Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Classic 9 – Arztroman - Britta Frey - Страница 3

Оглавление

Der noch junge, stämmige Mann mit dem wilden blonden Haarschopf sah unsicher auf seine Frau, der man ansah, daß sie in wenigen Wochen ein Kind zur Welt bringen würde.

»Anna«, sagte Walter Wegener in überredendem Ton, »das geht nicht. Das können wir nicht machen.«

»Sei doch nicht so zimperlich. Jeder alte Mensch geht in ein Altersheim, wenn er niemanden hat, der für ihn sorgen kann. Warum also nicht auch dein Vater?«

»Das kann ich dir ganz genau sagen: Er hat jemanden, der für ihn sorgt. Oder solltest du vergessen haben, daß ich sein einziger Sohn bin? Außerdem hat er uns dieses Haus hier gegeben, weil er mit Recht erwartet, daß er bis an sein Lebensende hier leben kann. Und das soll er auch.«

»Du tönst gut!« Anna sah ihren Mann giftig an und fuhr schon fort, ohne ihm Gelegenheit zu geben, noch mehr zu sagen: »Wer hat denn die ganze Arbeit mit ihm? Du doch nicht, oder? Ich bin es, ich, an der alles hängenbleibt. Und ich schaffe das nicht mehr, das will ich dir nur gleich sagen. Ich schaffe es einfach nicht mehr.«

Walter Wegener war ein Mensch, der jedem Streit, auch dem allerkleinsten und unwichtigsten, am liebsten aus dem Wege ging. Das zeigte sich jetzt auch wieder ganz deutlich, als er die ärgerliche Anna beschwichtigend ansah und dann meinte: »Du meinst das jetzt nur, Anna, weil du schwerfällig geworden bist und dich nicht mehr so leicht und flink bewegen kannst wie früher. Aber das vergeht, sobald unser Kind da ist, Anna. Dann bist du wieder schlank und gelenkig wie eh und je. Und dann lachst du über das, was du jetzt gesagt hast.«

Anna sah ihn an, als begreife sie nicht, daß er das, was sie sagte, nicht ernst genug nahm. Dann aber stemmte sie die Arme in die beachtlich gewordenen Hüften und funkelte ihn an. Sie beugte sich zu ihm, der sich am Küchentisch niedergelassen hatte und sagte leise und fast zischelnd: »Jetzt hör mir mal gut zu, mein Freund: Ich denke nicht daran, weiterhin für deinen Vater zu sorgen. Er ist ein alter Mann. Ich werde bald ein Kind haben, das mich voll und ganz in Anspruch nimmt. Ich kann nicht dauernd dastehen und darauf warten, deinem Vater alle Wünsche zu erfüllen, Walter. Das geht einfach nicht. Selbst du müßtest einsehen, daß es deinem Vater da in einem Altersheim viel besser geht als hier bei uns.«

»Siehst du denn nicht selbst ein, wie schrecklich das ist, was du da vorhast?« versuchte Walter es noch einmal. »Vater hat dieses Haus gebaut. Er kennt jeden einzelnen Stein davon. Er und Mutter haben jeden Cent, den sie übrig hatten, in dieses Haus gesteckt, damit es so schnell wie möglich schuldenfrei wurde. Du warst es doch, die Vater immer und immer wieder versprochen hat, ihn zu pflegen, auch dann, wenn er eines Tages mal nicht mehr selbst für sich sorgen kann. Hast du das getan oder nicht?«

»Ja doch, ja doch.« Man sah Anna unschwer an, wie wütend sie war, weil sie zustimmen mußte. »Aber das geschah doch unter ganz anderen Voraussetzungen. Damals wußten wir nicht, daß wir ein Kind haben würden. Bis vor ein paar Monaten hat doch kein Mensch mehr damit gerechnet, daß wir ein Kind haben würden.«

»Was meinst du, wie glücklich Vater sein wird, wenn das Kleine erst da ist. Er ist doch jetzt schon ungeheuer stolz. Er verwöhnt dich. Und da willst du ihn ganz einfach abschieben?« Walter Wegener schüttelte den Kopf. Er war viel schwerfälliger als Anna. Bisher war das nicht schlimm gewesen, aber jetzt, so fand er, sollte Anna sich ruhig einmal klarmachen, was es für seinen Vater bedeuten würde, wenn man ihm nahelegte, sich um einen Platz in einem Altersheim zu bemühen.

»Ich werde nicht mit Vater deswegen sprechen«, erklärte er abschließend, erhob sich vom Küchentisch, schob den Becher, aus dem er Tee getrunken hatte, zurück und ging hinaus.

Wütend blieb Anna Wegener zurück, und wütend starrte sie ihrem Mann nach, wie er mit schwerfälligen Schritten davonging. Jetzt ging er wahrscheinlich ins Gasthaus »Zur Post«, wo er sich häufig mit seinen Freunden und Kollegen traf, mit ihnen über langweilige Politik diskutierte oder auch nur zuhörte, wenn einer irgend etwas zu erzählen hatte. Walter war dafür bekannt, daß er fabelhaft zuhören konnte.

»Du bist ein Trottel, Walter Wegener«, murmelte Anna wütend, nahm sich auch einen Becher Tee und ließ sich schwerfällig am Küchentisch nieder. Aber bald schon hellte sich ihr frisches Gesicht wieder auf. Man durfte nur die Flinte nicht so schnell ins Korn werfen. Bisher hatte sie bei Walter immer noch alles erreicht, was sie wollte. Jetzt würde es nicht anders sein. Sie mußte nur Geduld haben. Dann würde sich wahrscheinlich alles wie von allein erledigen.

*

Fritz Wegener, der den Streit zwischen Anna und Walter ausgelöst hatte, ohne es zu wissen und zu ahnen, beugte sich voller Eifer über ein Beet mit bunten Blumen, die erst vor kurzem angefangen hatten zu blühen.

»Schneidest du ein paar Blumen ab?« fragte da Katys zartes Stimm­chen. Wegener richtete sich aus der gebückten Haltung auf und sah auf das kleine, fünfjährige Mädchen.

