Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Classic 3 – Arztroman - Britta Frey - Страница 3

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Wo nur Birger wieder blieb? Immer öfter sah Ute Deiter auf die Uhr. Was war nur in der letzten Zeit mit ihm los, fragte sie sich. Begann ihre schöne, heile Welt zu zerbröckeln?

Ute Deiter war eine junge Frau von einunddreißig Jahren. Hübsch sah sie mit ihren halblangen dunkelbraunen Locken aus. Ihr Leben bestand aus ihrem Mann Birger und den beiden kleinen Töchtern, der achtjährigen Ramona und der fünfjährigen Inka.

Birger arbeitete als Ingenieur in einer großen Firma in der Stadt. Er verdiente gut, und sie hatten ihr Auskommen. In ihrer hübschen geräumigen Vierzimmerwohnung am Stadtrand fühlte sich die kleine Familie wohl. Ute Deiter war glücklich und zufrieden in ihrer kleinen heilen Welt. So war es jedenfalls bis vor einiger Zeit gewesen. Bis vor einiger Zeit, das waren ein paar Wochen. Trotzdem kam es Ute vor, als wären Monate vergangen, seitdem sich Birger so verändert hatte. Er wich ihr aus, und das tat Ute weh. Sie konnte es nicht begreifen, denn sie selber war sich nicht bewusst, etwas getan zu haben, was Birger gekränkt haben könnte. Doch genauso schlimm wie das Ausweichen Birgers war sein längeres Ausbleiben nach seinem Feierabend in der Firma. Mal kam er eine Stunde später, und dann wieder sogar zwei oder drei Stunden. Ute wusste nicht, wie lange ihre Nerven diese dauernde Belastung durchstehen würden.

Auch an diesem schönen Frühlingstag wartete Ute schon fast zwei Stunden auf ihren Mann. Sie wurde von Minute zu Minute trauriger. Sie wartete an diesem Tag nicht allein. Da waren auch Ramona und Inka, denen der geliebte Vati versprochen hatte, dass sie an diesem Freitag alle vier in das in der Nähe gelegene Hallenbad gehen würden.

Erneut sah Ute Deiter auf die Uhr. Viel später durfte Birger nicht kommen, denn dann würde es an diesem Tag nichts mehr mit dem Schwimmen werden.

Noch eine weitere Stunde wurde ihre Geduld auf die Probe gestellt.

Es war siebzehn Uhr vorbei, als Ute hörte, wie Birger die Wohnungstür aufschloss und wenig später die Küche betrat. Die beiden Mädchen hatten es auch gehört. Ehe Ute etwas sagen konnte, standen Ramona und Inka in der offenen Küchentür.

»Gehen wir jetzt zum Schwimmen, Vati? Wir haben schon so lange auf dich gewartet. Du hast es uns doch versprochen«, bestürmte Ramona ihren Vati.

»Tut mir leid, Schatz, heute lohnt es sich nicht mehr, es ist zu spät geworden. Wir müssen es auf einen anderen Tag verschieben. Ich musste heute wieder länger arbeiten. Ihr könnt ja noch ein wenig draußen zum Spielen gehen.«

»Du hast es aber versprochen, und draußen spielen will ich nicht«, begehrte Ramona auf.

»Ich habe gesagt, heute nicht mehr, und dabei bleibt es. Wenn du nicht an die Luft willst, dann geh ins Kinderzimmer.«

Ute sah, wie ihre Große gegen die Tränen ankämpfte, und sie konnte sich gut vorstellen, wie enttäuscht die Achtjährige in diesem Moment sein musste.

»Nun geh schon mit Inka ins Kinderzimmer. Wir gehen einen anderen Tag ins Schwimmbad. Wenn Vati dann auch keine Zeit hat, gehen wir allein. Großes Ehrenwort. Jetzt habe ich aber für euch beide keine Zeit, ich muss zuerst das Essen für den Vati aufwärmen.«

Während Ute das Essen für Birger noch einmal zum Erwärmen in den Backofen schob, sagte sie aufgebracht: »Findest du das eigentlich richtig, Birger? Erst versprichst du den Mädchen, ins Schwimmbad zu gehen, dann lässt du uns über drei Stunden vergeblich warten. Ich verstehe dich von Tag zu Tag weniger. Was ist nur mit dir los? Es kann doch so nicht weitergehen. Erkennst du denn nicht, dass du mein Vertrauen immer mehr zerstörst? Du hast doch sonst über alles mit mir geredet. Ich will endlich wissen, was mit dir los ist.« Zornig sah Ute ihren Mann an.

Birger Deiter, ein mittelgroßer, schlanker Mann, machte eine abwehrende Bewegung mit der Rechten und sagte: »Was soll schon mit mir los sein, Ute? Du musst nicht gleich ein Drama daraus machen, wenn ich nicht so fröhlich und gesprächsbereit bin, wie du es von mir gewohnt bist.«

»Weich nicht schon wieder aus, Birger. Wenn ich das schon höre, fröhlich und gesprächsbereit. Du musst mich nicht für ein Dummchen halten. Ich habe schließlich Augen im Kopf und ein Herz, das fühlt. Wenn schon etwas zwischen uns steht, so solltest du wenigstens ehrlich zu mir sein. Aber iss erst, sonst wird es noch einmal kalt und schmeckt überhaupt nicht mehr. Dabei habe ich mir solche Mühe gegeben. Sind die Mädchen und ich dir so egal geworden? Hast du uns nicht mehr lieb?«

Die ganzen Ängste der letzten Wochen kamen in Ute hoch. Sie konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten und stürzte aus der Küche hinaus und ins Schlafzimmer. Heftig schlug sie die Tür hinter sich ins Schloss.

*

Sichtlich betroffen sah Birger hinter seiner Frau her und zuckte merklich zusammen, als er das laute Zuschlagen der Schlafzimmertür hörte.

So aufgebracht und außer sich hatte er sie noch nie erlebt. Dabei musste er innerlich zugeben, dass Ute recht hatte, wenn sie sagte, dass er sich verändert hatte. Aber es lag weder an ihr noch an den beiden Mädchen. Er liebte sie alle drei. Ute und seine Töchter waren ihm keineswegs egal. Es gab da etwas anderes, was er schon ein paar Wochen mit sich herumtrug, und er hatte sich noch nicht überwunden, mit Ute darüber zu reden. Er wusste zu gut, dass er das endlich tun musste, wenn er nicht wollte, dass es noch zu mehr Missverständnissen kommen würde. So gab er sich einen inneren Ruck und dachte: Ich muss es ihr endlich beibringen, ich muss es heute hinter mich bringen.

