Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens 66 – Arztroman - Britta Frey - Страница 3
ОглавлениеCaroline von Birk stand am Fenster des Wohnzimmers und beobachtete mit einem schmerzlichen Lächeln ihre beiden Enkelkinder, die draußen unbeschwert herumtollten, Rachel, sieben Jahre, mit langen schwarzen Zöpfen und die fünfjährige Pola, ein kleines zierliches Mädchen mit kurzem schwarzem Lockenhaar.
Ein Jahr war nun schon vergangen seit jenem schrecklichen Tag. Nicole und ihr Mann Achim waren mit dem Wagen unterwegs gewesen. Ihre Tochter hatte hinter dem Lenkrad gesessen, als ein Lastwagen ausscherte und den Wagen rammte. Während Nicole sofort tot war, wurde Achim mit leichteren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Nach seiner Genesung hatte Achim die Stadt verlassen und seine beiden Mädchen in ihrer Obhut gelassen. Seitdem arbeitete er im Ausland. Hin und wieder kam eine Karte, regelmäßig aber Geld für Unterhalt und Kleidung der Mädchen. Das war alles, was Caroline von Birk von ihrem Schwiegersohn hörte. So war es jedenfalls bis vor zwei Monaten gewesen. Seitdem fehlte jedes Lebenszeichen von ihm.
Alles hätte für Caroline von Birk viel einfacher und leichter sein können, denn sie hatte noch eine Tochter, Samantha. Aber mit Samantha, das war eine sehr komplizierte Sache.
Vor über sieben Jahren hatten sich Nicole und Samantha beide in Achim Degersen, einen jungen Mann aus ihrem Freundeskreis, verliebt. Zunächst hatte alles danach ausgesehen, als würde aus Samantha und Achim ein Paar. Samantha, die jüngere und stillere ihrer beiden Töchter, war überglücklich. Doch irgendwie hatte es Nicole, die robustere und lebenslustigere, geschafft, daß sich Achim ihr zuwandte und sie schließlich geheiratet hatte. Daraufhin war Samantha von daheim fortgegangen. Sie hatte es Nicole nie verziehen, daß sie ihr den geliebten Mann fortgenommen hatte. Alles Bitten Carolines, Samantha solle doch wieder nach Hause kommen, half nicht. Zwar gab es die ganzen Jahre regelmäßige Lebenszeichen, und sie vergaß auch die verschiedenen Feiertage nicht, doch blieb sie ihrem Elternhaus fern, in dem auch Nicole mit ihrem Mann und den Kindern lebte. Das einzige Mal in gut sieben Jahren war sie zur Beisetzung Nicoles vor einem Jahr gekommen. Doch schon einen Tag später war Samantha wieder abgereist und hatte sich seitdem auch nicht mehr bei der Mutter gemeldet.
Es machte die ältere Dame traurig, denn gerade jetzt benötigte sie so dringend ihre Tochter. Die Kinder konnten doch nichts dafür, daß zwischen ihrer Mutter und deren Schwester, die sie nur einmal gesehen hatten, Feindschaft bestanden hatte. Unwillkürlich griff sich Caroline an die Brust, denn das schmerzhafte Ziehen wollte einfach nicht aufhören. Meine Tabletten, ich muß unbedingt noch eine Tablette nehmen und mich einen Moment hinlegen, dachte sie und setzte ihr Vorhaben sofort in die Tat um.
Ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen stürmte ins Zimmer und rief mit heller Stimme: »Omi, Omi, die Pola und ich haben Hunger. Haste noch Plätzchen oder Schokolade für uns?«
Mit warmer Stimme antwortete sie: »Soso, ihr habt also Hunger auf Plätzchen und Schokolade. Dann hol mal rasch deine kleine Schwester herein, ich werde nachsehen, ob ich noch etwas Süßes für euch im Haus habe.«
*
Es war einen Tag später. Während die beiden Mädchen in ihrem Zimmer spielten, setzte Caroline von Birk noch einmal ein Schreiben an ihre Tochter Samantha auf, in dem sie sie bat, doch dringend nach Hause zu kommen. Während eines kleinen Spazierganges, den sie wenig später mit den Enkelkindern unternahm, fragte sie sich, ob sie wohl auf dieses Schreiben eine Antwort erhalten würde.
Caroline stellte sich diese Frage nicht zu Unrecht, denn schon eine Woche später geschah, wovor sie sich schon lange gefürchtet hatte.
Rachel spielte mit Pola friedlich im Kinderzimmer. Es war kurz vor dem Abendessen. Plötzlich schreckten beide Mädchen durch heftiges Poltern aus dem Wohnzimmer zusammen.
»Hat die Omi einen Stuhl umgeworfen, Rachel? Pola hat Angst.«
»Ist bestimmt was runtergefallen, Pola. Komm mit nach unten, wir fragen die Omi einfach.«
Als die beiden Mädchen dann die Küche betraten, sahen sie ihre geliebte Omi auf dem Fußboden liegen.
»Omi, Omi, was ist denn passiert? Biste hingefallen?« Mit ängstlicher Stimme rüttelte Rachel an der Schulter der Oma.
Mühsam öffnete Caroline ihre Augen und flüsterte mit fremder Stimme: »Hol rasch die Frau Köhler von nebenan, Rachel. Bitte, Kind, beeile dich.«
»Ja, Omi, ich laufe ganz schnell. Pola, du bleibst hier bei der Omi, damit sie sich nicht noch einmal weh tut.«
Im nächsten Augenblick lief das Mädchen aus dem Haus und hinüber zum Nachbarhaus, wo es heftig an der Haustür klingelte.
Frau Anni Köhler, eine ältere Frau, öffnete.
»Ja, Rachel, was ist denn los, warum hast du es denn so eilig?« fragte sie überrascht.
»Meine Omi, Frau Köhler, komm schnell, meine Omi ist umgefallen und hat sich weh getan. Nun komm doch schon endlich.«
»Ist ja schon gut, Mädchen. Lauf schon mal rüber, ich hole nur schnell meine Haustürschlüssel und komme sofort nach.«
Rachel stürmte wieder los, und nur wenige Augenblicke später folgte Anni Köhler dem kleinen Mädchen zum Nachbarhaus.