»Katy«, sagte er fröhlich, »ich habe dich gar nicht kommen gehört.«

»Ich bin ja auch über das Gras gelaufen«, sagte Katy und ließ sich auf einem großen Stein nieder, der am Gartenweg neben dem Blumenbeet lag, den Katy oft als Sitzgelegenheit benutzte, besonders dann, wenn der große Stein, wie jetzt eben, noch warm von der Sonne war. »Schneidest du Blumen ab?« wiederholte Katy ihre Frage. »Ich könnte sie Vati auf den Schreibtisch stellen, damit er merkt, daß wir einen Garten haben.«

Katy sagte es nicht bitter, sondern so, wie es war – sie stellte eine Tatsache fest.

Katys Vater, Peter Büchner, war ein bekannter und erfolgreicher Krimiautor. Vielleicht lag sein Erfolg in der Tatsache, daß er immer aktuelle Themen wählte, die er dann spannend aufbaute. Fälle eben, die ungeheuer spannend waren und den Leser in den Bann schlugen, wie es hieß, von der ersten bis zur letzten Seite. Einige seiner Romane waren sogar verfilmt und im Fernsehen gebracht worden. Die Bürger Ögelas waren mit Recht stolz auf ihren prominenten Bürger, der sich vor einigen Jahren ein richtiges Traumhaus gebaut hatte und dort mit seiner wunderschönen Frau Daniela und Katy lebte und glücklich war.

»Kommst du mit ins Haus, Opa Fritz?« fragte Katy interessiert und fügte lockend hinzu: »Frau Rosen hat einen prima Schokoladenkuchen gebacken. Und Vati macht bestimmt gleich die Kaffeemaschine an. Ich habe mal an der Tür zum Arbeitszimmer gelauscht. Er diktiert nicht mehr. Das bedeutet, daß er für heute Schluß macht.«

»Na, wenn das so ist, gehen wir natürlich hinein. Aber komm, erst schneiden wir noch ein paar Blumen ab, damit du sie deinem Vati auf den Schreibtisch stellen kannst, was?«

Katy rutschte von ihrem warmen Stein und beugte sich neben Opa Fritz, den sie zu ihren besten Freunden zählte, nieder. Endlich hielt sie einen wunderschönen, herrlich duftenden Strauß in den kleinen Händen und sagte ernsthaft: »Das genügt. Die anderen Blumen lassen wir besser stehen, damit wir noch Freude an ihnen haben, wenn wir in den Garten gehen.«

Einträchtig strebten der alte Mann und das kleine Mädchen dem langgestreckten, großzügig angelegten, wunderschönen Haus zu, das in Ögela eigentlich nur »das Schwalbennest« genannt wurde, obgleich kein Mensch behaupten konnte, daß es klein und zierlich und an einen Berg angeklebt war. In Ögela gab es keine Berge, wie es in der ganzen Lüneburger Heide keine Berge gab. Trotzdem wußte jeder gleich Bescheid, wenn vom Schwalbennest die Rede war.

Fritz Wegener trat sich die Gartenerde von den Stiefeln, ehe er die Küche durch den Nebeneingang betrat. Hier stand schon Peter Büchner und gab eben gemahlenen Kaffee in die Kaffeemaschine. Er wandte sich um, als Katy mit Opa Fritz eintrat und sagte fröhlich über die Schulter: »Kaffee ist gleich fertig. Für dich Kakao, Elflein. Frau Rosen hat einen ganzen Topf voll gekocht. Ich muß ihn nur warm machen.«

Katy ging zum Spülbecken, ließ Wasser einlaufen und rannte dann ins Wohnzimmer, um eine passende Vase für ihre Blumen zu suchen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Blumen geordnet und auf den Schreibtisch ihres Vaters gestellt hatte, der sie dafür anstrahlte, sie in seine Arme nahm und herzhaft küßte.

»Dank dir, Elflein«, sagte er und lachte ihr zu. »Morgen bin ich übrigens mit dem letzten Kapitel fertig. Was machen wir dann?«

»Oh, wir wollten doch zusammen eine tolle Suppe kochen, Vati!« erinnerte Katy ihn ernsthaft. Peter Büchner schlug sich vor die Stirn. Sein dunkles Haar war, wie immer, ein klein wenig verwirrt und bildete einen bemerkenswerten Kontrast zu seinen hellblauen Augen. Er war, wie man zugeben mußte, ein ausgesprochen schöner Mann, der dazu auch noch sehr männlich wirkte, dessen gutes Aussehen absolut nicht störte, sondern eher faszinierte.

Nachdem Katy ihren Kuchen gegessen und den Kakao getrunken hatte, rutschte sie vom Stuhl und ging zur Küchentür.

»Ich gehe noch ein bißchen spielen«, verkündete sie. Peter Büchner nickte seiner kleinen Tochter gewährend zu. Katy entfernte sich niemals weit vom Haus, blieb immer in Rufweite und kam dann und wann zurück, als wollte sie sich immer wieder in Erinnerung bringen.

Büchner erhob sich und ging zum Kühlschrank, wandte sich mit fragendem Blick dem alten Mann zu und fragte augenzwinkernd: »Wie wäre es mit einem Klaren? Obwohl es draußen sehr warm ist, könnte ich einen brauchen.«

»Nun ja, der Geschmack hängt schließlich nicht von der Witterung ab.« Opa Fritz grinste verständnisinnig. »Ich würde jedenfalls auch nicht nein sagen.«

Peter lachte leise auf und stellte die Flasche Malteser auf den Küchentisch, holte die Gläser und schenkte ein. Schweigend prosteten sie einander zu und kippten den Inhalt der Gläser einfach in sich hinein. Dann atmeten sie gleichzeitig stöhnend auf und lachten einander an.

»Wann ist es bei Ihrer Schwiegertochter soweit, Opa Fritz?« erkundigte sich Büchner freundschaftlich. Er war einer der wenigen, die Fritz Wegener Opa Fritz nennen durften. Das ließ sich der alte Mann noch lange nicht von jedem gefallen. Jetzt machte er einen bedrückten Eindruck, als er zögernd erwiderte: »Ach, soweit ist es noch nicht. Darüber wird es wohl Winter werden. Aber ich glaube, es ist der Anna nicht recht, daß ich immer noch bei ihnen wohne.«

»Wieso Sie bei ihnen? Das ist doch wohl umgekehrt der Fall, oder?« fragte Büchner überrascht. Opa Fritz neigte den Kopf.

