Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens 65 – Arztroman - Britta Frey - Страница 3
ОглавлениеStill und zurückgezogen lebte Roxanne Runge seit ein paar Wochen mit ihrer achtjährigen Tochter Jennifer in ihrem Elternhaus und führte ihrem Vater den Haushalt. Kaum einmal verließ sie das Haus, weil sie die mitleidigen Blicke der Menschen, die sie von klein auf kannte, einfach nicht ertragen konnte. Es war nicht immer so gewesen. Bis vor vier Monaten war sie eine glückliche und zufriedene Frau gewesen. Ein Mann, der sie und den sie liebte, dazu Jennifer, die achtjährige Tochter, eine heile, schöne Welt, die nichts je hätte trüben können, das war ihr Leben. So hatte sie jedenfalls geglaubt.
Wie hatte sie eigentlich begonnen? Wie schon oft zuvor gingen Roxannes Gedanken auch an diesem milden Frühlingsabend in die Vergangenheit zurück, und wie ein Film liefen die Ereignisse vor ihrem inneren Auge vorbei.
Roxanne Runge stand am Fenster der im dritten Stock gelegenen Wohnung und schaute ungeduldig hinunter auf die Straße. Es war nun schon das dritte Mal in dieser Woche, daß ihr Mann nicht pünktlich von seinem Dienst nach Hause kam. Rüdiger wußte doch, daß sie mit dem Essen auf ihn wartete. An diesem Tag brutzelte das Essen schon wieder seit über einer Stunde auf dem Herd, denn es war inzwischen fünfzehn Uhr vorbei. Es war eigentlich überhaupt nicht Rüdigers Art, wenn er schon mal Überstunden machen mußte, nicht Bescheid zu geben. Und nun in einer Woche gleich dreimal.
Um achtzehn Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Als Roxanne öffnete, wirbelte ein zierliches Mädchen mit dunklem, naturkrausem Haar in die Wohnung. Es war Jennifer, die achtjährige Tochter Roxannes.
»Schau nur, Mutti, was ich heute bei der Inka gemacht habe. Gefällt es dir?« Mit glänzenden Augen hielt sie ein kleines Bastkörbchen hoch. »Habe ich ganz allein gemacht.«
»Das hast du aber wirklich sehr hübsch gemacht. Bist auch mein liebes Mädchen.«
»Wo ist Vati? Ich muß ihm das Körbchen doch auch sofort zeigen.«
»Vati ist noch nicht daheim, Schatz. Er muß heute wieder länger arbeiten. Du kannst es ihm ja später zeigen.«
»Schon wieder muß er länger arbeiten, Mutti? Warum muß Vati das jetzt immer? Vati brauchte doch sonst auch nie so oft länger zu bleiben.«
»Warum das so ist, da müssen wir den Vati fragen. Er wird bestimmt bald kommen. Bis zum Abendbrot ist es noch eine Stunde Zeit. Geh noch ein wenig in dein Zimmer und spiele. Ich rufe dich, wenn Vati inzwischen nach Hause kommt.«
Es wurde neunzehn, es wurde zwanzig Uhr und für Jennifer Zeit fürs Bett. Rüdiger aber war immer noch nicht da.
Eine innere Scheu hielt Roxanne davon ab, einmal in Rüdigers Firma anzurufen. Sie wollte bei ihm auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie würde ihn kontrollieren wollen. Dabei begann sie inzwischen, sich Sorgen zu machen. Ihm würde doch wohl nichts passiert sein? Aber in einem solchen Fall wäre sie bestimmt benachrichtigt worden.
Es ging schon auf zweiundzwanzig Uhr zu, als sich endlich von außen der Wohnungsschlüssel im Schloß drehte, und wenig später Rüdiger das Wohnzimmer betrat.
»Guten Abend, Roxi.«
»Guten Abend, Rüdiger. Heute ist es ja wirklich reichlich spät geworden. Habt ihr so viel zu tun?« Fragend sah Roxanne den großen blonden Mann an, der irgendwie verlegen zu sein schien.
»Muß ja wohl, sonst wäre ich ja früher gekommen«, antwortete er kurz und streifte ihre Wange mit einem flüchtigen Kuß.
Darüber wunderte sich Roxanne noch mehr, denn normalerweise begrüßte er sie immer sehr zärtlich. Hatte sie ihn etwa verärgert?
»Was ist, habe ich was Falsches gesagt, Rüdiger? Du bist auf einmal so anders.«
»Unsinn, das bildest du dir nur ein. Ich bin heute nur ziemlich geschafft. Es war für mich ein anstrengender Tag. Entschuldige, aber ich werde mich sofort hinlegen. Wecke mich bitte morgen früh wie immer.«
»Und dein Essen, Rüdiger?« fragte sie betroffen.
»Ich habe keinen Appetit. Ich lege mich jetzt hin. Gute Nacht, Roxanne.«
Ein paar nüchterne Worte, ohne die weiche Zärtlichkeit, die die junge Frau sonst von ihrem Mann gewohnt war.
Ratlos und hilflos sah Roxanne auf die Tür, die sich hinter Rüdiger schloß. Sie fühlte sich verletzt. Erst viel später suchte sie das Schlafzimmer auf und ging zu Bett. In ihrem Herzen hoffte sie, daß am nächsten Tag alles wieder wie immer sein würde. Vielleicht war Rüdiger wirklich nur überarbeitet.
Roxannes Wunsch erfüllte sich nicht. Der erste, noch feine Riß in ihrer heilen Welt war da, denn von nun an kam Rüdiger jeden Tag später. Nur am Samstag und am Sonntag blieb er daheim, aber er ging ihr aus dem Weg und beschäftigte sich nur mit Jennifer. Am Sonntagabend, Jennifer schlief schon, faßte sich Roxanne endlich ein Herz.