Mit einem Blick übersah sie die Situation. Da sie durch Gespräche mit Caroline von Birk wußte, daß diese schon seit längerer Zeit Schwierigkeiten mit dem Herzen hatte, griff sie, ohne lange zu überlegen, zum Telefon und rief den Notarztwagen des Celler Krankenhauses.
Rachel und die kleine Pola starrten mit ängstlichen Blicken auf ihre noch immer auf dem Boden liegende Omi. Anni Köhler hatte Mitleid mit beiden und sagte: »Hier könnt ihr im Augenblick nichts machen. Geht ruhig in euer Zimmer hinauf, bis der Doktor kommt, ich bleibe so lange bei eurer Omi.«
Gehorsam gingen beide Mädchen aus der Küche und nach oben ins Kinderzimmer.
Anni Köhler nahm ein paar Stuhlkissen und schob sie ihrer Nachbarin behutsam unter den Kopf. Da diese mit geschlossenen Augen mühsam nach Atem rang, wartete Anni Köhler voller Sorge auf den Notarztwagen. Es vergingen keine zehn Minuten, bis sich endlich ein Wagen mit eingeschaltetem Martinshorn näherte.
Kurz darauf schlug die Türglocke an, und ein Arzt, dem zwei Sanitäter mit einer Trage folgten, kam ins Haus, als sie öffnete.
Während der Arzt Caroline von Birk untersuchte, eine Spritze aufzog und danach noch eine Infusion anlegte, hielt sich Anni Köhler im Hintergrund.
Erst nachdem die Sanitäter Caroline von Birk auf eine Trage gebettet hatten, fragte sie den Arzt mit belegter Stimme: »Was fehlt Frau von Birk, Herr Doktor? Muß sie ins Krankenhaus?«
»Sind Sie eine Familienangehörige?« Fragend sah der Arzt sie an.
»Nein, ich bin nur die Nachbarin. Da sind aber noch die beiden Kinder. Sie sind oben im Kinderzimmer.«
»Und sonst sind keine Angehörigen da? Wie alt sind denn die Kinder?«
»Andere Angehörige sind nicht da. Der Vater der Kinder arbeitet im Ausland, die Mutter ist vor einem Jahr gestorben. Die beiden Mädchen sind sieben und fünf Jahre alt. Was ist denn jetzt mit Frau von Birk?«
»Frau von Birk hat einen schweren Herzanfall erlitten, und ein Aufenthalt im Krankenhaus ist leider unvermeidlich. Die Kinder sind also im Moment völlig allein?«
»Ja, ich sagte es doch bereits.«
»Können Sie sich vielleicht heute abend und morgen vormittag um die Kinder kümmern? Wir informieren das Jugendamt, das sich dann vorübergehend der Kinder annehmen wird. Es wird wohl das Beste für die beiden sein, denn es wird einige Zeit dauern, bis Frau von Birk wieder nach Hause kann.«
Anni Köhler überlegte nicht lange. Für einen Abend und den nächsten Vormittag konnte sie sich schon um die Kinder kümmern. So sagte sie: »Fahren Sie ruhig, Herr Doktor. Ich kümmere mich bis morgen um die Mädchen. Ich nehme sie für die Nacht mit zu mir hinüber und schließe hier alles ab. Für ein oder zwei Nächte wird es schon gehen.«
»Gut, es ist in Ordnung, Frau Köhler, ich gebe dem Jugendamt Bescheid. Man wird sich dann um die Kinder kümmern, bis die Großmutter wieder gesund ist.«
Nachdem der Wagen mit Caroline von Birk weg war, ging Anni Köhler ins Kinderzimmer hinauf.
»Wo ist denn die Oma, Tante Köhler?« wollte die kleine Pola wissen.
»Eure Oma ist ganz schlimm krank. Ich nehme euch erst einmal mit zu mir hinüber. Rachel, du bist ja schon groß. Pack ein paar Sachen und Schlafzeug in eine Tasche, damit wir in meine Wohnung gehen können.«
»Und unsere Omi? Wir können sie doch nicht allein lassen, wenn sie so krank ist. Ich will erst einmal zu meiner Omi.«
Rachel wollte eilig das Zimmer verlassen, doch Anni Köhler hielt sie sanft am Arm fest und sagte: »Nun sei mal schön vernünftig, Mädchen. Weißt du, der Doktor hat deine Omi ins Krankenhaus gebracht. Dort muß sie eine Weile bleiben. Ich habe doch schon gesagt, daß ich euch mit zu mir nehme, da könnt ihr in der kommenden Nacht schlafen. Ihr seid noch zu klein, um allein hier im Haus zu bleiben. Jetzt zeigt ihr mir, wo eure Sachen sind, damit ich euch rasch etwas einpacken kann, das geht schneller.«
»Ich will aber hierbleiben, ich will nicht weg.« Nun begann die kleine Pola zu weinen.
Tröstend legte Anni Köhler einen Arm um die Fünfjährige und sagte tröstend: »Nicht traurig sein, Schätzchen. Es dauert bestimmt nur ein paar Tage, dann ist eure Omi wieder bei euch zu Hause.«
Wenige Minuten später verließ Anni Köhler mit den beiden Mädchen das Haus, schloß es ab und ging mit ihnen in ihre Wohnung.
Als die beiden Mädchen am Abend endlich schliefen, sagte Anni Köhlers Mann: »Wie stellst du dir das vor, Anni? Willst du wirklich die Verantwortung für die Kinder übernehmen? Wer weiß, wie lange Frau von Birk im Krankenhaus bleibt. Mir gefällt es nicht, fremde Kinder im Haus zu haben.«
»Geh, Kurt, reg dich nicht auf. Es ist doch nur bis morgen früh oder spätestens morgen mittag. Erstens kann man die Kinder nicht sich selbst überlassen, und zweitens haben die armen Dinger schon genug mitgemacht. Man muß doch ein Herz haben. Mich würde interessieren, wo der Vater der beiden Mädchen ist. Außerdem ist da auch noch die Samantha, die jüngere Tochter. Wenn ich nur wüßte, wo sie sich aufhält, dann könnte man ihr Bescheid geben. Wenn die vom Jugendamt kommen und die Kinder abholen und sie in ein Heim stecken, gefällt mir das auch nicht. Die Mädchen können einem schon leid tun.«
»Daran können wir nichts ändern. Für heute nacht haben sie ja eine Bleibe. Ich denke, für uns wird es jetzt auch Zeit. Du kannst ja Frau von Birk nach der Anschrift von Samantha fragen, sobald du sie im Krankenhaus besuchen darfst. Jetzt laß uns zu Bett gehen.«
*
Gegen Mittag des nächsten Tages ließ der Leiter des Jugendamtes Elke Jünte, eine der Sozialarbeiterinnen, zu sich kommen.