»Sie wissen doch, daß ich den Kindern das Haus überschrieben habe. Die Anna ist ganz schön auf Zack, kann ich Ihnen sagen. Ich habe es ja verstanden, als sie behauptete, dann brauchten sie und der Walter nach meinem Tod keine Erbschaftssteuer zu bezahlen.«

»Ich bin vielmehr der Ansicht, daß man Sie da ganz schön übers Ohr gehauen hat, Opa Fritz. Aber darüber brauchen wir nicht mehr zu diskutieren, das haben wir schon oft und lange genug getan. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Hinauswerfen kann man Sie nicht. Schließlich haben Sie es schriftlich, daß Sie bis zu Ihrem Lebensende dort leben können.«

»Ja, das stimmt schon, hinauswerfen können sie mich nicht. Jedenfalls nicht so einfach, wie sich die Anna das so vorstellt. Aber sie können mich so weit bringen, daß ich von allein gehe.«

»Sie meinen – Sie trauen Ihrer Schwiegertochter zu, daß sie Sie hinausekeln könnte?« fragte Peter und sah den alten Mann fassungslos an. Opa Fritz hob die Schultern, weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte. Schließlich murmelte er nur noch einmal: »Die Anna weiß ganz genau, was sie will. Und meistens erreicht sie es auch. Der Walter ist wie Wachs in ihren Händen. Und seit er weiß, daß nun doch noch ein Kind kommt, wo er doch die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte – nun weiß er schon gar nicht mehr, was er alles tun soll, nur, um der Anna zu gefallen und es ihr recht zu machen.«

»Trotzdem behaupte ich, daß es ein Ding der Unmöglichkeit ist, daß man Sie hinaussetzt. Opa Fritz, bedenken Sie doch – Sie haben doch mit Ihrer Frau das Häuschen zusammen gebaut. Sie haben auf vieles verzichtet, damit Sie sich das Haus bauen konnten, und nicht genug damit – Sie haben es immer weiter ausgebaut und verschönert und sogar auch vergrößert. Sie haben alles liebevoll eingerichtet. Sie haben es Ihrem Sohn schon zu Lebzeiten überschrieben. Es ist unmöglich, daß man Ihnen jetzt als Dank einen Fußtritt gibt. Das kann ich nicht glauben.«

»Sie kennen auch die Anna nicht, Herr Büchner. Na, noch ist es ja nicht soweit. Und so einfach, wie sich die Anna das vorstellen mag, ist es auch wieder nicht, mich zu vertreiben. Hat mir aber gutgetan, mal darüber zu reden.«

Opa Fritz kippte auch den zweiten Schnaps hinab, weil man ja nicht gut auf einem Bein stehen konnte, und machte sich wieder an die Arbeit. Er war gern im Garten der Büchners, weil er immer wieder fand, daß dieser Garten noch als richtiges Stück Natur bezeichnet werden konnte. Natürlich gab es auch abgegrenzte Beete, aber nur am Anfang des Gartens. Je tiefer man hineinging, um so unberührter wirkte er. Niemand merkte, daß es eine kunstvoll angelegte Wildnis war. Nicht einmal die Tiere. Am Weiher gab es noch Libellen, Frösche waren keine Ausnahme: Opa Fritz hatte auch Feuersalamander entdeckt und war ganz begeistert gewesen. Es gab Bachstelzen und Rohrdommeln, Wasserhühnchen sowieso und auch ein paar Wildenten, die schon seit Jahren hier nisteten. Es gab Rebhühner, Eichkätzchen, einen Dachs und einen Fuchsbau. Peter Büchner achtete genau darauf, daß von dieser angelegten Natur nichts beschädigt wurde, so daß die Tiere, die sich hier angesiedelt hatten, sich auch weiterhin wohl fühlen konnten. Opa Fritz fand das fabelhaft. Aber er ließ sich natürlich nicht anmerken, daß er den Schriftsteller geradezu verehrte. Für ihn stand fest, daß Peter Büchner absolut fehlerfrei war.

Opa Fritz verzog sich wieder in den Garten. Er traf auf Katy und ging mit ihr tiefer in den Garten. Katy schob ihre kleine, nicht mehr ganz saubere Hand vertrauensvoll in die des alten Mannes. Sie wußte, daß er ihr jetzt wieder spannende Geschichten erzählen würde. Niemand konnte das so gut wie Opa Fritz.

*

Frau Rosen hatte das Suppenhuhn vorbereitet in den Kühlschrank getan. Peter Büchner und Katy hatten sich vorgenommen, die beste Hühnersuppe zu kochen, die es jemals gegeben hatte. Und von dem Fleisch wollten sie einen schmackhaften Geflügelsalat machen.

Gemeinsam gingen sie in den Garten, zur Kräuterecke, um Suppengrün zu ernten. Katy durfte sich einen Hocker an das Spülbecken ziehen und zuschauen, wie Peter das Suppengemüse wusch und kleinschnitt, ehe er es in den Topf mit dem Huhn gab.

Während das Huhn leicht vor sich hin kochte, holte Peter die Nudelmaschine. Gemeinsam berieten sie, welche Art von Nudeln sie herstellen wollten, und es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich für Spaghetti entschieden hatten. Sie hatten gerade unter Lachen und Scherzen die benutzte Nudelmaschine in den Schrank zurückgestellt, nachdem sie sie gemeinsam gesäubert hatten, als das Telefon läutete.

Opa Fritz kam gerade eben von draußen auf die Küchentür zu und hörte, wie Peter seiner kleinen Tochter zurief: »Augenblick, Elflein, ich bin gleich wieder da, muß nur eben ans Telefon.«

Dann verschwand er, und Opa Fritz betrat die Küche. Er schnupperte übertrieben und sagte anerkennend: »Na, hier duftet es aber ganz besonders gut. Kocht ihr heute wieder miteinander?«

Voller Eifer berichtete Katy, was es heute zu essen gab, und sah aus, als wäre sie überzeugt davon, daß ihre Arbeit die wichtigste auf der ganzen Welt wäre. Man sah Katy an, daß sie von ihrer Mission förmlich durchdrungen war.