»Können wir miteinander reden, Rüdiger? So geht es nicht weiter. Was habe ich bloß falsch gemacht, was ist nur auf einmal mit dir los?«
»Kannst du mich nicht wenigstens den Film zu Ende sehen lassen?«
»Nein, ich will jetzt mit dir reden. Ich will endlich wissen, was los ist. Wenn es an mir liegt, daß du dich so seltsam verhältst, habe ich ein Recht, es zu erfahren.«
»Gut, reden wir, Roxanne.« Rüdiger erhob sich und schaltete den Fernseher aus. »Es liegt nicht an dir, es liegt nur an mir. Ich wollte dir nicht weh tun, und ich habe es nie für möglich gehalten, daß mir so etwas passiert. Aber es ist geschehen, und ich kann mich nicht dagegen wehren. Es tut mir leid.«
»Ich verstehe dich nicht. Was soll das alles, Rüdiger? Kannst du dich nicht etwas deutlicher ausdrücken? Was tut dir leid? Was versuchst du, mir zu sagen?«
»Ich werde dich verlassen, Roxanne. Ich liebe eine andere Frau. Ich kann ohne sie nicht mehr leben. Bitte, verzeih mir, aber ich kann nicht anders.«
Roxanne starrte ihn mit verständnisvollen Blicken an. Aus ihrem Gesicht wich jeder Tropfen Blut. Mit zitternden Lippen stammelte sie dann: »Sag, daß es nicht wahr ist, daß das alles nur ein Scherz ist.«
»Es ist kein Scherz, es ist die Wahrheit. Du wolltest ja unbedingt wissen, was mit mir los ist. Jetzt kennst du die Wahrheit.«
»Bitte geh, laß mich allein«, kam es tonlos über Roxannes Lippen. Sie fühlte sich auf einmal leer und ausgehöhlt. Ihre schöne heile Welt war plötzlich nur noch ein Scherbenhaufen. Hastig wandte sie sich ab, denn sie fühlte die Tränen in sich hochsteigen. Sie biß die Zähne so heftig aufeinander, daß es leise knirschte. Nein und nochmals nein, er sollte ihre Tränen nicht sehen.
Hinter Roxanne klappte leise eine Tür zu. Rüdiger war gegangen. Erst jetzt verlor sie ihre Fassung und schlug verzweifelt die Hände vor das Gesicht. Acht lange Jahre und noch etwas mehr, und mit einem Schlag war alles vorbei.
In dieser Nacht gab es für Roxanne keinen Schlaf. Irgendwann hörte sie die Wohnungstür zuklappen. Es konnte nur bedeuten, daß Rüdiger die Wohnung verlassen hatte. So eilig hatte er es auf einmal, daß er noch nicht einmal bis zum Morgen warten konnte, um sich von seinem Kind zu verabschieden. Der Gedanke an Jennifer, die völlig ahnungslos oben in ihrem Zimmer schlief, ließ die junge Frau erneut verzweifelt die Hände vor das Gesicht pressen.
Jennifer. Wie sollte sie nur ihrem kleinen Mädchen beibringen, was geschehen war? Wie würde das Kind, das in abgöttischer Liebe an ihrem Vater hing, auf alles reagieren?
Erst als das erste Licht des beginnenden Tages seinen Weg durch das Fenster ins Haus suchte, ging sie mit müden und schleppenden Schritten nach oben ins Schlafzimmer. Sie sah den weißen Bogen Papier sofort, der auf ihrem Nachttisch lag. Es waren nur ein paar hastig aufgeschriebene Worte, und die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, als sie las:
Verzeih, Roxanne, aber es ist wohl besser, ich gehe sofort. Um die finanzielle Seite braucht ihr Euch keine Sorgen zu machen. Geld für Euren Lebensunterhalt überweise ich auf unser Konto, das Dir wie bisher zur Verfügung steht.
Rüdiger.
Das war also das Ende all ihrer Träume. Was blieb, war ein Scherbenhaufen.
In der folgenden Zeit durchlebte Roxanne die Hölle der Verzweiflung. Sie fand sich nicht mehr in ihrem Leben zurecht. Sie zog sich wie ein weidwundes Tier in sich zurück. Dazu kamen die immer drängender werdenden Fragen Jennifers, die sie nach einiger Zeit nicht mehr mit der Ausrede, der Vati mußte einige Zeit in einer anderen Stadt arbeiten, vertrösten konnte. Roxanne begann, ihren Liebling Jennifer zu vernachlässigen. Sie überließ das Mädchen meistens sich selbst, ohne daß es ihr richtig bewußt wurde. Und was genauso schlimm war, sie vernachlässigte sich selbst, war bald nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wenn das Telefon klingelte, nahm sie einfach nicht ab und untersagte auch Jennifer, den Hörer abzunehmen. Für die junge Frau war der harte Schlag, der ihr Glück zerstört hatte, offenbar nicht abzufangen.
*
In Wismor, einem kleinen Ort in der Nähe von Celle, lebte Alfred Konrads, Roxanne Runges Vater. Seit Jahren Witwer, lebte der achtundfünfzigjährige große, hagere Mann allein in seinem kleinen Häuschen. Einmal in der Woche kam für ein paar Stunden eine Nachbarin, die ihm gegen ein Entgelt seine Putzarbeiten erledigte, ansonsten versorgte er sich selbst.
Alfred Konrads war es gewohnt, daß seine Tochter Roxanne alle vierzehn Tage mit ihrem Mann und Jennifer für ein paar Stunden zu Besuch kam. Wenn einmal etwas dazwischen kam, rief sie an und sagte dann Bescheid.
Aber plötzlich war das anders. Er wartete vergeblich auf ihren Besuch, und es kam auch kein Anruf, daß sie verhindert sei. Als er daraufhin versuchte, seine Tochter telefonisch zu erreichen, meldete sich niemand. So ging das eine ganze Woche lang. Nun begann er jedoch, sich Sorgen zu machen. Da der vorletzte Besuch schon ausgefallen war, weil der Schwiegersohn hatte arbeiten müssen, waren inzwischen fünf Wochen vergangen, in denen er nichts von Roxanne gehört hatte. Er ließ das Wochenende verstreichen, und als er auch dann noch keinen telefonischen Kontakt herstellen konnte, beschloß er, persönlich nach Celle zu fahren, um einmal nachzuhören, warum sich die Tochter nicht bei ihm meldete. Er konnte sich nämlich nicht entsinnen, vielleicht etwas gesagt zu haben, was sie verärgert haben könnte. Das Verhältnis zwischen ihm und Roxanne war auch nach dem Tod der Mutter immer sehr herzlich gewesen.
Es war ein milder Dienstagmorgen, als er sich in seinen Golf setzte und in die gut eine Stunde entfernte Stadt fuhr. Er parkte seinen Wagen auf dem Parkplatz, der neben dem vierstöckigen Mietshaus lag, in dem der Schwiegersohn mit seiner kleinen Familie eine hübsch eingerichtete, geräumige Wohnung bewohnte.