»Ich habe hier einen Auftrag für Sie, Frau Jünte. Es geht um zwei Kinder, die von ihrer Großmutter betreut werden, die jedoch gestern mit einer Herzgeschichte ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Der einweisende Arzt hat uns davon unterrichtet, daß die Kinder, es handelt sich um zwei Mädchen, für die Nacht bei einer Nachbarin untergekommen sind. Kümmern Sie sich umgehend um die Sache. Wenn inzwischen keine Angehörigen aufgetaucht sind, bringen Sie die Mädchen zunächst ins Kinderheim ›Haus Maria‹. Bis es der Großmutter der Kinder bessergeht, sind sie dort hervorragend untergebracht. Sie sind ja mit diesen Vorgängen vertraut und werden an Ort und Stelle die richtige Entscheidung treffen. Ich verlasse mich ganz auf Sie. Name und Anschrift habe ich hier notiert.«
Elke Jünte, eine energische junge Frau von zweiunddreißig Jahren, nahm die Notizen entgegen und verließ danach das Jugendamt, um ihren Auftrag auszuführen.
Es war eine hübsche Gegend am Stadtrand von Celle, in der sich die Siedlung mit den Eigenheimen und Anliegerhäuschen befand, sehr sauber und gepflegt.
Als Elke bei der vom Amt angegebenen Adresse, einer Familie Köhler, klingelte, öffnete eine ältere Frau die Tür. Freundlich sagte sie: »Guten Tag. Sie wünschen bitte?«
»Guten Tag, bin ich hier richtig bei der Familie Köhler?«
»Ja, ich bin Anni Köhler. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich komme vom städtischen Jugendamt, mein Name ist Jünte. Es geht um die Enkelkinder einer Frau von Birk.«
»Bitte, treten Sie doch ein, Frau Jünte. Im Augenblick spielen die beiden Mädchen hinten im Garten.« Anni Köhler führte die Besucherin in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer und fragte: »Soll ich die Mädchen sofort holen, Frau Jünte?«
Elke Jünte schüttelte den Kopf und antwortete: »Das hat noch Zeit, Frau Köhler. Ich möchte mich zuerst ein paar Minuten mit Ihnen allein unterhalten. Es sind da so einige Fragen zu klären. Zuerst wüßte ich gern, ob hier in der Nähe Angehörige von Frau von Birk leben. Ist Ihnen darüber etwas bekannt?«
Anni Köhler informierte die Beamtin über alles, was sie über die Familie von Birk wußte und schloß mit den Worten: »Wenn es anders gewesen wäre, hätte ich die beiden Mädchen wohl kaum zu mir genommen. Ich würde die Kinder gern weiter betreuen, doch erstens bin ich auch nicht mehr die Jüngste, und dann ist es auch nicht so einfach, die Verantwortung für zwei fremde Kinder zu übernehmen. Mir tun die beiden Mädchen leid. Es ist eine traurige Sache. Aber was kann man da machen? Sobald Frau von Birk Besuch empfangen darf, werde ich sie nach der Anschrift der jüngeren Tochter fragen, damit ich mich dann mit ihr in Verbindung setzen kann. Was wird nun aus den beiden Mädchen?«
»So wie die Dinge liegen, werde ich sie wohl vorübergehend in einem Kinderheim unterbringen, damit sie versorgt werden. Ich werde mit den Kindern reden und versuchen, es ihnen so behutsam wie möglich beizubringen.«
Was für reizende Mädchen, mußte Elke Jünte denken, als Rachel und Pola wenige Minuten später zögernd hinter Anni Köhler das Wohnzimmer betraten und sie ängstlich ansahen.
»Guten Tag, ihr beiden, ich bin Frau Jünte.«
»Guten Tag, Frau Jünte«, sagte Rachel und reichte Elke ihre Hand. Pola dagegen versteckte ihre Hände hinter ihrem Rücken und wich einen Schritt zurück.
»Willst du mir nicht auch guten Tag sagen, Kleine? Ich tu dir doch nichts.« Mit einem weichen Lächeln fuhr Elke der Fünfjährigen über den schwarzen Lockenkopf.
Nun erst streckte die Kleine ihr zögernd eine Hand entgegen und sagte leise: »Guten Tag.«
»Willst du mir nicht deinen Namen sagen? Ich möchte ihn gern wissen.«
»Bin doch die Pola, und das ist die Rachel«, sagte die Kleine und zeigte auf ihre größere Schwester.
»Soso, Rachel und Pola. Das sind aber zwei sehr hübsche Namen. Jetzt setzt euch mal beide hin, ich muß nämlich mit euch reden.« Mit einem aufmunternden Lächeln sah Elke die beiden Mädchen an, die sich gehorsam nebeneinander auf die Couch setzten und sie schweigend ansahen.
Behutsam begann die junge Beamtin: »Ihr wißt ja beide, daß eure Oma so krank ist, daß man sie ins Krankenhaus bringen mußte. Es ist jetzt so, daß sie eine ganze Weile dort bleiben muß. Es wird auch noch etwas dauern, bis ihr eure Oma besuchen könnt. Versteht ihr mich? Du bist doch schon ein großes und vernünftiges Mädchen, Rachel.«
»Ich will aber nicht vernünftig sein, ich will zu meiner Omi. Vati ist nicht da, und wir sind sonst ganz allein«, kam es trotzig über Rachels Lippen.