Nun, da Birger einen Entschluss gefasst hatte, wollte er ihn auch sofort in die Tat umsetzen. Er erhob sich, um seiner Frau ins Schlafzimmer zu folgen, da standen plötzlich Ramona und Inka vor ihm.

Ängstlich sah Ramona zu ihm hoch und fragte: »Warum ist die Mutti denn so böse, Vati? Wir haben doch ganz lieb gespielt.«

»Mutti ist nicht böse, mein Mädchen. Sie ist nur ein bisschen aufgeregt gewesen. Wisst ihr was, ihr zwei? Ihr geht jetzt noch für ein halbes Stündchen hinaus und spielt. Ich muss mit Mutti reden. Wenn du vernünftig bist und auf deine Schwester achtest, dann fahre ich heute Abend mit euch zu Großmanns Imbiss, und wir holen uns zum Abendbrot eine leckere Pizza.«

»Ich will aber keine Pizza, ich möchte Pommes mit Mayo, Vati«, sagte die fünfjährige Inka.

»Natürlich bekommst du deine Pommes, Schätzchen«, erwiderte Birger lächelnd und fuhr der Kleinen zärtlich über den braunen Lockenkopf.

»Nun komm schon, Inka, wir gehen«, forderte Ramona ihre kleine Schwester auf und zog sie in Richtung Wohnungstür.

Birger wartete einen Moment, bis sich die Tür hinter seinen Mädchen geschlossen hatte, dann erst klopfte er kurz an die Schlafzimmertür und ging ins Zimmer hinein. Bestürzt sah er, dass Ute quer über ihrem Bett lag und hemmungslos weinte.

Birger setzte sich auf die Kante des Bettes und berührte sie sanft an der Schulter.

»Nun wein doch nicht so sehr, Liebes. Bin ich denn wirklich so unausstehlich geworden?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Lass mich, mit dir kann man sowieso nicht reden. Du weichst mir doch nur aus«, entgegnete Ute schluchzend und schüttelte Birgers Hand ab.

»Ja, ich bin dir ausgewichen, ich gebe es ja zu, aber das hat doch nichts mit dir und unseren Kindern zu tun. Himmel noch mal, es gab da eben etwas, was mich sehr stark beschäftigte. Es hat mich so beschäftigt, dass ich mich bis jetzt einfach nicht getraut habe, mit dir darüber zu reden. Aber wie du heute reagiert hast, bleibt mir ja keine andere Wahl mehr. Und gerade weil ich dich und unsere beiden Mädchen so liebe, fällt es mir auch unheimlich schwer, dir jetzt alles zu sagen. Es muss sein, damit du nicht noch mehr falsche Schlüsse ziehst.«

Utes Tränenstrom war mit einem Mal versiegt. Aus geweiteten Augen starrte sie Birger an, und ein dumpfes Gefühl der Angst beschlich sie.

»Nun schau mich nicht so entsetzt an, Ute. Es ist nichts Privates, sondern es hat mit meiner Arbeit zu tun. Hör mir zu, es geht um Folgendes: Unser Chef hat meinen Kollegen Werner Preuß und mich verpflichtet, für einige Monate ins Ausland zu gehen, und dort beim Aufbau eines Maschinenwerks mitzuwirken. Wir rechnen so mit sechs Monaten. Auslandsmontage nennen wir es in der Firma. Kannst du nun verstehen, dass es mir schwergefallen ist, es dir zu sagen? Es geht dabei darum, dass ich euch für mindestens ein halbes Jahr hier allein lassen muss. Der Gedanke allein ist schon kaum zu ertragen, darum konnte ich auch nicht eher darüber sprechen.«

»Du musst was, Birger? Du willst mich wirklich mit Ramona und Inka allein lassen? Warum hast du deinem Chef dann nicht abgesagt, dass du nicht ins Ausland willst?«

»Nein, Ute, das konnte ich nicht. Ich wäre in Gefahr gelaufen, meine Arbeit zu verlieren, aber das wäre für euch und mich schlimmer gewesen, als einige Monate im Ausland zu verbringen. Für diese Art Maschinen kommen nur Werner und ich infrage. Ich kann es nicht ändern.«

»Und wohin müsst ihr, Birger?«, fragte Ute leise und sah ihn dabei traurig an.

»Nach Algerien, Liebes.«

»O Gott, ich werde keine ruhige Minute mehr haben, solange du fort sein wirst. Es wird doch sicher noch einige Zeit dauern, bis ihr fahren müsst, nicht wahr?«

»Nein, Liebes, es sind noch genau vierzehn Tage, wir müssen am fünfundzwanzigsten startbereit sein. Wir fliegen von Düsseldorf aus mit dem Flugzeug.«

»So bald schon, Birger? Warum hast du nur nicht schon eher etwas gesagt? Warum, Birger?«

»Es hätte nichts geändert, denn ich fühle mich in unserer Firma wohl und möchte meine Arbeit nicht verlieren. Ich sagte es dir ja bereits. Es ist ja auch nur dieses Mal. Wenn ich auch nicht gern gehe, so geht davon die Welt auch nicht unter. Du bist nicht allein, du hast unsere Mädchen bei dir. Ich denke, jetzt sollten wir dieses Thema beenden.«

»Noch nicht, Birger, ich bin mit deiner Antwort auf meine Frage noch nicht zufrieden. Du weichst mir schon wieder aus. Warum hast du es mir so lange verschwiegen?«

»Nun, Ute, wenn du es genau wissen willst. Erstens habe ich insgeheim gehofft, dass vielleicht noch etwas dazwischenkommen würde, und zweitens war ich zu feige, denn ich hatte Angst, dir wehzutun. Bist du jetzt zufrieden?«

»Ich muss ja, denn es bleibt mir nicht mehr viel Zeit, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass du uns für eine so lange Zeit allein lässt. Verzeih mir, dass ich an dir zu zweifeln begann, aber durch dein ständiges Ausweichen hattest du diese Zweifel an dir in mir selbst geweckt. Nun muss ich mich aber um Ramona und Inka kümmern. Die zwei waren sowieso heute so enttäuscht über dein nicht eingehaltenes Versprechen.«

*

Als es am nächsten Tag gegen fünfzehn Uhr an der Wohnungstür klingelte, sagte Ute Deiter lächelnd zu ihrer Ältesten: »Gehst du bitte die Tür öffnen, Schatz?« Sie wusste ja, dass es nur die Schwiegermutter sein konnte, die für diesen Nachmittag ihren Besuch angesagt hatte.