Als er zu den Fenstern der Wohnung hinaufsah, entdeckte er, daß bei einem der Fenster ein Flügel offen stand. Für den großen, hageren Mann war das ein Zeichen, daß auf jeden Fall jemand daheim sein mußte.
Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bevor auf sein andauerndes Klingeln oben jemand auf den Türöffner drückte. Oben vor der Wohnungstür erwartete ihn wieder das gleiche Spielchen. Es dauerte fast fünf Minuten, bis sich von innen Schritte der Tür näherten.
»Wer ist denn da?« hörte er Roxanne mit fremd klingender Stimme fragen.
»Ich bin es, dein Vater. Willst du mich nicht hereinlassen?«
Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, eine Türkette wurde entfernt, und langsam ging die Tür auf.
»Du, Vater? Was führt dich denn hierher?«
»Du stellst vielleicht Fragen, Mädel! Laß mich aber zuerst einmal in die Wohnung. Du willst mich doch wohl nicht hier vor der Tür stehen lassen, oder?«
»Natürlich nicht, Vater.« Roxanne trat einen Schritt zur Seite und ließ ihren Vater an sich vorbei in die Wohnung, um dann die Tür sofort wieder abzuschließen.
Alfred Konrads erschrak, als Roxanne sich ihm zuwandte.
»Um Gottes willen, Mädel, was ist denn mit dir passiert? Wie schaust du denn aus? Ist etwas mit Rüdiger oder mit der Kleinen?«
Mit der Fassung der jungen Frau war es plötzlich vorbei. Die ganze aufgestaute Not und Verzweiflung brach sich mit einem Tränensturz Bahn.
»Hilf mir, Vater, ich weiß nicht mehr weiter. Es ist alles aus und vorbei.« Aufschluchzend warf sich die junge Frau in die Arme des großen Mannes.
»Na, na, na, ganz ruhig, Mädel. Jetzt setzen wir uns erst einmal hin, und du beruhigst dich. Dann erzählst du mir, warum du so verzweifelt bist. Wo ist Jennifer?«
»Ich glaube, in der Schule.«
»Du glaubst, Roxi? Du mußt das doch wissen!« Betroffen sah Alfred Konrads in das vom vielen Weinen verquollene Gesicht. Er führte seine Tochter ins Wohnzimmer und zog sie neben sich auf die Couch.
»So, nun hör auf zu weinen, und sag deinem alten Vater endlich, was passiert ist. Wenn ich dir helfen soll, mußt du es mir schon sagen. Oder hast du kein Vertrauen mehr zu mir?«
»Doch, Vater, aber es ist… es ist…«
»Hast du dich mit Rüdiger gestritten? Dein Aussehen, nein alles an dir ist verändert. Du schaust ja zum Gotterbarmen aus.«
»Es ist alles aus, Vater. Rüdiger hat mich und Jennifer verlassen. Es ist schon über fünf Wochen her«, kam es da tonlos über Roxannes Lippen.
»Er hat was? Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ihr wart doch bei eurem letzten Besuchen noch so glücklich. Warum hat er euch verlassen? Es muß einen plausiblen Grund dafür geben, oder?«
»Rüdiger liebt eine andere Frau, Vater.« Roxanne senkte den Kopf, und glitzernde Tränen rollten über ihre Wangen.
»Das kann doch nicht möglich sein. Rüdiger liebt doch dich.« Bestürzt blickte Alfred Konrads auf den gesenkten Kopf seiner Tochter.
»Das habe ich auch geglaubt. Jetzt weiß ich es besser«, kam es tonlos über Roxannes Lippen.
Alfred Konrads schwieg einen Augenblick. Was hätte er sagen können, um seine Tochter zu trösten? Was er bisher gehört hatte, kam ihm wie ein Alptraum vor. Als er endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, galt seine nächste Frage der Enkelin. Eindringlich fragte er: »Und was ist jetzt mit Jennifer? Ist sie nun in der Schule oder nicht? Du mußt es doch wissen.«
»Als ich wach wurde, war Jennifer schon fort. Ich habe die ganze Nacht über nicht geschlafen, bin erst gegen Morgen eingedämmert und habe den Wecker nicht gehört.«
»Das hört sich allerdings nicht gut an. Was ich bis jetzt hier gesehen habe, gefällt mir nicht So kann und darf es nicht weitergehen. Du vernachlässigst dich, und was noch schlimmer ist, deine Tochter. Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert. Willst du, daß dir Rüdiger am Ende noch das Mädel fortnimmt?«
»Niemals gebe ich ihm Jennifer, niemals. Es reicht, daß er mein Leben zerstört hat«, brach es leidenschaftlich aus Roxanne heraus.
»Genau das denke ich auch, Roxi. Ich möchte, daß ihr beide, du und Jennifer, zu mir nach Wismor kommt. Mehr noch, ich nehme euch heute noch mit. Es wird für euch beide das Beste sein. Hier in der Wohnung erinnert dich alles an eine glückliche Zeit, und du wirst nie zur Ruhe kommen. Komm mit mir nach Hause, wenigstens für einige Zeit. Jennifer kann auch in Wismor zur Schule gehen.«
»Ich weiß nicht, Vater. Ich soll einfach alles hier aufgeben? Das kann ich nicht.«
»Du brauchst nichts aufzugeben. Du verschließt nur deine Wohnung und kommst mit deinem Kind für einige Zeit zu mir in dein Elternhaus zurück. Wach endlich auf, besinne dich, wer du bist, Roxanne. Einen Einwand lasse ich nicht zu. Ich sehe nicht ein, daß du dich für deinen untreuen Ehemann kaputt machst. Ich helfe dir beim Packen, und wenn Jennifer kommt, fahren wir sofort nach Wismor.«
*
Roxanne war so durcheinander, daß Alfred resolut das Packen der Koffer in die Hand nahm. Das galt für ihre sowie für Jennifers Kleidung. Als die Koffer fertig gepackt in der Diele standen, hörte der hagere Mann, daß sich von außen ein Schlüssel in der Wohnungstür drehte, und einen Moment später trat ein zierliches Mädchen in die Wohnung.
»Grüß dich, Jennifer. Kommst du jetzt aus der Schule?«
Mit einem Ruck fuhr die Kleine herum. Erst jetzt erkannte sie ihren Opa.