»Ich weiß, Rachel, und gerade darum bin ich heute gekommen. Ihr seid zwei kleine Mädchen, die nicht allein bleiben können. Ihr könnt aber auch nicht für längere Zeit bei Frau Köhler bleiben. Frau Köhler bekommt selbst Besuch und hat dann für euch keinen Platz mehr. Ich bringe euch heute in ein Haus, wo ganz viele Kinder sind. Ihr werdet dort so lange bleiben, bis eure Oma wieder ganz gesund ist und ihr wieder nach Hause könnt. Es wird euch dort ganz bestimmt sehr gut gefallen. Es ist ein sehr nettes Kinderheim am Rande der Stadt.«
»Nein.«
Mit einem Satz sprang Rachel auf und starrte Elke Jünte mit funkelnden Augen an.
»Ich will in kein Kinderheim, ich gehe nicht in ein Kinderheim. Unsere Omi hat nichts davon gesagt. Ich will mit Pola bei uns zu Hause auf unsere Omi warten. In ein Heim kommen doch nur böse und ungezogene Kinder. Wir haben aber doch nichts Böses getan. Sie können ruhig wieder gehen. Pola und ich, wir bleiben bei Frau Köhler. Wir dürfen doch, nicht wahr, Frau Köhler? Wir brauchen auch ganz bestimmt nur ganz wenig Platz. Bitte, bitte, Frau Köhler.« Hilfesuchend sah Rachel Anni Köhler an, während sich Pola ängstlich an ihren Arm klammerte.
Anni Köhler sah betreten zur Seite. Was sollte sie auf die bettelnden Blicke antworten?
Sie hatte ja nicht allein zu entscheiden. Ihr Mann wollte es nicht, er war nun mal dagegen.
Rachel schien zu fühlen, was in diesem Augenblick in den Erwachsenen vor sich ging. Maßlos enttäuscht nahm sie ihre kleine Schwester an die Hand und sagte traurig: »Komm, Pola, wir müssen wohl mit Frau Jünte mitgehen. Frau Köhler kann uns nicht brauchen. Ich lasse dich aber ganz bestimmt nicht allein. Ich verspreche es dir.«
Die Hand der kleinen Pola festhaltend, sagte Rachel mit zitternder Stimme: »Wir können jetzt fahren. Bringen Sie uns in das Kinderheim.«
So leid Elke Jünte die beiden Mädchen taten, sie durfte sich ihr Mitleid nicht anmerken lassen. Es war auch so schon schwer genug, diese Kinder in ein Kinderheim zu bringen.
*
Kurz vor elf Uhr fuhr Elke Jünte mit ihrem Wagen vor dem Kinderheim vor. Noch bevor sie den beiden Mädchen aus dem Wagen helfen konnte, war Marion da.
»Guten Tag, Frau Jünte. Sie bringen uns die Kinder? Wir sind schon vom Jugendamt über den Zuwachs informiert worden.«
»Guten Tag, Marion. Es war wie immer keine leichte Aufgabe für mich. Aber einer muß sie ja durchführen.«
Marion beugte sich nun ins Innere des Wagens und sagte mit fröhlicher Stimme: »Guten Tag, ihr beiden, ich bin Marion. Kommt mit ins Haus, damit ich euch alles zeigen kann. Wollt ihr mir nicht eure Namen sagen?«
»Ich heiße Rachel Degersen, und meine kleine Schwester heißt Pola«, entgegnete das ältere der Mädchen und legte dabei einen Arm um ihre Schwester.
»Fein, Rachel, dann kommt mal mit. Frau Jünte wird zu Frau Wittmer gehen. Ihr könnt euch etwas später von ihr verabschieden. Es wird euch ganz bestimmt gut bei uns gefallen. Da drüben unter den Bäumen seht ihr ja die vielen Kinder spielen. Heute nachmittag könnt ihr schon mitspielen. Kommt, gehen wir hinein. Sie wissen ja Bescheid, Frau Jünte. Ich komme nach dem Rundgang mit den Kindern in Frau Wittmers Büro.«
Die letzten Worte galten der jungen Sozialarbeiterin, die zustimmend nickte, danach die Sachen der Mädchen aus ihrem Wagen holte und den anderen ins Haus folgte.
Marion zeigte den verschüchtert wirkenden Mädchen fast sämtliche Räume im Haus und beobachtete dabei verstohlen, wie sie auf alles reagierten. Bevor sie mit ihnen zum Büro ging, fragte sie lächelnd: »Nun, Rachel, Pola, gefällt es euch hier bei uns? Ihr habt ja gesehen, wie es hier aussieht, wie viele Betten in den Zimmern sind. Möchtet ihr gern in einem Zimmer schlafen, in dem viele Kinder schlafen oder in einem, wo nur ein paar sind? Du bist doch schon vernünftig, Rachel, kannst du es mir sagen?«
»Ist egal, Marion. Wir bleiben sowieso nicht lange hier. Wenn unsere Omi wieder gesund ist, dürfen wir wieder nach Hause. Frau Jünte hat es uns gesagt.«
»Und du, Pola?«
»Ich will nicht hierbleiben. Will zu meiner Omi. Hier findet die Omi uns ja nicht, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt.«
»Geh, Pola, du bist ein kleines Dummchen. Wir sagen es doch eurer Omi, wo ihr seid. Sie muß euch nicht suchen, wenn sie wieder gesund ist. Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Dann ist es ja gut, dann bleiben wir so lange hier bei dir.«
Es klang so drollig aus dem Mund der Kleinen, daß Marion ihr sanft über den schwarzen Lockenkopf fuhr und mit einem weichen Lächeln sagte: »Bist ein liebes Mädchen, Pola.«
Dann folgte die Begrüßung bei der Heimleiterin und der Abschied von Elke Jünte. Das war der Einzug von Rachel und Pola im Kinderheim »Haus Maria«.
*
Wider Erwarten lebten sich Rachel und Pola rasch im Kinderheim ein. Es gab keinerlei Streitereien mit den anderen Heimkindern, und was die Betreuerinnen sagten, wurde sofort befolgt. So war ungefähr eine Woche vergangen.
Es war Samstag, früher Nachmittag. Cordula Wittmer befand sich in ihrem Büro, um einige Unterlagen durchzugehen. Hin und wieder sah sie auf die Uhr, denn sie erwartete an diesem Nachmittag noch ganz bestimmten Besuch, ein Ehepaar, das ein kleines Mädchen als Pflegekind zu sich nehmen wollte. Es würde zwar noch keine endgültige Entscheidung fallen, aber auch die ausführlichen Vorgespräche waren bei diesem Vorgang sehr wichtig. Sonntage waren an den Nachmittagen Besuchstage, und das Ehepaar Beutlar war schon einige Male dagewesen und seitdem rein vernarrt in die fünfjährige Vollwaise Paola Gunther.