Man hörte Peter Büchners Stimme. Jetzt verabschiedete er sich von seinem Gesprächspartner und legte auf. Da erhob sich Opa Fritz von dem Küchenstuhl, auf den er sich hatte sinken lassen, und sagte zufrieden: »Na, dann will ich mal mit deinem Vati sprechen und ihn fragen, ob wir nicht doch Maiglöckchen in den Steingarten pflanzen sollen.«

»Mach aber schnell, Opa Fritz, damit Vati und ich hier weitermachen können«, rief Katy hinter ihm her. Opa Fritz fand Peter in der geräumigen Wohndiele. Er wollte gerade in die Küche zurückkehren, als er Opa Fritz erblickte und stehenblieb, als dieser das Gespräch auf die Maiglöckchen brachte.

Zur selben Zeit wollte Katy in der Küche nach dem Suppenhuhn sehen und feststellen, ob es auch noch schön kochte. Sie nahm den Hocker, zog ihn zum Herd und kletterte hinauf. Sie griff nach dem Topflappen und nahm den Deckel vom Topf. Sofort quoll ein Schwaden Kochdampf aus dem Topf ihr entgegen. Katy zuckte zurück, taumelte und griff instinktiv nach einem Halt. Es war ihr Unglück, daß sie ausgerechnet nach dem Griff des Suppentopfs langte.

Genau in dem Augenblick, da Katy fiel, riß sie den Suppentopf im Fallen mit sich.

Peter Büchner und Opa Fritz hörten in der Wohndiele nur das Scheppern und den Fall. Aufgeschreckt rannten sie in die Küche. Da lag Katy bäuchlings in einer Lache heißer Hühnerbrühe. Sie war augenscheinlich starr und stumm vor Schreck und Schmerzen.

Mit einem unterdrücken Laut riß Peter seine kleine Tochter hoch und drückte sie an sich. Da erst schnappte Katy nach Luft, da erst kam der erste Schluchzer, dem gleich ein langgezogener Schmerzensschrei folgte.

Mit einem Blick erfaßte Opa Fritz die Situation und lief zum Telefon zurück. Er rief in der Klinik Birkenhain an und schilderte möglichst kurz und präzise, was sich soeben ereignet hatte. Man versprach, sofort den Krankenwagen zu schicken und gab ihm Anweisungen, was man mit Katy tun sollte, um ihre Schmerzen ein wenig zu lindern und ihr Erste Hilfe zukommen zu lassen.

Kein Mensch hätte Opa Fritz diese Geschwindigkeit zugetraut. Er war wie der Wind zurück in der Küche, entriß dem immer noch fassungslosen Peter Büchner das schreiende Kind und rannte mit Katy auf den Armen ins Bad und hielt sie unter die kalte Dusche. Er sah nach hinten auf Peter Büchner, der ihn hilflos ansah, und forderte ihn auf, für warmen Tee zu sorgen und ihm ein frisches Bettlaken zu geben. Wortlos tat Peter Büchner alles, was Opa Fritz ihm auftrug.

Nachdem der alte Mann Katy fast zehn Minuten unter die kalte Dusche gehalten hatte, zog er sie aus, wickelte sie in das Bettlaken und in die beiden Wolldecken aus weicher Kaschmirwolle, die auf der Couch lagen und legte Katy nieder, schob ihr ein paar Kissen unter die Füße, damit sie hochgelagert wurden, und flößte ihr den Tee ein, den Peter zubereitet und ein wenig gekühlt hatte.

»Da kommt der Krankenwagen, endlich«, seufzte Peter und sah auf Katy, die teilnahmslos wirkte. Zwei Männer mit einer Trage erschienen, wickelten Katy in wärmeisolierende Alu-Folie und brachten sie auf dem schnellsten Weg in die Klinik.

Peter lief schon hinaus zu seinem Wagen. Er würde hinter dem Krankenwagen herfahren und ebenfalls die Klinik Birkenhain aufsuchen, um seinem Elflein nahe sein zu können.

Er war immer noch völlig verstört und wußte nicht, wieso das hatte geschehen können. Seine Katy, seine kleine, lebhafte Katy, die jetzt so unmenschliche Schmerzen ausstehen mußte!

Opa Fritz blieb allein zurück und machte sich daran, die Küche sauberzumachen, damit Peter Büchner, wenn er aus der Klinik heimkam, nicht schließlich noch über die erkaltete, fettige Brühe stolperte, ausglitt und sich ein Bein brach.

»Welch ein Unglück«, murmelte der alte Mann dabei vor sich hin. »Welch ein schlimmes, schlimmes Unglück. Und ausgerechnet die Kleine mußte es treffen.«

Er fand alles so schrecklich ungerecht und sagte sich immer wieder, daß er viel lieber an Katys Stelle gewesen wäre. Er war schließlich ein alter Mann, der kaum zu etwas nutze war, während Katy ihr ganzes Leben doch noch vor sich hatte.

Aber leider kann man sich nicht aussuchen, wen es trifft. Und vielleicht ist das auch gut so…

*

In der Notaufnahme wartete schon Dr. Hanna Martens. Man hatte ihr nur gesagt, daß ein Kind mit schweren Verbrühungen eingeliefert wurde. Kay, ihr Bruder, würde später kommen, wenn es notwendig wurde. Zuerst einmal wollte sie sehen, wie schwer das Kind verletzt war. Irgend jemand hatte ihr gesagt, es handle sich um die kleine Tochter des berühmten Kriminalschriftstellers Peter Büchner, von dem sie nur gehört hatte, daß er ganz in der Nähe ein bemerkenswertes Anwesen besaß, auf dem er mit Frau und Kind sehr zurückgezogen lebte.

Der Krankenwagen kam zurück. Hanna beugte sich über das Kind und sah in das kleine, friedlich wirkende Gesicht, dessen Haut wie blasser Marmor wirkte. Ihre Augen waren geschlossen. Lange, dunkle Wimpern lagen auf den zarten Wangen. Nur Katys schneller, hastiger Atem ließ erkennen, daß noch Leben in ihr war.