»Opa, Opa, du bist hier! Wie schön, da freue ich mich aber.«
Die Achtjährige ließ ihre Schultasche fallen, und im nächsten Moment hing sie am Hals ihres Opas.
»Ich freue mich auch, mein Schatz. Weißt du, ich habe eine Überraschung für dich.«
»Eine Überraschung, Opa? Ist der Vati endlich wiedergekommen?« Erwartungsvoll sahen Jennifers dunkle, große Augen ihn an.
»Nein, dein Vati ist noch nicht da. Meine Überraschung für dich ist, daß wir drei gleich zu mir nach Hause fahren. Eure Koffer sind schon gepackt. Sieh, da stehen sie. Wir fahren auch sofort los. Du wirst mit der Mutti einige Zeit bei mir bleiben.«
»Das geht doch nicht, Opa. Ich muß doch zur Schule gehen. Ich will auch nicht von Zuhause weg. Ich muß doch hier sein, wenn Vati wieder zurückkommt.«
»Du kannst auch in Wismor zur Schule gehen, mein Schatz. Ich werde dich gleich zu Beginn der nächsten Woche anmelden. Und dein Vati, er hat ja ein Auto. Wenn er kommt, wird er schon wissen, wo ihr seid. Ich brauche die Mutti einige Zeit. Du weißt doch, daß ich ganz allein bin. Dir hat es bei mir ja immer gut gefallen, oder?«
»Schon, Opa.«
»Na, siehst du, dann ist ja alles klar.«
»Ist die Mutti dann auch nicht mehr so traurig und weint nicht mehr so viel?«
»Weint sie denn wirklich so viel?«
»Ja, Opa, jeden Tag. Bei uns ist es überhaupt nicht mehr schön, seit Vati fort ist.«
»Wenn ihr erst bei mir seid, wird die Mutti bestimmt nicht mehr jeden Tag weinen. Gehen wir jetzt zu ihr?«
»Ich habe ganz großen Hunger, Opa. Ich habe mir heute vor der Schule kein Butterbrot mehr machen können. Ich habe nämlich kein Brot gefunden. Hat Mutti denn heute Mittagessen gekocht?«
»Ich weiß es nicht, sehen wir mal nach, oder fragen wir ganz einfach die Mutti.«
Roxanne saß noch so da, wie Alfred Konrads sie verlassen hatte. Als er mit Jennifer ins Zimmer trat, sah sie hoch.
»Mutti, ich habe ganz dollen Hunger. Hast du heute Mittagessen gekocht?«
»Hast du, Roxi?« fragte nun auch ihr Vater.
»Ich hab’s vergessen, Vater«, antwortete Roxanne schuldbewußt und stand auf. »Ich werde sofort etwas vorbereiten. Es ist nur nicht viel im Haus, ich war ein paar Tage nicht einkaufen.«
Alfred Konrads sah Roxanne einen Moment nachdenklich an und von ihr zu Jennifer. Erst jetzt fiel ihm auf, daß das Mädel schmal geworden war, daß es sehr nachlässig gekleidet war und auch einen ungepflegten Eindruck machte. Er war wohl gerade zur rechten Zeit gekommen. Zu Roxanne, die schon an der Tür war, sagte er. »Laß das mit dem Essen sein, Roxi. Sorg du dafür, daß Jennifer etwas Vernünftiges anzieht, und mach du dich auch fertig. Ich fahre jetzt zu einem Imbiß und hole uns etwas. Eine richtige Mahlzeit kannst du uns machen, wenn wir daheim sind. Ich habe alles im Hause. Und bitte, reiß dich jetzt zusammen.«
»Ja, Vater, ich will es versuchen. Komm, Jennifer, tun wir, was der Opa möchte.«
Roxanne nahm das zierliche Mädchen an die Hand und verließ mit ihr das Zimmer.
»Bringst du mir eine großes Pommes und eine Bratwurst mit, Opa?« rief ihm Jennifer noch von der Tür aus zu.
»Na klar doch, mein Schatz, mach ich. Ich beeile mich auch.«
Während Alfred zu einem Imbiß fuhr, mußte er wieder daran denken, was ihm seine Tochter gesagt hatte. Es war für ihn unfaßbar, daß Rüdiger seine Familie so einfach verlassen hatte. Sein Verhältnis zu dem Schwiegersohn war eigentlich vom ersten Tag an sehr gut gewesen. Sie hatten sich gut verstanden, und er als Vater war glücklich gewesen, daß Roxanne in Rüdiger einen liebenswerten und verantwortungsvollen jungen Mann geheiratet hatte. Daß sich die beiden jungen Menschen liebten, daran hatte er in acht Jahren nicht einmal gezweifelt. Um so unverständlicher war ihm, daß eine so glückliche Ehe, gesegnet mit einem kleinen Mädchen, das von beiden geliebt wurde, von einem Tag auf den anderen auseinanderbrechen konnte. Es war das Beste, wenn er seine Roxi, wie er sie seit ihren Kindertagen nannte, und Jennifer mit sich nahm. In einer vertrauten Umgebung, in ihrem Elternhaus, würde sie sich schon wieder fangen und sie selbst werden.
Eine Stunde später befanden sie sich auf dem Weg nach Wismor. Roxanne blieb die Fahrt über sehr schweigsam. Es war Jennifer, die munter drauflos applaudierte und immer wieder Fragen stellte und dadurch ihrem Opa keine Zeit ließ, sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen.
In Wismor angekommen, hatten sie gerade das Haus betreten, als das kleine Mädchen auch schon wissen wollte: »Wo ist denn Flapsi, Opa?«
»Flapsi ist in der Küche, Schatz. Lauf nur hin. Ich bringe inzwischen mit der Mutti die Koffer nach oben in die Schlafzimmer.«
Bevor Jennifer die Küchentür öffnete, drang lautes Hundegebell hinter der Tür hervor. Rasch öffnete Jennifer die Tür. Wie ein Blitz kam ein braunes Etwas mit langen Schlappohren aus der Küche geschossen und umkreiste schwanzwedelnd das Mädchen.
»Siehste, Opa, Flapsi hat mich sofort wiedererkannt. Dabei waren wir so lange nicht hier.« Schon kniete Jennifer am Boden und streichelte den braunen Dackel. »Darf ich mit Flapsi in den Garten, Opa?« wollte sie dann wissen.