Es klopfte an der Bürotür, und Cordula Wittmer rief: »Herein, bitte!«
Eine der Betreuerinnen betrat das Büro und sagte: »Da ist gerade das Ehepaar Beutlar eingetroffen, Frau Wimmer.«
»Danke, Corinna, wo sind die Herrschaften?«
»Sie warten vorn im Besucherzimmer, Frau Wittmer.«
»Gut, Corinna, führen Sie Herrn und Frau Beutlar bitte gleich in mein Büro.«
Einen Augenblick später betraten die Besucher das Büro der Heimleiterin und wurden herzlich begrüßt. Erika und Ralf Beutlar waren sehr sympathische Menschen, die nach einem Unfall des Mannes keine eigenen Kinder bekommen konnten und den Weg, über eine Pflegestelle ein Kind adoptieren zu können, eingeschlagen hatten.
»Wie steht es in unserer Sache, Frau Wittmer? Wir können es kaum noch erwarten, die kleine Paola endlich mit uns nehmen zu dürfen. Bei uns ist alles bereit. Wird es noch lange dauern, bis es soweit ist?«
»Sie kennen doch unsere Bürokratie, Frau Beutlar. Ein paar Tage Geduld noch, dann können wir die kleine Paola in Ihre Obhut übergeben. Ich warte noch auf den endgültigen Bescheid des Jugendamtes. Ihnen beiden ist sicher wohl klar, daß es sich zunächst nur um eine Pflegestelle handelt. Es könnte ja sein, daß sich die Kleine nicht an Sie gewöhnt.«
»Natürlich wissen wir das, Frau Wittmer. Trotzdem sind wir zuversichtlich. Von unseren Besuchen hier wissen wir ja selbst, daß zwischen meiner Frau und Paola ein gewisser Funken übergesprungen ist. Das Mädel wird sich bei uns einleben und nichts vermissen. Es ist doch etwas Wunderbares, so ein Kind zu umsorgen und zu behüten«, sagte nun Ralf Beutler und sah von Cordula Wittmer zu seiner Frau, die ihm mit leuchtenden Augen zunickte.
Ein paar Minuten zuvor hatte Marion Rachel zu sich gerufen und zu ihr gesagt: »Hör mal, Rachel, ich kann im Augenblick nicht fort. Bist du so lieb und bringst diese Mappe hier zu Frau Wittmer ins Büro?«
»Mach ich doch gern, Marion. Soll ich sofort gehen?«
»Natürlich, Rachel, hier, diese Mappe.« Marion reichte Rachel eine Unterlagenmappe, und leichtfüßig eilte die Siebenjährige davon. Gerade als das Mädchen anklopfen wollte, hörte es die Worte von Frau Wittmer: »Ich denke, daß es in ein paar Tagen soweit ist, daß Sie Paola abholen können.«
Für Rachel klang der Name Paola wie Pola, und im selben Augenblick begann ihr kleines Herz zu rasen. Sie war vor Entsetzen so schockiert, daß sie einen Augenblick nicht fähig war, auch nur eine einzige Bewegung zu machen. Man wollte Pola, ihre kleine Schwester, einfach aus dem Heim fortholen. Nein, das durfte sie doch nicht zulassen. Sie hatte Pola ganz fest versprochen, sie nie allein zu lassen.
Was Rachel da gehört hatte, war ein Irrtum, der sich noch sehr verhängnisvoll auswirken sollte. Erst als Rachel nun hörte, daß sich im Büro jemand verabschiedete, kam Leben in sie, und sie lief ein Stück den Gang entlang.
Doch plötzlich fiel Rachel die Mappe ein. Sie sollte doch diese für Marion zu Frau Wittmer bringen. Aber es durfte niemand merken, daß sie etwas von dem gehört hatte, worüber sich die Erwachsenen unterhalten hatten. Die Omi hatte immer gesagt, daß sie klug sei. Während Rachel noch überlegte, wie sie die Mappe ins Büro bringen sollte, hörte sie hinter sich Schritte. Sie drehte sich um und sah die Heimleiterin, Frau Wittmer, und eine fremde Frau und einen Mann auf sich zukommen.
»Hallo, Rachel, wolltest du zu mir?« fragte Cordula Wittmer und half Rachel damit unbewußt aus einer großen Verlegenheit. Es war für die Siebenjährige wie ein Stichwort, und sie erwiderte leise: »Ja, Frau Wittmer, ich soll Ihnen von Marion die Mappe bringen, weil sie selbst keine Zeit hatte.« Rachel reichte Cordula Wittmer die Mappe, drehte sich um und lief davon.
*
Den Rest des Nachmittages war Rachel sehr still, wirkte zwischendurch wie abwesend. Trotzdem wich sie nicht von der Seite ihrer kleinen Schwester. Marion beobachtete Rachel und ihr eigenartiges Gebaren. Sie wurde aus dem kleinen Mädchen nicht mehr so recht klug. Dieser Wechsel in den Stimmungen, sie fand dafür keine Erklärung. Es war ja durchaus nicht so, daß sich niemand um die Mädchen kümmerte. Ganz im Gegenteil, sie selbst kümmerte sich mehr, als sonst üblich, um die Mädchen, um Rachel und Pola. Die Mädchen sollten sich rasch und gut einleben. Bis zu diesem Tag schien es auch gut gelungen zu sein.
Marion schüttelte unwillig über sich den Kopf. Vielleicht fühlte sich Rachel an diesem Tag nicht gut. Das kam ja auch bei kleinen Mädchen einmal vor. Da es auf die Abendbrotzeit zuging, gab es für sie und alle anderen Betreuerinnen der Heimkinder so viel zu tun, daß sie gar nicht mehr dazu kam, noch länger ausschließlich über Rachel und Pola nachzudenken. Dabei wäre es vielleicht für alle besser gewesen, sich mehr Gedanken zu machen. Aber in diesen Minuten ahnte im Kinderheim noch niemand etwas von den Schwierigkeiten, die auf alle zukommen sollten.