Ramona eilte sofort zur Tür, und Ute hörte sie gleich darauf jubelnd ausrufen: »Mutti, Mutti, sieh doch nur, die Oma ist gekommen.«

Als Ute in die kleine Diele trat, konnte sie noch miterleben, wie die Schwiegermutter von Ramona und Inka stürmisch begrüßt wurde.

»Grüß dich, Mutter.« Mit einem Kuss auf die Wange begrüßte nun auch Ute Birgers Mutter.

Cora Deiter, zärtlich geliebt von Ramona und Inka, war eine sehr warmherzige Frau von vierundfünfzig Jahren. Sie war mittelgroß und vollschlank, und das dunkle, modisch frisierte Haar zeigte die ersten grauen Strähnen. Von ihrem ersten Kennenlernen an bestand zwischen ihr und Ute ein sehr gutes und herzliches Verhältnis. Sie war immer ansprechbar, wenn Ute sie brauchte, wenn sie mal Probleme hatte. Natürlich hatte Ute ihr schon am vergangenen Morgen während ihres Telefongesprächs von ihren Sorgen, die sie sich wegen Birger machte, berichtet.

Cora Deiter sah Ute forschend an, dann fragte sie: »Alles in Ordnung, Mädel? Wo steckt Birger?«

»Birger ist in der Garage, er hat an seinem Wagen einen kleinen Defekt, Mutter. Er wird wohl bald heraufkommen.«

»Gut, dann haben wir ja ein paar Minuten für uns. Hier, ihr beiden Rangen, Oma hat euch etwas mitgebracht. Ihr könnt es ja in eurem Zimmer auspacken.« Cora Deiter reichte den beiden Mädchen ein längliches Paket, und beide waren im nächsten Augenblick hinter der Tür des Kinderzimmers verschwunden.

»So, Ute, jetzt erzähl mir etwas genauer, was mit Birger los ist«, forderte Cora Deiter ihre Schwiegertochter auf.

»Es ist nichts mit ihm, wir haben uns gestern ausgesprochen, Mutter. Das heißt, er hat mir erklärt, warum er sich mir gegenüber in den letzten Wochen eigenartig verhalten hat. Es hat mit seiner Firma zu tun.«

»Also, es steckt keine andere Frau dahinter? Wenn ja, dann werde ich ihm ganz gehörig die Hammelbeine lang ziehen.«

»Nein, es steht keine andere Frau zwischen uns, Mutter. Aber da kommt etwas auf uns zu, von dem du gleichfalls nicht erfreut sein wirst. Birger wird mich und die Mädels bald für wenigstens ein halbes Jahr nicht sehen können.«

»Geh, Ute, red doch nicht solch einen Unsinn. Birger hat seine Arbeit hier in der Stadt, warum sollte er euch allein lassen?«

»Birger und ein Kollege werden für ein halbes Jahr nach Algerien geschickt, Mutter. Sie müssen da mithelfen, Maschinen aufzubauen und einzurichten. Ein neues Werk.«

»Und das lässt du zu, Ute?«

»Du bist gut, Mutter. Wie hätte ich es denn verhindern sollen? Ich kann ihn ja nicht anbinden. Sie fliegen auch schon in vierzehn Tagen von Düsseldorf vom Flughafen Lohausen ab. Ich kann mir auch noch nicht vorstellen, wie ich es eine so lange Zeit ohne ihn schaffen soll.«

»In vierzehn Tagen schon? Das ist ja …«

»Bitte, leise und nicht aufregen«, unterbrach Ute ihre Schwiegermutter. Sie legte warnend einen Finger auf ihre Lippen. Sie wollte nicht, dass die beiden Mädchen erschraken, die ja noch nichts wussten.

Cora Deiter begriff auch sofort und flüsterte tadelnd: »Ihr wollt doch wohl nicht bis zum letzten Tag warten, bis ihr es den Kindern sagt, oder?«

»Nein, Mutter, ich werde es ihnen im Laufe der nächsten Tage so schonend wie möglich beibringen.«

In der Diele klappte eine Tür, und da kamen auch schon Ramona und Inka in die Küche gelaufen.

»Mutti, sieh nur, was uns die Oma mitgebracht hat.« Mit strahlenden Augen hielten die beiden Mädchen ihrer Mutter die Mitbringsel ihrer geliebten Oma entgegen. Ramona hatte eine neue Barbiepuppe und Inka eine niedliche Puppe mit schwarzen Wuschelhaaren bekommen.

Während Cora Deiter von den kleinen Enkeltöchtern umhalst wurde, kam auch Birger hinzu.

»Na, hier geht es ja schon recht lustig zu«, sagte er schmunzelnd, danach begrüßte auch er seine Mutter herzlich.

»Mutter, Birger, geht ihr doch schon ins Wohnzimmer hinüber. Ich decke inzwischen hier in der Küche den Kaffeetisch für uns«, sagte Ute lächelnd. Sie wollte vermeiden, dass Birgers Mutter vor den beiden Mädchen Fragen stellte.

»Ich kann dir doch dabei helfen, Ute«, erwiderte Cora Deiter.

»Nein, ich helfe Mutti, Oma«, sagte da Ramona und legte schon ihre Puppe auf einen Stuhl.

»Ich auch, ich will auch helfen«, verlangte die fünfjährige Inka nun auch.

»Siehst du, ich habe schon Helfer, Mutter. Geh ruhig mit Birger hinüber. Wir rufen euch, wenn wir hier fertig sind.«

Birger, der Ute verstanden hatte, legte einen Arm um die Schultern seiner Mutter und führte sie ins Wohnzimmer hinüber. Nachdem er die Tür hinter sich zugeschoben hatte, sagte er: »Setz dich bitte, Mutter, und hör mir einen Augenblick zu, ich habe dir etwas zu sagen.«

»Wenn es deine Reise ins Ausland betrifft, so weiß ich es schon von Ute. Ich begreife überhaupt nicht, dass du dich auf eine so unsichere Sache einlassen kannst, Junge, Auslandsmontage, wenn ich das schon höre. Es ist meiner Meinung nach eher etwas für Junggesellen, aber nicht für einen Familienvater.«