Geschwind wickelte Hanna sie mit Hilfe Schwester Christinas aus. Christina hatte eigentlich dienstfrei, denn sie hatte heute morgen bei Dr. Kay Martens im OP gearbeitet. Aber sie hatte völlig vergessen, daß sie dienstfrei hatte, als sie das Kind erblickte. Sie hielt unwillkürlich den Atem an, als Hanna Katy ausgewickelt hatte. Katys Brust und Unterleib wiesen schwerste Verbrühungen auf, die Oberschenkel mittelschwere Verbrühungen. Die Haut wellte sich, aufgedunsen und weißgrau und blasig. Die Haut war so tief zerstört, daß auch die Schmerznerven abgetötet waren.

Ein schwerer Kreislaufschock drohte. Es mußte unbedingt augenblicklich etwas getan werden, damit nicht noch die Nieren versagten oder ein Hirn-Ödem entstand.

Katy wurde auf die Kinder-Intensiv-Station gebracht. Da wurde sie an einen Beatmer und eine Infusionspumpe angeschlossen. Blutersatz, Traubenzucker, Hormone und Vitamine rannen durch Schläuche in ihre Adern. Tetanus- und Penicillin-Injektionen folgten.

Katy ließ alles apathisch mit sich geschehen. Ihr Bewußtsein war getrübt. Dann und wann öffnete sie die Augen. Man hatte ihr vorsorglich eine Kinnstütze angelegt, damit sie ihren verbrühten Körper nicht sehen konnte, der doch sehr entstellt wirkte.

Hanna Martens hatte ihr keinen Verband angelegt. Nur eine Salbe bedeckte die verbrühte Haut. Man hatte sie auch nicht zugedeckt. Nur trockene Luft, auf zwanzig Grad erwärmt, umgab sie.

Dr. Hanna Martens erhoffte sich durch diese »Open-Air-Behandlung« Vorteile für den geschwächten Kinderkörper. Und das waren Schmerzlinderung, Fiebersenkung, Vermeidung eitriger Entzündungen und Schonung der noch gesunden Haut.

Hanna atmete auf, als sie Katy noch einmal betrachtete. Das war alles, was man im Augenblick für das Kind tun konnte, wußte sie.

Aber noch konnte sie keine Ruhepause einlegen, denn man hatte ihr berichtet, daß Peter Büchner da sei, daß er schrecklich aufgeregt wirkte und so, als habe er selbst ärztliche Behandlung nötig. Hanna seufzte tief auf und machte sich auf den Weg in den kleinen Warteraum vor dem ambulanten Verbandszimmer.

Peter Büchner saß da, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in die Hände gelegt. Entweder hatte er Hannas Eintritt nicht bemerkt, oder er verschloß sich gewaltsam, aus Furcht, man könnte ihm eine schlimme Nachricht bringen.

Schweigend ließ sich Hanna neben ihm nieder und betrachtete sein dunkles Haar, das sich im Nacken ringelte. Es war wirklich ein besonders gutaussehender Mann, mußte sie zugeben.

Endlich legte sie ihm sacht die Hand auf den Arm und sagte freundlich: »Wir haben alles für Ihre kleine Tochter getan, was im Augenblick zu tun ist, Herr Büchner.«

»Was kann ich für Katy tun? Darf ich sie sehen?«

»Jetzt lieber noch nicht. Ich möchte, daß sie völlig ruhig gehalten wird. Sie liegt auf der Intensiv-Station und ist noch nicht außer Lebensgefahr. In zwei Tagen können wir mehr sagen. Wenn sie die beiden nächsten Tage übersteht, können wir uns die nächsten Schritte überlegen.«

»Lieber Himmel! Und dabei wußte sie, daß sie es nicht durfte. Ich war nur schnell am Telefon. Und da ist es geschehen. Sie hat sich einen Hocker an den Herd gezogen und im Fallen den Topf mit der heißen Hühnerbrühe mit sich gerissen.«

»Ja, so etwas geht bei Kindern so rasend schnell, daß man sich fragt, wie es überhaupt hat passieren können.« Hanna schenkte ihm einen mitfühlenden Blick. Peter sah sie an, als erwarte er von ihren Lippen die Entscheidung über Leben und Tod.

»Wird sie es überleben, Frau Dr. Martens?« flüsterte er, als fürchtete er sich davor, diese Frage laut auszusprechen.

»Kinder sind zäher, als man annehmen sollte. Ich vergleiche sie immer mit kleinen Katzen. Sie haben keine Ahnung, wie verbissen Kinder kämpfen können, ohne es zu spüren. Katy wird ums Überleben kämpfen und uns so unbewußt die beste Hilfe geben, die wir uns nur wünschen können. Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Herr Büchner?« erkundigte sich Hanna freundlich und sah Peter fest an. Er erwiderte ihren Blick und neigte dann den Kopf.

»Ja«, sagte er mit sonderbar rauh klingender Stimme. »Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Ich verstehe aber auch, daß Sie vermeiden, mir eine bindende Antwort zu geben.«

»Das tue ich allerdings«, gab Hanna unumwunden zu. »Ich kann Ihnen keine Garantien geben. Das kann ich frühestens in zwei Tagen tun, wenn auch nicht sonderlich gern. Aber ich sage mir auch immer, daß noch Hoffnung ist, solange ein Mensch atmet. Und Katy atmet doch, Herr Büchner.«

»Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich jetzt getröstet fühlen soll oder nicht«, murmelte er unglücklich. Er tat ihr schrecklich leid. Da legte sie die Hand auf seinen Arm und sagte ruhig: »Das beste, was Sie jetzt tun können, Herr Büchner, ist, heimzufahren und sich niederzulegen. Wenn Sie mögen, gebe ich Ihnen ein Schlafmittel mit, damit Sie zur Ruhe kommen können.«