Da der Tag sehr schön gewesen war, durften die Kinder nach dem frühen Abendessen noch für eine halbe Stunde an die Luft hinaus. Doch statt mit den anderen Kindern zu spielen, nahm Rachel ihre kleine Schwester an die Hand und sagte drängend zu ihr: »Komm mit, Pola, ich habe jetzt keine Lust zum Spielen. Wir setzen uns dahinten unter einen Baum. Ich muß dir ein ganz großes Geheimnis sagen. Ein Geheimnis, das du aber keinem Menschen weitererzählen darfst. Nur wir beiden dürfen etwas davon wissen. Komm schon.«
Rachel zog ihre kleine Schwester mit sich zu einem Baum, der etwas abseits stand, und sie setzten sich ins Gras.
»Nun sag schon, Rachel, was ist denn ein Geheimnis?« drängelte die Kleine und sah ihre Schwester mit großen Augen an.
»Bist du aber dumm, Pola. Ein Geheimnis ist es, wenn nur wir zwei etwas wissen und sonst niemand. Du hast doch vorhin schon gesagt, großes Ehrenwort, und du erzählst niemandem etwas weiter. Du mußt es mir noch einmal ganz fest versprechen, hörst du?«
»Ich verspreche es, ganz ehrlich, Rachel. Jetzt sag aber endlich unser Geheimnis, ich will es sofort wissen.«
»Gut, dann paß auf. Wenn die anderen nachher alle fest schlafen, dann schleichen wir zwei uns ganz leise aus dem Haus und laufen fort. Wir suchen dann unsere Omi. Du willst doch bestimmt auch von hier weg und wieder bei der Omi sein, nicht wahr?«
Aus großen Augen starrte Pola ihre Schwester an. Dann platzte sie heraus: »Einfach weglaufen? Dürfen wir das denn überhaupt?«
»Mensch, Pola, leise, es darf niemand etwas davon wissen. Es ist doch unser Geheimnis. Wenn sie es merken, schließen sie uns noch ein.«
»Und wenn ich auch einschlafe? Ich bin nämlich schon ganz doll müde. Und wenn Mia und Gerti nicht schlafen?«
»Mia und Gerti werden ganz bestimmt schlafen. Das tun sie doch jeden Abend schon sehr früh. Du kannst ruhig auch schlafen. Ich werde dich schon wieder wecken, wenn es dunkel wird. Brauchst keine Angst zu haben, ich werde dich ganz bestimmt nicht allein hier zurücklassen. Du bist doch meine kleine Schwester, und ich muß auf dich aufpassen.«
»Ich will auch nicht allein hierbleiben. Ich hab dich so lieb.«
»He, ihr beiden, warum spielt ihr nicht mit den anderen Mädchen? Ihr sollt euch doch noch nicht ins Gras setzen, dafür wird es gegen Abend viel zu kalt. Ihr holt euch dabei womöglich eine Erkältung. Geht zu den anderen Kindern und spielt noch ein bißchen mit.« Marion war zu den beiden Schwestern gekommen und lachte sie nun fröhlich an.
»Wir haben keine Lust mehr zum Spielen, Marion.«
»Nun, wenn ihr wirklich nicht mehr wollt und keine Lust mehr habt, geht doch schon zu Tante Betty in den Waschraum. Sie kann euch ja schon euer Bad einlassen. Dann seid ihr zwei heute mal die ersten, die ins Bett können. Na, wie gefällt euch das?«
Ohne Widerrede gingen Rachel und ihre kleine Schwester ins Haus hinein. Sie gingen zu Betty, die in den Wasch- und Baderäumen schon damit begonnen hatte Badewasser in die Wannen einzufüllen.
Betty, eine etwas ältere, mollige Frau, Mädchen für alles im Kinderheim ›Haus Maria‹ und immer fröhlich und gutgelaunt, fragte mit einem freundlichen Lächeln: »Na, ihr zwei, was wollt ihr denn schon hier?«
»Marion hat gesagt, daß wir schon baden dürfen, Tante Betty.«
»Na, ist schon prima. Dann holt mal euer Schlafzeug. Wenn ihr zurück seid, könnt ihr sofort in die Wanne steigen. Ich habe dann Zeit, um Pola zu helfen.«
*
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen, als die Zimmertür leise geöffnet wurde und Marion noch einmal nachsah, ob die Mädchen schon alle schliefen. Rachel, die das Öffnen der Tür nicht überhört hatte, schloß sofort die Augen und stellte sich schlafend. So war die junge Betreuerin davon überzeugt, daß alles in bester Ordnung war.
Rachel aber wartete noch eine Weile, bis alles ruhig war, dann verließ sie leise ihr Bett und zog sich an.
Da matter Mondschein durch das Fenster ins Zimmer fiel, machte das überhaupt keine Schwierigkeiten, denn jedes der kleinen Mädchen hatte seine Kleidung fein säuberlich auf einem Stuhl neben dem Bett liegen.
Das Herz der Siebenjährigen pochte heftig, denn sie hatte Angst davor, daß ihr Vorhaben nicht gelingen könnte.
Erst als sie fertig angezogen war, schlich sie zum Bett ihrer kleinen Schwester und rüttelte sie wach.
»Warum weckst du…«
»Pst, sei doch leise, es soll doch keiner hören«, wisperte Rachel und hielt rasch ihre Hand auf Polas Mund. »Du weißt doch, daß wir zur Omi wollen. Du darfst jetzt nichts mehr sagen, ich helfe dir auch beim Anziehen.«
Niemand bemerkte, daß zwei kleine Mädchen Hand in Hand auf Zehenspitzen den Gang entlang zum Hinterausgang des Heimes schlichen, den Riegel zurückschoben und so ungesehen das Gebäude verlassen konnten.
Genauso unbemerkt konnten sie wenig später durch eine Zaunlücke das Grundstück verlassen.
»Wann sind wir denn bei der Omi, Rachel? Es ist so dunkel, und ich habe Angst. Ich will wieder in mein Bett zurück«, klagte Pola weinerlich.