Cora Deiters Stimme klang ärgerlich und auch vorwurfsvoll.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Ich habe mich weiß Gott nicht danach gedrängt, Mutter. Aber es gibt Situationen, da kann man einfach nicht ablehnen. Man muss sich dort einsetzen lassen, wo man gebraucht wird. In diesem besonderen Fall braucht man meine fachlichen Kenntnisse. Es geht um das Interesse der Firma, in der ich immerhin schon einige Jährchen beschäftigt bin und auch nicht schlecht für meine Familie verdiene. Und außerdem, ein halbes Jahr, es wird schnell vorübergehen. Ich möchte dich nur bitten, dich während meiner Abwesenheit um Ute und die Kinder zu kümmern. Wirst du meine Bitte erfüllen?«

»Was dachtest du denn, Junge? Es wird für Ute und die Kinder eine recht einsame Zeit werden. Du lässt ihr doch den Wagen da, nicht wahr? Sie kann dann, wenn es ihr zu einsam wird, schneller mit den Mädchen zu mir kommen.«

Cora Deiter wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment wurde die Wohnzimmertür geöffnet, und die kleine Inka stand in der Tür und sagte: »Vati, Oma, ihr sollt kommen, hat die Mutti gesagt.«

»Fein, Schätzchen … Oma und Vati kommen schon«, erwiderte Cora Deiter liebevoll. Sie nahm Inka an die Hand, und gefolgt von Birger gingen sie in die Küche zurück, aus der ihnen der Duft frischen Kaffees entgegenkam.

*

Als Cora Deiter am Sonntag gegen Abend nach Wilmor zurückfuhr, lag ein schönes Wochenende hinter ihr und der kleinen Familie ihres Sohnes. Sie und auch die beiden kleinen Mädchen von Birger und Ute hatten dafür gesorgt, dass Ute nicht viel Zeit zum Nachdenken geblieben war. Es stand auch schon fest, dass sie alle vier am kommenden Sonntag nach Wilmor kommen würden, um sie vor Birgers Abflug nach Algerien noch einmal zu besuchen.

Noch eine zärtliche Umarmung von Ramona und Inka, die ihre geliebte Oma am liebsten nicht fortgelassen hätten, und ein herzlicher Händedruck von Ute, dann sagte Birger, der sie zum Bahnhof bringen wollte: »Komm, Mutter, es wird Zeit, sonst verpasst du am Ende noch deinen Zug.«

Cora Deiter stieg in Birgers Wagen ein. Ein letztes Winken, dann ging Ute mit ihren beiden Mädchen ins Haus zurück.

»Hast du deine Schultasche schon für morgen früh fertig, Ramona? Du hast morgen schon um acht Uhr Schule«, wollte Ute wissen.

»Habe ich, Mutti. Vati hat meine Hausaufgaben auch schon nachgesehen. Es ist alles richtig.«

»Fein, dann kannst du ja auch noch ein wenig mit Inka spielen, bis Vati vom Bahnhof zurückkommt. Ich werde inzwischen schon das Abendbrot vorbereiten.«

»Mona, komm, spielen gehen«, forderte die fünfjährige Inka und lief ins Kinderzimmer. Aber Ramona blieb noch neben Ute stehen und zögerte.

»Nun, mein Mädchen, wolltest du noch etwas?«

»Wo ist Algerien, Mutti? Ist das sehr weit?« Fragend sah die Achtjährige zu ihrer Mutti hoch.

Ute setzte sich auf einen Stuhl und zog Ramona an sich.

»Weißt du, Vati muss für einige Zeit von seinem Chef aus in dieses Land fahren. Es liegt weit weg, darum fliegen er und noch ein paar andere Männer der Firma auch mit dem Flugzeug. Er muss dort sehr viel arbeiten, und dabei kann er uns nicht brauchen. Er kann auch, weil es so weit fort ist, nicht jeden Tag zu uns heimkommen. Wir werden also eine ganze Zeit allein hier zu Hause bleiben und ihn nicht sehen können. Du bist schon ein großes und vernünftiges Mädchen, du wirst es sicher verstehen, nicht wahr? Es dauert auch noch fast zwei Wochen, bis Vati fort muss. Wenn ihr beide brav seid, dann bringen wir Vati zum Flughafen. Ihr könnt dann sehen, mit welch riesig großem Flugzeug der Vati fliegt. Und jetzt geh noch etwas mit deiner kleinen Schwester spielen. Ich habe ein Weilchen keine Zeit für euch zwei.«

»Bleibt Vati denn lange fort, Mutti?«

»Ja, eine ganze Weile. Er wird uns jedoch ganz viele Briefe und Karten schreiben. Doch geh jetzt, Inka wartet auf dich.« Sanft schob Ute Ramona von sich und stand auf. Nur zögernd ging Ramona hinüber ins Kinderzimmer.

Ute aber war erleichtert, dass sie es ihrer Großen nun erklärt hatte. Die Zeit, die vor ihr lag, das wusste sie schon zu diesem Zeitpunkt, würde für sie nicht einfach werden.

Der nächste Morgen kam und mit ihm der Alltag. An diesem Tag und auch an den folgenden ließ sich Ute nach außen hin nicht viel anmerken. Dabei wurde sie mit jedem Tag, der dem Abschied Birgers näher rückte, trauriger. Nur zeigen durfte sie es niemandem, am wenigsten Birger. Er sollte denken, dass sie sich inzwischen damit abgefunden hatte. Er sollte nicht mit schwerem Herzen seine Reise antreten.

Der Besuch am Sonntag bei Birgers Mutter in Wilmor, ein paar Tage vor seinem Abflug, verlief noch sehr harmonisch. Nach einer gemütlichen Kaffeestunde, zu der Cora Deiter einen gedeckten Apfelkuchen auf den Tisch brachte, den sie selber gebacken hatte, bettelten Ramona und Inka ihren Vati so lange, bis er nachgab und mit ihnen einen Spaziergang durch die Heide machte. Den Anlass dazu hatte die Oma gegeben, die den Kindern erzählt hatte, dass der alte Schäfer mit seinen Schafen wieder in der Heide sei. Zu dem wollten die Mädchen. Die vielen Schafe, die wollten sie unbedingt sehen.

»Stimmt alles mit euch, Ute?« Forschend sah Cora Deiter ihre Schwiegertochter an, als sie dann allein waren.