»Lieber nicht«, wehrte er ab, »ich bin nicht daran gewöhnt. Ich würde sicher sofort einschlafen und nicht wach werden, wenn das Telefon geht und vielleicht die Klinik mir sagen will, daß sich etwas an Katys Befinden geändert hat.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß wir Sie nicht anrufen werden. Jemand ist dauernd um Katy, Herr Büchner. Sie ist nicht für eine einzige Sekunde unbeaufsichtigt. Sie können sich darauf verlassen, daß niemand von uns Sie anrufen wird. Deshalb sollten Sie das Schlafmittel wirklich nehmen. Ich fürchte, Sie brauchen in den nächsten beiden Tagen noch sehr viel Kraft. Und Schlaf schafft Kraft, das weiß jedes Kind.«

»Was kann im schlimmsten Fall noch mit Katy geschehen?« wollte Peter wissen und sah Hanna scharf an. Er machte den Eindruck eines Menschen, der es lieber hat, wenn er weiß, was ihn noch erwartet. Hanna schaute nachdenklich vor sich hin, bevor sie bedächtig antwortete: »Das kann keiner jetzt so genau sagen, Herr Büchner. Wir werden alles tun, um Folgeschäden zu vermeiden.«

»Was wären das für Folgeschäden? Bitte, sagen Sie mir, was im schlimmsten Fall sein könnte, damit ich mich damit vertraut machen kann!« bat er noch einmal. Aber Hanna schüttelte den Kopf und sagte energisch: »O nein, Herr Büchner, so haben wir nicht gewettet. Ganz davon abgesehen, daß das kein Thema ist, weiß man ja auch noch nicht, was sein könnte. Ich werde Ihnen jetzt ein Schlafmittel mitgeben. Sie werden es nehmen und sich dann zu Bett legen, damit Sie morgen ausgeschlafen sind.«

Hanna erhob sich und ging zur Tür. Bevor sie hinausging, blieb sie stehen und wandte sich noch einmal zu Peter um. »Sie können sich wirklich darauf verlassen, Herr Büchner, daß hier alles für Katy getan wird, was man in diesem Fall für das Kind tun kann.«

»Wenn ich davon nicht überzeugt wäre, Frau Dr. Martens, würde ich jetzt nicht heimfahren und das Schlafmittel nehmen, das Sie mir mitgeben werden.«

»Na also, so ist es recht, so will ich Sie sehen«, sagte Hanna, lächelte und nickte ihm aufmunternd zu, ehe sie den Warteraum verließ. Schon wenig später war sie zurück, gab ihm zwei Tabletten und sagte ruhig: »Versuchen Sie, mit einer auszukommen, Herr Büchner. Nur, wenn Sie merken, daß Sie nicht einschlafen können, sollten Sie die zweite auch nehmen.«

»Danke. Ich danke Ihnen, Frau Dr. Martens, für alles, was Sie bisher getan haben und in Zukunft noch tun werden. Ich bin fest davon überzeugt, daß Sie Katy wieder gesund machen können.«

Damit ging er davon. Hanna stand da und schaute ihm nach. Er machte den Eindruck eines Menschen, der seinen Kummer bei einem anderen gut aufgehoben weiß.

Ich wollte, ich könnte so zuversichtlich sein, dachte Hanna besorgt und machte sich auf den Weg zur Intensiv-Station, wo Katy Büchner lag. Hanna ahnte, daß Katy ihnen allen noch viel Sorgen bereiten würde.

*

Zwei Tage und zwei Nächte kämpfte man in der Kinderklinik Birkenhain um das Leben Katy Büchners, die die meiste Zeit nur vor sich hin dämmerte. Zuerst drohte ein schwerer Kreislaufschock. Aber damit hatte man gerechnet. Hanna Martens hatte dafür gesorgt, daß Katy rund um die Uhr beobachtet wurde, noch zusätzlich zu den Computern, an die das Kind angeschlossen war. Man konnte dem Kreislaufschock rechtzeitig entgegentreten und ihn sozusagen abblocken. Dann kam das gefürchtete Nierenversagen. Aber auch das meisterte Hanna, weil sie darauf vorbereitet gewesen war. Nur, weil sie anordnete, daß Katy an einen zusätzlichen Tropf gehängt wurde, der den zarten Kinderkörper entwässern sollte, wurde ein drohendes Hirn-Ödem vermieden. Davor hatten sich Hanna und ihre Kollegen am meisten gefürchtet. Nach einem Hirn-Ödem, wenn es erst einmal aufgetreten war, blieben meistens Dauerschäden zurück.

Kay, der sich mit Hanna um Katy kümmerte, sah sie einmal von der Seite her an und fragte: »Woher kommt es, daß du ein besonderes Interesse an diesem Kind hast, Hanna?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Ich sehe nur, wie übel es ihr geht und habe schreckliches Mitleid. Ich habe auch Mitleid mit dem Vater. Er scheint sich an dem bedauerlichen Unfall die Schuld zu geben. Und ich habe den Eindruck, als könnte er mit seinen Schuldgefühlen nicht fertigwerden.«

Kay warf seiner Schwester einen prüfenden Blick zu, den sie sofort verstand. Sie lachte kurz auf und schüttelte den Kopf.

»Du bist auf dem Holzweg, Kay. Mein Interesse an Peter Büchner ist nicht größer als das eines anderen Menschen, der mit ihm zusammenkommt. Schließlich ist er ein bekannter und erfolgreicher Krimi-Schriftsteller. Ich habe schon viele seiner Bücher gelesen und hatte keine Ahnung, daß er in unserer Umgebung lebt. Am meisten interessiert mich natürlich seine kleine Tochter Katy, die wie du weißt, arm dran ist mit ihren Verbrühungen. Ich möchte dem Kind gern helfen, weil ich damit dem Vater helfen kann, sich von seinen Schuldgefühlen freizumachen. Aber das ist auch alles. Sieh mich also nicht so mißtrauisch an. Zum Verlieben gehört mehr als Mitgefühl, mein Lieber. Das solltest du eigentlich ebensogut wissen wie ich.«

»Schon gut. Ich habe nur gesehen, daß du dich um dieses Kind ganz besonders bemühst. Aber ich hätte es wissen sollen. Es heißt, daß Peter Büchner eine besonders glückliche Ehe führt. Das weiß ich übrigens von Oberschwester Elli. Sie ist ein richtiger Büchner-Fan und weiß natürlich alles über ihn.«

»Das hätte ich mir eigentlich denken können.« Hanna lächelte. Elli Gaus war eine Oberschwester, wie es keine zweite gab. Sie schien ständig überall zu sein, wußte über alles Bescheid, kannte jeden ihrer kleinen Patienten, die sie alle in ihr warmes, überquellendes Herz geschlossen hatte, und fand immer Zeit, sich den neuesten Klatsch aus Ögela und der Umgebung anzuhören. Es schien, als gebe es nichts, was Oberschwester Elli entgehen könnte. Und doch war sie, wie Kay einmal lachend versichert hatte, die Seele der Klinik Birkenhain. Ohne sie konnte die Klinik einfach nicht bestehen.