»Natürlich, lauf nur und toll mit ihm solange herum, wie du willst. Wenn du Hunger bekommst, melde dich.«
Alfred Konrads war froh, daß Jennifer fürs erste beschäftigt war. So konnte er in aller Ruhe ein langes Gespräch mit seiner Tochter führen.
*
»Schläft Jennifer?« Am Fuße der Treppe stand Alfred Konrads und sah seine Tochter, die langsam die Treppe herunterkam, fragend an. Sie gingen beide ins Wohnzimmer, und erst da erwiderte Roxanne: »Ich hoffe es, Vater. Ich weiß bald nicht mehr, was ich dem Mädel noch sagen soll. Sie hat schon wieder gebettelt, mit ihr nach Hause zu fahren. Jennifer ist fest davon überzeugt, daß Rüdiger daheim in unserer Wohnung auf uns wartet. Gib mir einen Rat. Was soll ich nur machen?«
»Du mußt ihr endlich die Wahrheit sagen, Roxi. Einmal muß das Mädel sie erfahren. Ich sehe doch, daß seine ständigen Fragen nach dem Vati immer wieder alles in dir aufwühlen. So kommst du nie zur Ruhe. Sag Jennifer, wie es wirklich ist, um so schneller wird sie sich mit den gegebenen Tatsachen abfinden.«
»Glaubst du wirklich, daß ich es verantworten kann?«
»Ja, Roxi, es ist besser, jetzt einen schmerzhaften Schnitt, als diese ständigen Ausreden und Vertröstungen. Ich verstehe sowieso nicht, warum sich Rüdiger noch nicht ein einziges Mal bei dir gemeldet hat. Als ich vor ein paar Tagen in eurer Wohnung war, um nach dem Rechten zu sehen, war außer Werbung nichts im Briefkasten. Er glaubt wohl, wenn er pünktlich Geld überweist, damit hat es sich. Du solltest dich endlich aufraffen und einen Anwalt aufsuchen. Er hat dich und euer Kind immerhin böswillig verlassen. Du willst doch wohl nicht an dieser Ehe festhalten wollen?«
»Ich soll ihn auch noch für diese andere Frau freigeben, Vater? Nein, niemals. Ich lasse mich nicht scheiden.«
»Du mußt allein wissen, was du tust. Ich bin der letzte Mensch, der dich zu irgend etwas überreden will. Aber ich hoffe und wünsche mir, daß du mit Jennifer noch ein Weilchen bei mir bleibst. Jennifer hat sich in der Schule gut eingelebt. Sie hat sich sogar schon mit der Eva Meiners von nebenan ein wenig angefreundet. Es wäre nicht gut, wenn das alles schon wieder geändert würde.«
»Ich habe nicht vor, das jetzt schon zu ändern, Vater. Ich bleibe dir noch erhalten. Allein in meiner Wohnung in Celle würde mir nur die Decke auf den Kopf fallen. Ich bin dir so dankbar, daß du mich und Jennifer zu dir geholt hast. Ich weiß nicht, was sonst aus uns geworden wäre.«
»Du hättest dich auch allein wieder gefangen, Roxi. Es hätte nur länger gedauert. Denk jetzt nicht mehr daran. Wichtig ist im Augenblick das Mädel. Wenn du ihr morgen nachmittag die Wahrheit sagst, wird sie uns beide brauchen. Wir werden uns etwas überlegen müssen, was Jennifer von ihrem großen Kummer ablenkt. Wir müssen abwarten.«
»Du hast sicherlich recht, Vater. Bist du böse, wenn ich jetzt auch zu Bett gehe? Ich bin müde.«
»Warum soll ich böse sein? Ich werde mich auch gleich zurückziehen. Es war wieder ein langer Tag.«
»Dann wünsche ich dir eine gute Nacht, Vater.« Roxanne erhob sich, und nachdem sie dem Vater einen Kuß auf die Wange gehaucht und er ihr ebenfalls eine gute Nacht gewünscht hatte, ging sie nach oben in ihr Zimmer.
*
Als Jennifer am nächsten Tag gegen dreizehn Uhr aus der Schule kam, war sie noch recht fröhlich. Mit leuchtenden Augen zeigte sie Roxanne ihre Handarbeit, einen hübschen halbfertigen Topflappen.
»Sehr hübsch, mein Schatz, nur immer weiter so. Du bist ein sehr geschicktes Mädchen.«
»Wenn wir nach Hause fahren, zeige ich ihn auch dem Vati. Er wird sich ganz bestimmt darüber freuen. Ich habe auch ein schönes Bild für ihn gemalt. Soll ich es dir zeigen?«
»Später, Liebling, jetzt werden wir erst einmal zu Mittag essen. Ruf doch den Opa, er ist mit Flapsi hinter dem Schuppen. Ich glaube, er hat eine Überraschung für dich. Ich decke derweil den Tisch.«
Roxanne war gerade fertig, als Jennifer mit ihrem Opa die Küche betrat. Freudestrahlend lief sie auf Roxanne zu und sagte: »Mutti, Mutti, stell dir vor, der Opa hat ein Fahrrad für mich. Er hilft mir, damit ich schnell fahren lerne. Darf ich es mit nach Hause nehmen, wenn wir zum Vati fahren? Bitte, bitte, Mutti, sag ja, erlaube es mir.«
Schon wieder das Gleiche. Wenn wir zum Vati fahren. Am liebsten hätte Roxanne sich die Ohren zugehalten. Sie konnte es schon nicht mehr hören. Ungeduldig antwortete sie daher: »Erst wird gegessen. Wir reden später darüber. Zuerst mußt du auch noch deine Hausaufgaben machen.«
»Wir haben heute keine auf, weil wir doch heute eine Mathematikarbeit geschrieben haben. Und meinen Topflappen kann ich später weitermachen. Ich habe doch eine ganze Woche Zeit.«
»In Ordnung. Setz dich jetzt hin, damit wir essen können. Kalt schmeckt es nicht.«
Jennifer tat, wie ihre Mutter geheißen hatte, und genau wie der Opa ließ sie es sich gut schmecken.