»Brauchst keine Angst zu haben, Pola, wir können nicht zurück. Wenn wir zurückgehen, dann holen dich in der nächsten Woche ganz fremde Leute aus dem Heim fort. Wir können dann nicht mehr zusammen sein.«
»Ich will aber nicht zu fremden Leuten, ich will zur Omi. Weißt du denn, wo die Omi ist?«
»Na, klar doch. Die Omi ist in dem Krankenhaus, in dem auch der Vati war.«
»Warum gehen wir dann nicht hin, wenn es hell ist? Jetzt können wir ja überhaupt nichts sehen.«
Immer die Angst im Herzen, doch noch von jemandem aus dem Heim eingeholt und wieder zurückgebracht zu werden, zog Rachel die kleine Schwester mit sich. Müde und von der nächtlichen Kühle durchgefroren, ging es immer voran, in die falsche Richtung, was die Siebenjährige aber nicht wußte. Wenn in der Ferne die Lichter eines sich nähernden Wagens auftauchten, zog sie die Kleine instinktiv von der Straße hinunter, und sie versteckten sich hinter den am Straßenrand stehenden Bäumen.
»Ich bin so müde, und meine Füße tun mir weh«, jammerte Pola nach einiger Zeit. »Wie weit ist es noch bis zu Omi?«
»Weiß ich nicht, Pola. Es ist aber ganz bestimmt nicht mehr weit. Wir sind ja schon lange gelaufen. Heul jetzt bloß nicht, wir müssen doch weiter.«
Wie ein Schemen kam ein Wagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern aus der Kurve herausgeschossen. Wie gelähmt starrte Rachel in die hellen Lichter. Als sie reagieren konnte, war es für sie schon zu spät. Es gelang ihr nur noch, ihre kleine Schwester von sich zu schubsen, dann spürte sie einen heftigen Schlag und schlimme Schmerzen. Daß sie durch die Luft geschleudert wurde und irgendwo hart aufschlug, davon merkte sie schon nichts mehr. Da war sie schon in das schwarze Loch der Bewußtlosigkeit gefallen.
Mit kreischenden Bremsen kam der Wagen zum Halten. Steffi und Bodo Kabut, ein junges Ehepaar so um die Mitte der Zwanzig, befanden sich auf der Heimfahrt aus dem Urlaub. Da sie schon seit acht Stunden unterwegs waren und erst in der nächsten größeren Stadt eine Pause einlegen wollten, hielt Steffi ihren Mann durch Erzählen einigermaßen munter. Bodo fuhr die auf der Landstraße erlaubten fünfzig Stundenkilometer Geschwindigkeit. Nur einen Augenblick war er nicht aufmerksam und übersah so wohl das Straßenschild, das auf die scharfe Biegung der Straße hinwies. So konnte es geschehen, daß sein Tempo für diese scharfe Kurve zu hoch war. Er dachte gerade noch, Gott sei Dank kommt mir kein Wagen entgegen, da schrie Steffi auch schon entsetzt auf: »Bodo, um Gottes willen, da auf der Straße, da sind Kinder!«
Bodo Kabut trat voll auf die Bremse, spürte den harten Schlag, erst danach stand der Wagen. Bevor er reagieren konnte, riß seine Frau schon die Beifahrertür auf und sprang aus dem Wagen auf die Fahrbahn. Mit entsetzt aufgerissenen Augen starrte sie auf das leblose Bündel, das unweit von ihr neben die Fahrbahn geschleudert worden war. Nur einige Sekunden später beugte sie sich über ein lebloses Mädchen, legte ihr Ohr auf seine Brust. Ihre Stimme überschlug sich, als sie rief: »Bodo, Bodo, komm schnell, das Kind lebt noch!«
Der junge Mann kam eilig hinzu und kniete im nächsten Moment neben den beiden.
Behutsam trugen sie das besinnungslose Mädchen zum Wagen und betteten es auf dem Rücksitz. Anschließend sahen sie sich noch einmal genau um. Ungefähr zwei Meter hinter dem Wagen fand Bodo das zweite Mädchen und rief seine Frau zu sich.
Entsetzt entfuhr es Steffi Kabut: »Um Himmels willen, Bodo. Das Kind hier ist ja höchstens vier oder fünf Jahre alt. In was sind wir da nur hineingeraten?«
»Ich weiß es nicht, aber die Kleine scheint nicht schwer verletzt zu sein. Kannst du sie bis zur Kinderklinik in Ögela auf deinem Schoß halten?«
»Sicher kann ich das, Bodo. Komm, wir müssen uns beeilen. Den Unfall können wir bestimmt von der Klinik aus melden. Wichtig sind jetzt die beiden Mädchen.«
Ein paar Minuten später hatte Bodo Kabut seinen Wagen gewendet und fuhr den Weg zurück nach Ögela und von dort aus in die Richtung der Kinderklinik Birkenhain.
*
Während Schwester Regine das verunglückte Kind behutsam entkleidete, zog der junge Arzt eine Spritze auf, um der Patientin ein Herz- und Kreislauf stützendes Mittel zu injizieren. Er war gerade damit fertig, als Dr. Hanna Martens den Raum betrat. Mit knappen Worten informierte Dr. Michael Küsters sie und schloß: »Ich habe schon alles in die Wege geleitet, damit das Operationsteam bereit ist. Wie gesagt, es sieht ziemlich böse aus.«
Hanna nickte mit ernstem Gesicht und wandte sich dem Mädchen auf dem Untersuchungstisch zu. Dabei sagte sie: »Kümmern Sie sich inzwischen um die Kleine. Stellen Sie fest, welche Verletzungen vorliegen.«
In den nächsten Minuten wurde schweigend gearbeitet. Michael Küsters konnte bis auf einige harmlose Abschürfungen keinerlei Verletzungen bei dem jüngeren Mädchen feststellen. Bis auf die tiefe Bewußtlosigkeit waren alle Reflexe normal. Nachdem er auch bei diesem kleinen Mädchen einige Vorsichtsmaßnahmen getroffen hatte, ließ er die Kleine von Schwester Regines Kollegin auf der Krankenstation abholen.
