührte unter der Bettdecke den Verband über seiner Narbe. »Dann war es ja gar keine gefährliche Operation«, sagte er.
»So ungefährlich war das alles aber auch nicht«, erwiderte der Arzt. »Wenn sich der Wurmfortsatz nämlich entzündet und vereitert, wie das bei dir und Jörg der Fall war, muß er sofort raus. Sonst kann es sehr kritisch werden.«
In Jörgs Augen blitzte es auf. »Dann war es also doch gefährlich?« stieß er hervor.
»Ganz bestimmt sogar«, bestätigte Dr. Mettner.
Jörg lächelte vor Stolz. »Das erzähle ich meinen Freunden. Und ich zeige ihnen auch die Narbe auf meinem Bauch«, verkündete er.
Dr. Mettner erhob sich von der Bettkante. »Bleiben Sie doch noch ein bißchen bei uns, Herr Doktor«, bat Christoph und richtete seinen Oberkörper auf.
»Ich möchte erst einmal nach den anderen Kindern sehen. Später komme ich noch einmal zu euch«, versprach der Arzt.
Er ging von einem Zimmer zum anderen. Mit zweiundzwanzig Kindern war die Station voll belegt. Einige mußte Dr. Mettner trösten. Anderen gab er Ratschläge, wieder andere, die übermütig geworden waren, mußte er bremsen.
Zum Schluß trat der Arzt in das Zimmer, in dem die siebenjährige Claudia von Bodenstedt lag. Das kleine Mädchen sollte am übernächsten Tag wegen eines Tumors im Kopf operiert werden.
Die Würde, mit der sie ihr Schicksal ertrug, hatte den Arzt immer tief beeindruckt. Er führte die Gelassenheit, mit der die Kleine das Unabänderliche hinnahm, auf den guten Einfluß ihrer Eltern zurück. Friedjof und Gudrun von Bodenstedt verstanden es, ihrem Kind trotz allem das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu geben. Seit Claudia in die Kinderklinik Birkenhain eingeliefert worden war, hatten ihre Eltern sie umhegt und umsorgt.
Auch an diesem Sonntag waren Friedjof und Gudrun von Bodenstedt bei ihrem Kind. Die Mutter strickte für Claudias Teddybären eine grüne Jacke. Der Vater malte mit seinem Töchterchen ein Bild, auf dem ein blühender Apfelbaum mit Vögeln zu sehen war.
Als sie den Arzt sah, wollte Claudia jedoch erst einmal wissen, wie es Inka und Ramona erging. Sie kannte die beiden Töchter von Dr. Mettner aus dessen Erzählungen sehr gut und nahm an allem Anteil, was Inka und Ramona betraf.
»Was Inka und Ramona machen, möchtest du gern wissen, Claudia?« meinte der Arzt. »Inka ist gestern sieben Jahre alt geworden, und Ramona hat vorgestern einen Zahn verloren. Heute morgen sind die beiden mit ihrer Mama und den Großeltern an die Ostsee gefahren.«
»Bleiben sie lange dort?« fragte Claudia sofort.
»Eine Woche, nehme ich an. Vielleicht aber auch länger«, gab der Arzt zur Antwort.
»Wenn Inka und Ramona wieder nach Ögela kommen, kann ich ja mit ihnen spielen«, fuhr Claudia fort.
»Da würden sich Inka und Romana bestimmt sehr freuen.«
Claudia nickte. »Ich auch«, flüsterte sie, aber im gleichen Moment mußte sie daran denken, daß sie vielleicht nie wieder herumtollen durfte und nie wieder gesund werden würde.
Dr. Mettner spürte bei Claudias Anblick, wie sich ihm etwas Schweres auf die Brust legte. Die Vorstellung, daß Claudia vielleicht nicht geholfen werden konnte, war ihm unerträglich.
Nach außen hin gab er sich jedoch zuversichtlich und heiter.
»Ich komme heute nachmittag noch einmal zu dir, und dann bringe ich dir Fotos von Inka und Ramona mit«, versprach er.
»O ja«, erwiderte Claudia. Sie lächelte, aber in ihren hellen Augen lag dabei ein Ausdruck von Angst.
Dr. Mettner strich ihr leicht über den Kopf und verließ dann das Zimmer. Im Flur begegnete er Oberschwester Elli. Sie war in Begleitung einer alten Dame, die Dr. Mettner schon mehrmals am Bett der zwölfjährigen Manuela gesehen hatte, der die Mandeln rausgenommen worden waren. Freundlich grüßend ging Dr. Mettner weiter.