Roxanne brachte keinen Bissen herunter, denn sie hatte nur noch eine kleine Galgenfrist, bis sie mit Jennifer reden, ihr die Wahrheit sagen mußte. Sie hatte plötzlich große Angst davor, wie Jennifer darauf reagieren würde. Aber ein Hinausschieben war nun nicht mehr möglich. Jennifer mußte endlich mit ihren ständigen Fragen aufhören. Es war weder für ihre Tochter noch für sie selbst gut, wenn alles so weiterlaufen würde.
Nach dem Essen sagte Alfred Konrads zu Roxanne: »Ich muß noch einmal in den Schuppen. Ein paar Kleinigkeiten sind noch an Jennifers Rad zu richten.«
»Geh nur, Vater, ich muß mich sowieso mit Jennifer unterhalten. Komm, mein Schatz, wir gehen ins Wohnzimmer hinüber. Den Abwasch kann ich auch später erledigen.«
Vertrauensvoll ging Jennifer mit ihrer Mutter, deren Herz auf einmal heftig pochte, ins Wohnzimmer.
»Sagst du mir jetzt, wann wir endlich nach Hause zum Vati fahren, Mutti? Ich habe den Vati doch so lieb.«
»Komm, setz dich einmal zu mir.«
»Ja, Mutti.« Gehorsam setzte sich Jennifer neben ihre Mutti, die einen Arm um ihre Schulter legte und sie an sich zog.
»Du bist doch mein liebes, großes Mädchen. Ich muß dir jetzt etwas sagen, was dir sehr weh tun wird. Du erinnerst dich doch bestimmt an die Zeit, bevor der Opa kam und uns zu sich holte. Du weißt noch, wie oft ich da geweint habe, nicht wahr?«
»Ja, Mutti, du warst immer so traurig und hattest keine Zeit für mich. Es ist sehr schön, daß es dir jetzt wieder bessergeht. Darum möchte ich jetzt auch wieder…«
»Das geht nicht, Liebling. Daß ich immer so traurig war, das hatte einen ganz bestimmten Grund. Dein Vati ist auch jetzt nicht zu Hause in unserer Wohnung. Er kommt auch nicht mehr zu uns zurück. Vati hat uns nicht mehr lieb. Er lebt mit einer…«
»Nein, das ist nicht wahr. Vati hat mich lieb. Du lügst, du bist ja so gemein«, unterbrach die Achtjährige ihre Mutter mit sich überschlagender Stimme und riß sich mit einem heftigen Ruck los. Mit sprühenden Augen, aus denen Tränen liefen, starrte sie Roxanne an. Diese griff nach Jennifers Arm, um sie festzuhalten.
»Nicht so, Kleines, habe ich dich schon einmal belogen? Ich bin doch auch sehr traurig darüber. Und weil das alles so ist, bleiben wir auch noch eine Weile hier beim Opa. Du weißt, ich habe dich sehr lieb, und ich werde dich niemals allein lassen. Komm, sei ein liebes Mädchen.«
Erneut riß Jennifer sich los. Am ganzen Körper bebend schrie sie erregt.
»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, ich habe dich überhaupt nicht mehr lieb.«
Roxanne war fassungslos, doch bevor sie auf diesen erneuten Ausbruch Jennifers reagieren konnte, stürzte das Mädchen aus dem Zimmer und rief immer wieder: »Opa, Opa, Opa, komm schnell! Opa, Opa.«
Alfred Konrads hörte das laute Rufen und kam rasch ins Haus geeilt. Er konnte das Mädchen gerade noch auffangen.
»Halt, nicht so stürmisch, Jennifer! Was ist denn nur mit dir los? Wo ist die Mutti?«
»Mutti ist ja so gemein, ich habe sie überhaupt nicht mehr lieb. Sie hat gesagt… Sie hat gesagt, daß der Vati uns nicht mehr will, daß er uns nicht mehr lieb hat. Ich will zum Vati.« Wie kleine Sturzbäche rollten die Tränen über Jennifers Wangen.
»Ganz ruhig, Mädel. Jetzt hör erst einmal auf zu weinen. Danach gehen wir beide zur Mutti. Sie ist nicht gemein. So etwas darfst du nie wieder sagen, hörst du?«
»Warum sagt sie dann so was Böses?« schniefte Jennifer schluchzend. »Vati ist ganz bestimmt daheim und wartet auf uns.«
»Mutti hat dir nichts Böses gesagt. Sie hat nur geglaubt, daß du mit deinen acht Jahren vernünftig genug bist, um zu verstehen. Dein Vati ist nicht bei euch daheim. Er ist jetzt schon viele Wochen fort. Schon als Mutti dir sagte, daß der Vati für längere Zeit fort müßte, hat er euch allein gelassen. Wenn ein Mann seine Frau und sein Kind verläßt, wird es wohl so sein, daß er sie auch nicht mehr liebt. Verstehst du das denn nicht?«
»Aber warum hat er uns allein gelassen, Opa? Wir haben ihn doch lieb.«
»Manchmal verstehen sich Erwachsene nicht mehr und gehen auseinander. Oder einer der Erwachsenen lernt einen Menschen kennen, den er mehr liebhat. Wenn du einmal älter bist, dann wirst du das verstehen. Meinst du, die Mutti hat gewollt, daß der Vati euch allein läßt? Wäre sie dann immer so traurig? Komm, gehen wir zu ihr. Wenn du garstig zu ihr warst, wird sie sicher sehr traurig sein.«
»Ich will aber nicht zur Mutti, ich will nach oben in mein Zimmer gehen. Bitte, Opa, darf ich? Ich will jetzt ganz allein sein.«
»Dann geh nach oben. Ich werde es der Mutti erklären.«
Nachdenklich sah der hagere Mann hinter Jennifer her, die die Treppe förmlich hinaufstürmte, danach ging er zu Roxanne ins Wohnzimmer.