»Es muss ja, Mutter. Noch drei Tage, dann bringen die Kinder und ich Birger zum Flughafen nach Düsseldorf. Die Maschine fliegt erst nach vierzehn Uhr. Möchtest du nicht mitkommen?«

»Nein, nein, Ute, ich möchte nicht mit. Abschiede sind für mich immer ein Gräuel. Ich sage Birger heute auf Wiedersehen. Ich lebe ja nicht wie du und die Mädchen Tag und Nacht mit ihm zusammen. Mir wird es nicht ganz so schwerfallen, wenn er fort ist. Seit eurer Heirat sehe ich meinen Jungen auch so manchmal ein paar Wochen nicht. Ich bin es also schon gewohnt. Aber du sollst eines wissen. Wenn du dich einsam fühlst, packst du die Mädchen in den Wagen und kommst hierher nach Wilmor zu mir. Und in den großen Ferien, wenn Birger bis dahin noch nicht zurück ist, kommst du mit den Mädchen ganz zu mir. Du und die beiden Rangen, ihr seid mir zu jeder Zeit herzlich willkommen.«

»Du bist lieb, Mutter, und ich danke dir, dass du mir alles etwas leichter machen willst. Ich werde sicher oft zu dir kommen. Du bist so, wie ich mir immer eine richtige Mutter gewünscht habe. Leider habe ich sie viel zu früh verloren.«

»Ich liebe dich auch wie eine eigene Tochter, Ute. Nun aber Schluss, sonst wirst du mir noch ganz traurig. Hilfst du mir in der Küche? Ich möchte das Abendessen fertig haben, wenn Birger mit den Mädchen zurückkommt.«

»Da fragst du noch, Mutter? Komm, gehen wir hinüber.«

*

Der Abschied von Birger auf dem Düsseldorfer Flughafen war für Ute Deiter sehr schwer gewesen. Aber um ihrer beiden Mädchen willen hatte sie gelächelt und tapfer die Tränen zurückgedrängt. Doch auch dieser Tag lag nun schon lange zurück. Birger, der ihr beim Abschied versprochen hatte, recht oft zu schreiben, hielt sein Wort. Jede Woche kam ein Brief von ihm, und zwischendurch schickte er seinen beiden Mädchen hübsche, bunte Ansichtskarten. So verstrichen die Wochen, wurden zu Monaten.

Der vierte Monat war vorbei, und danach blieb plötzlich jede Nachricht von Birger aus. In der ersten Woche glaubte Ute noch, dass ihm vielleicht etwas dazwischengekommen sei, und es beunruhigte sie noch nicht besonders. Als aber eine weitere Woche verstrich, wurde sie unruhig und begann, sich Sorgen zu machen. In den Nächten wurde sie von Albträumen geplagt und war schließlich nur noch ein Nervenbündel. Nach einer solchen Nacht, in der sie in ihren Träumen die schlimmsten Visionen erlebte, es war wieder einmal ein Freitag, sagte sie beim Frühstück zu Ramona: »Heute brauchst du einmal nicht in die Schule zum Unterricht, Schatz. Wir fahren gleich nach dem Frühstück übers Wochenende zur Oma nach Wilmor. Ich werde dir für heute eine Entschuldigung schreiben, die du am Montag deiner Lehrerin mitnimmst. Nun, wie gefällt dir mein Vorschlag?«

»Au ja, fein, Mutti, fahren wir zur Oma«, entgegnete Ramona mit glänzenden Augen. Und Inka stimmte sofort mit ihrer zarten Stimme zu: »Ja, Mutti, wir fahren zur Oma. Ich habe die Oma ganz doll lieb.«

»Gut, dann frühstückt ihr fertig, und ich packe in der Zwischenzeit rasch einige Sachen für uns zusammen. Wir werden bis zum Sonntagabend bei der Oma bleiben.«

Eine halbe Stunde später fuhr Ute Deiter mit Ramona und Inka in Richtung Wilmor.

Während die Mädchen recht fröhlich waren, fieberte Ute schon der Ankunft bei der Schwiegermutter entgegen. Sie hoffte, dass diese wenigstens von Birger Nachricht bekommen hatte.

Cora Deiter kam gerade aus der Haustür. Sie wollte im Ort einige Einkäufe machen.

Nanu, dachte sie, dass ist doch Birgers Wagen. Sie war überrascht, weil sie mit der Schwiegertochter für dieses Wochenende überhaupt nichts abgesprochen hatte.

Als der Wagen wenige Augenblicke später vor dem Haus hielt und Ute als Erste aus dem Wagen stieg, sah sie betroffen, dass Ute sich offenbar nicht in bester Verfassung befand. Bevor sie jedoch etwas sagen oder eine Frage stellen konnte, kamen zwei strahlende, kleine Mädchen auf sie zugestürmt und wären ihr am liebsten gleichzeitig um den Hals gefallen.

»Freust du dich, dass wir gekommen sind, Oma?«, sprudelte Ramona hervor.

»Natürlich freue ich mich, Schätzchen.«

»Ich bin auch Omas Schätzchen«, drängte sich die fünfjährige Inka zwischen Ramona und ihre Oma.

»Natürlich bist du auch Omas Schätzchen, du kleiner Racker. Komm, gib Oma ein Küsschen.« Liebevoll beugte Cora Deiter sich zu dem zierlichen kleinen Mädchen hinunter, das ihr ein feuchtes Küsschen auf die Wange drückte. Dann sagte sie lächelnd: »So, ihr beiden Rangen, geht einmal in den Garten. Ich habe da eine kleine Überraschung für euch. Ihr müsst aber ganz leise sein. Es liegt in einem Körbchen.«

Ramona nahm ihre kleine Schwester an die Hand, und langsam schlichen sie förmlich um die Hausecke davon. Erst jetzt hatte Cora Deiter Zeit für Ute, die noch eine große Reisetasche aus dem Kofferraum des Wagens herausgeholt hatte.

»Ist es schlimm, dass wir dich einfach ohne Anmeldung überfallen, Mutter? Ich habe es bei uns in der Wohnung nicht mehr ausgehalten.«

»Rede keinen Unsinn, Ute. Ich habe dir doch gesagt, dass ihr mir zu jeder Zeit willkommen seid. Wenn du vorher angerufen hättest, dann hätte ich etwas vorbereiten können. Aber macht nichts. Komm erst einmal ins Haus. Einkaufen kann ich auch später noch.«

Als sie im Innern des Hauses waren und Cora Deiter die Haustür zugeschoben hatte, sah sie Ute noch einmal prüfend in das blasse, schmal gewordene Gesicht und fragte: »Ist etwas nicht in Ordnung, Ute? Gut schaust du gerade nicht aus.«

»Ich habe auch keine guten Nächte hinter mir, Mutter. Ich mache mir solche Sorgen um Birger. Es sind schon vierzehn Tage her, seit ich von ihm die letzte Nachricht erhalten habe. Warum schreibt er denn auf einmal nicht mehr? Ich begreife es nicht. Er weiß doch, wie sehr ich auf Post von ihm warte. Hast du wenigstens etwas von ihm gehört?« Utes Augen füllten sich plötzlich mit Tränen.