Als Hanna ein paar Augenblicke später mit dem Ehepaar Kabut aus dem Wartezimmer trat und sich verabschiedete, kam ihr Bruder mit eiligen Schritten näher. Er sah in das ernste Gesicht Hannas und sagte: »Ich habe deine Mitteilung gelesen, da bin ich. Was ist passiert?«
»Gott sei Dank, daß du doch früher hier sein konntest, Kay. Eine böse Sache. Komm, wir müssen in den OP. Ich werde dir auf dem Weg dorthin das Wichtigste erklären. Es wird wohl eine lange Nacht werden.«
Nur wenig später begann im Operationssaal der Kinderklinik Birkenhain der Kampf um das Leben eines kleinen Mädchens.
*
Mit drei Minuten Verspätung lief der Eilzug, der aus Amsterdam kam, im Lüneburger Hauptbahnhof ein. Unter den Reisenden, die den Zug verließen, befand sich auch ein junger Mann. Es war der neunundzwanzigjährige Achim Degersen. Das Gesicht des Mannes war blaß und eingefallen. Das rechte Bein zog er nach. Mit leicht gebeugten Schultern ging er zum Gepäckschalter und nahm seine Koffer in Empfang. Anschließend sah er im Aushang nach, wann der nächste Zug nach Celle ging. Er hatte noch zehn Minuten Zeit. Sie reichten aus, um erneut sein schweres Gepäck aufzugeben. Alles allein zu tragen, dazu fühlte sich Achim Degersen noch nicht kräftig genug. Im letzten Augenblick überlegte er es sich anders und verließ den Bahnhof, um sich draußen auf den Vorplatz eine Taxe zu nehmen.
Aufatmend ließ er sich in die Wagenpolster sinken und gab sein Fahrziel an.
Achim Degersen hatte in den vergangenen Monaten sehr viel Zeit gehabt, über sein bisheriges Leben nachzudenken. Vor gut zwei Monaten hatte er einen schweren Arbeitsunfall erlitten, der ihm fast zwei Monate Krankenhausaufenthalt eingebracht hatte. Über einen Monat davon hatte er im Koma gelegen. Doch in der Zeit danach, bis zu seiner Entlassung aus dem Medicalcenter in Amsterdam, hatte er über sein Leben nachgedacht. Er hatte klar und überdeutlich erkannt, daß er so nicht weitermachen konnte. Die Schwiegermutter, und vor allen Dingen seine Kinder, sie brauchten ihn. Durch sein Vagabundenleben im Ausland konnte er die Vergangenheit auch nicht mehr ungeschehen machen. Er freute sich plötzlich auf das Heimkommen. Die Kinder, seine beiden kleinen Mädchen, wie würden sie reagieren, wenn er plötzlich wieder vor ihnen stand?
Achim Degersen war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er nicht bemerkte, daß die Taxe ihr Ziel erreicht hatte und mit sanftem Ruck hielt.
»Wir sind da, mein Herr«, riß ihn die Stimme des Taxifahrers aus seinen Gedanken heraus.
»Oh, entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken. Was bin ich Ihnen schuldig?«
Achim Degersen zahlte den geforderten Betrag und stieg aus. Er wartete noch ab, bis das Taxi abgefahren war, dann erst ging er mit langsamen Schritten auf die hübsche kleine Villa zu, die seit seiner Heirat auch seine Heimat und sein Zuhause geworden war, in der er bis zu Nicoles plötzlichem Tod gelebt hatte. Er wunderte sich zwar darüber, daß das Haus in tiefer Dunkelheit lag, denn soviel ihm bekannt war, blieb die Schwiegermutter an den Abenden immer sehr lange auf. Vielleicht hatte sie ihre Gewohnheiten inzwischen nur geändert. Eine ganze Weile betätigte er die Türklingel, doch niemand öffnete. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen eigenen Schlüssel hervorzusuchen, um ins Haus zu gelangen. Kurz darauf hatte er allen Grund, sich noch mehr zu wundern, denn das Haus stand leer. Aber wo waren die Schwiegermutter und die beiden Mädchen? Obwohl er sehr müde und erschöpft war und sein rechtes Bein schmerzte, verließ er noch einmal das Haus. Bei den Köhlers war schon alles dunkel, aber auf der anderen Seite drang aus einem der Fenster noch Licht nach draußen. Er läutete, und kurz darauf öffnete der alte Herr Andresen die Tür.
»Sie, Herr Degersen… Wo kommen Sie denn her?« entfuhr es dem alten Herrn überrascht. »Sie waren ja lange nicht mehr daheim.«
»Guten Abend, Herr Andresen. Entschuldigen Sie die späte Störung. Können Sie mir vielleicht sagen, ob meine Schwiegermutter mit den Kindern verreist ist, und wann sie eventuell zurückkommen?«
»Sie wissen es also noch nicht, Herr Degersen?«
»Was sollte ich denn wissen, Herr Andresen?«
»Nun, soviel ich weiß, liegt Ihre Schwiegermutter in Celle im Krankenhaus. Dann war da jemand vom Jugendamt und hat die Kinder abgeholt. Frau Köhler wird Ihnen sicher mehr darüber sagen können, denn die beiden Mädchen waren für eine Nacht in ihrem Haus. Um diese Zeit werden Sie allerdings kaum noch etwas ausrichten können. Es geht ja immerhin schon auf dreiundzwanzig Uhr zu.«
»Das ist mir klar, Herr Andresen. Vielen Dank für die Auskunft, und ich bitte um Entschuldigung für die späte Störung. Ich werde mich gleich morgen früh um meine Familie kümmern. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht.«
Äußerlich sehr ruhig ging Achim Degersen in sein eigenes Haus zurück. Was er da von dem netten Nachbarn hatte hören müssen, hatte ihn schwer getroffen. Es war ein Schlag, den er erst einmal verkraften mußte.
Damit hatte er nicht im Traum gerechnet. Die Selbstvorwürfe, die ihm schon lange zu schaffen machten, wurden dadurch auch nicht gerade geringer. Durch die ungewohnte Anstrengung machte sich der Schmerz in seinem rechten Bein wieder stärker bemerkbar. Er war ja erst vor zwei Tagen aus der Klinik entlassen worden, und es war doch alles etwas viel auf einmal. So nahm er eine seiner sehr starken Tabletten ein und legte sich sofort zu Bett. Die Wirkung des Medikamentes setzte sehr schnell ein, und er fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.