Ihre Augen sahen ihn traurig an. Resignierend sagte sie: »Es war ein Fehlschlag, Vater. Jennifer kann oder will es nicht begreifen. Ich fühle mich wie ausgebrannt, daß ich ihr das antun mußte. Ich habe alles falsch gemacht, nicht wahr? Ich habe wohl das Vertrauen meines Kindes verloren, denkst du nicht auch so?«
»Wie kannst du nur so etwas sagen, Roxi?«
»Weil es den Tatsachen entspricht. Du hast nicht erlebt, wie außer sich sie vor einigen Minuten war.«
»Sie ist ein Kind, Roxi. Ihr Ausbruch war sicher nicht böse. Sie sah sich plötzlich einer unbegreiflichen Situation gegenüber. Laß dem Kind etwas Zeit. Es wird sich langsam fangen und dich weiter liebhaben. Jennifer wird die Wahrheit begreifen und sich damit abfinden. Wenn du willst, kümmere ich mich nachher um sie.«
»Ich weiß nicht, Vater, ich kann im Augenblick noch keinen klaren Gedanken fassen. Läßt du mich ein Weilchen allein?«
»Natürlich, und mach dir nicht zu viele Sorgen. Es wird schon wieder werden.«
Die Wünsche Roxannes und ihres Vaters erfüllten sich nicht. Jennifer begriff es nicht, fand sich nicht mit der Tatsache ab, daß ihr Vati, den sie so sehr liebte, auch von ihr nichts mehr wissen wollte. Jennifers Verhalten änderte sich.
*
Es war Tage später. Ungeduldig sah Roxanne auf die Uhr und horchte mit einem Ohr, ob Jennifers Schritte noch nicht zu hören waren. Nun hatte sie das Mädel schon zweimal geweckt. Wo blieb sie nur? Über den Rand seiner Brille hinweg, die er beim Lesen der Zeitung benutzen mußte, warf Alfred Konrads einen prüfenden Blick auf seine Tochter.
»Soll ich mal hinaufgehen und nachsehen, ob Jennifer noch nicht fertig ist, Roxi?«
»Nein, laß nur, Vater, sie wird schon gleich kommen. Wenn sie jetzt so lange herumklüngelt, muß sie sich gleich eben beeilen. Merkst du nicht, daß sie mich regelrecht provozieren will? Das geht jetzt schon den dritten Tag so. Ich tu doch nun wirklich alles für Jennifer, seitdem ich ihr alles gesagt habe. Es tut mir weh, wie sehr sich mein kleines Mädel verändert.«
»Du mußt ihr noch mehr Zeit lassen. Es ist nicht leicht, was die Kleine durchmacht. Ich habe dir doch schon vor Tagen gesagt, sie ist noch ein Kind. Was du provozieren nennst, ist bei ihr so eine Art Schutzpanzer. Es ist besser, wenn sie kratzbürstig und etwas aufmüpfig ist, als wenn sie andauernd weinen würde. Meinst du nicht auch? Aber still, ich glaube, sie kommt.«
Roxannes Vater hatte richtig gehört, denn im gleichen Moment wurde die Küchentür weiter aufgeschoben, und Jennifer kam herein.
»Guten Morgen, Opa«, sagte sie und setzte sich auf ihren Platz.
»Guten Morgen, Schatz, jetzt mußt du dich aber mächtig beeilen, damit du pünktlich in der Schule bist.«
»Ich mag nicht in die olle Schule, Opa.«
»Natürlich gehst du zur Schule. Alle kleinen Mädchen müssen in die Schule und etwas lernen. Gehst ja sonst auch gern hin. Beeile dich, denn gleich kommt die Evi und holt dich ab.«
»Opa hat recht, Liebling. Iß rasch dein Brot und trinke deine Milch. Es steht schon alles auf dem Tisch.«
»Ich mag aber nicht. Ich habe keinen Hunger.« Trotzig sah Jennifer ihre Mutter an.
»Du setzt dich jetzt hin und frühstückst. Mit leerem Magen kannst du nicht lernen«, sagte Roxanne sanft.
»Ich will aber nicht, du brauchst mir überhaupt nichts mehr sagen. Du bist böse, und ich will meinen Vati, damit du es nur genau weißt.« Zornig stampfte das zierliche Mädchen mit dem Fuß auf, griff nach der Schultasche und lief aus der Küche. Bevor jemand reagieren konnte, fiel vorn mit lautem Knall die Haustür zu.
»Dabei soll ich ruhig bleiben, Vater? So geht es doch auf keinen Fall. Das kann ich mir als Mutter nicht von einer Achtjährigen bieten lassen. So schlimm, wie gerade, war es bis jetzt noch nicht.«
»Versuch wenigstens, darüber hinwegzusehen. Nimm ihr damit den Wind aus den Segeln. Biete der Kleinen keine Angriffsfläche. Sie sieht in dir im Augenblick ihren Feind. Du hast mit der Wahrheit das Bild, das sie in ihrem Herzen von ihrem Vater trug, ins Wanken gebracht. Wenn sie erst richtig begreift und versteht, wird sich das auch wieder ändern. Es ist Rüdigers Schuld. Auch wenn er sich von dir getrennt hat, hätte er Jennifer nicht so vollständig in diese Trennung miteinbeziehen dürfen. So kann ich dir nur raten, habe Geduld mit deiner Tochter. Wenn es dir bei ihrem augenblicklichen Verhalten auch sehr schwer fällt. Ich hoffe, du weißt, daß du immer auf mich zählen kannst.«
»Ich weiß es, Vater, und ich kann dir dafür nicht genug danken.«
»Danken? Du bist doch meine Tochter, Roxi. Also, reden wir nicht mehr davon. Einverstanden?«
»Natürlich, Vater. Wir sollten jetzt frühstücken, sonst wird uns der Kaffee kalt. Wenn Jennifer Hunger hat, sie hat ja ihr Pausenbrot und dazu einen Apfel in ihrer Schultasche. Ihr Milchgeld für die Schule ist bezahlt, also hat sie auch in der Pause etwas zum Trinken.«
Roxanne war gerade damit beschäftigt, die Schlafzimmer im ersten Stock zu richten, als sie hörte, wie Flapsi mit lautem Bellen auf das Klingeln an der Haustür reagierte.
Die junge Frau eilte hinunter, um zu öffnen, denn der Vater konnte es nicht sein, der hatte einen Schlüssel.
»Was ist los, Flapsi? Komm zurück von der Tür«, versuchte Roxanne den kleinen Dackel zu beruhigen und öffnete die Tür.
Vor ihr stand mit gesenktem Kopf, wie eine arme Sünderin, Jennifer.