»Es tut mir leid, Ute, aber ich habe auch vor zwei Wochen die letzte Karte von Birger bekommen. Ich verstehe nicht, warum er sich auf einmal nicht mehr meldet. Es muss jedoch nicht gleich etwas bedeuten. Wir dürfen uns nicht verrückt machen. Du musst nicht weinen. Sollen die Mädchen dich so sehen? Denk doch nur an Italien und auch an Frankreich, wie oft da gestreikt wird. Vielleicht ist es im Moment in Algerien auch der Fall. Etwas Geduld müssen wir schon haben. Ich freue mich auf jeden Fall, dass du mit Ramona und Inka zu mir gekommen bist. Wir werden uns ein paar schöne Tage machen. Du bringst die Sachen von euch hinauf, und ich sorge inzwischen für einen Kaffee, und für die Mädchen habe ich frische Milch da.«

»Du bist lieb, Mutter, wenn wir dich nicht hätten. Wo bleiben nur Ramona und Inka? Was für eine Überraschung hast du denn im Garten für die beiden?«

Ute hatte ihre Fassung wiedergefunden und sah die Schwiegermutter fragend an.

»Ich habe mir einen kleinen Vierbeiner zugelegt, Ute. Gerade zwölf Wochen alt, noch so richtig niedlich. Trulli habe ich sie getauft, es ist nämlich eine Sie, ein kleines Pudelmädchen.«

»Dann verstehe ich, dass wir nichts von Ramona und Inka hören. Wir hätten uns gern ein Tier angeschafft, aber bei uns in der Wohnung ist es nicht erlaubt. Da sind die Mädchen ja gut aufgehoben. Ich gehe dann und bringe die Tasche mit unseren Sachen nach oben. Wir dürfen doch bis Sonntagabend bleiben, nicht wahr?«

»Ja, selbstverständlich, Ute. Du kannst mit den Mädchen in meinem Schlafzimmer schlafen, und ich quartiere mich für die beiden Nächte in Birgers altes Zimmer ein.«

»Das geht doch nicht, Mutter. Dein Bett wollen wir dir nicht fortnehmen«, wehrte Ute ab, doch Cora Deiter entgegnete lächelnd: »Quatsch, Ute … Bett ist Bett! Und ihr habt in den Doppelbetten mehr Platz. Für mich reicht das von Birger. Nun geh schon.«

Ute war gerade oben, als es heftig an der Hintertür klopfte. Als Cora Deiter die Tür öffnete, wurde sie so heftig von den beiden kleine Mädchen umhalst und gedrückt, dass sie lachend abwehrte und dabei sagte: »Nun lasst doch eure Oma leben. Ich bekomme ja überhaupt keine Luft mehr.«

»Oma, Oma, du bist die liebste, die beste Oma auf der ganzen Welt. So ein niedliches Hündchen, und es beißt überhaupt nicht. Wie heißt es denn?«

»Oma, darf ich das Hündchen mitnehmen und Vati zeigen, wenn er kommt?«, fragte Inka und strahlte die geliebte Oma an.

Gerührt sah Cora Deiter in die leuchtenden Kinderaugen. Wie schnell konnte man Kindern eine Freude machen!

»Oma, so sag doch, wie das Hündchen heißt?«, wollte Ramona erneut wissen.

»Es heißt Trulli, Schätzchen. Ist Trulli nicht ein hübscher Name?«

»Doch, Oma, Trulli, das gefällt mir gut. Wir gehen wieder in den Garten hinaus.«

»Halt, halt, ihr zwei, dazu werdet ihr noch genug Zeit haben. Jetzt kommt ihr erst einmal mit mir in die Küche, da gibt es für euch ein Glas warme Milch. Leckere Plätzchen habe ich auch noch für euch.«

Das ließen sich die beiden Mädchen nicht zweimal sagen. Zufrieden saßen sie am Küchentisch, tranken ihre Milch und knabberten dazu Spritzgebäck, als Ute zu ihnen kam.

Natürlich mussten sie dabei auch die Neuigkeit mit dem Hündchen Trulli loswerden.

So waren Ramona und Inka gut beschäftigt. Nur mit gutem Zureden waren sie später dazu zu bewegen, mit ihrer Mutti und ihrer Oma spazieren zu gehen. Und am liebsten hätten sie das kleine schwarze Wollknäuel noch am Abend mit ins Bett genommen.

Doch für alle viel zu rasch war das Wochenende auch wieder vorbei, und Ute fuhr mit ihren beiden Mädchen wieder in ihre Wohnung in die Stadt zurück.

*

Bevor Ute mit den Mädchen abgefahren war, hatte Cora Deiter der Schwiegertochter geraten: »Warte noch ein paar Tage, ob nicht doch noch eine Nachricht von Birger kommt. Sag mir sofort Bescheid, falls du Post von ihm erhältst. Wenn du auch in der kommenden Woche keine Post bekommst, dann fahr doch zu Birgers Firma. Die müssen dort auf jeden Fall wissen, ob da in Algerien alles in Ordnung ist. Es ist immerhin ein großes Werk, was dort erstellt wird. Man wird sich dort um die Männer kümmern.«

»Ich werde deinen Rat befolgen, Mutter. Ich sage dir dann telefonisch Bescheid«, hatte Ute geantwortet, danach winkten Ramona und Inka noch einmal, und langsam entschwand der Wagen Coras Blicken. Erst als nichts mehr zu sehen war, ging sie ins Haus zurück. Und nun fiel auch die von ihr zur Schau gestellte Fröhlichkeit ab, die sie während des Wochenendes gezeigt hatte. Mit einer müden Geste strich sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Sie war über das Ausbleiben jeglicher Nachricht von ihrem Sohn sehr unglücklich. Jetzt, da sie wieder allein war, konnte sie sich gehen lassen. Nur der Schwiegertochter gegenüber hatte sie es verborgen, um deren Herz nicht noch schwerer zu machen. Sie hatte in einer Nachrichtensendung etwas von Unruhen in Algerien gehört. Es war zwar schon drei Wochen her, aber sie hatte Ute gegenüber nichts davon verlauten lassen. Ihr selber jedoch hatte es schlaflose Nächte bereitet.