»Wie steht es mit Katy? Wie weit ist sie?« wollte Kay wissen und nahm einen ordentlichen Schluck Kaffee, den Hanna ihm vorgesetzt hatte. Sie hielten sich in der kleinen Teeküche auf der Station auf. Schwester Laurie, die gerade Dienst hatte, sorgte dafür, daß ständig frischer, heißer Kaffee da war, denn sie wußte, daß alle Ärzte zwischendurch gern eine Tasse Kaffee tranken.

Hanna stieß die Luft seufzend aus und legte ihre Hände um die Kaffeetasse, als sei ihr kalt und als müsse sie sich die Hände wärmen.

»Wie kann man das mit aller Bestimmtheit jetzt schon sagen? Ich werde mit Büchner sprechen müssen. Wahrscheinlich sollten wir in den nächsten Tagen mit den Transplantationen beginnen.«

»Das ist auch meine Ansicht. Je früher, desto besser. Die Hauptsache ist, der Kreislauf ist wieder stabil, so daß wir die Kleine beruhigt in Narkose versetzen können.«

»Oh, deswegen können wir ganz beruhigt sein. Sie wird es durchhalten.«

»Ja, Kinder sind die besten Kämpfer, wenn es darum geht, möglichst bald wieder gesund zu werden«, sagte Kay zufrieden und sprach damit das aus, was Hanna vor nicht allzu langer Zeit zu Peter Büchner gesagt hatte.

»Wer spricht mit ihm? Du oder ich?« wollte Kay wissen und trank den letzten Kaffee aus. Hanna seufzte abermals und sagte bereitwillig: »Gut, ich mach’s. Ich habe ja auch bisher mit ihm gesprochen. Da kennt er mich am besten. Vielleicht nimmt er es viel besser auf, als wir jetzt noch glauben.«

»Und wenn nicht, weißt du ja, wo du mich finden kannst. Gemeinsam werden wir es schon schaffen, ihn zu beruhigen, was?«

»Keine Sorge.« Hanna lachte leise und strich sich eine blonde Haarsträhne nach hinten. »Ich bin sicher, daß ich schon allein mit ihm fertig werde.«

»Das glaube ich dir sogar unbesehen.« Kay klopfte ihr lächelnd auf die Wange und wandte sich um. Er wollte noch einmal nach einem kleinen Jungen schauen, der einen bösen Trümmerbruch am linken Bein hatte, den er heute morgen operiert hatte. Kay hoffte, daß das Bein heilen würde und der kleine Jochen es später nicht nachzuziehen brauchte…

*

Als Peter Büchner am nächsten Vormittag in die Klinik kam, durfte er Katy sehen. Hanna hatte ihn zu sich gebeten und ihm gesagt, daß er Katy nun sehen dürfte. Sie sagte noch warnend: »Ich muß Sie davor warnen, Herr Büchner, Ihre Erwartungen zu hoch zu schrauben. Katy ist sehr krank, und das sieht man ihr auch an.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich mich ganz ruhig verhalten werde. Ich will ihr schließlich nicht schaden, Frau Dr. Martens.«

»Gut, dann kommen Sie.«

Hanna führte Peter Büchner zu Katys Zimmer, öffnete die Tür und stieß sie weiter auf. Peter trat ein und stand vor dem Bett seiner kleinen Katy.

Aber wie sah sie aus! Das war nicht die kleine Katy, die er kannte. Das war ein Kind, das unendlich litt, das nur schwache Ähnlichkeit mit seinem Elflein hatte.

Erschüttert beugte er sich zu Katy nieder und sagte mit sonderbar heiser klingender Stimme: »Elflein! Ich bin es, Vati. Ich mache mir große Sorgen um dich. Aber jetzt wirst du sicher ganz schnell wieder gesund, nicht wahr?«

Er betrachtete ihr abgezehrtes Gesichtchen. Er sah in ihre Augen, die sonst samtweich gewesen und jetzt tiefschwarz und blicklos waren, durch ihn hindurchzusehen schienen. Es waren alte Augen, die keine Tränen hatten. Und Peter schaute auf die Schläuche in Katys Mund und Nase, die so bedrohlich auf ihn wirkten.

»Vati.« Er glaubte, ihre Stimme zu hören, aber es waren nur ihre Lippen, die das Wort immer wieder formten. »Vati.«

Peter Büchner starrte auf sein Kind, das so fremd, so alt und so schrecklich leidend aussah. Und endlich konnte er den Anblick seines Kindes nicht mehr länger ertragen. Weinend stürzte er aus dem Zimmer. Draußen lehnte er sich kraftlos gegen die Wand, bis Hanna zu ihm trat und ihm still die Hand auf den Ärmel legte.

»Sie gibt mir die Schuld«, stieß Peter hervor und fügte hinzu: »Und sie hat recht. Ich hätte sie nicht in der Küche allein lassen dürfen, als das Telefon anschlug. Ich hätte… ach, ich weiß es einfach nicht.« Er richtete sich auf und sah Hanna zwingend an. »Sie können mir glauben, wenn ich sage, daß ich alles geben würde, wenn ich ihr das Leid abnehmen könnte.«

Der Druck von Hannas Hand wurde stärker und fordernder. Sie sah ihn zwingend an.