Während Flapsi schwanzwedelnd an dem Mädel hochsprang, fragte Roxanne verdutzt: »Jennifer, du? Wo kommst du denn um diese Zeit her? Dein Unterricht ist doch erst in zwei Stunden beendet?«
»Geh weg, Flapsi, laß mich in Ruhe«, wehrte Jennifer erst das Tier ab, danach sagte sie, ihre Mutter trotzig ansehend: »Unsere Lehrerin hat mich nach Hause geschickt, weil ich mich mit der Evi gezankt habe.«
»Was hat die Evi dir denn getan? Ich dachte, ihr beiden seid Freundinnen.«
»Die Schule ist doof, und eine Freundin brauche ich auch nicht.«
»Und du willst mir nicht sagen, was los war?«
»Nein, will ich nicht.«
»Gut, dann werde ich die Evi fragen. Sie wird es mir schon sagen.«
»Brauchst sie nicht zu fragen.«
»So, brauche ich nicht? Komm einmal her zu mir, ich denke, daß wir uns doch ernsthaft unterhalten sollten.«
Mit gesenktem Kopf kam Jennifer näher, blieb aber dann vor Roxanne stehen.
Diese nahm den Arm des Mädels und führte es an den Tisch. Nachdem Jennifer sich hingesetzt hatte, zog sich Roxanne einen Stuhl herbei und nahm ebenfalls Platz.
»So, mein Schatz, jetzt will ich genau wissen, warum dich deine Lehrerin nach Hause geschickt hat. Und wenn ich bitten darf, in einem vernünftigen Ton. Ich werde dir deine Ungezogenheiten nicht mehr durchgehen lassen. Also, ich höre, aber sag die Wahrheit.«
»Ich will überhaupt nicht mehr in diese blöde Schule. Fräulein Furler ist auch böse, sie mag mich nicht. Immer schimpft sie mit mir, weil ich keine Lust zum Lernen habe. Ich habe gelogen, ich habe nicht mit Evi gestritten. Unsere Lehrerin hat mich nach Hause geschickt, weil ich…«
»Weil du was, Jennifer«, drängte Roxanne, als ihre Tochter mitten im Satz abbrach und sie nur trotzig anstarrte.
»Weil ich bockig war und alle meine Bücher auf die Erde geworfen habe. Ich will nicht mehr in diese Schule. Ich will zu meinem Vati. Wenn du mich nicht zu meinem Vati läßt, rede ich nie, nie mehr ein Wort mit dir.«
»Jennifer, Kind, du weißt doch, daß ich dich nicht zum Vati bringen kann. Ich weiß ja noch nicht einmal, wo er jetzt wohnt. Du gehst jetzt hinauf in dein Zimmer. Du bleibst so lange oben und lernst, bis ich dir erlaube, wieder herunterzukommen. Geh jetzt, ich bin sehr traurig über dich. Und morgen wirst du dich bei deiner Lehrerin entschuldigen.«
Ohne etwas zu erwidern, stand Jennifer auf, sah ihre Mutter nur stumm an und verließ dann die Küche. In der Diele nahm sie ihre Schultasche hoch und lief nach oben in ihr Zimmer.
Traurig den Kopf schüttelnd sah Roxanne dem zierlichen Mädchen nach und fragte sich: Wie soll das nur noch weitergehen?
*
Schon nach einigen Tagen änderte sich Jennifers aufsässiges, aggressives Verhalten. Es schlug ins Gegenteil um. Sie ließ sich ohne Widerrede von der Mutter in die Schule schicken, ansonsten war sie nicht oft dazu zu bewegen, zum Spielen nach draußen zu gehen. Aber für Roxanne begannen jetzt erst recht die Sorgen um ihre Tochter. Mehr als einmal konnte sie beobachten, daß Jennifer einfach nur da saß und vor sich hin starrte. Auch für den Dackel Flapsi zeigte sie auf einmal keinerlei Interesse mehr. Das Mädel kapselte sich immer mehr ab, zog sich so von allem zurück, daß niemand mehr so recht mit ihr fertig wurde.
Als Roxanne dann auch noch zu Jennifers Klassenlehrerin, Frau Furler, gebeten wurde und dort erfuhr, daß Jennifer sich so gut wie überhaupt nicht mehr am Unterricht beteiligte, war die junge Frau völlig ratlos.
Als sie von dem Gespräch mit der Lehrerin nach Hause kam, fragte Alfred Konrads mit einem prüfenden Blick in ihr ernstes Gesicht: »War wohl nichts Gutes, was du erfahren hast, oder?«
»So ist es, Vater, auch Frau Furler wird nicht mehr mit Jennifer fertig. Was soll ich bloß machen? Ich kann doch nicht zu Rüdiger gehen und sagen, du mußt an dein Kind denken. Wenn er sich allein nicht kümmert, ich kann ihn nicht zwingen.«
»Nein, das kannst du nicht. Ich habe auch gehofft, daß die Zeit alles regeln wird. Ich habe mich wohl geirrt. Jennifer will es einfach nicht begreifen. Doch wie es im Augenblick mit ihr aussieht, geht sie seelisch zugrunde, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Du mußt auch häufiger aus den vier Wänden heraus. Du hast deinen Wagen, fahr mit Jennifer in die Stadt. Bummeln, Einkäufe machen und was es sonst noch gibt, um das Herz einer Achtjährigen glücklich zu machen. Du mußt versuchen, sie von ihrem Kummer abzulenken, mußt sie auf andere Gedanken bringen. Wir dürfen ihr keine Zeit lassen, viel nachzudenken.«
»Und du bist sicher, daß dieser Weg etwas bringt, Vater? Ich bin da nicht so optimistisch.«
»Ein Versuch kann zumindest nicht schaden, Roxi. Im Augenblick hängt sie ja auch oben in ihrem kleinen Zimmer herum. Ich wollte mit ihr spazierengehen, aber sie wollte nicht.«
»Ich werde deinen Rat befolgen und versuchen, sie durch Fahrten in die Stadt abzulenken. Ich muß dazu nur ehrlich sagen, daß ich nicht gern in die Stadt fahre. Ich weiß nämlich nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich mit Rüdiger zusammentreffen sollte.«
»Das wäre aber schon ein großer Zufall.«
»Aber Zufälle gibt es. Leider, kann ich nur sagen. Jetzt will ich nicht daran denken, sondern mich gleich mal um Jennifer kümmern. Sie kann nicht den ganzen Tag da oben herumhocken.«
*
Am nächsten Nachmittag fuhr Roxanne mit Jennifer dann in die Stadt. Wie sie dem Mädel am Tag zuvor versprochen hatte, wollte sie ein paar hübsche Kleider einkaufen und als Überraschung einige Dinge zum Spielen.