Während Cora Deiter voller Sorgen an ihren Sohn dachte, der irgendwo in diesem fremden Land weilte, wurde Ute auf der ganzen Rückfahrt durch das muntere Geplauder ihrer beiden Mädchen von ihren Sorgen abgelenkt.

Erst als beide in ihren Betten lagen und schon lange schliefen, überfiel Ute erneut die bedrückende Einsamkeit, und ihre Sorgen drängten sich wieder in den Vordergrund, ließen sie keinen Schlaf finden.

Ein paar Tage des Wartens auf Nachricht von Birger gingen vorüber, und Utes Herz wurde immer schwerer. Noch ein oder zwei Tage, dann fahre ich aber zu Birgers Chef in die Firma, nahm sie sich vor. Doch es kam dann alles ganz anders.

Es war Donnerstag. Ramona hatte die Wohnung verlassen, um in die Schule zu gehen, und Inka schlief noch.

Noch eine Stunde, bis der Briefträger durch ist, danach werde ich mit Inka zum Chef von Birger fahren, ging es ihr durch den Kopf. Als sie für ihre Jüngste das Frühstücksbrot gestrichen und die Milch auf den Herd gestellt hatte, schlug die Klingel an der Wohnungstür an.

Erschrocken verstummte Ute und starrte auf den Mann, der vor ihr stand.

»Herr Iversen, Sie …« Es war Birgers Chef persönlich. Ute hatte ihn einmal bei einem Betriebsausflug kennengelernt. Das Gesicht des Mannes war sehr ernst, und Ute hatte mit einem Mal das Gefühl, als würde eine eiserne Faust ihr Herz zusammenpressen. Da sagte der hochgewachsene Mann: »Sie kennen mich noch, Frau Deiter? Darf ich einen Augenblick eintreten?«

»Selbstverständlich, Herr Iversen, bitte treten Sie ein.«

Ute führte Birgers Chef ins Wohnzimmer und bot ihm einen Platz an. Sie selbst setzte sich ihm gegenüber. Alles in ihr war mit einem Mal voller Abwehr. Sie fühlte, dass dieser Mann ihr nichts Gutes brachte. Trotzdem fragte sie mit belegter Stimme: »Was führt Sie so früh am Morgen schon hierher, Herr Iversen?«

»Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, Frau Deiter. Es tut mir unendlich leid, aber ich bringe Ihnen keine guten Nachrichten. Ich wollte keinen anderen mit dieser Aufgabe betrauen, darum komme ich persönlich zu Ihnen.«

»Was ist passiert, es ist doch etwas mit meinem Mann, Herr Iversen, nicht wahr? Bitte quälen Sie mich nicht, sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Ja, es ist etwas mit Ihrem Mann, Frau Deiter. Zwei unserer Mitarbeiter gerieten in Oran während einer Demonstration per Zufall zwischen zwei gegnerische Gruppen und sind dabei ums Leben gekommen. Einer von diesen beiden Männern war Ihr Mann. Wir haben erst gestern am späten Abend die traurige Nachricht bekommen, da man bald zwei Wochen nach den beiden als vermisst geltenden Personen geforscht hat. Es tut mir so leid, dass gerade ich Ihnen diese schlimme Nachricht überbringen muss.«

»Nein, nein, nein! Sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist! Sie lügen! Birger ist nicht tot, er muss leben, ich brauche ihn doch!«

Fast hysterisch schrie Ute in ihrer inneren Not den mit blassem Gesicht vor ihr sitzenden Mann an. Sie selber war aufgesprungen und starrte ihn voller Feindseligkeit an. Noch hatte sie nicht richtig begriffen, was dieser Mann da gerade gesagt hatte. Es war für sie zu ungeheuerlich.

»Ich lüge Sie nicht an, Frau Deiter. Bitte, Sie dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Ich kann Ihnen nur meine tiefe Betroffenheit versichern. Selbstverständlich übernehmen wir alles, was jetzt zu tun ist. Sie brauchen sich um keine Formalitäten kümmern. Auch Ihre finanzielle Sicherheit kann ich Ihnen garantieren.«

»Geld? Sicherheit? Ich will meinen Mann, den Vater meiner Kinder, meiner Mädchen! Sie …, Sie ganz allein sind daran schuld. Sie …, Sie haben mir meinen Mann genommen!«

Utes schmale Gestalt begann zu wanken, aber sofort war Georg Iversen an ihrer Seite und hielt sie fest, damit es nicht zu einem Sturz kommen konnte, dann drückte er sie mit sanfter Gewalt in einen Sessel und wollte mitfühlend wissen: »Kann ich noch etwas für Sie tun? Gibt es einen Menschen, dem ich Bescheid sagen kann, damit er Ihnen zur Seite steht?«

»Es ist also wirklich wahr, ich habe meinen Mann für immer verloren?«, kam es mit tonloser Stimme über Utes Lippen. Ihre Augen wirkten wie erloschen.

»Kann ich wirklich nichts für Sie tun, Frau Deiter?«

»Gehen Sie, so gehen Sie und lassen Sie mich endlich allein.«

»Aber ich …«

»Gehen Sie doch endlich, ich will niemanden sehen!« Die letzten Worte schrie Ute förmlich in ihrem inneren, tiefen Schmerz heraus.

»Mutti, was ist denn? Ist der Onkel böse?«

Eine ängstliche Kinderstimme kam plötzlich von der Tür her.

Mit übermenschlicher Kraft nahm Ute sich zusammen.

»Komm zur Mutti, Schätzchen. Der Onkel ist nicht böse, er geht jetzt auch wieder fort.«

Im Nachthemdchen kam die Fünfjährige zu Ute gelaufen und schmiegte sich schutzsuchend in deren Arme.

»Sie hören dann wieder von uns, wenn alles Notwendige veranlasst worden ist, Frau Deiter. Sollte jemand noch Fragen haben, wir stehen jederzeit zur Verfügung. Und noch einmal mein tiefstes Beileid zu Ihrem herben Verlust.«

Georg Iversen warf noch einen zögernden Blick in Utes wachsbleiches Gesicht, denn wandte er sich ab und verließ die Wohnung.

Für Ute Deiter, die sich mit letzter Kraft aufrecht hielt, war in diesen Minuten eine ganze Welt zusammengebrochen.