»Sie können es ihr nicht abnehmen, Herr Büchner, aber Sie können es ihr verkürzen.«

Mit hängenden Armen stand er vor ihr und starrte sie nichtbegreifend an, ehe er hervorstieß: »Wie soll ich das verstehen? So sagen Sie es doch schon, Frau Dr. Martens. Sie wissen doch, daß ich alles für Katy tun werde, was mir möglich ist. Am Geld wird es nicht liegen, denn das spielt in diesem Fall wirklich keine Rolle.«

»Das, was Sie dem Kind geben könnten, ist auch viel wertvoller als Geld, Herr Büchner. Spenden Sie ihr Haut von Ihrer Haut.«

»Sofort!« stieß Peter Büchner augenblicklich hervor und fügte nach einem tiefen Atemzug hinzu: »Sie können mir das Fell abziehen, wenn es notwendig sein sollte. Meinetwegen bei vollem Bewußtsein. Wann fangen wir an?«

»Sachte, sachte.« Hanna lächelte ihn an. »So etwas muß vorbereitet werden. Aber wie wäre es mit morgen, Herr Büchner?«

»Ich werde alles tun, was Sie für notwendig halten. Es ist gut, daß es etwas gibt, das ich tun kann.«

»Oh, Sie sind im Augenblick der einzige, der Katy helfen kann, Herr Büchner.«

»Sie können sich darauf verlassen, daß ich das auch tun werde.« Peter Büchner sah entschlossen aus. Hanna schmunzelte in sich hinein. Sie hatte nicht eine einzige Sekunde an der Bereitschaft Büchners gezweifelt. Auffordernd sah sie ihn an.

»Kommen Sie, gehen wir in mein Sprechzimmer. Dort kann ich Ihnen genau erklären, was wir mit Ihnen und Katy machen, damit alles ein wenig schneller geht.«

Wenig später saß Peter Büchner mit Hanna in ihrem Sprechzimmer. Sie hatte nach ihrem Bruder telefoniert und ihn gebeten, ebenfalls zu kommen, da sie es richtiger fand, wenn sie beide Peter erklärten, was man von ihm erwartete. Als Kay bei seiner Schwester eintrat, nickte er Peter freundlich zu und stellte sich mit dem Rücken ans Fenster, kreuzte die Arme über der Brust und sah Hanna auffordernd an. Sie nickte und begann, sich zu Peter wendend: »Also, Herr Büchner, wir werden Haut von Ihrem Oberschenkel nehmen und sie als lebendes Pflaster auf Katys Wunden übertragen. Natürlich wächst diese Haut nicht an, der Körper stößt sie sogar nach einer gewissen Zeit wieder als Fremdkörper ab. Aber bis dahin hat sich unter dem sogenannten lebendigen Pflaster neue Haut gebildet. Das Unangenehme ist nur, daß wir Sie für ein paar Tage in der Klinik behalten müssen.«

»Oh, das würde mir nichts ausmachen, wirklich nicht. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich alles tun werde, was Katy irgendwie helfen kann.«

Jetzt mischte sich Kay, als der verantwortliche Chirurg, ein. Er sah Peter an und dann Hanna, während er bedächtig vorschlug: »Wollen wir es morgen angehen? Je früher wir es machen, desto besser können wir der Kleinen helfen. Können Sie sich so kurzfristig freimachen, Herr Büchner?«

»Aber sicher. Sagen Sie mir, wann ich hiersein soll, wann es losgeht und ich werde pünktlich da sein.«

»Dann also morgen um acht Uhr. Wir werden einige Stunden benötigen. Aber Sie werden nichts spüren und Katy auch nicht, dafür garantiere ich Ihnen.«

»Ich fürchte mich nicht, falls Sie das meinen, Doktor. Ich will nichts anderes als Katy helfen und bin glücklich, daß ich es kann.«

Er verabschiedete sich und fuhr wenig später langsam zurück nach Hause. Das Schwalbennest war so entsetzlich leer, daß er sich beinahe davor fürchtete. Er atmete auf, als er ein Geräusch in der Küche hörte und gleich darauf Opa Fritz in der großen Wohndiele erschien. Auf Strümpfen, aber das fiel schon niemandem mehr auf. Opa Fritz war durch nichts und niemand dazu zu bewegen, die Schuhe anzulassen, wenn er die Küche verließ und einen der anderen Räume betrat. Da war es völlig gleich, ob er aus dem Garten kam oder seine Schuhe einwandfrei sauber waren.

»Fein, daß wenigstens Sie da sind, Opa Fritz. Trinken wir einen Korn miteinander?« fragte Peter erleichtert. Opa Fritz nickte in seiner bedächtigen Art. Als die beiden Männer dann, wie Opa Fritz es durchaus wollte, wenig später in der Küche saßen und einen klaren Schnaps tranken, den sie aus dem Kühlschrank geholt hatten, fragte Opa Fritz leise und mitfühlend: »Wie geht es Katy, Herr Büchner? Hat sie große Schmerzen auszustehen?«

»Ich durfte sie heute zum erstenmal sehen«, berichtete Büchner und stöhnte tief auf, als er sich vergegenwärtigte, wie er Katy angetroffen hatte, wie sie versucht hatte, »Vati« zu sagen. »Es war entsetzlich!« stieß er hervor und bedeckte die Augen mit der Hand. Als er sie wieder wegzog, sah Opa Fritz, daß Tränen in Peters Augen standen. Erschüttert beugte er sich über den Küchentisch und fragte leise: »Ist es so schlimm, Herr Büchner?«

»Morgen bekommt sie Haut übertragen. Sie nehmen Haut von mir, Opa Fritz.«

»Na, wenn sie solche Sachen mit Katy anstellen, dann ist sie auch bald wieder gesund. Dann sollten wir uns aber beeilen, damit der Goldfischteich zu ihrem Geburtstag fertig wird. Sie will doch noch einen Springbrunnen dazu.«

»Das soll sie auch alles bekommen, Opa Fritz. Machen Sie es nur so, wie Sie denken. Sie wissen doch, wie Katy sich alles vorgestellt hat. Sie unterhält sich doch ganz genau mit Ihnen über alles.«

Kinderärztin Dr. Martens Classic 9 – Arztroman

Подняться наверх