»Mutti, so hör doch endlich, ich habe Hunger.«

Wie erwachend sah Ute auf ihr kleines Mädelchen. Mit bebender Stimme sagte sie dann: »Geh in die Küche, ich habe dir schon ein Butterbrot gemacht. Ich muss nur noch rasch die Oma anrufen, dann komme ich auch zu dir. Geh und sei ein liebes Schätzchen.«

Mit zögernden Schritten ging die Kleine aus dem Wohnzimmer. Sie begriff nicht, warum die Mutti auf einmal so komisch war, so ganz anders als sonst.

Ute aber wankte zum Telefon und wählte mit zitternden Fingern die Nummer der Schwiegermutter.

»Hier Deiter«, hörte sie vom anderen Ende der Leitung die vertraute Stimme. Da war es endgültig mit ihrer Fassung vorbei. Heftig schluchzend, immer wider stockend, kam es von ihren Lippen: »Hier ist Ute, Mutter. Bitte, komm sofort, es ist etwas Schreckliches passiert. Birger, er ist … Bitte, komm, so schnell du kannst, auch wenn du dir ein Taxi nehmen musst.«

»Ich komme, aber was um Himmels willen ist los, Mädel? Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.«

Ute war nicht fähig, noch etwas zu sagen, und legte den Hörer einfach auf die Gabel zurück. Ein paar Augenblicke starrte sie noch auf den Telefonapparat. Mit schleppenden Schritten, sich zur Ruhe zwingend, ging sie danach zu ihrer Kleinen in die Küche. Es ging fast über ihre Kraft, sich jetzt neben Inka an den Frühstückstisch zu setzen und halbwegs die Fassung zu bewahren. Um der Kleinen willen durfte sie sich nicht gehen lassen.

*

Eine Viertelstunde später befand sich Cora Deiter schon auf dem Weg nach Lüneburg.

Während der Fahrt zermarterte sie sich ihren Kopf, was Ute ihr wohl hatte sagen wollen. Was konnte mit Birger sein? War er krank, oder hatte er vielleicht sogar einen Unfall gehabt und war dabei verletzt worden? Ihr selber unbewusst kam ein tiefer Seufzer über ihre Lippen.

Endlich waren sie am Ziel angelangt. Cora Deiter bezahlte und blieb einen Moment stehen, bis das Taxi sich entfernt hatte. Mit zitternden Knien, in der Rechten ihren kleinen Koffer und ihre Handtasche, ging sie auf das Haus zu. Da in diesem Augenblick ein Bewohner aus dem Haus trat, gelangte sie ohne zu klingeln hinauf bis vor die Wohnungstür ihres Sohnes. Sie musste sich einen innerlichen Ruck geben, als sie auf die Klingel drückte, denn wieder spürte sie ein Gefühl drohenden Unheils.

Während innen die Türglocke anschlug, begann ihr Herz heftig zu pochen, und ihre innere Anspannung steigerte sich.

Müde Schritte näherten sich der Tür, und mit einer Stimme, die sehr fremd klang, hörte Cora Deiter Ute fragen: »Wer ist da?«

»Mach auf, Ute, ich bin es, Mutter.«

Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und ehe sich Cora Deiter versah, fiel ihr Ute schluchzend um den Hals und stammelte mit versagender Stimme: »Mutter, oh, Mutter, endlich. Mutter, hilf mir.«

»Um Himmels willen, Ute, Kind, so beruhige dich doch. Du bist ja völlig fertig. Was ist denn nur geschehen?«

Sanft schob Cora Deiter Ute von sich und schob die Tür hinter sich zu. Achtlos stellte sie ihren Koffer an die Garderobe und hängte ihre Handtasche an einen Haken. Danach hakte sie Ute unter, die sie mit erloschenen Blicken anstarrte.

»Komm, gehen wir ins Wohnzimmer, Ute, dann erzählst du mir alles«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. Sie zog Ute ins Wohnzimmer und drückte sie mit sanfter Gewalt in einen Sessel.

»Ich bin ja jetzt hier und werde auch einige Tage bleiben. Wir werden es schon gemeinsam schaffen. Wo sind im Übrigen die Mädchen?«

»Ramona ist zum Glück noch in der Schule. Inka spielt im Kinderzimmer«, antwortete Ute mit tonloser Stimme.

»Dann ist es ja gut, Ute, erzähl mir nun zuerst, was los ist, danach werde ich mich um die Kleine kümmern. Vorher kann ich dir auch nicht helfen.«

»Es geht um Birger, Mutter. Ihm ist etwas passiert. Es ist so entsetzlich. Er ist … Er ist …« Ute stockte.

»Ute, so rede endlich, was ist mit Birger passiert?«, wollte Cora Deiter wissen. Ihr war zumute, als wollte ihr jemand die Luft zum Atmen nehmen.

»Birger kommt nicht wieder, wir, wir haben ihn für immer verloren, Mutter.«

»Was willst du damit sagen, Mädel?«

»Er lebt nicht mehr, Mutter, so versteh doch endlich. Birger lebt nicht mehr! Er ist mit einem Kollegen bei Unruhen zwischen zwei Fronten geraten, und beide sind dabei umgekommen. Sein Vorgesetzter war hier und hat mir die Nachricht überbracht. Was soll ich denn jetzt nur allein machen. Ich habe ihn doch so lieb. Und die Kinder, wie soll ich es ihnen nur sagen?«

Während Ute die ersten Sätze fast herausgeschrien hatte, war ihre Stimme bei den letzten Worten fast zu einem Flüstern abgesunken. Sie blickte starr vor sich hin und verkrampfte die Hände ineinander.

»Birger ist tot? Nein, Ute, das glaube ich nicht, es ist nicht wahr. Sag, dass es sich nur um einen Irrtum handelt!«

»Es ist kein Irrtum, Mutter.«

Für einen Moment glaubte Cora Deiter, dass alles um sie herum zu einem dichten Nebel würde. Der plötzliche Schmerz drohte ihr das Bewusstsein zu nehmen. Doch plötzlich erstarrte sie, denn von der Tür her rief eine zarte, helle Kinderstimme: »Oma, Oma, du bist gekommen? Meine liebe, liebe Oma.«

Cora Deiter war selbst im Innersten getroffen und hätte ihren großen Schmerz am liebsten hinausgeschrien, aber die Stimme Inkas brachte es fertig, diesen Schmerz zu unterdrücken. Mit letzter Kraft gelang es ihr sich zu fassen. Sie sah in Utes Gesicht und erschrak.

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